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Starke Frauen der Geschichte

Bedeutende Frauen, die die Welt verändern

Würden Sie Anna Freud gerne einmal bei einem Gespräch mit Ihrem Vater belauschen? Wussten Sie, dass die Brooklyn Bridge von einer Frau erbaut wurde? 

Auf wahren Begebenheiten beruhend erschaffen unsere Autorinnen ein fulminantes Panormana aufregender Zeiten und erzählen von den großen Momenten und den kleinen Zufällen, von den schönsten Begegnungen und den tragischen Augenblicken, von den Träumen und der Liebe dieser inspirierenden Persönlichkeiten.

Nellie Bly - Die erste investigative Journalistin

Blick ins Buch
Reporterin für eine bessere WeltReporterin für eine bessere Welt

Nellie Bly – Mit der Macht ihrer Worte schrieb sie sich auf die Titelseiten.

Mit investigativer Recherche und sensationellen Reportagen überzeugte Nellie Bly nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch Joseph Pulitzer.

Ulrike Fuchs erzählt in dieser bewegenden Romanbiografie „Reporterin für eine bessere Welt“ die Geschichte der mutigen und empathischen Nellie Bly und ihres Durchbruch als investigative Journalistin.

1887: Die junge Reporterin Nellie reist mit großen Zielen nach New York. Sie will für die renommierteste Zeitung arbeiten: Joseph Pulitzers World. Doch in der ganzen Stadt sind Frauen in der Presse unerwünscht. Schließlich bekommt Nellie die lang ersehnte Chance, sich zu beweisen: eine Reportage über die berüchtigte Nervenheilanstalt für Frauen. Dafür soll sie sich unter falschem Namen dort einweisen lassen. Ausgerechnet ihre große Liebe, Jonathan, ist strikt dagegen. Nellie muss für ihre Karriere alles riskieren. Auch ihre Zukunft mit Jonathan?

Die berührende Geschichte der ersten investigativen Reporterin Nellie Bly und ihres Erfolgs mit der Reportage über die Nervenheilanstalt für Frauen auf Backwell‘s Island.

In dieser Romanbiografie erzählt Ulrike Fuchs gefühlvoll wie kraftvoll von der historischen Nellie Bly und ihrer Reportage über die erschreckenden Zustände in der Nervenheilanstalt für Frauen, wo sie dafür selbst 10 Tage einweisen ließ. Ihr Bericht schlug hohe Wogen in der Politik und bewegte ein Umdenken in der Gesellschaft. Nellie Bly veränderte damit das Leben vieler Frauen ihrer Zeit.

Für alle Leser:innen von historischen Romanen und der Reihe „Bedeutende Frauen, die die Welt verändern“, die das Leben besonderer und inspirierender Persönlichkeiten erzählt.

Weitere Bände der Reihe: 

  • Laura Baldini, Lehrerin einer neuen Zeit (Maria Montessori)
  • Romy Seidel, Die Tochter meines Vaters (Anna Freud)
  • Petra Hucke, Die Architektin von New York (Emily Warren Roebling)
  • Laura Baldini, Ein Traum von Schönheit (Estée Lauder)
  • Lea Kampe, Der Engel von Warschau (Irena Sendler)
  • Eva-Maria Bast, Die aufgehende Sonne von Paris (Mata Hari)
  • Eva-Maria Bast, Die vergessene Prinzessin (Alice von Battenberg)
  • Yvonne Winkler, Ärztin einer neuen Ära (Hermine Heusler-Edenhuizen)
  • Agnes Imhof, Die geniale Rebellin (Ada Lovelace)
  • Lea Kampe, Die Löwin von Kenia (Karen Blixen)
  • Eva Grübl, Botschafterin des Friedens (Bertha von Suttner)
  • Laura Baldini, Der strahlendste Stern von Hollywood (Katharine Hepburn)
  • Eva-Maria Bast, Die Queen (Queen Elizabeth II.)
  • Agnes Imhof, Die Pionierin im ewigen Eis (Josephine Peary)
  • Ulrike Fuchs, Reporterin für eine bessere Welt (Nellie Bly)
  • Anna-Luise Melle, Die Meisterin der Wachsfiguren (Marie Tussaud)

Pittsburgh, Pennsylvania, Mai 1887

Der Zug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Nellie konnte das weiße Taschentuch ihrer Mutter durch den dichten Dampf der Lokomotive gerade noch so ausmachen. Sie lehnte sich weit aus dem Fenster und winkte zurück.

„Nun machen Sie doch das Fenster zu!“, beschwerte sich die magere Dame mit dem altmodischen schwarzen Hut und hüstelte demonstrativ in ihr Taschentuch, während der Zug Geschwindigkeit aufnahm und der strahlende, sehr frühe Maimorgen wieder zum Vorschein kam.

Nellie schloss das Fenster, setzte sich und strich die Falten ihres Reisekleides glatt. Dann nahm sie vorsichtig ihren schicken neuen Filzhut mit den drei kecken Straußenfedern ab und legte ihn auf die Ablage über der Sitzbank. Die Dame neben ihr blickte missbilligend. Nicht nur war Nellie nun ohne Hut unterwegs, sondern auch ohne Begleitung. Beides gehörte sich eigentlich nicht. Aber die Dame mit dem spitzen Gesicht und dem spitzeren Tonfall lebte eindeutig noch in der Steinzeit. Und vermutlich fuhr sie auch nicht die ganze Strecke bis New York, sondern höchsten bis Altoona. Da konnte man den Hut auch schon mal aufbehalten.

„Verzeihung, ich glaube, dies ist mein Platz.“

Ein Mann in einem adretten grauen Anzug stand in der Tür zum Gang, er trug seinen Mantel über dem Arm und in der Hand eine Aktentasche. Die Dame sah von ihrem verschlissenen Psalter auf und vermeldete in einem fordernden Jammern:

„Ich vertrage das Rückwärtsfahren nicht.“

Na und? Wer fuhr schon gerne rückwärts? Als ob das eine Begründung wäre, jemandem einfach den besseren Platz wegzunehmen, dachte Nellie.

Aber der Mann lächelte nur verständnisvoll, legte ohne ein Widerwort Mantel und Aktentasche auf die hölzerne Ablage und setzte sich auf den gegenüberliegenden Platz. Sie hätte nicht so einfach klein beigegeben!

„Guten Tag!“, grüßte er höflich.

Er sah nett aus, recht jung, vielleicht Ende zwanzig, mit unauffälligem braunem Haar, aber schönen blauen Augen. Seine Schuhe waren neu, und seine Garderobe war sehr gepflegt, aber nicht eitel. Er sah aus wie ein Büroangestellter. Vielleicht war er auf einer Geschäftsreise. Verheiratet war er nicht, zumindest trug er keinen Ring. Nellie bemerkte, wie sich die Andeutung eines Grübchens auf seine Wange schlich. Ihre Blicke trafen sich. Herrje, sie hatte schon wieder gestarrt, wie peinlich.

„Verzeihung.“

„Ach was. Das ist das Privileg Ihres Geschlechts.“

„Was ist das Privileg meines Geschlechts?“, fragte Nellie überrascht.

„Sie dürfen Menschen ausgiebig betrachten. Wenn ich das gemacht hätte, hätten Sie den Schaffner gerufen oder mich gar geohrfeigt.“

Nellie schüttelte den Kopf. „Den Schaffner brauche ich nicht. Ich bin durchaus fähig, auf mich selbst aufzupassen.“

Die fromme Dame neben ihr machte ein missbilligendes Geräusch.

„Ich hätte selbst geohrfeigt“, legte Nellie nach, und ihr Gegenüber lachte. Er hatte erstaunlich gerade weiße Zähne, ein weiterer Pluspunkt.

„Es freut mich, die Bekanntschaft einer so resoluten Dame zu machen. Darf ich mich vorstellen, Jonathan Card, zukünftiger Assessor der Chase National Bank.“

„Nellie Bly, Journalistin.“

Miss Elizabeth Jane Cochrane, von ihrer Familie nur Pinkey genannt, war nämlich in Pittsburgh geblieben, um der aufstrebenden Reporterin Nellie Bly in New York nicht im Wege zu sein. Immerhin hatte Nellie Bly schon eine Stelle beim Pittsburgh Dispatch innegehabt, für ein 23-jähriges Fräulein ohne formelle Ausbildung eine ganz beachtliche Leistung. Das mit der Ausbildung sollte sie allerdings noch einmal überdenken, befand Nellie. Vielleicht konnte sie ihr mageres Semester auf dem Lehrerinnenseminar der Indiana State Normal School doch ein bisschen „verlängern“.

Jonathan Card schien nachzudenken, es war eine kleine Falte zwischen seinen Brauen entstanden.

„Ich glaube, ich habe tatsächlich schon einmal etwas von Ihnen gelesen.“

Sie ärgerte sich über das Erstaunen in seiner Stimme. Was wäre daran bitte so überraschend? Sie schrieb regelmäßig für den Dispatch, und ihre Serie über ihre Erlebnisse in Mexiko war sogar noch von anderen Zeitungen gedruckt worden. Dachte er, dass sie nur für Kochrezepte oder Mode taugte? Natürlich dachte er das, wie alle anderen auch. Es war schwer, sich gegen diese Themen zu wehren. „Fraueninteressen“ hieß das, als ob sich Frauen nicht auch für andere Dinge interessierten. Aber das konnten sich Männer nicht vorstellen. Die konnten sich so manches nicht vorstellen.

„Sie scheinen nicht viel Zeitung zu lesen.“

Das hatte jetzt etwas schnippisch geklungen, bemerkte Nellie und ärgerte sich nun auch noch über sich selbst.

„Doch, doch. Ich lese die Chicago Tribune, die Chicago Times, die Chicago Daily News …“

„Ach, ich dachte, Sie kämen aus Pittsburgh. Verzeihung, ich wollte nicht unhöflich sein“, unterbrach Nellie die Aufzählung, erleichtert, dass Mr Card offenbar doch kein einfältiger Tropf war, der nie Zeitung las.

„Nein, ich komme aus Chicago. Jetzt bin ich auf dem Weg nach New York, in Pittsburgh hatte ich nur geschäftlich noch etwas zu erledigen.“

„Sie haben sicher meine Berichte über Mexiko gelesen.“

Er nickte zustimmend. „Ja, richtig! Ich habe leider nicht alle gelesen, finde es aber ein sehr spannendes Thema. Und ein spannendes Land.“

„Alle Artikel kommen demnächst in einem Buch heraus“, informierte Nellie ihn nicht ohne Stolz.

„Gut zu wissen.“ Er lächelte freundlich. „Wenn ich eines kaufe, werden Sie es für mich signieren?“

„Selbstverständlich.“

„Erzählen Sie doch mal über diese Reise durch Mexiko.“

Als sie Altoona erreichten, wusste Nellie, dass sie einen neuen Freund gewonnen hatte. Jonathan Card war einfach reizend. Nicht nur hörte er aufmerksam zu, er stellte auch verständige Fragen und hatte sich bisher nicht ein einziges Mal darüber gewundert, dass sich eine „empfindsame junge Dame“ dem harten Geschäft des Journalismus verschrieben hatte oder überhaupt ihr eigenes Geld verdienen wollte. Stattdessen interessierten Jonathan, wie Nellie ihn schon im Stillen nannte, andere Dinge. Wie sie sich in bestimmten Situationen gefühlt hatte, wie es ihr gelang, auch widerwilligen Quellen Informationen zu entlocken, oder was sie von den Reaktionen ihrer Leserschaft hielt. Und da es die Höflichkeit gebot, ihn auch mal zu Wort kommen zu lassen, hatte sie von ihm erfahren, dass er in der Nähe von Detroit aufgewachsen, bei der örtlichen Bank in die Lehre gegangen und dann nach Chicago gewechselt war. Und nun hatte er eine tolle Stelle bei einer Bank in New York bekommen. Obwohl Nellie Jonathans bisheriges Leben eher langweilig fand, war er selbst es überhaupt nicht. Im Gegensatz zu ihr war er ausgesprochen belesen und schien über alle Themen zumindest grundlegend informiert zu sein. Um dieses breite Allgemeinwissen beneidete Nellie ihn. Was ihr ganz besonders gut an ihm gefiel, war sein Sinn für Humor. Auch schien er ein durch und durch ehrlicher Mensch zu sein, obendrein auch noch langmütig mit seinen Mitmenschen. Letzteres war eine Sache, um die Nellie ihn ehrlich beneidete. Sie mochte es auch, wie seine blauen Augen blitzten, wenn er lachte. Also eigentlich gefiel ihr alles an Jonathan Card.

„Und werden Sie dann bald zum Bankdirektor aufsteigen?“

„Wohl eher nicht. Das sind Positionen, die vererbt und nicht erarbeitet werden.“

„Schade.“

„Warum?“

„Dann hätten Sie mir viele Türen aufstoßen können.“

„Das Gleiche hatte ich mir eigentlich von Ihrer Bekanntschaft erhofft“, erwiderte er. „Wenn Sie demnächst bei Joseph Pulitzer zum Bankett eingeladen werden, legen Sie doch ein gutes Wort für mich ein. Der kennt bestimmt eine Menge wichtiger Leute.“

Nellie lachte. Wie nett, was er ihr alles zutraute, selbst wenn es nur im Spaß war.

„Woher wissen Sie, dass ich zur New York World möchte?“

„Na, das ist doch genau die richtige Zeitung für Sie. Keine langatmigen Exposés, sondern Berichte direkt aus dem Leben.“

Nellie sah aus dem Fenster, die Landschaft flog vorbei. Es war erstaunlich, wie schnell der moderne Mensch von einem Ort zum anderen gelangen konnte. Ja, langatmige Exposés waren wirklich nicht ihre Sache. Sie seufzte.

„Das sagt Q. O. auch immer.“

„Wer ist Q. O.?“

„Erasmus Willson vom Pittsburgh Dispatch. Man kann wohl sagen, dass er mein Mentor ist. Er hat eine Kolumne, ›Quiet Observer‹. Ich hatte ihm mal einen Leserbrief geschrieben, damit hat alles angefangen.“

Sie erzählte Jonathan, wie Q. O. in einer Kolumne behauptet hatte, Frauen taugten nur zur Hausfrau und Mutter. Empört hatte Nellie an die Zeitung geschrieben. Ihr Brief war zwar nicht veröffentlicht worden, hatte aber dennoch die Aufmerksamkeit des Chefredakteurs geweckt. So war eins zum anderen gekommen. Q. O. war, wie sich herausstellte, doch kein frauenfeindlicher Stiesel, sondern tatsächlich ein reizender Herr, von dem Nellie in der Folgezeit viel Unterstützung erfahren hatte, zum Beispiel, als sie zwei Reportagen über die Arbeitsbedingungen für junge Fabrikarbeiterinnen geschrieben hatte. Oder als sie alleine, nur mit ihrer Mutter als Anstandsdame, durch Mexiko gereist war, um über die dortigen Lebensverhältnisse zu berichten. Es war ihr bisher größter journalistischer Erfolg. Nellie seufzte unwillkürlich. Trotzdem war es nun an der Zeit gewesen, den Dispatch zu verlassen, ja fast zu fliehen. Sie hatte sich nicht einmal richtig verabschiedet, geschweige denn gekündigt. Aber die Furcht davor, vielleicht in letzter Sekunde den Mut zu verlieren, war zu groß gewesen. Sie wollte richtige Geschichten aus dem richtigen Leben schreiben. Und das waren nicht die Hochzeiten und Gartenschauen, über die sie in letzter Zeit hatte berichten sollen! Hatte sie nicht schon bewiesen, dass sie das Zeug zu echten Reportagen hatte? Trotzdem kamen immer wieder Einwände und Bedenken und wohlgemeinte Ratschläge. Es hatte sie viel Kraft gekostet, sich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Als ob es nicht schon anstrengend genug wäre, allein in New York sein Glück zu versuchen. Wenn einem dann immer noch eingeredet wurde, dass man das – als Frau – niemals schaffen würde, war es besser, sich einfach davonzumachen.

„Es ist, als machte ich zwei Schritte voran, nur um dann drei zurück zu machen. Ich schreibe einen tollen Artikel und muss beim nächsten schon wieder erklären, warum ich nicht lieber über den Gesellschaftsklatsch schreiben möchte.“

Jonathan Card nickte verständnisvoll.

„Und dann sagen sie noch, dass sie einem ›etwas Gutes tun‹ wollen. Ich will aber nicht über Tratsch und Mode berichten. Das kann doch nicht so schwer zu verstehen sein!“ Nellie merkte, wie die Wut wieder in ihr hochkochte. Immer musste sie sich rechtfertigen!

„Männer sind einfach begriffsstutzig“, stellte Jonathan ruhig fest. Sie sahen sich an. Nellies Mundwinkel zuckten, und ihr Zorn verpuffte.

„Allerdings. Warum nur?“

Er zuckte mit den Schultern. „Schwer zu sagen. Frauen sind für Männer ein Buch mit sieben Siegeln, einfach nicht zu verstehen.“

„Dabei wird uns stets vorgehalten, zu viel zu reden. Wir erklären und erklären“, Nellie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe, „aber da geht nichts rein beim Mann!“

„Schon voll?“, schlug Jonathan nach einer Weile scheinbar intensiven Nachdenkens vor. Nellie brach in ganz undamenhaftes Gelächter aus, das sie schnell mit ihrem Taschentuch zu dämpfen suchte. Einige Mitreisende sahen pikiert von ihrer Lektüre auf. Lange, wirklich lange hatte sie sich nicht mehr so gut unterhalten.

Während der Zug zielstrebig ostwärts brauste, verging die Zeit wie im Flug. Sie teilten sich ihren Proviant in einem gemütlichen Picknick, sahen auch mal in einvernehmlichem Schweigen aus dem Fenster, aber meistens unterhielten sie sich angeregt über Gott und die Welt, bis spät in den Abend hinein. Als Nellie sich schließlich auf ihrem sehr schmalen und sehr harten Bett im Schlafwagen ausstreckte, fand sie erst keine Ruhe. Wie schön, dass sie jetzt schon einen Freund in New York hatte, denn ansonsten kannte sie dort keine Menschenseele. Sie lächelte im Dunkeln. Jonathan war sehr klug, was sie bewunderte, und er hatte einen wunderbaren Humor. Humor hatten die wenigsten. Es war, als würden sie sich in ihrer Unterhaltung Pingpongbälle zuspielen, und das Spiel endete immer in Gelächter. Wie froh sie war, ihn kennengelernt zu haben. Nellie freute sich schon auf den Morgen, sie hatten sich zum Frühstück verabredet. Gemeinsam mit Jonathan in New York anzukommen fühlte sich so viel schöner an als alleine. Zwar hatte ihr Mrs Herman vom Women’s Club Name und Adresse einer Bekannten aufgeschrieben, falls es einen Notfall gäbe oder sie Hilfe bräuchte, aber Nellie war fest entschlossen, dass kein Notfall so schlimm sein würde, dass sie dort um Hilfe bitten müsste. Diese Blöße würde sie sich niemals geben, daheim warteten zu viele darauf, dass sie scheiterte und mit eingezogenem Schwanz kleinlaut wieder nach Hause käme. Doch das würde niemals geschehen, eher ginge sie nach Afrika oder Grönland oder sonst wohin. Ach, New York! Sie war schon so gespannt. Pittsburgh war gewiss keine kleine Stadt, aber New York? Dort spielte das Leben, dort schlug das Herz von Amerika, das Zeitungszentrum, die Börse, reiche Wirtschaftsmagnaten in riesigen Villen, Wolkenkratzer, sogar elektrische Straßenlaternen sollte es da geben. Und jeden Tag Hunderte von neuen Einwanderern aus aller Herren Länder. Nellie versuchte, auf der Pritsche eine bequemere Position zu finden. Wenn sie genug Geld gehabt hätte, wäre sie im luxuriösen Pullman gefahren. Aber das würde auch noch kommen! Andererseits hätte sie dann nicht Jonathan kennengelernt, also war es doch gar nicht so schlimm. New York! Sie konnte es gar nicht erwarten. Jonathan hatte behauptet, dass es ganz unmöglich wäre, in Manhattan eine günstige Bleibe zu finden. Entweder seien sie exorbitant teuer oder völlig überfüllt mit Einwanderern. Die normalen Leute würden in die Vorstädte ziehen, nach Jersey oder Harlem, wo man sich noch ein Haus oder eine Wohnung leisten konnte. Die Bank hatte für Jonathan arrangiert, dass er für die erste Zeit bei einem Kollegen in Manhattan unterkommen konnte. Er war besorgt, dass Nellie noch nicht wusste, wo sie bleiben würde. Natürlich war das Geld knapp, aber sie war zuversichtlich, dass sie alsbald ein Zimmer finden würde. Ja, die normalen Leute zogen in die Vorstädte, aber war sie etwa normal? Nein, sie würde mittendrin im Trubel wohnen und freute sich schon darauf.

Das laute Pfeifen der Lokomotive ließ Nellie hochfahren. Einen winzigen Moment lang starrte sie verwundert auf die fremden Menschen vor ihrem Bett. Dann drang das regelmäßige Rattern von Rädern in ihr Bewusstsein: Eisenbahn, Schlafwagen, New York! Meine Güte, sie hatte geschlafen wie ein Stein! Im Waggon herrschte schon rege Betriebsamkeit.

„Wie lange haben wir denn noch?“, fragte Nellie die Dame neben sich, als sie sich von der Pritsche schwang.

„Keine halbe Stunde.“

Wie bitte? Jetzt musste sie sich aber beeilen! Hastig raffte Nellie ihre Sachen zusammen und stopfte sie erbarmungslos in ihre Reisetasche, sie würde alles neu plätten müssen, schoss es ihr durch den Kopf. Und was war mit Jonathan? Sie hatten sich zum Frühstück treffen wollen. Herrje, dafür war jetzt keine Zeit mehr. Nellie hoffte inständig, dass sie ihn auf dem Bahnsteig wiederfände. Wo hatte man ihren Koffer untergebracht? Warum, verflixt, hatte sie nur so lange geschlafen? Die plötzliche Aufregung drohte Nellie zu überwältigen. Sie atmete ein paarmal tief durch. Durch Hektik würde sie auch nicht schneller werden. Stattdessen sah sie aus dem Fenster, einzelne Häuser rauschten vorbei. Vorstädte sahen irgendwie immer gleich aus, egal, in welchem Teil des Landes man sich befand. Sie griff nach ihrer Reisetasche, aber der Mittelgang war vollständig von den bauschigen Hinterteilen der mitreisenden Damen belegt. Ausgefüllt? Verstopft? „Meer von Kleiderfalten wogt im Eisenbahnwaggon“ wäre auch eine lustige Überschrift, amüsierte Nellie sich im Stillen, während sie sich rigoros durchdrängelte.

Der Zug fuhr schon in den Bahnhof ein. Der Exchange Place in Jersey City war ein gewaltiges Gebäude. Während sie noch darauf wartete auszusteigen, fuhr ein weiterer Zug ein, der alsbald ebenfalls seine Passagiere auf den Bahnsteig entließ. Das Gedränge war enorm und der Krach ohrenbetäubend. Nellie kämpfte sich zum Gepäckwagen vor, um ihren Koffer entgegenzunehmen, immer auch nach Jonathan Ausschau haltend. Welch eine Menschenmenge! Wurde einem bei anderen Gelegenheiten in Bahnhöfen das Gepäck von den Trägern fast aus der Hand gerissen, waren es hier nun eindeutig zu wenige Männer.

„Eine Unverschämtheit ist das!“, beschwerte sich der korpulente Herr neben ihr. Sie folgte seinem Blick. Ein Großteil der Träger war damit beschäftigt, Gepäck aus einem einzigen privaten Waggon entgegenzunehmen. Und es war tatsächlich eine ganze Menge Gepäck.

„Wer sich seinen eigenen Waggon leisten kann, muss ja nicht auch noch uns Normalsterblichen die Gepäckträger klauen!“

Der lange, glänzende Pullman-Waggon musste nach Pittsburgh angehängt worden sein, denn Nellie konnte sich nicht erinnern, ihn beim Einsteigen gesehen zu haben. Und der wäre ihr ganz sicher aufgefallen. Vor einiger Zeit hatte sie einmal einen solchen Luxuswaggon besichtigen können – die meisten Häuser waren schäbig dagegen. Dem Paar, das nun diesem exklusiven Vehikel entstieg, war anzusehen, dass es ganz sicher nicht unbequem auf seinem Sitzplatz oder auf einer schmalen Pritsche genächtigt hatte und auch nicht lange hatte anstehen müssen, um seine Notdurft zu verrichten und eine Katzenwäsche zu absolvieren. Der Herr, klein und ähnlich rund wie der Beschwerdeführer neben ihr, war adrett in einen schwarzen Anzug gekleidet, sein Zylinder glänzte frisch gebürstet, und an der eleganten Dame neben ihm saß auch keine Falte schief. Ein wenig neidisch verfolgte Nellie die beiden mit ihrem Blick, als sie dem Bahnsteigvorsteher folgten, der ihnen kraft seiner Autorität eine Schneise durch den mitreisenden Plebs bahnte. Sich der Störung oder vermutlich überhaupt der Anwesenheit des niederen Volkes nicht bewusst, flanierten sie, eine lange Karawane von Gepäckträgern im Schlepptau, Richtung Fähre davon. Queen Victoria hätte es kaum besser machen können.

Nellie sah sich erneut um, aber von Jonathan keine Spur. Was mochte er jetzt denken, nachdem sie ihn einfach so versetzt hatte?

„Miss!“

Nellies Kopf schnellte herum.

„Ist das nun Ihrer?“

Einer der Männer, die das Gepäck ausluden, deutete ungeduldig auf ihren Koffer.

„Ja!“

Sie sah sich erneut suchend um, aber an einen Träger war nicht heranzukommen. Dann eben nicht. Hatte sie nicht in Mexiko ihr Gepäck auch selbst getragen? Die Reisetasche in der einen, den Koffer in der anderen Hand, machte sich Nellie auf den Weg zur Fähre, die sie über den Hudson River nach Manhattan bringen sollte. Offenbar wollten alle dorthin, und so ließ sie sich einfach von der Menge in die richtige Richtung treiben. Auf der Gangway zur Fähre wurde es wieder enger. So musste sich eine Herde Kühe fühlen, wenn sie von der Weide in einen Waggon verladen wurde. Es stockte, und die Herde kam zum Stehen. Sie mussten auf das nächste Boot warten. Nellie stellte den schweren Koffer ab. Für Fußmärsche waren Koffer eigentlich denkbar ungeeignet, kein Wunder, dass die meisten Leute ihr Gepäck lieber als Bündel trugen. Wenigstens hatte man dann die Hände frei. Oder auch nicht. Nellies Blick fiel auf eine Frau, die, Bündel auf den Rücken und Baby vor den Bauch gebunden, an jeder Hand ein heulendes Kleinkind hatte. Wie konnte man so seine Fahrkarte zeigen? „Warum die Ärmsten der Armen so oft ohne Fahrschein fahren“, war die Überschrift, die Nellie in den Sinn kam. Der Herr neben ihr wischte sich mit einem karierten Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Das Taschentuch sollte auch einmal wieder gewaschen werden. Sie musterte ihre Mitreisenden, aber von Jonathan fehlte jede Spur. Es war unangenehm beengt, mit so vielen Leuten warten zu müssen, und irgendwie schien ein Gepäckträger auch so etwas wie Ehrbarkeit und Anstand zu verleihen, denn der glücklichen Dame dort vorne rückte man nicht so auf die Pelle wie ihr. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die sicher nicht mehr als zehn Minuten gedauert hatte, ging es weiter. Nellie wollte ihren Koffer wieder aufnehmen, aber ihre Hand stieß gegen die Hand einer anderen Person. Sie blickte nach unten und sah ihren Koffer durch die Beine der Umstehenden verschwinden.

„He! Das ist mein Koffer! Dieb! Ein Dieb!“

Die vormals zielgerichtete Bewegung der Menge wurde jäh chaotischer, als viele die Hälse streckten, um zu sehen, was vor sich ging, und um sicherzustellen, dass der eigene Koffer noch da war. Oder sie nutzten die Ablenkung, um sich vorzudrängeln. Nellie bemerkte eine Person in einer grünen Kappe, die sich eilig den Weg zurück in Richtung Bahnhofshalle bahnte, eigentlich sah sie nur die Kappe, die nun auch noch verschwand.

„Der mit der grünen Kappe, halt! Mein Koffer!“, schrie Nellie verzweifelt aus voller Brust. Aber wie ein unaufhaltsamer Fluss strömte die Menge nun schon wieder in Richtung Fähre, an Nellie wie an einem kleinen Felsen vorbei. Was ging die Leute ein fremder Koffer an?

„He!“ Tränen der Wut und Verzweiflung stiegen in Nellie auf.

„Ist das Ihrer, Missy?“

Ein wahrer Bär von einem Mann erreichte sie, ihren Koffer in der Hand.

„Oh, danke sehr! Danke, danke, danke!“

Er grinste, die beiden vorderen Zähne fehlten, seine Nase war platt, und eigentlich sah er aus wie ein Kinderschreck, aber Nellie erschien er wie der Erzengel Gabriel persönlich. Sie griff nach dem Henkel, aber er ließ den Koffer nicht los.

„Kommen Sie, sonst verpassen wir noch das Boot.“

Mühelos pflügte er durch die Menge und zog Nellie, die Hand am Koffergriff, in seinem Windschatten mit. Tatsächlich schafften sie es, als zwei der Letzten an Bord zu gehen. Im Inneren der Fähre war kein Platz mehr, und auch draußen konnte man nur noch stehen. Aber es war ein schöner Morgen, und es tat gut, an der frischen Luft zu sein.

„Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin!“, wiederholte Nellie, als sie sich neben ihren Retter an die Reling lehnte.

„Ach, lassen Sie nur.“ Der Mann hatte einen ausgeprägten irischen Akzent.

„Ich bin Nellie Bly.“ Nellie streckte die Hand aus.

Seine Pranke, mit der er an seine speckige Lederkappe tippen wollte, hielt inne. Er nickte offensichtlich erfreut und schüttelte ihre Hand.

„Collin Murphy, zu Diensten, Miss.“

„Ich danke Ihnen sehr, Mr Murphy. Haben Sie dem Dieb eine verpasst?“

Mr Murphy brach in Gelächter aus, das sich wie das Brüllen des Bären anhörte, den Nellie einmal in Philadelphia im Zoo gesehen hatte. Er schüttelte den Kopf.

„Nein, Missy, habe ich nicht.“

„Schade.“

„Er war zu schnell weg. Ich habe den Koffer gepackt, und schon war er verschwunden“, erklärte er entschuldigend.

„Macht nichts. Hauptsache, ich habe meinen Koffer wieder.“

Mr Murphy legte den Kopf schief.

„Reisen Sie immer alleine? Ich meine, so eine feine Dame wie Sie und so.“

Jedem anderen hätte Nellie eine scharfe Antwort gegeben, aber um Mr Murphy etwas übel zu nehmen, war sie ihm viel zu dankbar. Deswegen würde sie ihn auch nicht darauf hinweisen, dass sie mit dreiundzwanzig Jahren volljährig war und sehr gut auf sich selbst aufpassen konnte. Letzteres klang nach der Kofferepisode auch nicht wirklich überzeugend. Die wirklichen Bedenken hinter seiner Frage großzügig ignorierend, antwortete sie also:

„Ich reise auch gerne mal in Gesellschaft, aber ich werde jetzt hier arbeiten und somit in New York bleiben.“

„Ach? Wo gehen Sie denn in Stellung?“

Überrascht glitt sein Blick ein zweites Mal über Nellie, als wunderte er sich, was denn eine so gut – und auch modisch, wie Nellie fand – gekleidete Dame wohl arbeiten würde.

„Ich bin Journalistin.“

„Was Sie nicht sagen!“

„Ich habe bisher für den Pittsburgh Dispatch gearbeitet, aber nun möchte ich etwas Neues machen.“

Das hatte sehr nonchalant geklungen, stellte Nellie zufrieden fest.

„Na, da sind Sie in New York ja genau richtig. Von dem Kumpel von meinem Cousin Patrick, der Bruder, dem seine Tochter, die arbeitet auch da irgendwo.“

„Ach ja? Wo denn?“ Das wäre natürlich ein wertvoller Kontakt für sie. Viele Journalistinnen gab es wirklich nicht.

Mr Murphy kratzte sich am Kinn.

„War es die World?“

Nellies Herz tat einen Sprung. Das wäre ja fantastisch.

„Oder die Tribune?“

Sie sah ihn erwartungsvoll an, aber er schüttelte den Kopf.

„Kann ich nicht sagen. Aber jedenfalls ist sie da in der Poststelle und verdient nicht schlecht.“

Nellie sah auf das dunkle Wasser des Hudson River. Was hatte sie denn gedacht? Dass die Tochter des Bruders des Freundes des Cousins von Mr Murphy allen Ernstes auch Journalistin wäre? Urplötzlich fühlte sich Nellie einsam. Die Häuser Manhattans kamen schnell näher. Jonathan würde sie wohl nie wiedersehen. Wie hatte sie denn nur verschlafen können? Jede andere Frau wäre vor Aufregung, allein nach New York zu gehen, ein Nervenbündel, nur sie schlief wie ein Stein! Aber sicher nicht, weil sie so gelassen war, das musste sie ehrlicherweise zugeben. Die Sache mit Jonathan bekümmerte Nellie sehr, aber es gab nichts, was sie dagegen tun konnte, und auch zu viele andere Dinge, mit denen sie sich jetzt befassen musste. Rigoros schob sie den Gedanken beiseite.

„Und wohin geht’s, wenn wir anlegen? Vielleicht kann ich Ihnen Ihren Koffer noch ein Stückchen tragen?“

Mr Murphy war wirklich reizend!

„Ich habe mir noch keine Unterkunft gesucht.“

„Oha.“ Er rieb sich die platte Nase.

Nellie wurde es etwas klamm in der Magengegend. Jonathans Behauptung, günstige Pensionen in Manhattan seien Mangelware, hatte sie gestern einfach beiseitegeschoben – beiseitegeschoben, aber nicht vollständig vergessen, und die nagende Unsicherheit in ihrem Hinterkopf drängte nun machtvoll nach vorne. Sie hatte nicht viel Geld, und Nellie wollte, nein sollte ganz dringend einen teuren Hotelaufenthalt vermeiden.

„Ist es denn so schwierig, eine Unterkunft zu bekommen?“

Mr Murphy deutete mit seiner Pranke flussabwärts.

„Da unten bei Castle Garden kommen die Schiffe mit den Einwanderern an. Hunderte, ach was, Tausende pro Tag.“ Er nickte bekräftigend. „Und ich war auch mal dabei!“

Nellie kniff die Augen zusammen, konnte die Südspitze von Manhattan aber nicht ausmachen.

„Jedenfalls kommen die alle hier an. Und dann müssen sie ja irgendwo wohnen.“

„Aber die bleiben doch nicht alle in New York.“

„Stimmt. Viele reisen weiter zu Verwandten oder machen es wie mein Vetter Brian. Der hat bei diesem Homestead-Programm mitgemacht und sich seine eigene Farm und Land erarbeitet.“ Mr Murphy ließ den Arm wieder sinken und runzelte die Stirn. „Ist dann aber wohl von irgendeiner Bande überfallen worden. Habe schon länger nichts mehr von ihm gehört.“

Noch ehe Nellie Mr Murphy ihr Mitgefühl bekunden konnte, hatte sich dessen Gesicht schon wieder aufgehellt.

„Na, jedenfalls müssen die alle ja erst mal irgendwo bleiben, wenn die hier ankommen, nicht wahr?“, kam er wieder auf das wenig erfreuliche Thema der Wohnungsnot zurück. Er lächelte aufmunternd. „Aber so ein feines Fräulein wie Sie wird ja sicher erst mal ins Hotel gehen.“

Nellies neues Reisekleid schien Mr Murphy einen falschen Eindruck von ihren finanziellen Möglichkeiten zu geben. Natürlich wäre es nett, erst einmal in einem Hotel zu übernachten, aber das war mindestens doppelt so teuer, wie sich gleich dauerhaft irgendwo einzumieten. Sie schüttelte den Kopf.

„Eigentlich würde ich mir am liebsten gleich etwas Längerfristiges suchen. Ich muss meine Pennys etwas zusammenhalten.“

Mr Murphy nickte verständnisvoll. „Und welche Gegend haben Sie sich vorgestellt?“

„Am liebsten natürlich in der Nähe der Park Row, wo die ganzen Verlage sind.“

Ihr hünenhafter Begleiter schüttelte vehement den Kopf. „Das ist keine Gegend für ein Dame. Nee, nee.“

„Dann vielleicht etwas nördlicher?“, fragte Nellie, die Manhattan auf einer Karte eingehend studiert hatte.

„Da ist Kleindeutschland, voll mit Deutschen. Sie wollen ja wohl nicht zwischen die ganzen Schnitzelfresser, oder? Überhaupt sollten Sie lieber weiter nach Norden in Richtung Central Park ziehen, Missy, da sind Sie besser aufgehoben.“

„Aber nicht Yorkville! Da sind mittlerweile auch schon ganz viele Deutsche!“, ließ sich ein schlaksiger Mann in einer auffälligen grünen Tweedweste neben ihnen vernehmen. Er war eindeutig ebenfalls Ire, und die Iren waren sich einig, dass man mit den strebsamen, Schnitzel essenden Deutschen nichts zu tun haben wollte.

Mr Murphy kratzte sich am Kinn.

„Wohin dann mit ihr?“, fragte er über Nellies Kopf hinweg seinen Landsmann. Nellie unterdrückte die aufwallende Empörung, dass die beiden Herren nun einfach über sie und nicht mehr mit ihr sprachen. Wenn sie aber andererseits so an eine günstige Bleibe käme, war es taktisch klug, erst einmal den Mund zu halten. Der dünne Ire, Nellie schätzte ihn auf Mitte dreißig, musterte sie von oben bis unten, als wollte er abschätzen, was sie sich denn so leisten könnte. Anscheinend war er zu keiner befriedigenden Antwort gekommen.

„Was können Sie denn zahlen?“, wollte er wissen.

„Nicht mehr als fünf Dollar pro Woche.“

Die beiden Herren sahen sich an. Mr Murphy schob die Unterlippe vor. Es schien für sie nicht gut auszusehen, dachte Nellie etwas beklommen. Ganz offensichtlich war eine Karte nicht dazu geeignet, einen Eindruck von den tatsächlichen Gegebenheiten einer Stadt zu vermitteln.

„Von der Frau von meinem Bruder Bill die Mutter, die hat da im Westvillage immer zwei Zimmer vermietet“, überlegte der Neuankömmling laut. Aber Mr Murphy schüttelte den Kopf.

„Keine Gegend für eine Dame und zu viele Italiener.“

Der dünne Ire nickte, woraufhin die beiden sich gegenseitig diverse Wohnviertel und Straßenblocks vorschlugen, die sie aber immer sogleich wieder verwarfen. Offenbar war ein Großteil Manhattans für Damen unbewohnbar, und Nellie fragte sich gerade, ob ihre beiden selbst ernannten Beschützer ihre weiblichen Empfindlichkeiten vielleicht überschätzten, als sich unversehens ein weiterer Herr in die Unterhaltung einschaltete.

„Ich wüsste vielleicht was in der Upper Westside.“

„Ach?“ Mr Murphy und der dünne Ire wandten sich um.

Der kleine Mann, der nun ebenfalls mitreden wollte, strich sich mit schwieligen Händen über seine Jacke und tippte sich dann an die Mütze.

„Thomas Kinnley“, stellte er sich vor. „Meine Tochter Maureen wohnt in der 96th Street. Da ist gerade ein Zimmer frei geworden, hat sie mir gestern erzählt.“

96th Street? Nellie besah sich vor ihrem geistigen Auge den Stadtplan von Manhattan. Das war viel zu weit nördlich, viel zu weit weg von der Park Row! Sie schüttelte den Kopf, aber Mr Murphy und der dünne Ire nickten.

„Wie soll ich denn da zur Arbeit kommen?“

„Da fährt doch die 9th Avenue EL, nur drei Blocks südlich ist eine Station, West 93rd Street.“

„Elevated Railroad“, erklärte Mr Murphy unnötigerweise, denn Nellie hatte bereits über New Yorks Hochbahn gelesen.

„Was für eine Wohnsituation ist denn das?“, fragte sie. Es war an der Zeit, ihr Schicksal wieder selbst in die Hand zu nehmen.

„Das ist bei einer Witwe, die ein paar Zimmer untervermietet. Wie eine Pension. Vier Dollar die Woche.“

Die drei Herren sahen Nellie erwartungsvoll an. In der Zwischenzeit hatte die Fähre Manhattan erreicht und begann das Anlegemanöver. Stolze Preise in New York! Aber sie sollte diesem Tipp nachgehen, besser, als Geld in einem Hotel zu verschwenden. Offenbar war es tatsächlich nicht leicht, überhaupt etwas zu finden. Sie konnte von Glück sagen, dass sich ihre neuen Bekanntschaften so für sie bemühten, auch wenn sie deutsche oder italienische Vermieter wohl grundsätzlich nicht in Betracht zogen. Also nickte sie.

„Ja, das sehe ich mir gerne an.“

Mr Murphy trug ihr noch den Koffer zur Hochbahnstation. Nellie nahm sich fest vor, wenn sie je wieder eine Reise ganz alleine machte, würde sie nur ein Gepäckstück mitnehmen! Mit echtem Bedauern verabschiedete sie sich schließlich von ihrer freundlichen Begleitung.

„Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, Mr Murphy!“ Sie schüttelten einander erneut die Hände.

„Ach, das habe ich doch gerne gemacht, Missy. Ich wünsche Ihnen viel Glück. Vielleicht lese ich ja mal was von Ihnen.“

„Das werden Sie ganz bestimmt, darauf können Sie sich verlassen!“

Er grinste, schien ihr nicht recht Glauben zu schenken. Dann bahnte er sich seinen Weg durch das Gedränge zurück in Richtung Ausgang, so wie ein Dampfer durch entgegenkommende Wellen pflügt.

Nun war sie wieder ganz alleine in der großen Stadt. Und groß war Manhattan wirklich. Geradezu gigantisch und vor allem unfassbar voll. Nie zuvor hatte Nellie derartige Menschenmassen gesehen, nicht einmal in Mexico City. Der Zug fuhr ein, Ruß und Asche spuckend, und sofort drängte die wartende Menge nach vorne. Wer hier hätte aussteigen wollen, hätte Schwierigkeiten bekommen. Nellie packte ihre beiden Gepäckstücke fester und ließ sich von den anderen Fahrgästen in den Waggon schieben. Dicht gedrängt, wie Sardinen in einer Dose, standen sie im Gang. Eigentlich hätte sie ihren Fahrschein in die Sammelbox stecken sollen, aber dann hätte sie ihr Gepäck loslassen müssen, und überhaupt hätte sie sich gar nicht zur Box vordrängen können. Zwar war sie objektiv gesehen nicht weit weg, aber eben doch unerreichbar. Mit einem Ruck setzte sich der Zug in Bewegung. Nellie reckte den Hals, um hinauszusehen. Es war kurios, so über der Straße zu schweben und den Leuten in die Wohnungen schauen zu können. Ihr würde das nicht behagen. Das war sicher sehr lästig, wenn einem immer die Bahn vor dem Wohnzimmerfenster vorbeirumpelte, lästig und laut. „Mann seit drei Wochen nicht geschlafen wegen Hochbahn!“, formulierte Nellie im Geiste eine weitere Schlagzeile. Konnte man überhaupt drei Wochen ohne Schlaf überleben? Jonathan hätte das gewusst. Die Bahn fuhr an schier endlosen Reihen mehrstöckiger Wohnhäuser aus braunem Backstein vorbei. Überall flatterte Wäsche. Schnurgerade folgte die Hochbahn der 9th Avenue Richtung Central Park. Sie hielten an verschiedenen Stationen, Leute stiegen ein und aus, ohne dass der Zug merklich leerer wurde. Wie war das wohl zu Arbeitsbeginn und Feierabend? Endlich, „West 93rd Street“. Nellie durfte aussteigen und war herzlich froh darüber. Die Treppe hinunter auf die Straße war steil. In jeder Hand ein Gepäckstück, musste sie achtgeben, nicht auf ihren vorderen Rocksaum zu treten, sonst wäre sie kopfüber gefallen. Diesmal gab es keinen irischen Kavalier, der ihr seine Hilfe angeboten hätte, vielmehr hasteten die Leute rücksichtslos an ihr vorbei, den Blick auf den Boden geheftet. Der New Yorker an sich schien es immer eilig zu haben.

Geschafft. Nellie hatte wieder festen Boden unter den Füßen und sah sich suchend um. Die Straße unter der Hochbahn war nicht weniger verstopft als der Zug. Wo kamen bloß all die Leute her? Es war sagenhaft. Und sagenhaft schmutzig obendrein. Ruß und Dreck der Bahnlokomotive rieselten erbarmungslos auf die Passanten und Pferdefuhrwerke auf der Straße nieder. Nellie setzte sich in Bewegung, nur drei Blocks zur 96th Street. Trotzdem war sie schweißgebadet, als sie endlich am richtigen Haus ankam. Nie wieder so viel Gepäck!

„Ich suche Mrs Bukowski. Wohnt die hier?“, fragte Nellie zwei struppige Kinder, die im Rinnstein mit Murmeln spielten.

Die Kinder sahen sie mit großen, sehr blauen Augen an. Es mussten Geschwister sein. Sie nickten.

„Und ist sie zu Hause?“

Wieder nickte das Paar synchron.

„Danke schön.“

Nellie betrat das schmale dreistöckige Haus. Es war noch nicht alt, aber trotzdem schon ein bisschen abgewohnt. Nellie klopfte vernehmlich. Als niemand antwortete, öffnete sie die Tür und steckte den Kopf hindurch. Essensduft kam ihr entgegen.

„Hallo! Ist jemand da?“

Ein gigantisches dunkles Etwas kam urplötzlich hinter dem Sofarücken hervor. Nellie hätte vor Schreck fast ihr Gepäck fallen lassen.

„Was? Wie?“

Unter einer Wolldecke unbestimmter Farbe kam eine sehr umfangreiche junge Frau hervor. Nellie hätte über ihren eigenen Schreck fast laut gelacht.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Im Türrahmen auf der entgegengesetzten Seite des Salons erschien auch eine Frau. Sie mochte in den Vierzigern sein, hochgewachsen und kräftig. Aber nicht wie die junge Dame auf dem Sofa, die Nellie jetzt mit unverhohlener Neugierde betrachtete, sondern eher wie eine Amazone. Sie hatte dunkle Haare und dunkle Augen, die einen aparten Kontrast zu ihrer hellen Haut ergaben. Nellie hatte sich die „Witwe“ ganz anders vorgestellt, irgendwie klein und hutzelig. Die Frau musterte Nellie mit einem Blick, dem sicher nicht viel entging.

„Kommen Sie wegen des Zimmers?“

„Ja, ganz genau.“

„Wer hat Ihnen davon erzählt?“

„Der Vater von Maureen.“

Das klang, als wäre sie mit dieser anderen Mieterin bekannt, was hoffentlich ein Vorteil und kein Nachteil war. Offenbar war es kein Nachteil, denn die Vermieterin löste sich von der Tür, kam auf Nellie zu und streckte die Hand aus.

„Ich bin Eliza Bukowski, die Inhaberin dieser Pension.“ Nellie meinte Stolz in ihrer Stimme zu hören.

„Nellie Bly.“ Sie schüttelten sich die Hände.

„Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Zimmer.“

Nellie setzte ihr Gepäck ab und folgte Mrs Bukowski die schmale, steile Treppe hinauf in den ersten Stock und dann noch eine in den zweiten.

„Ich habe fünf Zimmer zu vermieten. Dieses ist gerade frei geworden.“

Der Raum war klein, aber sauber. Ein Bett, ein Stuhl, eine Kommode mit Lampe und Spiegel. Sie trat ans Fenster und sah hinab in die dunkle rückwärtige Gasse. Das nächste Haus war so nahe, dass sie die Wand fast hätte berühren können. Kein Sonnenstrahl würde sich je hier hereinverirren.

„4,50 Dollar pro Woche mit Verpflegung morgens und abends. Im Voraus.“

„4,50? Maureens Vater sagte, vier Dollar.“

„Maureen hat kein Fenster.“

Kein Fenster? In Manhattan herrschte wirklich Wohnungsnot! Aber dieses Zimmer war so gut wie jedes andere, und wahrscheinlich hatte sie wirklich riesiges Glück, überhaupt so schnell untergekommen zu sein. Fürs Erste war es in Ordnung, und wenn sie sich erst einmal auskannte, würde sie sich etwas Besseres suchen.

„Einverstanden.“

„Kommen Sie, ich mache uns einen Tee.“

Nellie folgte ihr die Treppe hinunter. Die junge Frau auf dem Sofa hatte sich aufgerappelt und war dabei auszugehen.

„Das ist Miss Hamilton“, stellte Mrs Bukowski sie einander vor. „Jane, das ist Miss Bly.“

Miss Hamilton unterbrach ihre Bemühungen, ihre pummeligen Finger in ein Paar cremefarbene Handschuhe zu zwängen, und lächelte freundlich.

„Nennen Sie mich gerne Jane. Ich kann leider nicht bleiben und plauschen, ich muss jetzt zur Arbeit.“

„Wo arbeiten Sie denn?“

„Ich bin Köchin im Temple of Health. Vegetarisch nach Kellogg!“

Sie winkte und war auch schon, die Handschuhe noch nicht übergestreift, zur Tür hinaus.

„Vegetarisch“, wiederholte Nellie.

„Ja“, bestätigte Mrs Bukowski amüsiert, „und dort bekocht von unserer hausbackenen Jane.“

Nellie lachte.

„Das ist schon erstaunlich, was es in Manhattan alles so gibt.“

„Allerdings“, brummte die Vermieterin und stellte zwei Teetassen auf den Tisch.

„Erzählen Sie mal, was haben Sie vor?“

„Ich bin Journalistin und werde hier arbeiten.“

„Aha.“

Für einen Moment war Nellie ein bisschen pikiert, dass ihre neue Vermieterin von der Tatsache, eine weibliche Journalistin vor sich zu haben, anscheinend wenig beeindruckt war. Dann musste sie über sich selbst schmunzeln. Immer beschwerte sie sich, wenn die Leute mit Erstaunen auf ihren Beruf reagierten, und blieb das einmal aus, war sie auch nicht zufrieden.

Während Mrs Bukowski in der Küche mit dem Wasserkessel hantierte, wanderte Nellies Blick durch den Salon. Er war geschmackvoll eingerichtet. Die meisten Möbel waren ein bisschen abgewetzt, bei einer Pension sicher kein Wunder. Doch alles war sehr wohnlich. Nellie ließ sich auf einen der Stühle am großen Tisch sinken, an dem wohl die Mahlzeiten eingenommen wurden. Doch im Großen und Ganzen hatte sie wohl wirklich Glück gehabt.

„Erzählen Sie mal, wo kommen Sie her?“, fragte Mrs Bukowski, als sie sich schließlich mit der Teekanne zu Nellie an den Tisch setzte.

„Pittsburgh.“

„Ach, dann sind Sie heute angekommen?“

„Ja, heute Morgen mit dem Zug.“

„Guck an.“

Sie goss Tee in die Tassen und schob Nellie die Zuckerdose zu.

„Und haben Sie Aussicht auf Arbeit?“

Keine ganz unberechtigte Frage für eine Vermieterin, die jede Woche 4,50 Dollar von ihr sehen wollte. Nellie hatte nach ihrem doch recht spontanen Entschluss, nach New York zu ziehen, ihr Sparkonto geplündert und würde sich mit diesem Geld die erste Zeit über Wasser halten können. Da New York die Zeitungshauptstadt der USA war, war Nellie zuversichtlich, bald eine Anstellung zu finden, am liebsten bei der New York World.

„Nein, noch nicht, aber ich habe schon für den Pittsburgh Dispatch gearbeitet und gute Referenzen.“

„Zeitungen gibt es hier ja zur Genüge. Warum haben Sie Ihre Stelle in Pittsburgh aufgegeben? Ich würde meinen, dass es nicht ganz einfach ist, als Frau überhaupt eine zu finden.“

Eliza Bukowski gefiel Nellie, sie stellte die richtigen Fragen.

„Es ist mir einfach zu langweilig geworden. Ich will über die richtigen Sachen schreiben, nicht nur über Theatervorstellungen oder Mode.“

In der rauen Eiswüste der Arktis kämpft sie ums Überleben

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Die Pionierin im ewigen EisDie Pionierin im ewigen Eis

Josephine Peary – Fernab der Zivilisation fand sie in der Polarnacht ihr größtes Glück

In der rauen Eiswüste der Arktis kämpft sie ums Überleben

Grönland, fremde Schönheit und die raue Heimat der Inuit – voller Neugier und Lust auf Abenteuer bricht Josephine Peary 1891 zu ihrer ersten Arktisexpedition auf. Sie ist überglücklich, ihren Mann Robert begleiten zu dürfen. Im ewigen Eis schließt sie eine tiefe Freundschaft mit der Inuk Arnakittoq. Und durch ihre akribischen Tagebucheinträge gelingt es ihr sogar, einen wissenschaftlichen Beitrag zu leisten. Als sie schwanger wird, ist Josephines Glück perfekt. Allerdings hat sich die Beziehung zu Robert verändert, denn ihm missfällt die Eigenständigkeit seiner Frau. Kann Josephine ihre Liebe retten und gleichzeitig der Kälte und der unbarmherzigen Natur des Nordens trotzen?

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Rosalind Franklin – Die brillante Wissenschaftlerin entdeckte die Bausteine des Lebens

Blick ins Buch
Die Entdeckerin des Lebens

Rosalind Franklin – Die brillante Wissenschaftlerin entschlüsselte die DNA und entdeckte die Liebe

Packender biografischer Roman

Rosalind Franklin (25. Juli 1920 – 16. April 1958) – Die Mitentdeckerin der DNA-Struktur wollte schon als Studentin nur eines: Forschen. Abhalten konnten sie weder Männer noch Bombenalarm.

Sie entdeckte die Bausteine des Lebens

London 1951: Die Entschlüsselung des Lebens ist für die Wissenschaft das Thema der Stunde, und auch die junge Rosalind Franklin stürzt sich in die Forschung. Doch sie hat nicht mit den arroganten Kollegen gerechnet, die eine Frau im Labor lieber übersehen, statt mit ihr zusammenzuarbeiten. Bald müssen die Männer erkennen, dass die brillante Chemikerin eine ernst zu nehmende Konkurrentin im Wettlauf um die Entdeckung der DNA-Struktur ist. Zwar hat Rosalind Unterstützung von ihrem Assistenten Oliver, aber die Lage spitzt sich zu. Hinter Rosalinds Rücken greift man zu immer unfaireren Methoden …

„Rosalind Franklin fand den Schlüssel zur DNA, und trotz der Versuche einiger, ihre Verdienste zu verschleiern, kann ihr Genie nie mehr unterschätzt werden.“

Bonnie Garmus, Autorin des Bestsellers »Eine Frage der Chemie»

1

[Kristall] Ein fester Körper, dessen Atome oder Moleküle in einem regelmäßigen dreidimensionalen Gitter angeordnet sind. Bekannte Kristalle sind Salz, Zucker, Minerale und Schnee. Ihre Eigenschaften und Formen werden in der Kristallografie untersucht.

 

Französische Westalpen, Oktober 1950

Sie trieb den Eispickel in den Gletscher, als hätte sie nie etwas anderes getan. Hinter sich hörte Rosalind das Schaben von Steigeisen und ein leises Stöhnen. Sie drehte den Kopf zu ihrer Cousine. „Gleich geschafft.“

Ursula nickte, außer Atem, Dampfwölkchen vor dem Mund. Eine Weile lang hörte Rosalind nur ihr eigenes Keuchen und die Geräusche, mit denen sie das Eisfeld malträtierte. Es veränderte Farbe und Struktur, je höher sie kamen. Der Wind, der weiter unten nur leise geflüstert hatte, wurde lauter. Rosalind sicherte ihren Stand und zog sich die Mütze tiefer über die Ohren. So erschöpft sie auch war – sie liebte die körperliche Anstrengung, die brennenden Muskeln und Atemwege, die Kontrolle, die sie über ihre Bewegungen hatte.

Und ganz plötzlich war das Eis überwunden, weicher Neuschnee mit seinen unzähligen Kristallen empfing sie, der Wind pfiff, sie drehte sich um und streckte die Hand nach Ursula aus, die sich aufrichtete, um Rosalinds Fäustling zu ergreifen. Mit einem Aufschrei stolperten sie zwei Schritte nach hinten und ließen sich fallen.

Rosalind blickte zur Seite und erschrak. „Du siehst aber schon, dass du mir jetzt fast mit deinem Eispickel das Ohr abgehackt hättest?“

„Es wird sich lohnen, hast du gesagt“, meinte Ursula und stöhnte. „Der Aiguille Pers ist nicht besonders schwierig, hast du gesagt, und der Ausblick wird sich lohnen.“

„Und das sage ich immer noch.“ Rosalind konnte schon wieder lachen und löste das Seil, das sie mit Ursula verband. „Wir müssen nur noch bis zum Gipfel.“

Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann war sie nicht mehr davon abzubringen.

„Wie weit?“ Ursula nahm ihren Rucksack ab und schraubte die stählerne Trinkflasche auf. Ihr Gesicht war so rot, dass ihre Sommersprossen ausnahmsweise nicht zu sehen waren.

Rosalind wies Richtung Gipfel. Da lag er, recht bescheiden ganz plötzlich, unter einem blauen Himmel. Ohne ihre dunklen Brillen wären sie schon längst schneeblind geworden auf dem ewig-wintrigen Glacier du Grand Pisaillas.

„Nicht weit. Ein Spaziergang.“ Rosalind begann, sich die Steigeisen von den schweren Bergstiefeln abzumontieren. Der Wind biss auf der Haut. Als sie mit ihren eigenen Steigeisen fertig war, kümmerte sie sich um Ursulas, schnallte sie klappernd an den Rucksäcken fest, trank einen Schluck Wasser und sprang auf.

„Los. Der Ausblick wird sich lohnen, hat jemand gesagt.“

„Du hast das gesagt!“, rief Ursula. „Wehe, wenn es nicht stimmt!“ Sie hievte sich auf die Füße, und als sie umständlich begann, erst den Rucksack wieder aufzusetzen, drehte Rosalind sich um und stürmte los, so schnell es der tiefe Schnee zuließ.

„Wir sehen uns später, du Schnecke!“

„Typisch“, hörte sie ihre Cousine noch schimpfen.

Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, freundlicher zu werden, weiblicher, wenn man es denn so nennen musste. Neulich erst hatte sie ihre Freundin Anne Crawford mit einer zynischen Bemerkung zum Weinen gebracht. Dabei meinte sie es doch nie so. Aber darüber konnte oder wollte sie jetzt nicht nachdenken. Der Gipfel lag direkt vor ihr. Noch ein paar Schritte – und schon hatte sie den höchsten Punkt erreicht.

Sie atmete tief, bis ihr schwindelig wurde.

Ursula hatte aufgeholt und stellte sich neben sie. „Du hast wieder einmal recht gehabt, Ros.“

Ihre Pensionswirtin hatte sie gestern ganz erschüttert angesehen: „Bergsteigen? Warum wollen Sie sich das antun, mesdames? Überlassen Sie das doch lieber den Herren der Schöpfung.“

Rosalind hatte lachen müssen. Schon als sie mit achtzehn einen Sprachurlaub nördlich von Paris gemacht hatte, war sie mit ihren Freundinnen Anne und Jean die zwanzig Kilometer bis zum nächsten Ort zu Fuß gegangen, und alle hatten sie entsetzt angesehen. So etwas tat eine Frau doch nicht zum Spaß? Spazieren gehen? Gar wandern? Mon dieu.

Schließlich hatte sich einer der sogenannten Herren der Schöpfung, nämlich der Ehemann der Pensionswirtin, gestern erbarmt, Rosalind und Ursula in den Gebrauch von Steigeisen und Eispickeln einzuführen, von denen er in seiner Scheune ein ganzes Rudel herumstehen hatte. Vermutlich hatte er sich dazu herabgelassen, um sich ein wenig zu amüsieren. Doch die beiden ach so zarten Damen hatten sich dabei anscheinend so geschickt angestellt, dass er keine Witze mehr gerissen, sondern ihnen hilfreiche Tipps gegeben und eine noch detailliertere Bergkarte als die überlassen hatte, die Ursula bereits besaß. Sie waren beide große Planerinnen und immer gut vorbereitet. Heute Morgen hatte er ihnen im Dämmerlicht hinterhergewinkt und Glück gewünscht. „Bonne chance!“

Die Grajischen Alpen oder Alpes Grées, wie sie in Rosalinds geliebtem Französisch hießen, waren Teil der Westalpen, und ihr höchster Gipfel war der Gran Paradis, den Rosalind gleich entdeckte, als sie ein wenig Ausschau hielt. Die Täler hier waren tief, die Felshänge steil, die Grate schmal. Tektonisch gesehen waren die Alpen ein Unfall, der vor fünfzig Millionen Jahren stattgefunden hatte – zwei Kontinente trafen aufeinander, zwei Platten kollidierten, der isostatische Ausgleich begann.

Sie warf einen Blick auf Ursula. Wenn die wüsste, dass ihre Cousine, statt die Aussicht zu genießen, wieder einmal überall physikalische Phänomene sah …

Rosalind musste lächeln. „Herzlichen Glückwunsch, meine Liebe. Dreitausenddreihundertsechsundachtzig Meter über dem verdammten Meeresspiegel.“

Ursula löste den Blick vom Horizont, lachte Rosalind an und nahm sie in die Arme.

„Das haben wir gemeinsam geschafft, Rosalind.“

Sie sprach ihren Namen in zwei knappen Silben aus, so wie die meisten es taten: Roslind.

Rasch stiegen sie wieder ein Stück bergab, um sich unter einen Felsvorsprung zu setzen und etwas zu essen.

„Hier oben schmeckt alles so viel besser“, sagte Ursula mit vollem Mund.

„Die dünne Luft kann es nicht sein. Ich glaube, es liegt eher daran, dass du hier deiner schlechten Erziehung freien Lauf lässt.“

Ursula streckte die Zunge heraus, um Rosalind ihr zerkautes Brot zu zeigen. Rosalind schlug nach dem Knie ihrer Cousine, doch die war schneller und zog es weg. Der Tee war nur noch lauwarm, aber im Windschatten mit der Sonne im Gesicht ließ es sich gut aushalten.

„Irgendwann müssen wir uns doch um Sonnencreme kümmern“, sagte Rosalind.

Ursula zog die Stupsnase kraus. „Nur, wenn sich jemand etwas anderes einfallen lässt als dieses dicke, ölige Zeug, das an dir klebt wie Kleister. Dann sehe ich lieber verbrannt aus.“

„Ein Hoch auf die Eitelkeit.“

Rosalind lehnte sich zurück, betrachtete die karge Landschaft und verlor sich erneut in Gedanken. Die Zeit in ihrem geliebten Frankreich war bald vorbei: In wenigen Wochen würde sie das Labo verlassen – das staatliche Laboratoire Central des Services Chimiques de l’État – und in London arbeiten. Am King’s College, einer guten Adresse.

Ursula berührte sie am Arm. „Schau mal.“

Ein Alpensteinbock. Capra ibex. Was für ein wunderschönes Tier. Es musste etwas älter sein, denn die Hörner krümmten sich in einem eleganten Bogen, und sein Bart wurde nach unten heller.

Der perfekte Bergsteiger. Wenn sie jemandem die Alpen überlassen würde, dann ihm.

Ich liebe die Berge fast so sehr wie du selbst, alter Mann, dachte sie. Ich wünsche dir noch ein langes Leben und Freiheit bis zum letzten Atemzug.

Der Bock nickte zweimal mit dem Kopf – und sprang davon.

Rosalind schnellte hoch und versuchte, einen letzten Blick auf ihn zu erhaschen, doch er war hinter dem nächsten Vorsprung verschwunden. Sie ließ die Augen erneut über das Panorama wandern. Auf dem deutlich niedrigeren angrenzenden Gipfel leuchtete das goldene Oktobergras, und das Gebimmel einer Ziegenherde klang bis zu ihnen herüber. Vertrocknete Disteln, groß wie Kohlköpfe, schwankten im Wind, und sie konnte fast die Grashüpfer sehen, die sie so gern zwischen den Händen fing, um sich eine Weile kitzeln zu lassen, bevor sie sie wieder gehen ließ.

All das konnte man nicht mitnehmen. Von ihrer letzten Wanderung hatte sie ihrer kleinen Schwester ein gepresstes Edelweiß geschickt, aber was war eine getrocknete, platte Blume im Vergleich zu der, die noch auf der Bergwiese wuchs? Soweit Rosalind wusste, bewahrte Jenifer den alpinen Gruß dennoch sorgfältig im Briefumschlag auf.

„Wir müssen langsam wieder los“, sagte Ursula und riss ihre Cousine aus ihren Gedanken. „Ich kann aber nicht noch einmal über den verdammten Gletscher.“

Sie hatte die Karte auseinandergefaltet, die laut im Wind knatterte.

„Dann brauchen wir mindestens anderthalb Stunden länger. Schaffen wir das im Tageslicht?“

„Der andere Weg ist aber viel einfacher. Ich habe ihn mir schon auf der Karte angesehen.“

Rosalind verzog den Mund. „Ist das nicht feige? Den einfacheren Weg zu nehmen?“

Ursula versuchte, die Karte wieder zusammenzufalten. „Mag sein, aber ich habe die Kraft nicht mehr, da kannst du noch so viel über mich spotten.“

Rosalind griff nach dem einen Ende der Karte und half Ursula dabei, sie zusammenzulegen.

„Komm schon, Ros. Ich sage nur: Snowdonia.“

„Snowdonia?“

„Weißt du nicht mehr, als wir mit Anne auf dem Crib Coch unterwegs waren und sie fast gestürzt wäre, weil sie keine Kraft mehr hatte?“

Endlich war die Bergkarte besiegt. Ursula hielt sie fest in der Hand, während sie zu ihren Rucksäcken zurückkehrten.

„Das hätten wir damals nicht ohne Seil machen sollen“, sagte Rosalind, „aber inzwischen sind wir schlauer.“

Ursula schnallte den Rucksack fester. „Wir nehmen den längeren, sicheren Weg. Stell dir nur vor, was Jacques sagen würde, wenn wir zwei Weiber uns hier oben verletzten und sie uns suchen kommen müssten.“

„Jacques?“ Entgeistert sah Rosalind ihre Cousine an. Warum schlug ihr Herz bei dem Namen immer gleich so schnell?

„Nicht dein Jacques. Unser Pensionswirt heißt doch auch Jacques, und der war heute früh noch so beeindruckt von uns.“

„Er ist nicht mein Jacques“, murmelte Rosalind. Das war er nie gewesen. Und bald würde sie ihn ohnehin nicht mehr sehen. Sie setzte sich in Bewegung, dem längst verschwundenen Steinbock hinterher.


2

[Kohlenstoff] Ein chemisches Element mit dem Symbol C, das in der Natur gebunden oder aber in reiner Form (zum Beispiel als Diamant oder Grafit) auftritt. Es kann komplexe Moleküle bilden und kommt in so vielen unterschiedlichen Verbindungen vor wie kein anderes chemisches Element. Kohlenstoff gilt als Grundlage des Lebens auf der Erde.

 

Pembridge Place, London, Januar 1951

Schon wieder eine Laufmasche. Die verdammten Nylonstrumpfhosen waren in England noch schwerer zu bekommen als in Frankreich. Dort hatte es in den letzten Jahren kaum noch Nachkriegsknappheiten gegeben, die Menschen in Paris sahen wieder wohlgenährter aus, die Bäume waren grüner. Zurück in London, kam Rosalind alles grau und armselig vor. Sie dachte an den blauen, ätherischen Nebel, der manchmal über der Seine hing – der englische Smog hingegen war gelb und ungesund. Sie ließ sich aufs Bett fallen und erlaubte es sich, ein paar Minuten zu träumen: wie sie mit dem Rad an der Seine entlanggefahren war, wie sie jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit diese eine Trauerweide gegrüßt hatte, die danach immer ein wenig fröhlicher wirkte und mit ihren Ästen die Wasseroberfläche kitzelte. Wie sie abends ins Kino gefahren war, um einen Charlie-Chaplin-Film zu sehen, und wie ihr dabei der Rock um die Beine wehte.

Um die Beine in Nylonstrumpfhosen.

Rosalind seufzte ärgerlich. Schließlich konnte sie nicht an ihrem ersten Arbeitstag mit nackten Beinen am King’s College erscheinen, insbesondere nicht im Januar. Sie sprang auf und eilte den Flur entlang.

„Mummy?“

„Hier bin ich, meine Liebe.“

Muriel Franklin war das Wohlwollen in Person. Sie war in der Londoner Gesellschaft und der jüdischen Gemeinde aktiv. Ihre Freundinnen, Vertrauten und Verwandten konnten sich jederzeit auf sie verlassen.

Allerdings erst ab zehn Uhr morgens.

Jetzt war es kurz nach acht.

Liebevoll sah Rosalind sie an. Ihre Mummy, ihre so schöne Mummy, wurde langsam alt – und das sah man, wenn sie im Morgenrock mit geschwollenen Augen aus ihrem Zimmer kam. Aber auch nur dann. Und war es denn ein Wunder, mit sechsundfünfzig Jahren und fünf erwachsenen Kindern?

Die sportliche Figur hatte Rosalind von der Franklin-Seite ihres Vaters geerbt, aber der spitze Haaransatz auf der klaren Stirn kam von ihrer Mutter, und wahrscheinlich würden sich später auch durch ihre Haare silberne Fäden ziehen.

Rosalind war froh, dass man wenigstens so die Familienzusammengehörigkeit sah, denn charakterlich waren sie und ihre Mutter recht unterschiedlich. Mummy war sanft und freundlich – Rosalind hatte sie nie aufbrausend erlebt, auch nicht früher, als fünf Kinder im Haus herumgetobt waren. Sie hatte sich nie eine Karriere gewünscht, nie eine bezahlte Arbeit außerhalb des Hauses, sondern ging völlig in der Zuneigung zu ihrem Mann und ihren Kindern auf, auch wenn diese Zuneigung nur selten offen gezeigt wurde. Rosalind hingegen konnte sich nicht vorstellen, auf diese Weise glücklich zu werden. Sie war dreißig, kinderlos und machte Karriere.

„Hast du eine Strumpfhose für mich, Mummy? Ich habe gerade meine allerletzte kaputt gemacht.“

Ihre Mutter sah in ihrer Kommode nach. „Nein, leider nicht. Ich trage schon seit zwei Wochen Hosen. Es bleibt dir wohl auch nichts anderes übrig.“

Rosalind fluchte im Stillen und eilte zurück ins Gästezimmer, das sie einige Wochen bewohnen würde, bis sie etwas Eigenes gefunden hatte. In den Jahren, die sie in Paris verbracht hatte, hatten ihre Eltern das große Haus aufgegeben, in dem Rosalind und ihre vier Geschwister aufgewachsen waren, und waren nach Notting Hill gezogen, in die Nähe des Pembridge Place.

Nesthäkchen Jenifer war mit einundzwanzig als Letzte ausgezogen, und damit wurden auch das Kindermädchen und zwei der vier Dienstmädchen nicht mehr gebraucht. Die Franklin-Kinder hätten ihre gute alte Nannie gern behalten, denn wenn man ehrlich war, war man für ein Kindermädchen, das einen gehegt und gepflegt, geschimpft und gelobt, mit Keksen und warmer Milch versorgt hatte, nie zu alt. Aber Nannie hatte sich entschieden, in ihr heimatliches Shropshire zurückzukehren, wo sie sich nun um ihre Neffen und Nichten kümmerte und noch deren Kinder verwöhnen würde.

Rosalind sah auf die Uhr. Sie verlor sich hier in Träumereien, während es später und später wurde. Entschlossen nahm sie eine dunkelblaue Stoffhose aus dem Schrank. Dann musste es eben so gehen. In Paris hatte sie zur Arbeit stets einen dunklen Rock und eine weiße Bluse getragen, genauso wie ihre Kolleginnen Rachel und Agnès, beinahe wie eine Art Uniform, während die Männer sich ja auf ihre Anzüge verlassen konnten.

„Sag einmal …“ Ihre Mutter betrat das Gästezimmer, ohne anzuklopfen. „Du erinnerst dich noch daran, dass wir heute Abend bei Cousin Irvin vorbeigehen müssen, ja? Er hat sich doch das Bein gebrochen.“

Rosalind schlüpfte schnell in die Hose. Sie zeigte sich nicht gern halb angezogen vor anderen, auch nicht vor ihrer eigenen Mutter. „Ich weiß noch nicht, ob ich das schaffe. An meinem ersten Arbeitstag muss ich doch erst einmal schauen, was alles auf mich wartet.“

„Und Tante Helen möchte wegen Naomi mit dir sprechen.“

„Wegen Naomi?“

Rosalind suchte ihre Sachen zusammen, um sie in die große Umhängetasche zu stecken. Sie durfte die Haarbürste und einen dezenten Lippenstift nicht vergessen.

„Deiner Cousine.“

„Also, Mum, als ob ich nicht wüsste, wer Naomi ist.“

„Ihre Lehrerin will dich an die St. Paul’s einladen, damit du vor der Klasse über deine Arbeit sprichst.“

Überrascht hielt Rosalind auf der Treppe inne. „Das mache ich gern“, sagte sie und lief weiter die Stufen hinunter.

Unten stand ihre Schwester Jenifer mit erhitztem Gesicht und einer weißen Kaschmirmütze auf dem Kopf. Was machte sie denn so früh hier? Musste sie nicht längst im Textilhandel sein? Von den Buchhalterinnen dort wurde erwartet, dass sie die Räume gelüftet und Tee gekocht hatten, bevor die angestellten Männer kamen.

„Wie gut, dass du noch da bist, Ros. Ich habe einen riesigen Riss am Rücken, schau mal.“ Sie drehte sich um und hielt den Wintermantel auseinander wie ein Torero sein rotes Tuch. Der Stoff war grob zerrissen, und die Daunenfütterung schneite heraus. „Kannst du mir das nähen?“

„Sicher.“ Rosalind eilte an ihr vorbei. „Lass ihn einfach hier, ich schaue es mir heute Abend an. Schicke Mütze übrigens.“

„Heute Abend müssen wir zu Cousin Irvin“, sagte ihre Mutter, die Rosalind nach unten gefolgt war.

„Das ist heute?“, fragte Jenifer. „Wie geht es seinem Bein?“

Rosalind ging in die Küche, wo ihr Vater mit der Zeitung am Tisch saß und seinen pechschwarzen Kaffee trank. Sie grüßte ihn mit einem Kuss auf den kahler werdenden Kopf und goss sich ebenfalls eine Tasse ein.

„Ros, das ist mein einziger Mantel“, sagte Jenifer, die ebenfalls in die Küche trat. „Es ist eisig draußen. Ich kann so nicht weiter. Ich habe extra einen Zwischenstopp hier gemacht, weil ich mir fast den Po abgefroren habe.“

„Ich muss zur Arbeit, Schwesterchen. Kann dir Mummy nicht was leihen?“

„Hast du das gelesen?“ Ihr Vater zeigte ihr die Politikseite. „Wieder ruft ein Journalist quasi zu Gewalt auf. Die Palästinafrage ließe sich anders nicht mehr lösen. Seit dem unsäglichen Artikel im Economist …“

„Furchtbar, Daddy.“ Rosalind kippte den heißen Kaffee viel zu schnell herunter. „Ach, da fällt mir ein …“ Sie zog die aktuelle Ausgabe der Nature aus der Tasche. „Mein Artikel wurde veröffentlicht, schau.“

Sie hatte über Dichte, Struktur und die chemische Zusammensetzung von Kohle geschrieben und war stolz auf diese Publikation, eine weitere, die wichtig für ihr berufliches Fortkommen war.

Ihr Vater war allerdings der Einzige in der Familie, der sich dafür interessierte und den Inhalt einigermaßen verstand. Neugierig griff er danach und öffnete die Zeitschrift auf der Seite, die Rosalind mit einem Eselsohr versehen hatte.

„Musst du nicht zur Bank, Ellis?“, fragte Rosalinds Mutter. „Es ist fast halb neun.“

„Das lese ich heute Abend“, meinte Rosalinds Vater, und die freundlichen Falten um seine Augen vertieften sich. „Nehmen wir etwa beide den Vierer?“

„Wenn wir ihn nicht verpassen.“ Rosalind schulterte wieder ihre Tasche.

Ihr Vater gab seiner Frau einen Kuss auf die Wange, sie verabschiedeten sich von Jenifer, dann eilten sie los.

„Ich habe gehört“, sagte Rosalinds Vater, „dass du einen Vortrag an der St. Paul’s halten willst?“

Rosalind lachte. „Ich weiß noch nichts Genaueres darüber, aber ja, warum nicht? Ich fand es früher toll, wenn Wissenschaftlerinnen zu uns kamen und über ihre Arbeit sprachen. Ich habe sie alle angehimmelt.“

„Jetzt bist du selbst eine.“ Er strich ihr liebevoll über den Mantelärmel.

Die Feuchtigkeit der Luft setzte sich in der Lunge fest. Hier im Norden hielt sich der Verkehr noch in Grenzen, aber in der Innenstadt würde es zu dieser Zeit, in der alle zur Arbeit fuhren, schlimmer werden. Wieder einmal bereute sie es, nach London zurückgekommen zu sein.

Dabei wusste sie, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. So war sie wieder näher bei ihrer Familie – auch wenn das Leben im Haus der Eltern ihr zu nah war, viel zu nah, nachdem sie Jahre allein im Ausland gelebt hatte. Aber das alles würde sich bald ändern, wenn sie eine Wohnung fand. Außerdem hatte sie, nicht zuletzt nach einem erhellenden Gespräch mit der von ihr verehrten Biochemikerin Dorothy Hodgkin, Angst gehabt, den Anschluss an die britische Wissenschaftsgemeinschaft zu verlieren. Paris hatte immer nur ein Schritt auf der Karriereleiter sein sollen, doch bereits nach wenigen Wochen vermisste sie die Stadt und die Leute ganz fürchterlich. Ihre Kollegen. Freunde.

„Ich träume von einem Job“, hatte sie zu Jacques Mering gesagt, als sie einmal gemütlich vom Mittagessen zurück ins Labo geschlendert waren, „bei dem ich ein halbes Jahr in Paris und ein halbes in London verbringen könnte.“

„Träumen kostet nichts“, hatte Jacques gemeint, „aber so, wie ich dich kenne …“

Rosalind hatte abgewinkt. „Ja, ja, ich bin eher pragmatisch und stehe mit beiden Beinen auf dem Boden. Deswegen habe ich mich ja für London entschieden.“

Ihren Lunch hatten sie gern im Quartier Latin zu sich genommen, im Chez Solange, von dem aus man den inspirierenden Blick auf die ESPCI-Hochschule genießen konnte, an der Marie und Pierre Curie das Radium entdeckt hatten. Danach ging es zurück ins Labo, wo aber nicht gleich weitergearbeitet wurde, nein, in Frankreich wurde noch ein Kaffee genossen – was bei Chemikern bedeutete, dass sie ihn in einem Laborkolben brauten und in Abdampfschalen servierten. Dazu hatten sie politische Diskussionen geführt.

„Gerechtigkeit ist doch keine Frage des Sozialismus“, rief Rachel zum Beispiel dem lachenden Vittorio Luzzati zu, „sondern eine Frage der Menschenrechte!“

„Gerade die“, wandte Jacques ein und reichte Rosalind ihren Kaffee, „werden in der Sowjetunion mit Füßen getreten. Meine Familie stammt aus Weißrussland, ihr könnt mir glauben, was ich sage.“

„Aber der Kapitalismus der Vereinigten Staaten“, mischte sich der glühende Kommunist Marcel Mathieu ein, „ist doch auch keine Lösung. Ein Wettrüsten führt nur zum nächsten Krieg. Die Vereinigten Staaten sind eine Abscheulichkeit, liebe Kameraden und Kameradinnen. Wie Descartes zu sagen pflegte …“

Rosalind genoss diese Stunden und diskutierte mit. Niemand sah sie als minderwertig an, niemand hätte behauptet, dass sie, Rachel und Agnès als Frauen weniger zu sagen hätten oder leiser sprechen sollten. Niemand lobte Rosalinds Französisch. Denn ein Lob bedeutete doch immer nur, dass es eben noch nicht gut genug war, um als selbstverständlich empfunden zu werden.

„Ich mag Paris einfach so viel lieber als die Leute in London“, hatte Rosalind zu Jacques gesagt.

„Die steifen Oberlippen.“

„Die schlechte Luft.“

„Das furchtbare Essen. Das grässliche Bier. Marmite.“ Er schüttelte sich theatralisch.

„He! Ich darf über meine Landsleute lästern. Du nicht. Marmite ist eine Delikatesse.“

„Ein Verbrechen ist das. Außerdem darf ich kulinarisch gesehen alles, ich bin Franzose.“ Er reckte die Nase so hoch, wie er nur konnte.

Sie hatte ihn betrachtet. Ich werde dich vermissen, hatte sie sagen wollen, doch die Worte waren ihr nicht über die Lippen gekommen, und bevor er ihren Blick hatte erwidern können, hatte sie die Augen gesenkt.

 

Die Bustüren zischten, als Rosalind an der Temple Station ausstieg, um die letzten Meter zum College zu Fuß zu gehen. Es war praktisch gelegen, zwischen der großen Geschäftsstraße The Strand mit ihren Restaurants und Theatern im Norden und der Themse mit der Waterloo Bridge im Süden. Die erst vor wenigen Jahren neu errichtete Brücke wurde oft „Ladies’ Bridge“ genannt, weil sie wegen der damals fehlenden männlichen Arbeitskräfte hauptsächlich von Frauen gebaut worden war.

Rosalind vermied es, ihren Blick bis ans Südufer des Flusses wandern zu lassen, das noch immer von Ruinen und Schutthaufen geprägt war. Was alles im Krieg zerstört worden war. Wie viele Menschen ihr Leben gelassen hatten, wie viele Juden. Und sie hier in London hatten es trotz allem noch gut gehabt.

Sie sah auf die Uhr. Mit der Tube wäre sie deutlich schneller gewesen, doch sie bekam Beklemmungen in der Dunkelheit, in der engen Röhre zwischen all den Menschen und Tonnen von Gestein über sich. In Paris hatte sie nie auch nur einen Fuß in die Métro gesetzt, war lieber gelaufen und geradelt.

Rosalind hielt die Augen weit offen, um den vielen Studenten auszuweichen, die an ihr vorbeiliefen, und musste schmunzeln. Sie selbst hatte in Cambridge studiert, doch die Bedeutsamkeit, die die männlichen Studenten sich selbst zuschrieben, war hier offenbar die gleiche. Der größte Unterschied war die Geschäftigkeit, die in London keine Grenzen kannte. Im Vergleich dazu war der Campus in Cambridge eine stille, idyllische Landschaft aus Rasen und Bäumen, mit ehrwürdigen Gebäuden und Bibliotheken, die unter der Last der von Nobelpreisträgern geschriebenen Bücher ächzten.

Woran sie weniger gern zurückdachte, war der Gemeinschaftsraum am Newnham-Frauencollege in Cambridge, wo sie studiert hatte: finster wie ein Mausoleum und nicht viel gemütlicher. Es gab zwei steinharte Sofas, deren Armlehnen durchgescheuert waren, und die grünen Tapeten sahen aus, als stammten sie noch aus viktorianischen Zeiten. Und doch entspannen sich zwischen den älteren Studentinnen und Dozentinnen so gute, tiefgreifende Gespräche, dass die Düsternis schon bald keine Rolle mehr spielte.

Im Londoner King’s College würde es getrennte Einrichtungen für Männer und Frauen geben, und die wenigen Frauen würden nicht die besseren Räume haben, das war klar.

Sie erreichte den Durchgang zum Campus und stockte.

Ein Bombenkrater, zwanzig Meter im Durchmesser und halb so tief, gab ihr das Gefühl, zurück in den Krieg katapultiert zu werden. Rosalind meinte, das Pfeifen kurz vor dem Einschlag zu hören und zu spüren, wie der Boden zitterte. Sie ballte die Fäuste. Wie konnte man diese offene Wunde hier liegen lassen, wenn täglich lauter junge Leute ein und aus gingen, deren Kindheit durch den Krieg geprägt war? Als Absperrung war ein richtiger Zaun gebaut worden, als rechnete die Administration damit, dass der Krater für die nächsten Jahre bleiben würde. Offenbar galt diese Universität nicht umsonst als knauserig und schlecht organisiert.

Rosalind konnte sich gut vorstellen, wie die Studenten abends in angetrunkenem Zustand als Mutprobe in das klaffende Loch hinunterkletterten. Vielleicht nicht gerade die Theologiestudenten, die schon an der Universität mit diesen typischen priesterlichen Stehkragen oder sogar in schwarzen Kutten herumliefen. Oder gerade die, um auszuprobieren, wie es war, wenn man der Hölle näher kam? In diesem Moment begannen die Glocken der Kapelle zu läuten.

Die Fakultät für Biophysik war um den Innenhof herum angeordnet. Die Gebäude schienen sich abzuwenden, um nicht in den Krater zu stürzen.

Doch dann hielt Rosalind inne.

War es nicht großartig, dass sie als studierte Chemikerin in der Biophysik arbeiten würde? Genau diesen interdisziplinären Ansatz hatte sie an Professor Randalls Angebot so verlockend gefunden. Er holte sich Leute aus der Chemie, Biologie, Physik und Mathematik, die sich mit Lebendigem und Nichtlebendigem befassten, um gemeinsam die Wissenschaften voranzubringen, und dabei auch ein wenig vertrautes Terrain verlassen mussten.

Rosalind fragte sich durch, bis sie im Untergeschoss – genau genommen im Keller – ihrem neuen Vorgesetzten gegenüberstand. Professor John T. Randall war Mitte vierzig und recht klein, trug einen dandyhaften Anzug, Fliege und zu Rosalinds Verblüffung eine frische Blüte im Knopfloch.

„Herzlich willkommen, Dr. Franklin.“ Er schüttelte ihr kurz und prägnant die Hand. „Wir freuen uns sehr, Sie bei uns zu haben.“

Er war für seine Erfindung eines Mehrkammer-Magnetrons bekannt, mit dem man weit entfernte Gegenstände auf das Radar bekam. Es war eine wirksame Hilfe gegen die Invasion Großbritanniens gewesen, und angeblich hatte Randall eine ganze Menge Geld damit gemacht.

„Ich freue mich auch, Sir.“ Unauffällig wischte sie sich ihre verschwitzten Handflächen an der dunklen Hose ab. „Es ist mir eine Ehre, für Sie zu arbeiten. Ich bin schon ganz gespannt auf die Proteinkristalle.“

In den letzten Wochen hatte sie sich ins Thema Genforschung eingelesen. Kohle würde hier keine Rolle mehr spielen, aber Randall hatte sie wegen ihrer Kenntnisse in Röntgenkristallografie eingestellt, die man in beiden Disziplinen gebrauchen konnte: für die Erforschung von Kohle genauso wie die der Erbanlagen, die man in Proteinen vermutete.

Sie hatte so viel Literatur gewälzt, dass sie meinte, auf dem neuesten Stand zu sein, was die aktuellen Veröffentlichungen anging, aber vielleicht behielt das Forschungsteam ja einige wichtige Neuentdeckungen noch für sich. Allerdings hatte sie Bedenken, wie die Proteine sich mit der Kristallografie vertragen würden – eigentlich waren Proteine nämlich viel zu groß für diese Technologie. Doch sie würde einen Weg finden oder eine Alternative.

Das faszinierte sie so an der Forschung: sich an Problemen zu messen und sie zu lösen und damit auch immer ein kleines bisschen die ganze Wissenschaft voranzubringen.

„Kommen Sie mit“, sagte Randall. „Ich zeige Ihnen am besten gleich Ihren neuen Arbeitsplatz.“

Sie gingen einen langen Flur entlang. Ab und zu zeigte er auf eine Tür und erklärte, wer im Büro dahinter saß. Sie war verblüfft, wie viele Frauen er in seinem Team hatte.

„Dr. M’Ewen ist Physikerin, Dr. Hanson Biologin. Weiter hinten ist das Fotolabor von Freda Ticehurst, die ich von General Electric hergeholt habe. Eine tragische Geschichte, sie hat im Krieg ihren Verlobten verloren. Und hier ist das Büro von Dr. Fell.“

„Dr. Honor Fell? Ist sie nicht mehr in Cambridge?“

„Sie ist unsere Senior Biological Adviser und kommt jeden Freitag runter, bevor sie das Wochenende mit ihrer Familie im Süden verbringt. Kennen Sie sie?“

„Leider nicht persönlich, aber ihr guter Ruf eilt ihr voraus.“

„Sie ist reizend, eine ganz scheue Person. Was die Proteine angeht“, fuhr Randall im Plauderton fort, „so habe ich mich noch einmal mit einigen der anderen Seniorkräfte unterhalten, und es scheint uns deutlich sinnvoller, wenn Sie sich mit Desoxyribonukleinsäure beschäftigen, die wir gerade mit Ultraviolett- und Infrarotlicht erforschen. Das soll erst einmal Ihr Schwerpunkt sein.“

„Das hatten wir aber anders besprochen“, sagte sie verblüfft. „DNA gern, aber was die Methode angeht, kenne ich mich doch am besten mit der Kristallografie aus.“

„Ich weiß, ich weiß. Aber ich hatte Ihnen doch von Dr. Stokes geschrieben?“

Sie zögerte. Daran konnte sie sich beim besten Willen nicht erinnern. Sonst hätte sie nachgeschlagen, wer das war. Randall sprach weiter, bevor sie sich äußern musste.

„Er möchte sich derzeit lieber allein mit den Proteinen beschäftigen.“

Sie wusste nicht, was das alles bedeuten sollte, und schwieg.

„Das heißt“, fuhr Randall fort, „dass Sie mit einem Doktoranden zusammenarbeiten werden, Oliver Raymond. Außerdem haben wir noch Maurice Wilkins und Ellen Keller im Team. Das DNA-Material, das uns Professor Signer aus Bern bereitgestellt hat, bringt interessante Ergebnisse.“

All die Namen schwirrten ihr im Kopf herum, und sie musste sich sortieren.

„Also keine Proteine?“, fragte sie, um überhaupt etwas zu antworten, als Randall sie erwartungsvoll von der Seite ansah.

„Vielleicht in Zukunft.“

Was sollte sie tun? Protestieren würde am ersten Tag kaum einen guten Eindruck machen. Plötzlich hielt sie irritiert inne. „Sagten Sie Oliver Raymond?“

„Genau. Kennen Sie sich?“

„Wenn es der Oliver Raymond ist, mit dem ich in Paris am Labo gearbeitet habe?“

„In der Tat, genau der ist es. Wussten Sie gar nicht, dass er auch zu uns gewechselt hat?“

Rosalind war sprachlos.

Oliver. Ausgerechnet Oliver.

Hätte nicht Jacques heimlich wechseln können, um sie hier zu begrüßen?

Aber natürlich war Oliver die logischere Alternative. Er war Jacques’ um fast zwanzig Jahre jüngerer Halbbruder, mit dem sie in Paris oft ins Kino gegangen war. Ab und zu hatte sie ihn nach Jacques ausgefragt, doch Oliver hatte nie viel Kontakt zu ihm gehabt. Sie hatten zwar dieselbe Mutter, doch die war nach der Trennung von Jacques’ Vater nach Deutschland gezogen und hatte dort einen Belgier kennengelernt.

„Das war aber auch noch nicht mein Vater“, hatte Oliver ihr nach einem Charlie-Chaplin-Film bei einem Glas Wein erklärt. Sie hatten in einem Bistro im Quartier Latin gesessen, um sich herum schwatzende, lachende Menschen, die Männer mit offenen Hemdkragen, die Frauen ohne Strümpfe, ein leichter Wind strich über ihre Köpfe. Mehr Paris war kaum möglich. „Sie haben noch einen Sohn bekommen, meine Mutter ist wieder gegangen, hat einen Franzosen kennengelernt und ist mit ihm nach England gegangen. Das war mein Vater.“

„Sehr verwirrend.“

„Ich weiß. Ich verliere selbst manchmal den Überblick. Und dann war Krieg, und der hat diese verrückte Familie noch ein paarmal hin und her geworfen. Am Schluss bin ich hier in Paris gelandet und habe angefangen zu studieren. Weißt du, was ich in Paris am meisten vermisse?“

„Was denn?“

„Minzschokolade.“

Rosalind verschluckte sich fast an ihrem Wein. „Die vermisst du am meisten? Von allem?“

„Von allem. Bendicks Bittermints.“

„Das kann ich ja kaum glauben. Bisher habe ich gedacht, dass du eigentlich einen guten Geschmack hast.“

Er grinste. „Was ist mit dir? Was vermisst du am meisten?“

„Tja.“ Sie drehte den Stiel des Weinglases. „Die Familie.“

Da mochte sie noch so verrückt sein, diese Familie. Ihr Vater zum Beispiel, der sich über Politik und Presse echauffierte – sie regte sich gern mit ihm auf. Oder Jenifer, die so zarte Finger hatte, aber einfach nicht mit Nadel und Faden umgehen konnte – Rosalind nähte für sie und nutzte Jeni im Gegenzug gern als lebendige Schneiderpuppe. Ihr Bruder David, der summte, wo er ging und stand, und alle damit nervte – doch wenn er mit Mummy zu singen anfing, verstummten sie alle. Colin, der Jüngste, der in seinen Büchern lebte und den halben Shakespeare auswendig konnte. Oder ihre sechzehnjährige Cousine Naomi, die Ärztin werden wollte und die schönsten Lachanfälle bekam. Wie konnte sie diese Menschen nicht vermissen?

Oliver hatte geschwiegen, mit so etwas wie Wehmut im Blick. Lag es daran, dass er diese feste, enge Familie nicht hatte? So gesehen war es kein Wunder, dass er ihr so leicht von Paris nach London gefolgt war, denn dort hielt ihn ja dem Anschein nach nichts.

Sie mochte Oliver gern: Beide waren sie große Filmfans, auch wenn das Vergnügen, im Kino neben ihm zu sitzen, dadurch getrübt wurde, dass er nie stillhalten konnte und immer mit dem einen Bein wackelte. Das Problem war dieser Welpenblick, mit dem er sie so oft ansah, ob bei der Arbeit oder im Kino. Beim letzten Chaplin-Film hatte sie krampfhaft darauf geachtet, ihre Hände im Schoß gefaltet zu lassen, damit er nicht danach greifen konnte, und zur Van-Gogh-Ausstellung im Musée d’Orsay, die er als Nächstes vorgeschlagen hatte, hatte sie dann Denise und Vittorio Luzzati mitgeschleift.

Im Sommer hatte sie Oliver zuletzt gesehen, kurz bevor er den Assistentenjob im Labo vorübergehend aufgegeben hatte, um endlich seine letzten Kurse für den Abschluss an der Universität nachzuholen. Er war intelligent, gab aber schnell auf und hatte keine Lust mehr aufs Studieren gehabt. Doch Jacques und Rosalind hatten ihn überzeugt, dass man ohne Titel in der Welt der Wissenschaft nicht weit kam. Er wolle doch nicht für immer Assistent bleiben, oder?

„Wenn ich für dich arbeiten kann, Rosalind, dann bin ich gern Assistent“, hatte er gesagt und sie mit einem frechen Grinsen angesehen. Dabei hatte sie einfach nur einen Kollegen und einen Freund gewollt – und indirekt die Nähe zu Jacques.

Und nun war Oliver also hier am King’s College. Und immer noch als Doktorand.

Die Türen entlang des Flurs waren geschlossen, ganz anders als am Labo, wo sie offen standen und man überall klopfen, Hallo sagen und Fragen stellen konnte. Ihre und Randalls Schritte knallten auf dem hellgrünen, abgetretenen Linoleum des Untergeschosses. Es wurde immer düsterer. An den Wänden hingen leere schwarze Kreidetafeln und Korkpinnwände, an denen nur wenige Aushänge befestigt waren. Das wissenschaftliche Leben musste hinter den Türen stattfinden, von denen sich nun eine öffnete. Gelächter schwappte auf den Flur wie aus einem Pub, es klang wie ein Haufen grölender Männer. Zwei Kerle saßen im Raum, zwei traten heraus, allesamt groß, breit, kurze Haare, fast militärisch.

„Randy Randall!“, rief der eine, der andere wiederholte den Namen, dann klopften sie ihm auf die Schulter und verschwanden. Für Rosalind hatten sie keinen einzigen Blick übrig, was sie im Grunde erleichterte.

Die Spannung wich erst wieder aus Randalls Gesicht, als die beiden Kerle außer Sichtweite waren.

Er schüttelte resigniert den Kopf. „Ex-Militär.“

Hatte ihr Eindruck sie also nicht getäuscht.

„Keine schlechten Wissenschaftler“, fuhr er fort, „aber sie hüten ihre Projekte wie die größten Staatsgeheimnisse. Pünktlich zum Feierabend gehen sie dann rüber ins Finch und diskutieren über einem Bierchen weiter.“

„Müssen wir mit ihnen arbeiten?“

„Zum Glück nicht.“ Er wischte sich über die Schulter, wie um die grobe Berührung loszuwerden. „Die werden Sie, Dr. Franklin, bestimmt öfter mal im Vorbeigehen bitten, ihnen einen Tee zu holen. Machen Sie sich nichts draus. Den anderen Frauen geht es genauso.“

Wäre wohl zu viel verlangt, dachte sie, wenn er dagegen etwas unternehmen würde? Nun ja, immerhin beschäftigte er überhaupt einige Frauen.

Als sie um eine Ecke gingen, wurde der Flur wieder heller. Dann öffnete Randall eine Tür, und im Raum dahinter sprang jemand vom Boden auf: Oliver. Als er Rosalind sah, strich er sich seine blonde Tolle aus dem Gesicht und strahlte. Er war erst vierundzwanzig, aber ein Typ, der sein jungenhaftes Lächeln vermutlich sein ganzes Leben behalten würde.

„Hallo, Rosalind.“ Er trat vom einen Fuß auf den anderen und wischte sich die schmutzigen Hände an der Hose ab. Nachdem sie ihn so lange nicht gesehen hatte, fiel ihr auf, wie groß er war.

Rosalind wusste immer noch nicht, was sie davon halten sollte, dass er ihr gefolgt war und nichts davon erzählt hatte. Doch er grinste so entwaffnend und vertraut, dass sie ihn, ebenfalls mit einem Lächeln, erst einmal begrüßte. Ein Stück Paris in London.

Neben ihm stand eine junge Frau in weißer Bluse und dunklem Rock unter dem Laborkittel. Im Vergleich zu dem etwas rundlichen Oliver wirkte sie besonders dürr und hohlwangig. Die dunkelblonden Haare fielen strähnig herab. Randall stellte sie als Ellen Keller vor.

„Unser Gerät ist fast fertig“, sagte Oliver eifrig. „Wir müssen es nur noch richtig anschließen. Das versuche ich zumindest gerade.“

Unser Gerät? Sie hatte die Spezifikationen für den Röntgenapparat, den sie für die Kristallografie brauchte, in einem Brief an Randall mitgeschickt, damit er schon vor ihrer Ankunft gebaut werden konnte. Am Geld solle es nicht scheitern, hatte Randall gesagt, das Medical Research Committee habe ihn mit ordentlich Budget ausgestattet, und als Jacques ihr angeboten hatte, die Daten seines Apparats ans King’s College weiterzugeben, hatte sie sofort zugestimmt.

Es war ein gutes Gerät, mit dem sie im Labo interessante Experimente durchgeführt hatten. Jacques hatte es während des Krieges in Grenoble entwickelt, wohin er aus dem besetzten Paris geflohen war. Ein Jude ganz ohne Papiere, das war für ihn – wie für so viele – alles andere als ungefährlich gewesen. Doch es hatte funktioniert.

„Wer, wenn nicht du, könnte mit dem Apparat arbeiten“, hatte er gesagt und ihr zugezwinkert. „Du bist inzwischen eine bessere Kristallografin als ich.“

Dieses Zwinkern … Ach nein, schon wieder dachte sie an Jacques und Frankreich. Im Rückblick kam ihr einfach alles dort so schön vor, aber sie sollte sich auch daran erinnern, was alles nicht gut gewesen war. Zum Beispiel dieser Ausflug nach Korsika und die Nacht auf dem Schiff, als sie … Gut, das half – da war es in der Gegenwart doch deutlich weniger unangenehm. Und Jacques war ja auch nie der strahlende Held gewesen, den sie sich gewünscht hatte.

„Danke, dass Sie mir das Gerät haben bauen lassen“, sagte sie an Randall gewandt. „Es wird bestimmt auch für andere Zwecke als die Proteinkristalle hilfreich sein.“

Oliver sah sie verwundert an. Also hatte Randall mit ihm auch noch nicht gesprochen.

„Ich wollte aber doch meine Dissertation über Proteine schreiben“, sagte er zögerlich, nachdem Randall ihn in die neuen Pläne eingeweiht hatte.

Randall zuckte mit den Schultern, und Rosalind war entsetzt, wie gleichgültig es ihm zu sein schien, was sein neuer Doktorand benötigte.

„Sie können ja noch mal mit Stokes sprechen.“ Er drehte sich erneut zu Rosalind. „Dort hinten, das ist übrigens Ihr Schreibtisch.“

Entlang der Rückwand des Labors, unter den Kellerfenstern, die sich ganz oben unter die Decke klammerten, stand eine Reihe mit Tischen. Der ganz links, auf den Randall wies, war leer, abgesehen von einer windschiefen Lampe ohne Glühbirne. Das sollte ihr Arbeitsplatz sein? Sie bekam kein eigenes Büro, sondern nur einen altersschwachen Schreibtisch im Labor?

„Dann lasse ich Sie mal mit Ihrem Monstrum hier allein.“ Randall zeigte auf das Röntgengerät. „Leben Sie sich erst einmal ein, Dr. Franklin, und lernen Sie Ihre Kollegen kennen. Ich bin heute leider außer Haus, aber morgen werden wir richtig loslegen, in Ordnung?“

„Selbstverständlich.“

Er verschwand. Oliver lächelte verlegen. Miss Keller hatte die Hände in die Kitteltaschen gesteckt und schien abzuwarten, was auf sie zukam. Auch ihr hingen die Haare ins Gesicht.

„Oliver, bevor du weiter an meinem Gerät arbeitest“, sagte Rosalind, „musst du unbedingt zum Friseur. Im Labor muss es sauber sein, und du siehst ja kaum etwas.“

Beschämt strich er sich die Haare aus dem Gesicht. „Mache ich.“

„Und überhaupt, was tust du eigentlich hier?“

„Monsieur Mathieu hat im Labo gejammert, dass er mit den Dissertationen von mir, Michel und Pierre überlastet ist.“ Er verzog den Mund. Vom eigenen Doktorvater gesagt zu bekommen, dass man eine Last sei, musste selbst dem ausgeglichenen, fröhlichen Oliver nahegegangen sein. „Ich habe eigentlich eher aus Spaß gesagt, dass ich auch gehen könne, nach England, so wie du, Rosalind, und da ist er zur Schreibmaschine gerannt und hat ratzfatz ein Empfehlungsschreiben für Randall aufgesetzt. Zwei Wochen später habe ich hier angefangen. Allerdings will Randall nicht, dass du mich betreust. Wilkins soll das machen.“

„Wer genau ist das?“

„Dr. Maurice Wilkins“, sagte Miss Keller plötzlich mit kratziger Stimme. „Randalls rechte Hand. Arbeitet mit Röntgenkristallografie. Zusammen mit mir. Ist im Urlaub.“

Rosalind verstand gar nichts mehr. Sie sollte die Finger von der Kristallografie lassen, während dieser Wilkins, der bestimmt nicht so viel darüber wusste wie sie, weiter damit arbeitete? Der Name sagte ihr gar nichts.

Sie wandte sich Miss Keller zu. „Und welche Funktion haben Sie?“

„Seine Assistentin. Fulbright-Stipendiatin.“

„Und hat er Ihnen auch schon mal gesagt, dass Sie sich die Haare aus dem Gesicht binden sollten?“

Miss Kellers Augen wurden schmal. Sie erblasste.

Rosalind war zu weit gegangen. Es wäre wohl eine Entschuldigung angebracht gewesen, aber die kam ihr nicht über die Lippen, auch wenn sie sich schämte.

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Anna-Luise Melle schreibt in ihrem faszinierenden biografischen Roman „Die Meisterin der Wachsfiguren“ atmosphärisch dicht und unerhört spannend über das unglaubliche Leben der Frau, die als Madame Tussaud weltberühmt wurde.

Paris, 1778: Am glücklichsten ist Marie Tussaud, wenn sie ihrem Onkel bei der höchst anspruchsvollen Fertigung von Wachsbüsten und -figuren helfen darf. Bald wird man in Versailles auf die schöne junge Frau mit dem außergewöhnlichen Talent aufmerksam: Marie darf eine Schwester des Königs unterrichten! Dass sie sich dabei unsterblich in den attraktiven, aber verheirateten Maler Jacques verliebt, bringt sie in Schwierigkeiten.

Wenig später jedoch bricht die Französische Revolution mit Gewalt über Paris herein und bringt Marie in Lebensgefahr – nur ihre Kunst kann sie jetzt noch retten …

Die unglaubliche Geschichte von Madame Tussaud, der Frau, das weltberühmte Wachsfigurenkabinett schuf

In diesem mitreißenden biografischen Roman nimmt Anna-Luise Melle uns mit an den schillernden Hof von Versailles, in das grausame Paris der Französischen Revolution. Wir lernen die wahre Madame Tussaud kennen, die „Meisterin der Wachsfiguren“ und ihre einmalige Kunstfertigkeit, die ihr das Leben rettete und sie unsterblich machte.

Selfmade-Frau, alleinerziehende Mutter, Vorzeige-Unternehmerin – Die fabelhafte Welt der Marie Tussaud (1761-1850)

Sie war die Tochter eines Scharfrichters und einer Dienstmagd, doch aufgrund ihrer Begabung verzauberte sie am Versailler Hof die Adeligen mit ihrer Kunst. Während der Französischen Revolution musste sie dann deren abgeschlagene Köpfe nachbilden. Sie war die Geliebte des Malers und Revolutionärs Jacques Louis Davids und Zeugin der Hinrichtung ihrer Freundin Charlotte Corday. Sie erschuf unter Lebensgefahr die populärsten Kunstwerke ihrer Zeit und wurde mit ihrem Wachsfigurenkabinett zur Legende.

London, 1842

Das Schlurfen ihrer Schritte hallt durch das ganze Haus. Schwer und träge sind sie im Lauf der Jahre geworden, dennoch steht die alte Frau jeden Morgen vor dem ersten Hahnenschrei auf. Sie zieht ein schwarzes Kleid an und wählt eine passende Brosche aus, die sie mit den steifen Fingern mühsam an der Halskrause befestigt, ehe sie eine weiße Seidenhaube über ihr dünn gewordenes Haar spannt. Zum Schluss setzt sie ihre runde Brille auf und betrachtet sich im Spiegel. Ja, sie ist alt geworden, davon hat sie ihr Körper bereits überzeugt, aber ihr Geist, der ist noch wach und bereit, sich den täglichen Aufgaben zu stellen.

Mit einem Lächeln auf den Lippen verlässt sie das Haus. Sie liebt den Morgen, wenn die Sonnenstrahlen die Welt in das schönste Licht tauchen, wenn der seidene Nebel, der nachts als gespenstisches Wesen umhertreibt, als frischer Tau das Land benetzt und die Stadt noch schläft. Sie genießt die Stille, die mit der Einsamkeit einhergeht, aus der sie schon immer Kraft und Inspiration geschöpft hat. Noch nie hat sie oberflächliche Begegnungen und Unterhaltungen geschätzt, die lediglich der Höflichkeit geschuldet sind. Sie wollte immer nur das tun, was sie am liebsten mochte und am besten konnte: die Arbeit mit Wachs. Das ist ihr Handwerk, ihre Kunst, ihr Kapital.

Wenn der große Schlüssel die schwere Holztür zum Museum in der Baker Street öffnet, tritt sie ein in ihre Welt. Zunächst geht sie in den Keller, denn dort ist ihre Werkstatt. Behutsam hängt sie ihren Mantel an den Haken des Türrahmens. Es riecht nach Wachs und Farben. Auf einer kleinen Anrichte steht ein blauer Krug mit weißen Punkten. Er sieht so alt aus wie sie selbst, ist schon einmal geleimt worden und ist doch der einzige Krug, aus dem sie ihre heiße Milch trinkt.

Alles hat seinen Platz und seine Ordnung – in den Regalen, auf den Tischen und den Werkbänken. Sogar einen eigenen Brunnenanschluss hat sie einrichten lassen, direkt am Fenster. Das erspart viele Arbeitswege, was ihre müden Beine ihr danken. In der Mitte des Raums stehen für gewöhnlich die Figuren und Requisiten, die gerade in Bearbeitung sind. Momentan wartet allerdings nur eine Figur auf ihre Vollendung: ihre eigene. Sie will sich so darstellen, wie sie aussieht, wenn sie morgens aus dem Haus geht. Stück für Stück formt sie seit ein paar Wochen ihr eigenes Spiegelbild, auch wenn sie natürlich die Möglichkeit hätte, sich schöner darzustellen, als sie ist. Die Kunst verbirgt sich in dem, was der Verstand sieht und nicht das Auge, hatte Jacques einmal zu ihr gesagt. Jacques …

Gleich am Eingang steht ein Regal mit Utensilien: Kämme, Pinsel, Farben, Nähzeug. Sie steckt einen Zackenkamm und einen feinen Pinsel in ihre Schürzentasche. Dann trägt sie mit einem groben Pinsel Grundfarben auf eine kleine Palette auf. Früher ging das schneller, weil die Hände ruhiger waren.

Mit der Palette in der Hand steigt sie bedächtig die wuchtigen, ungleichmäßigen Steintreppen zum Erdgeschoss hoch. Dabei bleibt sie auf jeder Stufe stehen, bevor sie die nächste nimmt. Als Voltaire damals zu ihr kam, war er schon über achtzig Jahre alt und beschwerte sich über das Tempo des Winters, mit dem er nicht mehr mithalten könne. Als junges Mädchen konnte sie darüber nur lächeln, doch heute weiß sie, was Altwerden bedeutet – eine Veränderung der Geschwindigkeit.

Die Sitzung zum Maßnehmen mit Voltaire wird sie wohl nie vergessen, genauso wenig wie das Donnerwetter von Onkel Philippe, das danach über sie hereingebrochen war. Sein Vorwurf, dass sie sich geschäftsschädigend und wie eine Anfängerin benommen habe, hatte durchaus seine Berechtigung. Als junge Assistentin des Wachsbildners Philippe Curtius hatte sie Voltaire damals den ganzen Kopf eingegipst und dazu die Hände, sodass er unter der Maske fast erstickt wäre. Noch heute sieht sie ihn röchelnd und stöhnend auf dem Stuhl sitzen, dabei hatte sie es nur gut gemeint. Seine Bemerkung, dass sie eine wahre Meisterin sei, weil er durch ihre zarten Hände in den Genuss gekommen sei, unter der Maske die Hitze der Verdammnis und das Frohlocken des Paradieses gleichermaßen zu spüren, hatte in Voltaires illustren Kreisen die Neugierde geweckt und ihr Ansehen gehoben.

Sobald die Lichter im Museum angezündet sind, wird alles genau inspiziert und nichts dem Zufall überlassen. Die Wachsfiguren dürfen weder dem direkten Sonnenlicht ausgesetzt sein noch zu nahe an einer Lampe stehen.

Sie empfindet die morgendliche Stille im Museum wie ein Gebet. Dann kann sie sich den Figuren auf ihre Weise nähern, in die dunklen Tiefen derer versinken, die längst nicht mehr leben. Dann lauscht sie ihren Stimmen, während sie hartnäckig die Glasaugen fixiert, die sie selbst eingefügt hat. In ihrer Welt sind sie lebendig, erzählen ihr von den Freuden und Ängsten, die ihr Leben ausmachten. Und sie ist die Einzige, die ihre Sprache beherrscht. Jeden Morgen berührt sie jede einzelne Figur und holt dabei das Bild des echten Menschen in ihr Gedächtnis zurück. Hat sie auch nichts vergessen, nichts übersehen? Erkennen die Betrachter die Charaktere so wie sie?

Vor Ludwig XVI. bleibt sie stehen. Sie weiß noch, wie sie ihn am Hof von Versailles modellierte und wie ihre Hände zitterten, als sie seinen abgeschlagenen Kopf aus dem blutverklebten Leinentuch aufdeckte, ein paar Jahre später. Die bewaffneten Sansculotten, die sie dazu zwangen, lachten nur über ihren Ekel. Ach, Eure Majestät, denkt sie, ich gehöre nicht zu denen, die Euch dieses Ende gönnten und freudetaumelnd um Euren abgeschlagenen Kopf tanzten.

Seufzend streift ihr Blick Marie Antoinette. Und Ihr, denkt sie, Ihr habt mich freundlich angelächelt und doch nur durch mich hindurchgelächelt. Ich nehme Euch das nicht übel. Im Gegenteil, ich sorge dafür, dass sich die Leute noch an Euch erinnern. Denn viel ist nicht übrig geblieben von Eurem prächtigen Versailles. Und nun steht Ihr hier und habt nicht einmal mehr Gelegenheit zur Entrüstung, da in diesem Hause ich das letzte Wort habe.

Neben dem Königspaar steht Elisabeth, die jüngste Schwester von Ludwig XVI. Die alte Frau hat ihr diesen Platz gegeben, weil die Prinzessin auch zu Lebzeiten immer an der Seite ihres Bruders blieb und ihn bis zum Schluss verteidigte. Sie war eine warmherzige Gönnerin, der Engel von Versailles, und musste sich dennoch einem so ungerechten, grausamen Ende fügen.

Mit Madame Elisabeth hat alles angefangen. Nein, angefangen hat es eigentlich mit Onkel Philippe in Paris. Die alte Frau kann sich noch sehr genau daran erinnern, wie sie mit Maman vor seiner Tür stand. Damals, kurz nachdem die Welt ihrer Kindheit von einem Tag auf den anderen verloren gegangen war.


Elsass, 1767

Kalte Windböen fegten die letzten bunten Blätter von den Bäumen. „Sie werden in ferne Länder entführt. Dort leben sie bei herrlichem Sonnenschein vergnügt, bis sie der Frühling zurückholt und mit Zauberkräften in neue hellgrüne Blätter am Baum verwandelt …“ So hatte ihr Vater es Marie noch vor wenigen Tagen erzählt. Doch nun hörte sie ihn lautstark mit Maman im Nebenzimmer streiten. Die Eltern ahnten sicher nicht, dass sie am Fenster stand und die Reise der Blätter beobachtete, während sie den Streit durch die einen Spalt breit geöffnete Tür belauschte.

„Du solltest das Angebot annehmen und mit Marie nach Paris gehen. Bei Curtius hättest du eine gute Anstellung“, sagte ihr Vater gerade. „Mit ihm hast du es gut getroffen, und er wird gewiss für Marie sorgen. Sie ist ein kluges, begabtes Kind, dessen Zukunft ich nicht durch meinen Stand gefährden will. Mit ihren sechs Jahren ist sie alt genug, dass ich euch gehen lassen kann. Außerdem will ich frei sein. Wenn du ehrlich bist, dann willst du das auch. Ich werde weggehen, in eine fremde Stadt, und niemand wird mich mit euch in Verbindung bringen.“

„Du bist und bleibst ein selbstsüchtiger Narr! Du willst die Verpflichtungen loswerden, die eine Familie mit sich bringt, aber schiebst deine unschuldige Tochter vor.“

„Meine Tochter? Hältst du mich für blind oder für dumm? Von Anfang an wusste ich, dass sie nicht von mir ist, und doch liebe ich sie wie mein eigen Fleisch und Blut. Ich werfe dir das nicht einmal vor, denn Curtius kann sehr charmant sein. Es ist das Beste, wenn wir beide ab jetzt getrennte Wege gehen. Curtius kann euch eine bessere Zukunft bieten als ich. Und das weißt du auch.“

„Was redest du da? Marie ist deine Tochter! Du setzt mich vor die Tür und behauptest, Marie sei nicht dein Kind? Das behauptest du doch nur, um dich besser zu fühlen, weil wir dir eine Last sind. Welche Schande tust du mir an?“

„Ich habe dich beobachtet, wie du mit Curtius umgegangen bist und er mit dir.“

„Wo willst du das denn gesehen haben?“

„Du hast mich von jeher unterschätzt.“

„Deine Schnüffeleien waren mir schon immer unheimlich.“

„Du bist regelrecht verrückt nach diesem Curtius, wie du es zu mir nie warst. Es verletzt mich, weil du mein Weib bist, aber es tut mir nicht weh, weil wir uns nicht lieben. Marie ist ganz anders als wir beide. Wenn sie mit ihrer Puppe spielt, will sie ständig etwas an ihr verändern. Sie liest Geschichten aus Wolkengebilden und malt sie anschließend in den Sand. Sie lebt in ihrer ganz eigenen Welt, die mit unserer nichts zu tun hat – mit der von Curtius allerdings schon. Sieh es doch, wie es ist: Ich entlasse dich und Marie in die Freiheit. Sie wird in Curtius einen guten Mentor finden und in gehobenen Kreisen aufwachsen. Ob du ihr jemals sagst, wer ihr leiblicher Vater ist, bleibt dir überlassen. Du kannst jetzt endlich das Leben führen, das du dir immer gewünscht hast. Geh nach Paris, nimm deinen Mädchennamen an, und behaupte, dass ich im Krieg gefallen sei, aber verlasst nun beide mein Haus!“

Wortlos ging Maman an ihm vorbei und fing an zu packen. Als sie ins Schlafzimmer kam, hatte sich Marie bereits schlafend gestellt und wartete mit geschlossenen Augen auf das, was Maman ihr wohl jetzt erklären würde.

Auf einmal fiel die Haustür laut ins Schloss. Marie erschrak und befürchtete, Maman hätte sie allein zurückgelassen, aber die suchte nur aufgebracht ihre Sachen im Haus zusammen. Als Marie zum Fenster lief, sah sie ihren Vater vor dem Haus stehen. Er blickte aus seinen kristallklaren, blauen Augen nach oben. Ob er sie im Dunkeln am Fenster erkannt hatte? Dann ging er mit entschlossenen Schritten davon, sein Rock wehte im Wind.

Was hatte er eben gesagt? Sie sei gar nicht seine Tochter? Warum mussten sie und Maman auf einmal von hier weg?

Plötzlich stand ihre Mutter mit eisiger Miene vor ihr. „Zieh dich an, wir gehen.“

„Aber warum? Und wohin?“ Marie versuchte, sich unwissend zu stellen.

„Frag nicht“, erwiderte Maman und packte sie fest am Arm. „Wir verreisen heute noch.“

Offenbar hatte sie gemerkt, dass Marie den Tränen nahe war, denn sie ging vor ihr in die Knie und nahm sie sanft in die Arme. „Wir schlafen in einem Gasthof, und morgen fahren wir für immer nach Paris.“

Marie sah sie mit großen Augen an und versuchte, ihren Schmerz zu unterdrücken. „Aber Papa …“

Sogleich fiel ihr Maman ins Wort: „Dein Papa ist im Krieg gestorben. Noch vor deiner Geburt. Hast du das verstanden?“

Als Marie das Gesicht zum Weinen verzog, schüttelte ihre Mutter sie ärgerlich.

„Hast du das verstanden?“

Ängstlich nickte Marie.

„Dann sprich es mir nach“, befahl Maman.

Vorsichtig formulierte Marie die Worte, obwohl ihr dabei die Kehle eng wurde: „Mein Papa ist im Krieg gestorben, noch vor meiner Geburt.“

„Braves Mädchen.“ Der Griff ihrer Mutter wurde wieder sanft, und Maman streichelte ihr zärtlich über die Wange.

Noch in derselben Nacht hatten sie ihre Habseligkeiten in einem großen Sack zusammengeschnürt, den Maman über den Rücken warf. Schweigend ging sie mit Marie an der Hand durch die Dunkelheit bis in einen Nachbarort, wo sie den Holzriegel eines fremden Stalles so leise wie möglich hochzog. Sie hielt den Zeigefinger auf den Mund, als sie Marie mit einem Kopfnicken anwies, in den Stall zu gehen. Marie wagte nicht zu fragen, warum sie denn nicht in einem Gasthof schliefen, wie Maman es ihr versprochen hatte.

Es war warm und roch nach Stroh und Tieren. Im Dunkeln nahm sie die Umrisse von Pferden wahr, die in einer großen Box standen. Eines von ihnen gab ein kurzes Schnauben von sich, als sie näher kamen. Ängstlich klammerte sich Marie an Maman, die unerschrocken Stroh zusammensuchte und ein kleines Lager für die beiden herrichtete.

„Schlaf jetzt“, sagte sie, „noch vor dem ersten Hahnenschrei verschwinden wir von hier, bevor uns jemand entdeckt. Wir fahren ab morgen mit der Postkutsche.“

Marie bekam das Bild nicht aus dem Kopf, wie Papas Rock geweht hatte, als er mit energischen Schritten hinaus in den Nebel gegangen und sich immer mehr von ihr entfernt hatte. Doch im Stillen wiederholte sie unentwegt die Worte, die sie lernen musste, bis sie irgendwann zwischen Pferden, Stroh und Maman einschlief: Papa ist im Krieg gestorben, noch vor meiner Geburt.


Paris, 1778

Unsere Österreicherin Marie Antoinette wird dem König ein Kuckuckskind als Thronfolger schenken«, beschwerte sich eine der Marktfrauen bei ihrer Standnachbarin, die emsig Besen aus Birkenreisig band. Ihre Hände waren groß und von Schwielen gezeichnet. Hin und wieder fiel aus ihrer Haube eine Haarsträhne, die sie verdrossen wegblies.

Gegenüber gackerten braungescheckte Hennen in Käfigen, daneben stellte eine alte Bäuerin gerade ihren Tragekorb ab, der bis oben hin mit frischen Blaubeeren gefüllt war. Kinder in kurzen Hosen sausten barfuß zwischen den Marktständen herum und spielten Fangen. Es passierte schon mal, dass dabei etwas von den Ständen verschwand, aber ein Reisigbesen war in der Regel kein begehrtes Objekt, denn er konnte keinen Hunger stillen.

„Gestern muss es wieder eine lange Nacht im Opernhaus gewesen sein“, ereiferte sich die Marktfrau weiter. „Erst in den frühen Morgenstunden fuhr die königliche Kutsche nach Versailles. Dieser ausländische Prinz soll auch dabei gewesen sein.“ Sie schnäuzte sich kräftig in ihre Schürze.

„Zwei Ausländer unter sich – na, das passt ja“, erwiderte die Marktfrau mit den Reisigbesen und lachte kehlig. „Wenigstens bekommt sie endlich mal ein Kind. Wäre der alte König noch am Leben, dann hätte er den Thronfolger doch noch am liebsten selbst gezeugt. Der hat ja vor keinem Rock haltgemacht, der alte Schwerenöter. Aber schließlich ist er mit der Last seiner Sünden in die Grube gefahren. Geschah ihm recht. Dann lassen wir uns mal überraschen, was da wohl für ein Kuckuck rauskommt.“

Marie und ihre Freundin Marianne kicherten. Sie kauften regelmäßig hier ein und waren mit dem Getratsche der Marktfrauen bestens vertraut.

„Welcher Prinz?“, fragte Marie leise.

„Sie meint sicher den schwedischen Grafen von Fersen“, gab Marianne zur Antwort. „Er und die Königin sollen ja unsterblich ineinander verliebt sein. Aber ist es ihnen zu verdenken? Ich meine, sie sind beide bildhübsch. Unser König hingegen … na ja …“

Marie holte zwei Äpfel aus ihrem Korb und reichte sie ihrer Freundin. „Nimm. Für heute Nachmittag.“

„Aber Marie, du kannst mir doch nicht immer …“

„Doch, lass es dir schmecken. Onkel Philippes Wachsgeschäft läuft gut. Mach dir keine Gedanken.“

Die beiden umarmten sich, bevor sich ihre Wege wieder trennten. Marianne war mit ihren sechzehn Jahren genauso alt wie Marie, aber schon mit einem Wagenmacher in der Rue Guisarde verheiratet. Als die beiden jungen Frauen sich vor einem Jahr beim Einkaufen auf dem Markt kennenlernten, hatte Marianne ihre beiden jüngsten Geschwister dabeigehabt, die an ihrem Rockzipfel gehangen hatten, während diese in ihrer Geldbörse alle Münzen zusammengesucht hatte, um bei der Marktfrau das Gemüse bezahlen zu können. Sie war ebenso wie ihre Geschwister schlicht gekleidet und schien nicht gerade wohlhabend zu sein. Da sie Marie leidtat, hatte sie kurzerhand die Summe beglichen, die im Übrigen nicht besonders hoch gewesen war. Dann hatte sie Marianne geholfen, die Einkäufe nach Hause zu tragen.

Sie hatten sich für die darauffolgende Woche zur selben Zeit am selben Marktstand verabredet, und aus der gegenseitigen Sympathie, die schon vom ersten Moment an bestanden hatte, wurde allmählich ein freundschaftliches Band. Auch Mariannes Mann, der ein ebenso freundlicher Mann mit einem eigenen Handwerksbetrieb war, hatte nichts gegen Maries Besuche einzuwenden.

Marie fragte sich, wann sie wohl selbst eine Familie haben würde. Eine Familie mit Kindern und einem eigenen Heim. Bisher war sie nur einmal einem Mann begegnet, der ihr gefiel. Er hatte mit halbgeschlossenen Augen an der Île de la Cité im Gras gelegen, auf einem Grashalm gekaut und seine Füße in die Seine baumeln lassen. Doch leider hatte er sie so unverschämt angesprochen, dass sie gar nicht anders konnte, als es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen. Sie wusste bis heute nicht, wer er war, und sie hatte ihn seitdem auch nicht wiedergesehen. Trotzdem dachte sie manchmal an sein hübsches Gesicht mit dem kleinen Leberfleck über der Lippe.

 

In der Werkstatt in der Rue Saint-Honoré roch es nach ausgekühltem Bienenwachs. Die Büste des Herzogs von Orléans wartete auf ihre Fertigstellung. Die Schichtdicke des Wachses war ausgehärtet, und die Gipsform, die es gehalten hatte, konnte nun entfernt werden. Vorsichtig zog Marie an einer Schnur, um die einzelnen Gipsteile behutsam vom Wachs zu lösen. Das war der entscheidende Moment, denn nun stellte sich heraus, ob sie den richtigen Zeitpunkt und das richtige Mischverhältnis der geheimen Rezeptur gewählt und ob sie den Tonkopf technisch gut gearbeitet hatte. Hatte sie die Farbpigmentierung für das spätere Kolorieren getroffen? War die Form des Abgusses verzogen oder gar voller Bläschen oder Risse? Es hatte viele Jahre gebraucht, bis Onkel Philippe so viel Vertrauen in Maries Arbeit gewonnen hatte, dass er ihr diesen Arbeitsschritt überlassen konnte.

Schon als Kind begeisterte sich Marie für seine Köpfe und Figuren und wollte das Handwerk der Wachsbildnerei von ihm erlernen. Inzwischen übernahm sie sämtliche Aufgaben der Wachsmodellierung, sodass sich Onkel Philippe bedenkenlos seiner Ausstellung widmen konnte. Er wusste, dass er in ihr eine gelehrige und talentierte Schülerin gefunden hatte, die ganz in seinem Sinne arbeitete und den hohen Ansprüchen an das Handwerk gerecht wurde. Was Onkel Philippe vor allem an Marie schätzte, war ihr ruhiger und konzentrierter Arbeitsstil.

Die ausgekühlte Wachsbüste musste nun noch gesäubert und geglättet werden. Dazu nahm Marie ein reines Leinentuch und wischte die Rückstände ab, die von der Gipsmaske hängen geblieben waren. Die Modellierwerkzeuge, die sie anschließend benötigte, erwärmte sie kurz, dann schnitt sie Gussnähte und Unebenheiten weg. Mit einem Metallstift bohrte sie die Nasenlöcher in Tiefe und Breite aus, um sie anschließend zusammen mit der übrigen Nase abzurunden.

Ähnlich ging sie beim Mund vor, indem sie mit dem Messer eine Vertiefung einkerbte und dann den Lippen die passende Rundung verlieh. Onkel Philippe staunte immer wieder, dass sie sich an kleinste Details des Gesichts erinnern konnte, was das Modell am Ende umso echter wirken ließ. Sie tauchte einen Schwamm in Balsamharztinktur und bearbeitete damit die ganze Büste. Der wichtigste Arbeitsschritt jedoch war das Ausschneiden der Augenhöhlen, in welche die Glasaugen eingesetzt wurden, die dem Gesicht erst wahres Leben einhauchten.

Schließlich nahm sie die Büste vom Tisch. Philippe II., der Herzog von Orléans, war fertig gegossen und geformt. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk.

Das Geklapper von Pferdehufen vor dem Haus kündigte Onkel Philippes Kutsche an. Er wusste, dass Marie die Büste des Herzogs heute zu Ende bringen wollte, und war gespannt auf das Ergebnis.

„Ich konnte es kaum erwarten, Marie“, sagte er, als er die Werkstatt betreten und seinen Mantel achtlos auf einen Stuhl geworfen hatte. „Lass mich den Herzog anschauen.“

Er nahm die Büste, die sie ihm wie einen Pokal reichte, ging zum Fenster und inspizierte ihn von allen Seiten.

„Keine Leinwandfetzen mehr, alle Fugen und störenden Abdrücke von der Maske sind sauber zugeschabt, keine Unebenheiten zu sehen, die Muskeln glatt gestrichen, aber erkennbar.“ Er drehte sie erneut im Licht, hielt sie von sich weg und lächelte. „Die Form der Augen, die Form der Lippen – tadellos. Es ist genau der Gesichtsausdruck des Herzogs, den ich haben wollte.“ Stolz sah er sie an. „Das hast du gut gemacht, Marie!“

Früher hatte Onkel Philippe ihr immer prüfend über die Schulter geblickt, meist hatte er etwas anzumerken gehabt und ihr weitere Anweisungen gegeben. Ihre erste Prüfung war die Büste von Dauphin Louis Auguste gewesen, der inzwischen König war. Sie hatte die Augäpfel aus dem Wachs herausschneiden und die Glasaugen durch das Halsloch von innen einfügen müssen. Dabei hatte sie sich immer wieder vergewissert, ob alles passgenau war. Spätestens da hatte Onkel Philippe erkannt, dass sie ein großes Talent besaß und dass es die richtige Entscheidung gewesen war, ihr die Wachsbildnerei zu vermitteln, wie sie es sich immer so sehr gewünscht hatte.

Philippe Curtius war Arzt und ein angesehener Wachsbildner aus Bern, der nach einem längeren Aufenthalt in Straßburg auf die Einladung des Prinzen de Conti nach Paris gekommen war, um in der Metropole der Vergnügungen mit seinem Können aufzuwarten, denn da gehörte er – nach Ansicht des Prinzen – hin. Die Entscheidung, das Angebot des Prinzen anzunehmen, das auch das Wohnrecht in einem Haus in der teuren Rue Saint-Honoré beinhaltete, hatte sich schon bald als richtig erwiesen.

Curtius führte inzwischen eine eigene Ausstellung und modellierte alles, was Rang und Namen hatte. Seine Geldbörse wurde dicker, und sein Bekanntheitsgrad stieg ebenso wie sein Ansehen. Obwohl er gar nicht Maries richtiger Onkel war, hatte er sie und ihre Mutter einst bei sich aufgenommen. Doch schon bald wurde der fremde Mann für Marie zu einem verständnisvollen und warmherzigen Beschützer, wohingegen Maman nichts von ihrer bisherigen Strenge verloren hatte. Glaubte diese sich allerdings mit Curtius allein, so konnte sie die äußere Härte wie eine Rüstung ablegen und in seltsam vertraulicher Weise Curtius’ Nähe suchen, manchmal sogar bis unter seine Bettdecke.

Nie hatte Marie verstanden, warum ihr Vater sie damals weggeschickt hatte und was es mit dem Stand auf sich hatte, vor dem er Marie schützen wollte. Und warum hatte er zu Maman gesagt, dass er gar nicht ihr Vater sei? Nur noch nebulös konnte sie sich an sein Gesicht erinnern, an die kristallklaren blauen Augen, doch an seine Stimme gar nicht mehr. Würde sie ihn wiedererkennen, wenn er ihr heute über den Weg liefe? Wünschte sie sich das denn überhaupt?


Paris, 1778

Nach Voltaires Tod im Mai 1778 erlebte Curtius’ Ausstellung auf dem Jahrmarkt Saint-Laurent einen wahren Besucheransturm. Jeder kam, um das Abbild des großen Philosophen zu sehen. Da es die erste von Marie gefertigte Wachsfigur war, die sie nur wenige Monate vor seinem Tod modelliert hatte, wurde man auf sie aufmerksam. Es musste ja niemand erfahren, dass Voltaire während der Sitzung unter der Gipsmaske fast erstickt wäre. Bei einem Besuch der Ausstellung, wo Marie sich von der Begeisterung der Besucher überzeugen wollte, lernte sie Jean-Jacques Rousseau kennen. Er hatte nur darauf gewartet, von ihr gefragt zu werden, ob sie auch seine Büste modellieren wolle. Denn noch kurz vor seinem Tod hatte Voltaire erzählt, dass die junge Wachsbildnerin sehr anspruchsvoll in der Wahl ihrer Modelle sei.

Marie nahm Rousseaus Auftrag an. Für die Sitzung, bei der Maß genommen wurde, hatte er die Werkstatt besucht, und nun fuhr sie mit der Kutsche nach Ermenonville, um die frisch gefertigte Büste auszuliefern. Wie bei der von Voltaire hatte sie auch bei Rousseaus Büste für die Wachsmischung ein Quantum Zinnober verwendet, um der Haut die passende Farbe zu verleihen, und sie und Curtius waren sehr zufrieden mit dem Ergebnis.

Es war Sommer, und die Natur zeigte sich in ihrem bezauberndsten Kleid. Auf den Feldern, an denen Maries Kutsche vorbeiholperte, wendeten Bauern das Heu. Greifvögel zogen in luftiger Höhe ihre Kreise, Mückenschwärme tanzten im Sonnenlicht, und die Weizenfelder standen in üppiger Pracht. Feldlerchen zwitscherten. Als sie gegen Mittag am Hause von Monsieur Rousseau ankam, stand die Sonne im Zenit. Ein Dienstmädchen öffnete ihr und ließ sie an der Tür warten.

Wenig später kam Rousseau mit offenen Armen auf sie zu. Seine Verbeugung war knapp. „Sind Sie etwa gekommen, um mir die Büste zu überbringen? Ist sie schon fertig? Bitte, folgen Sie mir doch in den Garten, und erweisen Sie uns die Ehre, mit uns zu essen.“ Plötzlich unterbrach er sich und sah Marie besorgt an. „Oh, ich rede und rede. Dabei ist die Kutschfahrt von Paris hierher lang und mühsam. Wollen Sie sich vielleicht erst ein wenig erfrischen? Ich gebe unserer Dienstmagd Adelais Bescheid, damit sie Ihnen das Gästezimmer zeigt. Aber natürlich hat mich die Neugier gepackt. Gestatten Sie mir, meine Liebe, vorher noch die Büste zu sehen.“

Marie hätte nicht gedacht, dass es auch Männer gab, die ohne Unterlass reden konnten. Sagte man diese Angewohnheit nicht eher den Frauen nach? Rousseau sprudelte noch mehr vor Begeisterung, als er die Büste sah. Er hatte bereits einen Platz im Haus gewählt, wo sie stehen sollte. Marie sah es als ihre Aufgabe, die Büste eigenhändig auf den dafür vorgesehenen Sockel zu stellen. Vorsichtig entfernte sie die Tücher, in die das Kunstwerk eingepackt war.

Während sie beschäftigt war, traf ein junger Mann ein, der auch zu Rousseau wollte und von ihm auf das Herzlichste empfangen wurde. Marie war auf ihre Arbeit konzentriert und hörte daher nicht, worüber sich die beiden unterhielten.

Wenig später kam Rousseau zusammen mit dem jungen Mann zu ihr. „Mademoiselle Marie, darf ich Ihnen Maximilien de Robespierre vorstellen, einen Freund und großen Anhänger meiner Literatur?“

Marie drehte sich um und überlegte ganz kurz, woher sie den jungen, gut aussehenden Mann mit dem Leberfleck über der Lippe kannte. Auch er schien sich zu fragen, wo sie sich schon einmal begegnet sein könnten, doch ihr fiel es schneller ein. Es war der freche junge Mann von der Île de la Cité, der im Gras gelegen hatte und ihr aufgefallen war. Diesmal machte er allerdings keinerlei Anstalten, sie unverschämt anzusprechen.

Marie kam Rousseaus Bitte nach, zum Essen zu bleiben, und so lernte sie nicht nur seine Ehefrau Thérèse, sondern auch den jungen Anwalt Robespierre kennen, der Rousseau regelmäßig besuchte, um mit ihm zu philosophieren. Das Verhältnis zwischen den beiden erinnerte an das von Vater und Sohn und schien auf gegenseitiger Wertschätzung gegründet zu sein. Heute allerdings war Marie diejenige, die Robespierres Interesse auf sich zog und damit die allgemeine Aufmerksamkeit von Rousseaus Plaudereien ablenkte. Während Voltaire sich bei seiner Sitzung fast nur nach familiären Angelegenheiten erkundigt hatte, interessierte sich Rousseau für ihr Handwerk. Als sie von Monsieur Robespierre gefragt wurde, ob sie einen Spaziergang mit ihm machen wolle, wurde die Dienstmagd geholt, die die beiden in sicherem Abstand begleiten sollte.

Robespierre führte Marie durch einen Park mit jungen Bäumen und einem See. Sie war begeistert von der Anlage, die ihr wie eine Liebeserklärung an die Natur vorkam.

„Der See ist künstlich angelegt“, erklärte Robespierre. „Das wollten Sie doch sicher wissen.“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Weil man in Ihrem Gesicht lesen kann wie in einem Buch. In einem sehr hübschen Buch, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.“

„Und was lesen Sie sonst noch darin?“

„Nun, dass Sie sich fragen, wie alt die Bäume sein mögen.“

„Das interessiert mich in der Tat.“

„Als der Marquis von einem Aufenthalt in England zurückkam, begann er, diesen Park im Stile eines englischen Gartens zu gestalten. Dafür holte er eigens zweihundert Engländer und einen schottischen Gärtner hierher. Die vielen Bäumchen, die unseren Weg säumen, sind junge Pappeln.“

„Welcher Marquis?“

„Marquis René Louis de Girardin, dem das Schloss Ermenonville gehört. Er hat Monsieur Rousseau und seine Frau hierher eingeladen und ihnen ein Haus zur Verfügung gestellt. Sie sind seine Gäste.“

„Wie kommt es, dass Sie mit Monsieur Rousseau so eng befreundet sind? Ist er nicht viel zu alt für Sie?“

„Das mag schon sein“, entgegnete Robespierre lächelnd. „Aber ich schätze seine Werke. Sie sind von einer erstaunlichen Kraft und Ehrlichkeit. Er ruft darin zu Veränderungen auf und fordert, dass die staatliche Gewalt vom Volk ausgeht. Ich verehre ihn sehr und finde es bedauerlich, dass Philosophen wie er zum Teil geächtet und vertrieben werden. Doch glücklicherweise gibt es auch in Adelskreisen durchaus Menschen mit einem offenen Blick für unaufhaltsame Veränderungen, wie etwa den Prinzen de Conti.“

Abrupt blieb Marie stehen und sah ihn irritiert an. „Der Prinz de Conti?“

Marie hatte diesen Mann seit ihrer Kindheit in der Werkstatt von Onkel Philippe ein und aus gehen sehen. Jedes Mal, wenn er kam, verschwand er mit Curtius in einem kleinen Zimmer hinter der Werkstatt und ließ, wenn er wieder ging, einen dicken Beutel mit Münzen generös auf die Werkbank fallen.

„Kennen Sie ihn etwa auch?“, wollte Robespierre wissen.

„Nicht persönlich. Und woher kennen Sie ihn?“

„Ich kenne ihn auch nicht persönlich, aber ich weiß, dass er nicht nur ein Kunstliebhaber ist, sondern auch ein großer Förderer und Beschützer von Rousseau, daher schätze ich ihn. Rousseau hat ihm viel zu verdanken.“

„Bitte entschuldigen Sie mich, ich habe Sie unterbrochen. Sie wollten mir eigentlich von Ihrer Freundschaft mit Rousseau erzählen.“

„Nachdem ich ein paar seiner Bücher gelesen hatte, wollte ich diesen großartigen Schriftsteller unbedingt kennenlernen, und schon nach unserer ersten Begegnung fühlte ich eine starke Verbundenheit auf literarischer Ebene. Seine Romane sind von einer Philosophie geprägt, die ich politisch durchaus befürworte.“

„Sind Sie denn oft hier, da Sie sich so gut auskennen?“

„Nun, ich versuche zumindest, ihn regelmäßig zu besuchen. Doch jetzt möchte ich als examinierter Anwalt zurück in meinen Heimatort Arras, und so werden die Besuche wohl leider seltener werden.“

Beim Gehen hielt sich Robespierre die ganze Zeit sehr aufrecht und hatte dabei die Hände auf dem Rücken verschränkt. Marie genoss die Konversation mit diesem gut aussehenden und klugen Mann.

„Doch nun spannen Sie mich bitte nicht länger auf die Folter“, sagte er schließlich. „Kann es sein, dass wir uns schon einmal begegnet sind?“

„Ja, das sind wir.“

„Bitte verzeihen Sie mir diese Unaufmerksamkeit, aber ich kann mich beim besten Willen nicht entsinnen, wo wir uns kennengelernt haben.“

„Wir haben uns nicht kennengelernt, weil Sie das nicht wollten.“

„Ich verstehe nicht, was Sie meinen.“

„Nun, ich weiß nicht mehr den genauen Wortlaut, aber ich glaube, Sie haben etwas Ähnliches gesagt wie … Nun, dass ich es bloß nicht wagen solle, Sie anzusprechen, weil Ihnen nicht der Sinn nach Konversation stünde …“

„Das soll ich gesagt haben?“

„Ich lüge Sie gewiss nicht an.“

„Nein, nein, ich glaube Ihnen schon, doch verraten Sie mir bitte, wann und wo das war.“

„Das war vor etwa einem Jahr auf der Île de la Cité. Sie saßen am Wasser und …“

„Jetzt weiß ich es wieder! Sie waren die Mademoiselle mit der kecken Antwort! Verzeihen Sie mir diesen gänzlich unangemessenen Ausbruch. Als eine Art Wiedergutmachung möchte ich Sie bitten, mich künftig bei meinem Vornamen zu nennen, Mademoiselle. Vorausgesetzt, Sie sind damit einverstanden.“ Er nahm den Hut ab und verneigte sich.

„Ich nehme Ihre Entschuldigung an, bestehe allerdings darauf, dass auch Sie mich bei meinem Vornamen nennen, Monsieur Maximilien.“

„Selbstverständlich, Mademoiselle Marie. Und nun lassen Sie mich eine Frage stellen. Wie kamen Sie dazu, Wachsbildnerin zu werden?“

„Nun, ich hatte als Kind in Onkel Philippes Werkstatt zum ersten Mal die Wachsfigur von Jeanne Dubarry gesehen. Sie war so wunderschön“, schwärmte sie mit glänzenden Augen. „Seitdem wollte ich nichts anderes, als dieses Handwerk zu erlernen.“

„Und wer ist Onkel Philippe?“

„Das ist … mein Onkel“, kam es ihr ein wenig holprig über die Lippen.

Er lachte. „Das sagten Sie bereits.“

„Ich bin bei Philippe Curtius aufgewachsen. Meine Mutter ist seine Haushälterin.“

„Und was ist mit Ihrem Vater?“

Wie ein Dorn traf sie dieses Wort ins Herz. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihren Vater durch den Nebel gehen und sprach dann die Worte, die sie einst auswendig lernen musste: „Mein Vater ist im Krieg gestorben, noch vor meiner Geburt.“

„Im Siebenjährigen Krieg? Ein Held also?“

„Ja.“

„Das tut mir leid. Und Ihr Onkel Philippe lehrte Sie dieses Handwerk? Obwohl Sie eine Frau sind?“

„Ist es denn nicht so, dass wir leben, was uns vorgelebt wird, dass wir wählen, was wir kennen, und anfangen zu begehren, was wir täglich sehen? Sind Sie denn nicht auch aus diesem Grund Anwalt geworden?“

„Aber Kunst ist doch etwas Gottgegebenes, das nicht erlernbar ist, oder?“

„Kunst vielleicht, aber Handwerk nicht.“

„Auch für das Handwerk braucht es Talent.“

„Das Talent ist, zu erkennen, welches Handwerk Gott für mich vorgesehen hat. Und ist es nicht zuletzt die innere Stimme, die in jedem von uns spricht?“

„Sie lassen sich von einem Gefühl leiten? Auch wenn es vielleicht nur eingebildet ist?“

„Sie etwa nicht?“

„Nicht, wenn es um große Veränderungen im Leben geht.“

„Und wenn es nun um die Liebe ginge?“

„Die Liebe! Sie ist das beste Beispiel dafür, wie der Verstand durch Gefühle irregeleitet wird.“

„Doch ist die Liebe nicht etwas Großes?“

„Liebe ist ein ganz eigenes Universum. Wer den Zutritt erhält, bekommt auch die Kraft zu grenzenloser Hingabe und grenzenloser Zerstörung. Ich für meinen Teil betrachte die Dinge lieber nüchtern. Und das meine ich durchaus auch im physischen Sinne. Ich möchte nicht zu einem kritiklosen, blinden Narren werden.“

Sie blieb stehen und wartete, bis er sie ansah. Das Dienstmädchen Adelais hatte sich ungehörig weit genähert und hielt verlegen inne.

„Wie überaus schade“, bemerkte Marie.

„Sie reden, als hätten Sie dieses Universum bereits betreten.“

„Leider muss ich Sie enttäuschen. Ich habe dieses Universum noch nicht betreten, aber ich würde mich jederzeit dazu einladen lassen, würde es mir meine innere Stimme sagen.“

„Diese Verklärung scheint mir etwas Frauentypisches zu sein.“

„Aber sind es nicht die Männer, die all das erst in uns auslösen? Und würden sie es nicht tun, wenn sie nicht selbst Gast dieses Universums sein wollten?“

„Ich fürchte, wir haben, was das betrifft, unterschiedliche Auffassungen.“

„Liebe ist für alle gleich, und sie ist für alle da.“

„Die Menschen denken und fühlen nicht gleich, Marie, aber sie haben eine Welt verdient, in der sie frei entscheiden können, was sie tun. Niemand hat das Recht, einen anderen zu befehligen. Niemand hat das Recht, über einen anderen Menschen zu bestimmen. Ein Volk kann trotzdem eine Gesellschaft sein, wenn sie in freier Wahl ihren eigenen Weg bestimmt. Niemand braucht dazu einen König!“ Seine Gesichtszüge verhärteten sich.

„Was sagen Sie da?“

„Der Absolutismus ist eine verachtenswerte Staatsform. Das sage ich freiheraus. Die Arbeiter und Bauern, die dieses Land ernähren, haben ein Recht darauf, angehört zu werden und mitbestimmen zu dürfen.“

Ein Ruf unterbrach jäh ihr Gespräch. Rousseaus Ehefrau Thérèse kam aufgeregt herbeigerannt. „Maximilien!“, rief sie ganz außer Atem. „Kommen Sie schnell! Jean … er …“

„Hat er wieder einen Rückfall?“, fragte Maximilien.

„Ja, bitte, kommen Sie mit, und helfen Sie mir, ihn ins Haus zu bringen.“

Maximilien verbeugte sich vor Marie und bat um Entschuldigung, bevor er mit Thérèse zur Terrasse zurückeilte. Marie folgte ihnen.

Als sie eintraf, bot sich ihr ein Bild des Entsetzens. Rousseau saß in seinem Gartenstuhl, starrte mit kalten Augen ins Leere und schrie, als trachtete man ihm nach dem Leben.

„Geht weg, geht alle weg! Ihr wollt mich vernichten! Vernichten wollt ihr mich! Ihr alle!“

Dieser Mann hatte nichts mehr mit dem klugen Philosophen gemeinsam, dessen Büste Marie modelliert hatte. Thérèse nickte Maximilien zu, dann packten sie die Lehnen von Rousseaus Stuhl, um ihn nach drinnen zu tragen. Immer wieder schrie er aus Leibeskräften: „Weg mit euch! Weg mit euch! Ihr seid Gesindel! Kleinkriegen wollt ihr mich, jawohl! Ihr wünscht meinen Tod. Ich sehe es euch doch an, aber den Gefallen tue ich euch nicht. O nein! Ich werde verreisen. In England nimmt man mich auf. Die Engländer, die verstehen mich. Hier versteht mich keiner.“

„Wir alle verstehen dich, Liebster“, meinte Thérèse und strich ihm über die Wange.

Im Salon hievte Maximilien ihn auf das Sofa. Thérèse ging ins Nebenzimmer und kam mit einem Getränk zurück, in dem sie rührte. Sie hielt das Glas an die Lippen ihres Mannes und versprach ihm, dass es ihm bald besser gehen werde, wenn er erst die Medizin getrunken habe. Rousseau folgte ihrer Anweisung. Marie bemerkte, wie er am ganzen Körper bebte.

„Was gibt sie ihm? Schlafmohn zur Beruhigung?“, flüsterte sie Maximilien zu, der zur Antwort nickte.

Als Rousseau das Glas geleert hatte, fiel sein Blick auf Marie. „Wer ist das? Was will diese Frau hier?“ Seine Stimme zitterte.

„Aber Monsieur, erkennt Ihr mich denn nicht? Ich bin Marie Grosholtz.“

„Grosholtz? Du bist keine Französin! Grosholtz klingt preußisch. Du bist aus Preußen. Na los, gib es zu. Voltaire hat dich geschickt. Na los, sag es schon. Er hat dich geschickt, um mich auszuhorchen. Voltaire gibt einfach keine Ruhe. Kleinmachen will er mich. Aber das lass ich nicht zu, denn ich gehe nach England. Voltaire kann ruhig bei euch in Preußen bleiben. Soll er doch dem alten Fritz seine Verse vortragen. Mich kriegt er nicht klein!“

„Aber Monsieur, Voltaire ist tot.“

Maximilien legte die Hand auf Maries Schulter und schüttelte stumm den Kopf.

Nun packte Rousseau sie am Handgelenk. „Ihr Preußen seid alle gleich, ihr wollt Besitz und Macht. Geh zurück in deine Militärburg Preußen! Hau ab! Verschwinde!“

„Aber Monsieur, ich bin Französin und komme keineswegs aus Preußen. Ich bin die Wachsbildnerin Marie Grosholtz und wohne in Paris bei Monsieur Curtius. In unserer Werkstatt habe ich von Ihnen eine Büste geschaffen. Ich habe Gips auf Ihren Kopf aufgetragen, so wie Sie es sich gewünscht haben, erinnern Sie sich nicht?“ Ihr Finger zeigte auf die Büste, die auf dem Sockel stand. „Sehen Sie doch.“

Rousseau hob den Kopf und blickte verwirrt sein Ebenbild an. „Ein Spiegelbild ohne Spiegel. Ich werde verrückt.“ Er begann ganz furchtbar zu lachen, dann weinte er. Es dauerte eine Weile, bis er sich beruhigte.

Maximilien ging mit Marie hinaus in den Garten, während Thérèse bei ihm blieb, bis er eingeschlafen war. Betreten blickte Marie hinüber in den Park. Die Idylle hatte einen Riss bekommen.

„Er hat diese Anfälle in letzter Zeit öfter“, erzählte Maximilien. „Er erkennt dann niemanden mehr. Manchmal wird er sogar gewalttätig, weil er glaubt, wir seien die Gendarmerie und führten ihn ab. Es hat mich sehr verwundert, dass er überhaupt in die Ausstellung gekommen ist und dann noch einmal zu Ihnen in die Werkstatt.“

„Ich denke, er ist gekommen, weil er noch einmal seinen Freund Voltaire sehen wollte.“

„Freund?“

„Aber ja doch, er sagte zwar, es sei irgendwann zum Bruch gekommen, aber er sprach von ihm als Freund.“

„Voltaire zählte viele Jahre zum engen Kreis seiner Freunde und Kollegen. Beide verband der Gedanke der Aufklärung. Doch während Voltaire wusste, wie man sich ins rechte Licht rückt, ging Jean den unbequemen Weg und verlor eine Reihe einflussreicher Anhänger.“ Maximilien beugte sich näher zu Marie und verfiel in einen leichten Flüsterton. „Bei dem, was ich Ihnen jetzt erzähle, vertraue ich auf Ihre Diskretion. Jean heiratete Thérèse erst vor zehn Jahren.“

„Na und?“

„Sie sind aber schon seit über zwanzig Jahren ein Paar und hatten zum Zeitpunkt ihrer Eheschließung bereits fünf Kinder gezeugt.“

„Nein!“ Marie hielt sich die Hand vor den Mund.

„Alle Kinder wurden in Waisenhäuser gebracht – mit dem Argument, dass sein Geld nicht ausreiche, um für eine Großfamilie zu sorgen. Thérèse arbeitete weiterhin als Wäscherin, hielt ihm aber die Treue. Voltaire hielt Rousseaus Verhalten für unsittlich und verantwortungslos. Für ihn stellte es die Glaubwürdigkeit Rousseaus als theoretischer Pädagoge infrage. Wenn Sie mich fragen, so war das der Grund der Entfremdung zwischen Jean und Voltaire. Aber bitte – das ist nur eine Vermutung.“

Thérèse kam hinzu und lächelte freundlich, als wäre nichts geschehen. „Heute ist ein heißer Sommertag. Ich glaube, wir haben uns jetzt alle ein Glas Limonade verdient.“

 

Es war später Nachmittag, als Maximilien Marie zur Kutsche begleitete.

„Ich hoffe, Sie sind nicht zu sehr erschrocken. Lassen Sie mich Monsieur Rousseau in seinem Namen entschuldigen. In diesen Momenten ist er nicht mehr er selbst. Was er sagt, ist Teil seiner Verwirrung. Im Herzen ist er ein guter Mensch. Und wenn es jemanden gibt, der die Sprache des Herzens versteht, dann doch Sie. Gehaben Sie sich wohl, Mademoiselle. Es war mir eine große Freude, Sie kennengelernt zu haben, und ich danke Ihnen für den Spaziergang, der leider so unglücklich unterbrochen wurde. Aber vielleicht können wir ihn eines Tages vervollkommnen. Erlauben Sie mir, Ihnen zu schreiben? Auch das wäre mir eine große Freude.“

„Auch mir wäre das ein Pläsier, Maximilien.“

„Nun, Mademoiselle“, sagte er und verbeugte sich ein letztes Mal. „Dann gute Heimreise und au revoir.“

Auf dem Heimweg wirbelten die Gedanken durch Maries Kopf. Rousseau hatte fest geschlafen, als sie gegangen war, sodass sie sich nicht von ihm verabschieden konnte. Gerne hätte sie ihm noch Lebewohl gesagt. So vieles hatte sie erst durch Maximilien über den alten Herrn erfahren, und etliches davon erschien ihr so widersprüchlich. Rousseau war ihr so begeisterungsfähig und freundlich vorgekommen. Wie hatte dieser Mann seine Kinder einfach in ein Waisenhaus geben können?

Als sie aus der Kutsche sah, stellte sie fest, dass das Heu auf den Feldern inzwischen zu Reitern getürmt worden war. Sie fühlte sich an ihre Heimat im Elsass erinnert. Die große Stadt hatte aus ihr eine Handwerkerin gemacht, die in gehobenen Kreisen verkehren durfte, und sie fragte sich, was passiert wäre, wenn Papa nie gegangen wäre. Folgte man im Leben wirklich immer seiner inneren Stimme, wie sie es vor Maximilien behauptet hatte? Oder war jeder Lebensweg von Gott vorherbestimmt? Maman würde jetzt sagen, dass man nur immer zur Heiligen Mutter Gottes beten solle, egal, um was es ginge.

Älter zu werden und verschiedene Meinungen und Sichtweisen kennenzulernen war interessant, aber auch anstrengend. Es erforderte so viel Geistesarbeit, das Gute und das Richtige zu erkennen. Maximilien schien in diesem Punkt sehr eindeutig zu sein. Ein bisschen erschreckend fand sie schon, was er über den Absolutismus gesagt hatte. Konnte man den König denn einfach so abschaffen? Und Maximilien zeigte keinerlei Hemmungen, für seine Überzeugungen genauso absolutistisch vorzugehen wie der König. Dieser Mann übte eine gewisse Faszination auf sie aus, das musste sie zugeben, und so empfand sie es auch nicht als unangenehm, dass er sie wiedersehen wollte.

 

Jean-Jacques Rousseau starb nur wenige Wochen nach Maries Besuch in Ermenonville. Schon kurz nachdem er im Schlosspark beerdigt worden war, brachte seine Frau Thérèse die Wachsbüste zurück. Trotz ihrer eingeschränkten finanziellen Mittel war sie bereit gewesen, den vereinbarten Preis zu bezahlen.

„Nehmen Sie seine Büste nächstes Jahr in Ihre Ausstellung“, sagte sie, „denn ich könnte mir vorstellen, dass das Interesse sehr groß ist.“

Sie sollte recht behalten. Während Rousseau in den Jahren seines größten Schaffens von seinem Land missverstanden und verstoßen worden war, huldigte man ihm nun voller Ehrfurcht. Offenbar musste man nur sterben, wenn man zu Ehren gelangen wollte.

Die Eindrücke ihres Besuchs in Ermenonville hatten Marie noch viele Wochen begleitet: der wunderschön angelegte Park mit seiner natürlichen Eleganz, der Spaziergang mit dem hübschen Maximilien, Rousseaus erschreckender Anfall und Thérèses Aufopferung für den Mann ihrer fünf verbannten Kinder.

Maximilien hatte ihr seit ihrem Spaziergang im Schlosspark kein einziges Mal geschrieben, wie er es ihr versprochen hatte. Die ersten Wochen hatte sie noch jeden Tag auf einen Brief gehofft, doch nach und nach wurde diese Hoffnung dünner und wandelte sich schließlich in Enttäuschung, bis sie glaubte, dass er sie längst vergessen habe, wie es Maman übrigens schon gleich nach ihrer Ankunft aus Ermenonville prophezeit hatte. Männern läuft man nicht hinterher, sondern lässt die Jäger jagen, hatte Maman behauptet – ausgerechnet sie, die einst mitsamt ihrem Kind an Curtius’ Haustür geklopft und ihm später bis ins Schlafzimmer gefolgt war.

Wie gut war es da gewesen, dass Onkel Philippe für Abwechslung gesorgt und sich an die Modellierung von Verurteilten und Schwerverbrechern gewagt hatte. Sein sonst so vehement vertretenes Vorgehen, die Aufträge einfach abzuwarten, schien für diese Klientel nicht zu gelten, und so hatte er bei etlichen gefährlichen und gefürchteten Gefängnisinsassen Maß genommen, damit allmählich Wachsbüsten entstehen konnten.

Marie hingegen hatte dem amerikanischen Diplomaten Benjamin Franklin, der sich gerade in Paris aufhielt, einen Besuch abgestattet und ihn gefragt, ob sie auch von ihm eine Wachsfigur anfertigen dürfe. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass dieser Zeitpunkt gut gewählt war, denn Franklin lebte nach Fertigstellung seiner Figur noch etliche Jahre weiter.

Bei der Sitzung zum Maßnehmen hatte er großes Interesse gezeigt und sich eingehend nach Maries Vorgehen erkundigt.

„Wie können Sie eigentlich so genau Maß nehmen? Wie kann ich mir das vorstellen?“

„Ich arbeite mit der Punktmessung“, erklärte Marie. „Das heißt, dass ich an Ihnen ganz bestimmte Punkte markiere, zum Beispiel an den Wangenknochen, den Jochbögen, der Nasenspitze, den Augenbrauen. Anschließend werden sie in Beziehung zueinander und zu einem festen Punkt im Raum gesetzt.“

„Dann ist das Maßnehmen eine ganz wesentliche und folgenschwere Aufgabe, nicht wahr?“

„In der Tat. Von den richtigen Maßen hängt alles ab. Eine falsche Zahl, ein vergessenes oder unterlassenes Maß – und schon werden alle folgenden Messungen ungültig, und die Tonmaske ist verdorben.“

Franklin, der auch des Französischen mächtig war, erzählte kleine Geschichten von der Gründung der ersten Freiwilligen Feuerwehr in seiner Heimatstadt Philadelphia im fernen Amerika. Erheiternd waren auch seine Ausführungen über die Reise als Offizier nach Kanada gewesen.

„Washington schickt mich in der Welt herum wie einen Hund, dem man einen Ball wirft. Ich sollte mir in Kanada ein Bild vom Zustand der Armee machen, wie ich es vorher schon in Pennsylvania getan hatte. Dabei bin ich über siebzig Jahre alt! Können Sie sich vorstellen, was das für eine unsägliche Tortur war, im März durch ein eisiges Kanada zu reisen? Oh, ich sage Ihnen, mir war so bang um mein Leben, dass ich während der Reise Abschiedsbriefe an all meine Freunde schrieb. Ich sah mich schon erfroren und vergessen in den verschneiten Weiten Kanadas.“

Die Begegnung mit Franklin war unbestritten eine Bereicherung. Die Arbeit an seiner Büste jedoch stellte Marie vor echte Herausforderungen. Die geschlossenen Lippen arbeitete sie zu einem ausgeprägten Zickzack aus und entdeckte dabei eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrem eigenen Mund. Auch die tief liegenden Augenhöhlen und das richtige Maß für den Haaransatz hatten sich als nicht ganz einfach erwiesen. Bis zur Scheitelmitte war er glatzköpfig, aber die gelockten Haare an der Seite hingen schulterlang herab. Von seiner braunen Nerzkappe, die sein Markenzeichen geworden und in Paris durch ihn in Mode gekommen war, hatte er allerdings nichts wissen wollen. „Tun Sie mir den Gefallen“, hatte er gesagt, „und verbannen Sie dieses schreckliche Ding aus Ihrer Erinnerung.“

Von all den Persönlichkeiten, die Marie bisher kennengelernt und modelliert hatte, war Franklin am sympathischsten gewesen. Vielleicht lag es daran, dass er die Freiheit der Neuen Welt in sich trug und politischen Spannungen mit Respekt und Diplomatie begegnete und nicht, wie Robespierre, dabei verhärtete.

Ach, Maximilien. Was er jetzt wohl machte?

Interview mit den Autorinnen Romy Seidel und Petra Hucke

Sie beide schreiben über bedeutende Frauen, die der Welt etwas Bleibendes geschenkt haben. Was macht Ihre Protagonistinnen so besonders? Was hat Sie am meisten an ihnen beeindruckt? 

Romy Seidel: An Anna Freud hat mich definitiv am meisten beeindruckt, dass sie in die Fußstapfen ihres berühmten Vaters Sigmund Freud getreten ist und dabei, wie ich finde, sehr klug und bedacht vorging. Sie hat ihn bewundert und dennoch versucht, sich von ihm abzugrenzen und ihren eigenen Weg zu gehen. Und das, obwohl sie sich immer nach seiner Anerken­nung, seinem Wohlwollen gesehnt hatte. 
In der Psychoanalyse hat sie sich von traditionellen Mustern gelöst und einen Schritt in eine neue Rich­tung gemacht. 
Was mich ebenfalls sehr beeindruckt hat, ist, wie selbstlos und liebevoll sie sich um ihren Vater geküm­mert hat, als er krank wurde. Ich glaube, es hat ihr einiges abverlangt, dennoch hat sie es als selbstver­ständlich erachtet und sich nie beklagt. 

Petra Hucke: An Emily Warren Roebling faszinieren mich ihre Durchsetzungskraft und ihr Humor. Eine Freundin von mir ist Architektin, und sie erzählt manchmal, wie es ist, sich als Frau im Büro und auf der Baustelle durchsetzen zu müssen. Im 21. Jahrhun­dert. Wie muss das erst im 19. Jahrhundert gewesen sein?
Alle (männlichen) Zeitzeugen schwärmen von Emilys Takt und ihrer Zurückhaltung - diesen ach so weiblichen Eigenschaften -, aber ich denke mir, dass ziemlich viel Hartnäckigkeit dabei gewesen sein muss, denn Takt allein hätte sie nicht weitergebracht. Ihr Humor spricht aus erhaltenen Briefen - von ihr selbst gibt es leider nur wenige, aber von ihrem Mann Wa­shington sind zahlreiche überliefert, und der Ton da­rin ist herzerwärmend und wird ihrem eigenen sehr entsprochen haben. 

Was fasziniert die Leserinnen in der heutigen Zeit an diesen Frauen? Warum sind sie noch immer - oder aber erst jetzt - so spannend und inspirierend? 

Romy Seidel: Ich glaube, sie sind nach wie vor inspirie­rend, weil sie ihrer Zeit voraus waren und sich etwas getraut haben. Viele haben auf Konventionen gepfif­fen, wollten unbeirrt und mutig ihren Weg gehen. Sie haben sich von dem frei gemacht, was sie eingeengt hat und zeigen uns Frauen noch heute, was möglich ist, wenn man an sich glaubt und etwas wagt. 

Petra Hucke: Emily hätte bestimmt auch schon Lese­rinnen früherer Generationen interessiert. Doch wie auch so viele andere Frauen musste sie erst „wieder­entdeckt" werden. In einer Monografie über den Bau der Brooklyn Bridge aus den 196Der Jahren wird sie nicht einmal erwähnt. In einem Buch aus den 1970er Jahren wird gesagt, sie habe ein paar Briefe zwischen ihrem Mann und der Baustelle hin und her getragen. Aus den 1980ern gibt es in den USA zum Glück schon eine Biografie über sie, aber ein Roman musste bis heute warten. 

Warum sind genau diese Frauen so perfekte Romanfiguren? 

Petra Hucke: Für mich war Emily perfekt, weil man recht viel über ihr Umfeld weiß - der Bau der Brook­lyn Bridge ist in dicken Wälzern beschrieben und aus vielen Richtungen erforscht, über John A. Roebling und Washington Roebling gibt es Biografien.
Emily selbst war, denke ich, zu bescheiden oder einfach zu pragmatisch, um eine Autobiografie oder sonsti­ge Schriften zu hinterlassen. Und so kann man sich leicht ein erstes Bild über sie machen, ohne aber all­zu viel über sie persönlich zu wissen. Genug Freiraum für das Autorinnenhirn, eine Geschichte zu finden. 

Romy Seidel: Auf mich als Schriftstellerin üben diese Frauen schon lange einen großen Reiz aus. Weil sie ein aufregendes, bewegendes Leben hatten, weil sie Mut, Ein­fallsreichtum und Klugheit bewiesen und weil sie sich ge­traut haben, aus dem Schatten ihrer Männer oder Väter zu treten.
Sie mussten Hürden überwinden, Ketten sprengen und sich Gehör verschaffen. Für mich die perfekten Ro­manheldinnen - und ich muss sie nicht mal erfinden. 

Was meinen Sie, kann man Wissen in Roman­form vermitteln? 

Petra Hucke: Mit dem Wissen aus einem Roman sollte man wohl nicht in eine Quizshow gehen, in der Daten abgefragt werden, denn es soll vorkommen, dass die Autorin mal ein Jahr oder zwei streicht, wenn es dem Spannungsbogen im Weg steht. Auch dass das Fundament auf der Brooklyn-Seite in 13,56 Metern Tiefe steht, auf der Manhattan-Seite jedoch in 23,93 Metern, kann man anderswo sicher besser erfahren.
Denn da­rum geht es in einem Roman natürlich nicht, sondern darum, ein Gefühl für die Menschen und ihre Zeit zu bekommen und in ihre Geschichte einzutauchen. 

Romy Seidel: Ich glaube, die Romanform ist die perfekte Möglichkeit, Wissen zu vermitteln, weil man als Autor Tatsachen und Fiktion miteinander verbinden kann. Man kann Fakten spannend erzählen und im besten Fall dafür sorgen, dass beim Leser das Kopfkino anspringt und er oder sie das Wissen ganz automatisch aufnimmt. 

Geschichte wurde immer von Frauen und Männern gemacht, das Verdienst von Frauen jedoch oft unterschlagen. Nicht zuletzt seit Filme wie „Hidden Figures“ einen anderen Fokus gewählt haben, ändert sich das. Bekommen die starken Frauen schon genug Aufmerksamkeit? 

Romy Seidel: Ich finde es großartig, dass die starken Frauen seit ein paar Jahren Aufmerksamkeit bekom­men. Aber es gibt noch immer eine Menge Frauen, die es verdienen, dass ihre Geschichte erzählt wird. 

Petra Hucke: Die Aufmerksamkeit darf gern noch eine ganze Weile auf sie gerichtet bleiben. Ich bin sicher, es gibt noch so einige Frauen zu entdecken, die mit ihrem Mut und ihrer Chuzpe auch heute noch als Vor­bild dienen können.  

Kurzbiografien bedeutender Frauen