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Die leuchtenden Länder

Die leuchtenden Länder

Armin Strohmeyr
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Reisende Frauen erkunden den Orient

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Die leuchtenden Länder — Inhalt

Während sich im Europa des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts die Oberschicht in pulsierenden Metropolen wie Paris, London oder Berlin verlustierte, war den hier porträtierten Frauen ein Leben zwischen Boudoir und Salon nicht genug. Abenteurerinnen wie Isabel Burton, Vita Sackville-West und Freya Stark bereisten in Männerkleidern den Orient, ritten auf Maultieren durch Wüsten und über Gebirge, verteidigten sich gegen Wegelagerer und erforschten als Archäologinnen und Ethnologinnen alte Kulturen.

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 01.09.2017
352 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97599-5
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Leseprobe zu „Die leuchtenden Länder“

Gefangene des Sultans, Kaufmannsfrau in Indien

Menorca, Mitte April 1756. Auf der von den Briten besetzten Insel herrscht Aufregung. Frankreich hat dem Vereinigten Königreich den Krieg erklärt. Einhundertzwanzig Schiffe der französischen Kriegsmarine sind auf dem Weg zu den Balearen. Die britische Kommandantur entschließt sich, Menorca aufzugeben und sich mit den wichtigsten Kräften ins stark befestigte Gibraltar, das seit 1704 britisch ist, abzusetzen. Am 22. April, die Franzosen haben bereits Fuß auf der Insel gefasst, verlassen die englischen Schiffe [...]

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Gefangene des Sultans, Kaufmannsfrau in Indien

Menorca, Mitte April 1756. Auf der von den Briten besetzten Insel herrscht Aufregung. Frankreich hat dem Vereinigten Königreich den Krieg erklärt. Einhundertzwanzig Schiffe der französischen Kriegsmarine sind auf dem Weg zu den Balearen. Die britische Kommandantur entschließt sich, Menorca aufzugeben und sich mit den wichtigsten Kräften ins stark befestigte Gibraltar, das seit 1704 britisch ist, abzusetzen. Am 22. April, die Franzosen haben bereits Fuß auf der Insel gefasst, verlassen die englischen Schiffe den Hafen. Mit an Bord sind der Marinebeamte Milbourne Marsh, seine Frau Elizabeth und seine zwanzigjährige Tochter, die ebenfalls Elizabeth heißt. Doch die eigentliche Odyssee steht der jungen Frau erst noch bevor …

Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ist nicht nur eine Zeit erster transkontinentaler Kriege, sondern auch des wachsenden globalen Handels. Rohstoffe und Handelsgüter aller Art, aber auch menschliche Arbeitskräfte – Auswanderer und Sklaven – werden zwischen Europa, Afrika, Amerika und Asien transportiert.

Elizabeth Marsh war in gewisser Weise wie ihre Zeit: getrieben, zwischen Kontinenten und Lebensschicksalen, teils Opfer, teils Mitgestalterin. Ihr Schicksal war nicht nur beispielhaft, sondern auch außergewöhnlich. Sie war eine Frau, die trotz aller Konventionen ihr eigenes, emanzipiertes Leben führte. Ein Leben, das Gefangenschaft ebenso kannte wie Unternehmertum, schriftstellerische Ambition, Reiselust und amouröse Abenteuer. Von sich selbst sagte Elizabeth Marsh treffend: „Ich gehöre zu den rastlosen Wesen.“

 

Die Geschichte von Elizabeth Marsh beginnt nicht in Europa, sondern im damals britischen Jamaika in der Karibik. Zuckerrohr ist das Gold der Insel. Schwarze Sklaven schuften auf den Plantagen. 1732 lernt der junge Schiffszimmermann Milbourne Marsh in der jamaikanischen Hafenstadt Port Royal die verheiratete Elizabeth Evans, eine Mulattin, kennen. Deren Mann betreibt einen gutgehenden Ausschank. James Evans weiß von der Affäre seiner Frau. Doch bevor es zum öffentlichen Skandal kommt, stirbt er und hinterlässt Elizabeth ein hübsches Vermögen.

Im Dezember 1734 heiraten Milbourne Marsh und Elizabeth Evans. Marsh will nach England zurück. Im Juni 1735 besteigt die junge Familie ein Schiff. Es ist höchste Zeit, denn Mrs. Marsh ist im sechsten Monat schwanger. Am 20. August erreichen sie Portsmouth. Einen Monat später kommt das Kind zur Welt, das auf den Namen Elizabeth getauft wird.

In Portsmouth und Chatham bei London wächst Elizabeth auf. Milbourne Marsh findet als leitender Zimmermann in der Werft ein gutes Auskommen. Zwei Söhne kommen zur Welt. Langsam steigt die Familie sozial auf. Sie beziehen ein Haus in bürgerlicher Gegend. Damit sind die Marshs Nutznießer der industriellen Revolution, die in jenen Jahren in England beginnt. Mit Fleiß und Findigkeit können die gesellschaftlichen Schranken durchbrochen werden.

Die Tochter Elizabeth lernt Französisch, Rechnen und Buchführung. Sie soll einmal gut verheiratet werden, das Haushaltsbuch führen und gepflegte Konversation betreiben können. Und sie erhält Unterricht in Klavier und Gesang. London ist damals neben Wien das wichtigste musikalische Zentrum Europas. Aber so bruchlos vollzieht sich der gesellschaftliche Aufstieg nicht. Die junge Elizabeth Marsh hat etwas Unangepasstes, Selbstständiges. Vielleicht spielt das afrokaribische Erbe mit hinein. Jedenfalls erscheint ihr die Aussicht auf eine brave bürgerliche Ehe wenig verheißungsvoll.

Da erhält Milbourne Marsh im Jahre 1755 eine hochbezahlte Stelle auf Menorca und zieht mit seiner Familie dorthin. Das Klima ist mild, das Leben lockerer als im zugeknöpften England.

Doch im Jahr darauf bricht Krieg aus. Die Familie flieht nach Gibraltar. Die zwanzigjährige Elizabeth jedoch will zurück nach England – allein. Endlich gibt der Vater dem Drängen der Tochter nach. Am 27. Juli 1756 besteigt sie das Handelsschiff „Ann“, einen recht abgetakelten, unbewaffneten Kutter. Elizabeth ist die einzige Frau an Bord. Ansonsten: zehn Mann Besatzung und eine Ladung Branntweinfässer.

 

Auf der Flucht nach Gibraltar, entlang der spanischen Küste, fiel den Engländern bereits auf, dass die meisten Fischerdörfer nicht direkt am Wasser liegen, sondern sich ein Stück landeinwärts an die Hänge schmiegen. Die Passagiere wundern sich. Der zeitgenössische britische Marineoffizier Boscawen jedoch hat in Briefen an seine Frau eine Erklärung bereit: „Der Grund, dass ihre Häuser so liegen, ist die Angst vor den Mauren, die, wenn ihre Häuser zugänglich wären, landen und ganze Dörfer in die Sklaverei verschleppen würden, was trotz aller Vorsicht dennoch häufig geschieht, vor allem in jenem Teil Spaniens, der an der Mittelmeerküste liegt.“ Die Sklaverei ist damals – und noch weit ins 19. Jahrhundert hinein – ein wichtiger Wirtschaftszweig in der arabischen und osmanischen Welt. Schätzungen gehen davon aus, dass vom Ende des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts rund 1,25 Millionen Europäer in Gefangenschaft oder Sklaverei durch Araber und Osmanen gerieten. Allein beim osmanischen Vorstoß auf Wien im Jahre 1683 sollen etwa achtzigtausend Europäer – Männer, Frauen und Kinder – versklavt worden sein.

Elizabeth Marsh ist an Bord der „Ann“ auf dem Weg nach England. Doch kurz hinter Gibraltar kommt dichter Nebel auf. Die „Ann“ driftet orientierungslos im Ozean. Elizabeth Marsh erinnert sich: „Wir waren in völliger Unkenntnis der Gefahr, in der wir uns befunden hatten, bis es vorüber war.“ Vorüber ist die Fahrt sehr bald, aber nicht das Abenteuer: Ein marokkanisches Korsarenschiff, mit zwanzig Kanonen und hundertdreißig Mann, bringt die kleine, wehrlose „Ann“ auf. Elizabeth Marsh blickt voller Entsetzen zurück: „Wir sahen ein Segel windwärts hinter uns herjagen, und um halb acht kam es in Reichweite eines Pistolenschusses an uns heran.“ Die Korsaren kapern das englische Handelsschiff und bringen die Gefangenen an Bord, darunter auch die Kaufleute James Crisp und Joseph Popham. Über die Existenz einer jungen, schönen Frau an Bord freuen sich die Piraten natürlich besonders. Sie sperren die Gefangenen in eine Kajüte. Elizabeth Marsh: „Sie war so eng, dass wir nicht aufrecht darin stehen konnten. An diesem elenden Ort sollten vier Menschen wohnen.“ Die junge Frau trainiert sich in jenen Tagen eine gewisse Härte an. Ihr Mitgefangener Joseph Popham schreibt später voller Respekt: „Miss Marsh hielt sich in ihrer unglücklichen Lage besser, als man es von ihrem zarten Geschlecht erwarten durfte.“ Freilich ist der Mitgefangene wenig Trost und Hilfe, erzählt er doch der jungen Elizabeth „Geschichten von den Grausamkeiten der Mauren“, wie sie selbst schreibt, „denen mein Geschlecht in der Berberei ausgesetzt sei“.

Nach ein paar Tagen landen die Korsaren in der marokkanischen Hafenstadt Salé, bringen die Gefangenen in einem von Schmutz und Ungeziefer starrenden Haus unter und melden ihren Fang dem Sultan in Marrakesch. Der Herrscher von Marokko Sidi Muhammad ist eine schillernde Gestalt: Gebildet, der Welt gegenüber aufgeschlossen, ein vordergründig aufgeklärter Mann. Aber er gefällt sich trotz seiner höfischen Manieren auch in seiner Allgewalt. Das macht ihn unberechenbar. Im Jahr zuvor hat er ein grausames Exempel an europäischen Kaufleuten statuiert, die aufrührerische Stämme unterstützt haben sollen. Ein Zeitgenosse, Jaime Arvona, selbst ein Sklave, der später freikam, berichtet: „Seine Hoheit nahm alle christlichen Kaufleute und Mönche gefangen; aber da Mr. Mounteney Engländer war, legte er ihm eine schwere Kette um den Hals und Eisen um die Beine und verabreichte ihm so viele Schläge, dass man ihn als tot liegen ließ; allerdings starb er hinterher in seinem eigenen Haus, nachdem er verstanden hatte, dass der Prinz ihm einen langsamen Tod zugedacht hatte, weil er Engländer war; er verlor den Verstand und erhängte sich.“

Zu Sidi Muhammads althergebrachten Vorrechten gehört die Vielehe. Arabische Frauen hat er schon genug. Aber eine Engländerin? Noch dazu mit karibischem Einschlag? Er schickt eine seiner Frauen in das Haus der Gefangenen, um die Fremde zu begutachten. Elizabeth Marsh erinnert sich: „Sie war überraschend groß und kräftig, hatte ein breites, flächiges Gesicht, sehr dunkle Haut und langes schwarzes Haar. Sie trug ein Musselinkleid, das an ein Priestergewand erinnerte, am Hals geknöpft war wie ein Hemdkragen und bis zu ihren Füßen reichte. An Armen und Beinen hatte sie Armbänder, war aufdringlich neugierig, mich und mein Kleid zu untersuchen, und war höchst amüsiert über meine Erscheinung.“

Elizabeth Marsh wird des Harems für würdig befunden. Eine Karawane bringt die Gefangenen fünfhundert Kilometer weit durchs karge Gebirge in die Hauptstadt Marrakesch. Unterwegs macht sich Elizabeth Marsh erste Notizen. Später wird sie die für ihr Buch The Female Captive, Die weibliche Gefangene, verwenden. In der Wüste erst wird sie sich der eigenen Verlorenheit bewusst: „Es war kein Haus oder Baum mehr zu sehen, nur weites Land voller hoher Berge […]. Wenn vorüberziehende Beduinen zu Grobheiten neigten, riefen meine Bewacher ihnen zu, ich ginge als Geschenk an Sidi Muhammad.“

Die Karawane zieht nur des Nachts, wenn es kühl ist, durch die Wüste. Tagsüber campieren sie irgendwo im Schatten eines Felsens und warten darauf, dass die brandheiße Sonne im Westen untergeht. Bereits nach kurzer Zeit ist Elizabeth Marsh erschöpft, dehydriert und steif. Sie ist das lange Reiten nicht gewohnt, alle Glieder tun ihr weh. Wenn sie reitet, sitzt sie auf einem Gestell, auf dem eine Art Matratze liegt. „Die maurischen Frauen“, so weiß sie, „legen sich darauf, da sie sich dicht abschließen lässt; aber ich setzte mich mit den Füßen auf eine Seite des Maultierhalses und fand es sehr geeignet, mich vor den Arabern abzuschirmen.“

 

Nach einer Woche erreicht die Karawane Marrakesch. Ein paar Kilometer vor der Stadt machen sie halt. Die Bewacher fordern Elizabeth auf, sich fein zu machen. Sie zieht frische Kleider an und setzt, „da man mir sagte, dass sie mich meinen Hut nicht tragen lassen wollten“, eine Nachtmütze zum Schutz gegen die Sonne auf. Dann setzt man sie nicht mehr auf ihr niederes Maultier, sondern auf James Crisps Pferd. Ratlos notiert sie: „Gleichzeitig zog einer der Wachen ihm [Crisp] seinen Hut vom Kopf und nahm ihn mit; diese Behandlung verwunderte uns zutiefst. Aber unsere Verwunderung nahm noch zu, als unsere Leidensgenossen absteigen und mit bloßem Kopf zu zweit nebeneinander gehen mussten, obwohl die Sonne heißer brannte, als ich es je erlebt hatte, und der Weg so beschwerlich war, dass die Maultiere knietief einsanken.“

Als sie durch Marrakesch geführt werden, stehen Hunderte Gaffer an den Straßenrändern, johlen und lachen. Es ist ein Schandumzug, der bewusst in die Länge gezogen wird, um die Gefangenen zu demütigen und ihnen Angst einzujagen. Elizabeth Marsh und James Crisp werden von den Kameraden getrennt und in das Obergeschoss einer alten Burg gesperrt. Schließlich werden sie in den Palast des Sultans gebracht, müssen stundenlang stehen, bis sie endlich in einem Hof des Palastes zu Sidi Muhammad vorgelassen werden. Elizabeth ist eingeschüchtert und fasziniert gleichermaßen: „Er saß auf einem prachtvollen Pferd, zu beiden Seiten umgeben von Sklaven, die mit Fächern Fliegen abwehrten, und bewacht von einem Trupp des schwarzen Regiments.“ Sie beobachtet, wie andere Bittsteller, selbst hochrangige Offiziere und Gesandte, sich dem Herrscher nähern, indem sie sich zu Boden werfen und den Staub küssen. Elizabeth Marsh wird dem Sultan vorgeführt. Sie ist von dem dreißigjährigen, hochgewachsenen Mann mit kastanienbraunem Haar und einem leicht schielenden rechten Auge durchaus angetan: „Er war groß, schön gebaut, von gutem Teint. Gekleidet in ein lockeres Gewand aus feinem Musselin […]. Alles in allem war seine Gestalt recht ansehnlich und sein Auftreten höflich und gewandt.“

Wäre es wirklich ein Opfer, Haremsdame dieses Mannes zu werden? Sidi Muhammad ist ein kluger Herrscher, der keineswegs Krieg mit dem mächtigen Vereinigten Königreich haben will. Im Gegenteil: Er will diplomatischen Austausch, auch um die Briten als Schutzschild gegen die Franzosen und Spanier zu haben, die koloniale Interessen in Nordafrika hegen. Also macht er der Gefangenen deutlich, dass sie nicht versklavt werden, sondern als Geisel im Land bleiben solle, bis die Briten einwilligen, einen Konsul nach Marokko zu entsenden. Nach dieser Erklärung lässt der Sultan die Gefangene wieder abführen, sie und die anderen Geiseln werden in ein streng bewachtes, halb verfallenes Haus im jüdischen Viertel Marrakeschs gebracht. Elizabeth ist über ihr neues Domizil entsetzt. Ein normales, aber halbwegs sauberes Gefängnis wäre ihr lieber gewesen als diese Form eines Arrests in einem verwahrlosten ruinösen Gebäude, „dessen Mauern voller Käfer und schwarz wie Ruß“ sind, wie sie angeekelt konstatiert.

Jaime Arvona, der hochrangige Sultanssklave, der selbst von Menorca stammt, kommt nach einiger Zeit zu Elizabeth und befiehlt, sie solle ihm folgen, Sidi Muhammad wolle sie erneut sehen – allein. Elizabeth ist verängstigt. Was steht ihr bevor? Sie hat bemerkt, dass der allgewaltige Sultan sie durchaus mit Wohlgefallen betrachtet hat. Sie wird zum Palast gebracht, muss am Eingang die Schuhe ausziehen, dann wird sie in die Privatgemächer des Sultans geführt. Sidi Muhammad sitzt in nachlässiger Haltung auf einem Diwan, neben sich vier seiner Frauen, die, so Elizabeth Marsh, „ebenso erfreut wirkten wie er selbst, mich zu sehen. Nicht, dass meine Erscheinung sie hätte für mich einnehmen können.“ Sie schämt sich ihres zerknitterten, staubigen Kleids, ihres sonnengebräunten Gesichts (im 18. Jahrhundert für eine Dame eine Schande, denn nur Bauernmägde lieferten sich der Sonne aus). Eine der Frauen bemerkt Elizabeths Scham und bietet ihr an, ihr saubere marokkanische Gewänder geben zu wollen. Elizabeth lehnt aus Trotz ab. Die Marokkanerin streift daraufhin ihre Armreife ab und „schob sie an meinen Arm und erklärte, ich solle sie um ihretwillen tragen“. Sie tauschen ein paar Höflichkeitsfloskeln. In Elizabeth steigt Angst empor. Will der Sultan sie zu einer seiner Frauen machen? Sie will ihre jungfräuliche Ehre bewahren und greift zu einer List – doch legt sie sich damit beinahe eine Schlinge um den Hals. Bislang hat sie zu ihrem Schutz behauptet, der Mitgefangene James Crisp sei ihr Bruder. Jetzt beteuert sie vor Sidi Muhammad, sie sei Crisps Ehefrau. Plötzlich gibt der Sultan den Wachen einen Wink. Sie führen Elizabeth ab. „Aber statt mich zurück in unser Quartier zu bringen, geleitete mein Führer mich in ein anderes Gemach, wohin mir kurz darauf der Prinz folgte, der sich, nachdem er auf einem Kissen Platz genommen hatte, erkundigte, ob meine Ehe mit meinem Freund [James Crisp] tatsächlich bestünde? Diese Frage kam ganz unerwartet; aber obwohl ich bejahte, ich sei wahrhaftig verheiratet, konnte ich spüren, wie sehr er daran zweifelte. Er stellte auch fest, dass es bei englischen Ehefrauen Sitte sei, einen Ehering zu tragen, und ich antwortete, er sei sicher verwahrt, da ich nicht damit reise.“

Der Sultan gibt sich mit dieser wenig überzeugenden Antwort zufrieden – so scheint es. Jedenfalls lässt er Elizabeth Marsh mit „Versicherungen seiner Wertschätzung und seines Schutzes“ gehen. Sie wird in das verdreckte Arresthaus zurückgebracht. Dort harrt sie tagelang der Dinge. Immerhin darf sie Besuch empfangen, etwa einen aus London stammenden Kaufmann, der seit Längerem im marokkanischen Agadir lebt und Handel mit den Gegenden südlich der Sahara betreibt. Ihm erzählt Elizabeth von ihrem Gespräch mit dem Sultan und von ihrer fingierten Ehe mit James Crisp. Sie handelt höchst unvorsichtig, denn sie kann nicht wissen, ob der Kaufmann nicht als Spitzel tätig ist.

Wenige Tage später bringt ihr Jaime Arvona einen Blumenstrauß und einen Obstkorb und übermittelt ihr den Befehl des Sultans, erneut in den Palast zu kommen. Elizabeth macht sich fein, so gut sie kann, und lässt ihr Haar „nach spanischer Art aufstecken“. Dann wird sie in den Palast geführt. Die Begegnung mit dem jungen, gut aussehenden Sultan lässt sie erneut nicht kalt. Wieder ist sie von seiner Schönheit und seinen guten Manieren angezogen. Er trägt eine „rosa Satinweste mit Diamantknöpfen“ und eine „kleine Kappe aus dem gleichen Satin wie die Weste mit einem Diamantknopf. Er trug Reifen an den Knöcheln und golddurchwirkte Pantoffeln.“ Der Sultan ist darauf bedacht, der Engländerin zu imponieren, ohne aufdringlich zu erscheinen. Er lässt ihr Tee kredenzen, aus „Tassen mit Untertellern, die ebenso leicht wie dünn und eigentümlich mit grünem und goldenem Japanlack überzogen waren“, erinnert sich Elizabeth Marsh. „Wie man mir sagte, waren sie ein Geschenk der Niederländer.“ Der Sultan winkt einen Diener heran, der vor ihr wie vor einer Prinzessin allerlei Luxusgüter „aus verschiedenen Ländern“ ausbreitet: „Ich bewunderte alles, was ich sah, ausgiebig, was dem Prinzen sehr gefiel; und er sagte mir durch den Dolmetscher, er hege keinen Zweifel daran, dass ich mit der Zeit den Palast meinen jetzigen beschränkten Lebensumständen vorziehen werde; dass ich mich immer auf seine Gunst und seinen Schutz verlassen könne, und dass die Kostbarkeiten, die ich gesehen hatte, mir gehören sollten.“

Elizabeth fällt es sichtlich schwer, dem verlockenden Ansinnen standzuhalten. Wieder versichert sie, sie sei mit James Crisp verheiratet. Sie würde gern gehen, „wenn es ihm genehm sei“. Doch diesmal lässt sich Sidi Muhammad nicht so schnell abspeisen. Man übergibt Elizabeth einer der Haremsdamen. Elizabeth erinnert sich der Fremdartigkeit dieser Frau: „Sie hatte ein großes Musselintuch mit Silberbordüre um den Kopf, oben hochgesteckt; ihre Ohrringe waren ungemein groß, und der Teil, der durch die Ohren ging, war ausgehöhlt, um sie leichter zu machen. Sie trug ein lockeres Gewand […] aus feinstem Musselin, ihre Pantoffeln waren aus blauem Satin, mit Silber durchwirkt.“

Die Haremsdame redet freundlich auf Elizabeth Marsh ein – in arabischer Sprache. Elizabeth versteht nicht und formt doch aus Höflichkeit ein paar Worte unbeholfen nach: „La ilaha illa Allah wa-Muhammad rasul Allah.“ Was Elizabeth nicht weiß: Es handelt sich um den ersten Satz des muslimischen Glaubensbekenntnisses. Rasch verbreitet sich die Nachricht im ganzen Palast. Sidi Muhammad lässt Elizabeth wieder zu sich bringen, jedoch nicht in einen der Empfangsräume, sondern in ein privates Gemach. Der Sultan hat es sich dort bequem gemacht, wie Elizabeth Marsh beobachtet: „Er saß unter einem roten, reich mit Gold verzierten Samtbaldachin. Der Raum war groß, fein ausgeschmückt und mit Pfeilern voller Mosaikarbeiten versehen; am anderen Ende waren eine Reihe Kissen mit goldenen Troddeln und ein Perserteppich auf dem Boden.“

Sidi Muhammad, in der Pracht seines Herrscherglanzes, fragt die Engländerin unumwunden: „Wollen Sie Muslimin werden? Wollen Sie die Vorteile ernstlich in Betracht ziehen, die es hat, meinen Wünschen zu folgen?“

Elizabeth Marsh antwortet: „Es ist mir unmöglich, meine Haltung in religiösen Dingen zu ändern, aber ich werde mir immer in höchstem Maße der Ehre bewusst bleiben, die Sie mir erwiesen haben, und hoffe auf den weiteren Schutz Eurer Hoheit.“

Sidi Muhammad entgegnet: „Sie haben heute Morgen dem christlichen Glauben entsagt und sind Muslimin geworden. Und unsere Gesetze sehen die Todesstrafe durch Verbrennen für alle vor, die konvertieren und dann widerrufen.“

Da fällt Elizabeth Marsh voller Verzweiflung auf die Knie: „Ich appelliere an Ihr Mitleid, und flehe Sie an, lassen Sie mich zum Beweis der Achtung, die zu erwarten Sie mir Anlass gegeben haben, für immer gehen.“

Sidi Muhammad bedeckt sein Gesicht mit den Händen. Dann schickt er Elizabeth Marsh, die es gewagt hat, ihn in seiner Würde eines großzügigen Herrschers und eines liebenden Mannes zu verletzen, fort. Der Dolmetscher nimmt Elizabeth bei der Hand und führt sie hinaus. Vor den Gemächern ist die höfische Gesellschaft zusammengeströmt, um die Fremde, an der der Sultan so großes Gefallen gefunden hat, zu begaffen. Elizabeth Marsh wird zu den Palasttoren gebracht. Auch vor den Toren hat sich eine Menschenmenge versammelt. Elizabeth sieht auf der anderen Straßenseite James Crisp, der versucht, zu ihr vorzudringen. Doch die Palastwachen schlagen ihn nieder. Die Haremsdamen sind aufgebracht, voller Eifersucht und Häme. Sie haben erfahren, dass Elizabeth Marsh das muslimische Glaubensbekenntnis gesprochen hat, und dass Sidi Muhammad sie aus seinen Gemächern gewiesen hat, und schreien: „Keine Christin, sondern eine Maurin!“ Dann zerfetzen sie ihr die Kleider, reißen an ihren Haaren. Elizabeth fürchtet um ihr Leben, verbissen setzt sie sich gegen den weiblichen Mob zur Wehr. Endlich wird sie zum Tor hinausgedrängt, wo der ebenfalls verletzte Crisp sie in Empfang nimmt. Gemeinsam werden sie zurück in ihren Arrest gebracht.

Tags darauf unterzeichnet der Sultan einen Brief an den britischen Gouverneur Gibraltars, worin er erklärt, die Gefangenen der „Ann“ freilassen zu wollen, die Royal Navy könne sie an der marokkanischen Küste abholen. Am 7. Oktober 1756 gibt Admiral Sir Edward Hawke in Gibraltar Befehl, das Kriegsschiff „Portland“ loszuschicken, um die Geiseln in Empfang zu nehmen. Die „Portland“ erreicht zwei Wochen später Salé. Die Engländer ankern in sicherem Abstand zur Küste. Durchs Fernrohr erkennen sie im Hafen die skelettierten Überreste der „Ann“, denn das Schiff wurde von den Marokkanern geplündert und demontiert. Doch ganz so einfach gestaltet sich die Übergabe der Geiseln nicht. Es gehen noch mehrere Briefe zwischen dem Kapitän der „Portland“ und dem Sultanspalast hin und her, denn Sidi Muhammad will einen politischen Vorteil herausschlagen. Endlich sichern die Briten zu, ein Konsulat in Marokko zu eröffnen (und damit das Land gegen die alten Gegner Spanien und Frankreich diplomatisch zu stärken). Endlich, am 17. November 1756, dürfen Elizabeth Marsh, James Crisp und die anderen Passagiere und Besatzungsmitglieder der „Ann“ Marokko verlassen. In einem Boot werden sie zur „Portland“ gerudert. Noch bis zuletzt geht in Elizabeth Marsh „ungeheure Angst“ um, „bis wir das Kriegsschiff erreichten“. Sie „fürchtete ein Signal vom Ufer, das unsere Rückkehr befahl“. Doch der Sultan hält Wort. Ungehindert können die Geiseln an Bord der „Portland“ gehen. Nach über drei Monaten in Gefangenschaft ist Elizabeth endlich wieder frei.

Zehn Tage später erreichen sie Gibraltar und kehren von dort nach England zurück. Und wiederum einige Wochen später – das genaue Datum ist nicht bekannt – gehen Elizabeth Marsh und James Crisp tatsächlich den Bund der Ehe ein, den sie ja wenige Wochen zuvor dem Sultan gegenüber vortäuschten. Elizabeth selbst gesteht später in ihren Memoiren etwas unklar, die „Dankbarkeit, die ich ihm schuldete, und der Wunsch meines Vaters überwogen jede andere Überlegung“. Ob sie tatsächlich nur diesen Pflichtgefühlen folgte, bleibt im Dunkeln. Vielleicht war auch die Angst ausschlaggebend, als Frau, die im Harem des Sultans von Marokko gefangen gehalten worden war (wenn auch nur für Stunden), in England ihren guten Ruf und damit jegliche gesellschaftliche Zukunft zu verlieren. Insofern war ein Ehebündnis mit Crisp das kleinere Übel, es war eine Ehrenrettung. Für Crisp hatte die Heirat auch einen Vorteil: Er erhielt Elizabeths erkleckliche Mitgift.

 

Man sollte meinen, Elizabeth Marsh, verheiratete Crisp, hätte nach dem marokkanischen Ausflug wider Willen genug von Abenteuern. Doch weit gefehlt. In ihr sind das Fernweh und der Drang nach emanzipatorischer Freiheit erwacht. Nach außen verläuft in den nächsten Jahren ihr Leben eher konventionell: 1762 kommt der Sohn Burrish zur Welt, zwei Jahre später die Tochter Elizabeth Maria. Elizabeth Crisp hat als Hausfrau und Mutter zu tun. James Crisp geht mit dem Geld seiner Frau und mit ihrer beratenden Beteiligung internationalen Handelsgeschäften nach, die er gerne über die Häfen der autonomen Insel Man abwickelt, um so den Zoll zu umgehen.

Doch im Jahre 1765 unterstellt das englische Unterhaus die Insel Man der direkten Steuerhoheit und trocknet so den Finanzsumpf aus. Zudem hat der Siebenjährige Krieg die europäischen Staaten in eine erste globale Finanzkrise gestürzt. Auch ein vermeintliches Schnäppchen der Eheleute Crisp – der Erwerb von achttausend Hektar Land in Florida mit dem Ziel, irische Auswanderer in mehreren zu errichtenden Dörfern anzusiedeln, die Wein anbauen und Seidenraupen züchten sollen – erweist sich als Fehlspekulation: Das ungesunde Klima und der Krieg machen dem Kolonialprojekt ein Ende, noch bevor es überhaupt begonnen hat. Übrig bleibt nur ein Loch in der Kasse. Ein Onkel Elizabeths, George Marsh, der eine hohe Stellung im Marineamt bekleidet, prangert in seinem Tagebuch das etwas großtuerische, glamouröse Leben des Ehepaars Crisp an, wenn er bemerkt, die beiden seien „allzu geneigt, in Unterhaltungen aller Art und ruinösen Narreteien die Mode und den Aufwand von höchst vermögenden Leuten nachzuäffen“. George Marsh sollte recht behalten: Im Jahre 1769 ist die Firma Crisp bankrott. James Crisp setzt sich ins ferne Indien ab und lässt seine Frau und die beiden Kinder verarmt in England zurück.

Elizabeth Crisp steht vor dem Nichts. Ihr Vater sieht sich in seinen Vorurteilen gegenüber dem Schwiegersohn bestätigt. Sie selbst ist damals dreiunddreißig Jahre alt, hat zwei Kinder – und sieht sich vom Vater abhängig. Ob ihr Ehemann, der die Familie recht gewissenlos in England zurückgelassen hat, um in Indien mit Geschäften und Geschäftchen sein Glück zu suchen, sie wird nachkommen lassen, ist höchst ungewiss. Verbittert schreibt Elizabeth: „Ich […] darf mit Fug und Recht sagen, dass dem Unglück, das mich in der Berberei [Marokko] ereilte, ein mehr als gleich großes folgte, das ich seither in diesem Land bürgerlicher und religiöser Freiheit erlebte.“

Um sich abzulenken und die eigene, sicherlich gefärbte Sicht der Dinge darzustellen (auch als Rechtfertigung vor der Mitwelt), schreibt Elizabeth Crisp in jenen Monaten ihre Memoiren, die ihre Gefangenschaft in Marokko in den Mittelpunkt stellen. Sie erscheinen 1769 in London unter dem Titel The Female Captive. Obwohl das Buch anonym publiziert wird, ist Insidern der Gesellschaft klar, wer die Autorin ist: Ein solch außergewöhnliches Lebensschicksal wie das Elizabeth Crisps war einzigartig und ohnehin seit Jahren Anlass von Klatsch und Tratsch. Aber mit der Anonymität ihrer Autorschaft will Elizabeth zumindest offiziell ihren Ruf wahren, denn es geziemt sich für eine anständige Frau nicht, als Autorin in Erscheinung zu treten. Dennoch – seltsames Paradoxon – nimmt die Zahl schreibender Frauen, die Romane, aber auch Memoiren und Reiseberichte veröffentlichen, damals enorm zu. Aber noch immer gebietet der weibliche Anstand Bescheidenheit und Diskretion im Umgang mit der Publizität.

Nachdem sie den Bericht über ihre marokkanische Gefangenschaft veröffentlicht und vergeblich auf ein Zeichen von James Crisp, ihm nach Indien zu folgen, gewartet hat, fällt Elizabeth im Jahre 1770 einen weitreichenden Entschluss: Sie will ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, nicht länger ihren Eltern auf der Tasche liegen – ihre Mitgift ist verloren –, nicht mehr dem Geschwätz der Londoner Gesellschaft ausgeliefert sein, ihren Kindern eine Perspektive bieten – und endlich all der geistigen, moralischen und ökonomischen Enge entfliehen. Sie hat nichts zu verlieren.

 

Also schifft sie sich im Herbst 1770 mit ihrer Tochter Elizabeth Maria ein – der Sohn Burrish bleibt zunächst bei den Großeltern – und wagt die gefährliche Seereise nach Indien. Die Direktion der East India Company hat ihr zuvor die Erlaubnis erteilt, „sich zu ihrem Mann zu begeben, der in Bengalen im Militärdienst der Gesellschaft steht“. Und da sie mittellos ist, hat man ihr sogar die übliche Gebühr für diese Genehmigung erlassen.

So steht sie also an Bord der dreimastigen Schaluppe „Dolphin“, eines sehr schnellen Schiffes, konzipiert für weite Überseefahrten, und hört den Matrosen zu, die aus rauen Kehlen ihre Seemannslieder singen.

Nach mehrmonatiger, strapaziöser Fahrt, die zunächst nach Brasilien, dann quer über den Südatlantik und ums Kap der Guten Hoffnung herum führt und mehrere Matrosen das Leben kostet (Skorbut ist damals noch die Geißel aller langen Seefahrten), landen sie am 20. Februar 1771 im britischen Handelsstützpunkt Madras an der südostindischen Küste.

James Crisp besitzt ein Exportgeschäft, er handelt mit Baumwolle. Bald hat die Familie in der kleinen englischen Diaspora einen passablen Ruf. Doch das Leben dort ist von Einschränkungen und Schwierigkeiten geprägt. Nach kurzer Zeit schon schicken die Crisps ihre siebenjährige Tochter Elizabeth Maria wieder nach England zurück, zu den Großeltern nach Chatham. Hingegen holen sie den neunjährigen Sohn Burrish nach Madras. Das Ticket bezahlt Großvater Marsh, denn die Crisps müssen noch immer jeden Penny umdrehen. Die Fahrt des Jungen ist mit Komplikationen verbunden: Der Obermaat macht sich mit dem Fahrgeld aus dem Staub, und Großvater Marsh im fernen England muss erneut für ein Ticket berappen. Sechs Monate ist der Neunjährige ohne Bezugsperson unterwegs. Burrish – den Berichten zufolge „ein mannhafter, schöner Junge“ – wird auf dem Schiff misshandelt (ob es auch zu sexueller Gewalt kommt, ist unklar) und langt „fast verhungert und völlig verdreckt“, wie Elizabeth entsetzt schreibt, 1772 in Madras an.

Elternliebe beschränkt sich zu jener Zeit weitgehend auf die Stillung existenzieller Bedürfnisse wie die Zuteilung von Nahrung, Kleidung und Bett. Kinder sind gemeinhin so zahlreich, dass man in ihnen nicht so sehr wie heute individuelle, unverwechselbare Wesen sieht. Zudem werden Kinder weit früher als Erwachsene angesehen und auch so behandelt. Sie werden zur Arbeit herangezogen, um die Familie mit zu erhalten, und man verfügt über sie recht unbekümmert, als wären sie Dienstboten. Auch bei den Crisps geht es nicht anders zu – und die materiellen Nöte und Einschränkungen mögen dazu beigetragen haben. Bereits ein Jahr nach Burrishs Ankunft – er ist elf – wird ein persischer Kaufmann auf den Jungen aufmerksam. In ihrem indischen Tagebuch, das Elizabeth Crisp zu jener Zeit führt, vermerkt sie nüchtern: „Innerhalb eines Jahres nach seiner [Burrishs] Ankunft war ein persischer Kaufmann, der mit seinem Vater zu tun hatte, von dem Jungen so angetan, dass er bat, ihn nach Persien mitnehmen zu dürfen, damit er die Sprache lerne, die ihm nach seiner Rückkehr, wie er vertrat, verhelfen könne, sein Glück zu machen.“ So wird Burrish „nach langem Überreden“ dem Fremden übergeben und – so die praktische Überlegung der Eltern – in die vielleicht harte, aber nützliche Schule des Lebens entlassen. Wie es Burrish in der persischen Fremde erging, ist nicht überliefert. Immerhin lernt er das Persische fließend sprechen und schreiben und kommt mit zwölf Jahren nach Indien zurück. Dort wird er im März 1774 vom britischen Gouverneur von Bengalen, Warren Hastings, und von den Direktoren der East India Company mit Empfehlungen versehen: „Er ist ein Jüngling von etwa fünfzehn Jahren [Burrish ist zwölf, scheint aber älter gewirkt zu haben] und entsprechend gebildet, von äußerst vielversprechendem Talent und hat bereits so bemerkenswerte Fortschritte im Erlernen der persischen, bengalischen und maurischen [arabischen] Sprache gemacht und ein solches Wissen über Handel und Sitten des Landes erworben, dass wir seine Anstellung bei der ehrenwerten Kompanie wahrhaft für einen Gewinn halten und uns erlauben, ihn zu empfehlen.“

 

Die Lage der Crisps bessert sich in jenen Jahren. James Crisp wird „Salzaufseher“ mit festem Gehalt im Dienste des bengalischen Provinzrats in Dhaka (im heutigen Bangladesch). Die Familie zieht dorthin. Die Stadt, in der fruchtbaren Tiefebene des Gangesdeltas gelegen, ist damals Zentrum der Baumwollproduktion und des weiterführenden Handels mit dem gesamten indischen Subkontinent und Großbritannien. Aber auch Reis, Salz, Holz und Gewürze sind Exportgüter des Landes. James Crisp hat als „Salzaufseher“ die Kontrolle des Salzhandels unter sich, denn die britische East India Company hat hierauf das Monopol. Bald werden die Crisps so wohlhabend, dass sie sich in Dhaka ein großes Haus mit Garten kaufen können. Freilich ist das Leben in Bengalen für Europäer wohlfeil, zumal Arbeitskräfte billig sind. Sogar ein Palankin – eine landestypische Sänfte – wird erworben, und auch die dazu nötigen vier bis acht Träger wollen bezahlt sein. Das Haus wird neu eingerichtet, mit landestypischen Sofas, Betten und Stühlen aus Schwarzholz, mit Tischchen und Schränken, die mit Japanlack überzogen sind. Allerlei neue Kleidung aus heimischer Baumwolle wird angeschafft, im europäischen Stil, aber bunter gefärbt als in England üblich – hierin passen sich die Crisps der indischen Vorliebe für kräftige Farben an –, und vier große Fächer aus Pfauenfedern, die ursprünglich an den Mogulhöfen als Statussymbol galten, sorgen in der Tropenhitze für angenehme Erfrischung.

Trotz allen materiellen Wohlstandes führt Elizabeth Crisp in jenen Jahren ein eher zurückgezogenes und langweiliges Leben. In Dhaka sind in den 1770er-Jahren nur knapp fünfzig Weiße ansässig – meist in der staatlichen Verwaltung oder in der halbstaatlichen Handelsorganisation der East India Company –, doch die meisten haben ihre Ehefrauen und Familien in Europa gelassen, da sie oft nur für ein paar Jahre in Indien tätig sind. Nur drei verheiratete weiße Frauen, darunter Elizabeth, wohnen in der Stadt, und sie führen, den Konventionen der Zeit entsprechend und in einer überwiegend muslimischen Gesellschaft lebend, ein zurückgezogenes und nahezu unsichtbares Dasein. Es gibt nicht einmal ein protestantisches Gotteshaus, und für die erfolgreicheren europäischen Männer bietet sich zur gesellschaftlichen Abwechslung nur eine Freimaurerloge an, die sich weniger mit spirituellen Fragen und karitativem Engagement befasst als vielmehr recht banal mit der Jagd, die zwanzig Meilen außerhalb der Stadt, wo es dichte Wälder mit Rotwild und sogar Bären gibt, regelmäßig abgehalten wird.

Armin Strohmeyr

Über Armin Strohmeyr

Biografie

Armin Strohmeyr ist promovierter Germanist und Autor viel beachteter Biografien, Porträtsammlungen und Romane. Sein Buch „Verkannte Pioniere“ wurde von der Zeitschrift DAMALS beim Wettbewerb „Historisches Buch des Jahres“ mit dem 3. Platz prämiert und stand auf der Shortlist »Wissenschaftsbuch des...

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