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Uns gehört die Welt

Uns gehört die Welt

Armin Strohmeyr
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Schreibende Frauen erobern die Fremde

9 Porträts

„Armin Strohmeyr versammelt neun routiniert geschriebene Porträts reisender und schreibender Frauen“ - Süddeutsche Zeitung

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Uns gehört die Welt — Inhalt

Vom Schreibtisch in die Welt hinaus

Statt Geschichten für Romane zu erfinden, reisten mutige Frauen im 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert lieber durch die Welt, um die wahren Abenteuer zu erleben. Mit Feldstecher, Schreibfeder und Machete im Gepäck erforschten sie fremde Gesellschaften und ferne Länder. Wenig bekannt sind dabei die Abenteuer deutscher Autorinnen wie Sophie von La Roche, die sich in einer Sänfte den Montblanc hochtragen ließ oder die der republikanischen Aktivistin Malwida von Meysenburg, die vor dem preußischen Geheimdienst nach London in die Freiheit floh. Die Reiseberichte und Tagebücher der Porträtierten zeugen von Geschichten voller Mut und Abenteuerlust, die so beeindruckend wie unterhaltsam sind. 

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 14.01.2016
352 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97180-5
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Leseprobe zu „Uns gehört die Welt“

1 Sophie von La Roche ( 1730–1807 )
Von der „ grünen Stube “ zu den „ Eißgebürgen “



Es ist der 22.Juli 1784. Nach einer mehrstündigen Wanderung steht die dreiundfünfzigjährige Romanautorin Sophie von La Roche auf einem Felsvorsprung oberhalb des Mont-Blanc-Gletschers. Freilich ließ sich die etwas füllig gewordene schwäbische Matrone von kräftigen Burschen in einem Tragestuhl nach oben schaffen, aber das schmälert die Abenteuerlichkeit des Unternehmens nicht. Sie selbst umschreibt ihre Gefühle dort oben so : » Man lernt an Allmacht glauben, wenn man hier [...]

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1 Sophie von La Roche ( 1730–1807 )
Von der „ grünen Stube “ zu den „ Eißgebürgen “



Es ist der 22.Juli 1784. Nach einer mehrstündigen Wanderung steht die dreiundfünfzigjährige Romanautorin Sophie von La Roche auf einem Felsvorsprung oberhalb des Mont-Blanc-Gletschers. Freilich ließ sich die etwas füllig gewordene schwäbische Matrone von kräftigen Burschen in einem Tragestuhl nach oben schaffen, aber das schmälert die Abenteuerlichkeit des Unternehmens nicht. Sie selbst umschreibt ihre Gefühle dort oben so : » Man lernt an Allmacht glauben, wenn man hier steht, und die Felsen sieht. Wie klein, wie niedrig scheint aller Stolz der Welt […] meine Seele war bewegt und durchdrungen. Ge­­fühle der Anbetung, wie man sie sonst nirgends fühlen kan, Liebe gegen seinen Ur­­heber, feyerliche Freude über Unsterblichkeit, Vergessen alles erlittenen Wehes, Vergebung alles Un­­rechts, liebreiches Übersehen aller Unvollkommenheiten, waren die Gesinnungen, die mich durchdrangen. «
Den Gipfel des Mont Blanc erklimmt Sophie von La Roche an jenem Tag freilich nicht – das wäre zu viel für ihre Begleiter. Der mit 4807 Metern höchste Berg Europas wird erst zwei Jahre später, am 8.August 1786, von Jacques Balmat und Michel-Gabriel Paccard nach einem zweitägigen Aufstieg be­­zwungen. Zweiundzwanzig Jahre später gelingt einer Frau die Besteigung des Gipfels : Marie Paradis wird jedoch – ähnlich wie ihre be­­rühmte Vorgängerin Sophie von La Roche – streckenweise von Jacques Balmat getragen. Und es vergehen weitere dreißig Jahre, bis 1838 Henriette d’Angeville als erste Frau den höchsten Berg Europas aus eigener Kraft bezwingt.
Wichtiger als die erklommenen Höhenmeter ist in allen Fällen die Begeisterung, die diese Frauen angetrieben hat. Außer der sportlichen Herausforderung ist die geistige Befriedigung zu nennen, die schwärmerische Hinwendung an die großartige Bergwelt, die Entdeckung der von Menschenhand unberührten Natur – ein Phänomen, das auch heute noch zu beobachten ist und das die Vereinnahmung der scheinbar entlegensten Winkel der Erde nach sich zieht.
So kann man Sophie von La Roche durchaus als eine Pionierin romantischen Naturempfindens und individuell geprägter Reiselust verstehen. Dass sie erst im reiferen Alter, mit über fünfzig Jahren, ihren engeren Kulturkreis verließ und fremde Länder bereiste – die Schweiz, Holland, England und Frankreich –, war auch Ausdruck gelebter Emanzipation und ein Ausbruch aus der bürgerlichen Konvention. Zwar hat Sophie von La Roche über ihre Reisen detaillierte Journale geschrieben – nicht zuletzt, um sich vor der Nachwelt und der eigenen Familie abzusichern, indem sie die „ Nützlichkeit “ ihrer Unternehmungen (nämlich die Reise als Bildungserlebnis) hervorkehrte. Zugleich aber war sie sich ihrer literarischen Fähigkeiten und Verpflichtungen bewusst, indem sie ihr individuelles Reiseerlebnis als von allgemeinem Interesse begriff und ihre Leserinnen und Leser an ihren Begegnungen, Empfindungen und Abenteuern teilhaben lassen wollte. Die Reiseliteratur wurde zu einem festen Bestandteil der Buchläden – kam sie doch einem Bedürfnis breiter Schichten entgegen, die sich aus ihrem engen heimatlichen Umkreis lösen wollten, und sei es nur da­­durch, dass man die Eindrücke anderer las und nachempfand.


Hunger nach Bildung
Die Verhältnisse, denen Sophie von La Roche entstammte, waren keineswegs günstig für eine selbstbestimmte Existenz als freie Autorin. Vielmehr war alles darauf angelegt, sie zu einer pflichtbewussten und frommen Bürgerin, Ehefrau und Mutter zu erziehen. Erst mit über vierzig Jahren konnte sie die vorgegebenen Bahnen verlassen – bedingt durch den Erfolg ihres ersten Romans, aber auch durch die schwierigen ökonomischen Verhältnisse. So sah sie sich nach dem beruflichen Sturz ihres Mannes genötigt, die Familie durch ihre Schriftstellerei zu ernähren, was ihr Selbstwertgefühl hob und ihre gesellschaft­liche und familiäre Stellung festigte. Aber bis dahin war es ein langer, entbehrungsreicher und von Enttäuschungen geprägter Weg.
Sophie kommt am 6.Dezember 1730 in Kaufbeuren im Allgäu zur Welt. Der Vater, Georg Friedrich Gutermann, ist Arzt und hat in der Freien Reichsstadt die Stelle des Stadtphysicus inne. Die Mutter Regina Barbara entstammt der angesehenen Memminger Bürgerfamilie Unold. Doch so gebildet Gutermann, der in Tübingen und Leiden studiert hat, ist, in einem Punkt denkt er sehr traditionell : Ein Mädchen kann den erhofften Stammhalter nicht ersetzen.
Vater Gutermann muss sich gedulden. Denn nach der erstgeborenen Sophie kommen weitere elf Mädchen zur Welt. Erst das dreizehnte Kind ist der ersehnte Junge. Da Gutermann lange Jahre vergeblich auf einen Sohn wartet, will er aus der erstgeborenen Tochter, deren geistige Fähigkeiten er erkennt, etwas Besonderes machen. Sophie kann – glaubt man ihren Er­­innerungen – bereits mit drei Jahren lesen. Früh wird sie vom Vater in Astronomie, Französisch und Geschichte unterrichtet. Bei den Gelehrtenabenden, die Gutermann veranstaltet, darf Sophie als „ Bibliothekarin “ assistieren. Doch das Lateinische, die Sprache der Gelehrten, bleibt ihr verwehrt. Vater Gutermann will keine „ Gelehrtenmamsell “. So handelt er im Widerspruch, einerseits auf seine gelehrige Tochter stolz zu sein und andererseits ihrer Bildung Grenzen zu setzen.
Teilweise gibt er Sophies Drängen nach. Das halbwüchsige Mädchen – die Familie wohnt ein paar Jahre in Lindau am Bodensee, bevor sie endgültig nach Augsburg zieht – erhält vertieften Unterricht durch den Philosophiehistoriker Johann Jakob Brucker, außerdem Stunden in höherer Mathematik und italienischer Sprache und Literatur durch den gelehrten Arzt Giovanni Lodovico Bianconi. Die siebzehnjährige Sophie verliebt sich in den gut aussehenden dreißigjährigen Italiener. Doch Vater Gutermann, der bei aller Weltläufigkeit viel auf seine protestantische Konfession hält, steht einer Heirat mit dem Katholiken Bianconi ablehnend gegenüber.
1748 stirbt Regina Gutermann, die stets besänftigend auf ihren cholerischen Mann eingewirkt hat. Gutermann schickt seine verbliebenen vier Kinder zu seinen alten Eltern nach Biberach in Oberschwaben. Dann macht er sich überraschend mit Bianconi nach Italien auf. Er ist bereit, dessen Familie kennenzulernen, um sich die Angelegenheit mit Sophies Verlobung durch den Kopf gehen zu lassen. Als Gutermann nach einem Dreivierteljahr nach Augsburg zurückkehrt und seine Kinder wieder zu sich holt, kommt es zum Eklat : Er überwirft sich mit Bianconi, da sie sich nicht über die konfessionelle Erziehung etwaiger Kinder Sophies einigen können.
Gutermann erteilt Sophie eine harte Lektion. Sie hat erst als alte Frau, ein Jahr vor ihrem Tod, Worte dafür gefunden : „ Ich mußte meinem Vater alle Briefe Bianconis, Verse, schöne Alt-Arien, mit meinen sehr pünktlich ausgearbeiteten geometrischen und mathematischen Übungen, in sein Cabinet bringen, mußte alles zerreißen und in einem kleinen Windofen verbrennen; Bianconi’s Portrait […] mußte ich mit der Scheere in tausend Stücke zerschneiden, einen Ring mit […] der Umschrift : ohne Dich nichts […] mit zwei in den Ring entgegen gesteckten Eisen, entzwei brechen und die Brillanten auf den rothen Steinen umher fallen sehen. – Die Ausdrücke meines Vaters dabei will ich nicht wiederholen. – So wollte man das Andenken des Mannes auslöschen, dem mein Geist so viel Schönes zu danken, mein Herz so viel Glück von ihm zu hoffen hatte, der mich nie gezankt, immer geliebt und gelobt hatte. “
Vielleicht wäre dieses Ereignis nicht mehr als eine biografische Anekdote geblieben, hätte sich für Sophie daraus nicht ein Hauptantrieb ihrer späteren Arbeit als Schriftstellerin und Herausgeberin entwickelt : Die Frage : Welches ist die richtige Erziehung ? Und : Wie sind individuelle Neigungen und gesellschaftliche Interessen zu verbinden und zu versöhnen ?
Doch nach der erzwungenen Trennung von Bianconi geht es für Sophie zunächst um das eigene seelische Überleben. Sie wird erneut nach Biberach geschickt und lernt im Hause des Predigers Thomas Adam Wieland – eines weitläufigen Verwandten von Sophies Vater – dessen sechzehnjährigen Sohn Christoph Martin kennen. Er ist Student der Philosophie und verfertigt – so munkelt man in dem Städtchen – galante Ge­­dichte.
Christoph Martin ist von schwärmerischer Natur. Das fällt bei der enttäuschten, nach Wärme und Anerkennung dürstenden Sophie auf fruchtbaren Boden. An einem Sonntag im August 1750 verloben sich die beiden heimlich. Wenige Wochen später bricht Christoph Martin Wieland nach Tübingen auf, um Jura zu studieren. Das Dichten freilich lässt er nicht sein. Jetzt hat er auch eine Muse. Er schickt seiner „ englischen “ (engelsgleichen) Sophie leidenschaftliche Verse : „ Englische Sophie, mein Herz, mein Licht / Du bist selbst, ja, du bist selbst die Tugend, /Aus der Anmuth aufgeblühter Jugend,/Reizt Sie selbst in Dir ein klug Gesicht. / O wie strahlt aus deinen schönen Blikken, / Wo mit weisem Ernst sich Anmuth paart, / Eine Seele von Seraph’scher Art, / Fähig mehr als Weise zu entzükken ! “ Doch alle Reinheit der jungen Liebe erweicht die Eltern nicht. So­­wohl Vater Gutermann als auch Mutter Wieland sind gegen die schwärmerische Verbindung. Christoph Martin indes wirft bald sein Studium hin und geht in die Schweiz, wo er in dem Literaturprofessor Johann Jakob Bodmer einen Gönner gefunden hat. Die Eindrücke in der Eidgenossenschaft sind für den jungen Dichter überwältigend. Er findet gleichgesinnte Autorenkollegen, genießt das liberale bürgerliche Klima und verschaut sich auch in das eine oder andere Mädchen. Kein Wunder, dass da die Briefe an die „ englische “ Sophie spärlicher und gleichgültiger werden.


Das Idol der Empfindsamen
Enttäuschung und die Fügung ins Unabänderliche veranlassen Sophie im Winter 1753 zu einem raschen Entschluss : Sie heiratet den dreiunddreißigjährigen Georg Michael Frank, der von allen „ La Roche “ genannt wird. Um La Roches Herkunft rankt sich ein Geheimnis. Angeblich ist er der illegitime Sohn des Reichsgrafen Anton Friedrich von Stadion, der in kurmainzischen Diensten steht und in Warthausen bei Biberach und Thannhausen Besitzungen hat. Auffällig ist, dass der Graf den Knaben einst bei sich aufnahm und ihm eine ausgezeichnete Bildung zukommen ließ. Stadion zog La Roche zu seinem engsten Berater und Vertrauten heran. In Warthausen muss La Roche seiner Braut zum ersten Mal begegnet sein.
Es ist keine Liebesheirat. Statt großer Gefühle gibt es praktische Gründe für eine Verbindung. Georg Michael La Roche be­­nötigt eine Frau, die Geist und Bildung genug hat, um am Hofe Stadions als Konversationsdame und Vorleserin für den Grafen zu dienen. Sophie hingegen gelingt es mit der Heirat, den Fesseln des Vaterhauses und der unbefriedigenden Liaison mit Wieland zu entfliehen. Dass sie überdies mit La Roche einen Mann bekommt, der später ihren literarischen Ehrgeiz toleriert, kann sie noch nicht wissen.
Sophie findet sich rasch in ihrem neuen Leben zurecht. Im Palais Stadion in Mainz und am dortigen kurfürstlichen Hof gilt sie als schöne und kluge Gesellschafterin. Im Laufe der Jahre bringt Sophie acht Kinder zur Welt, fünf überleben. Für deren Erziehung bleibt ihr kaum Zeit, denn der Dienst bei Hof ist kräftezehrend. Als Graf Stadion im Jahre 1761 von seinem Amt als Mainzer Staatsminister zurücktritt, zieht er sich auf seine Besitzung Warthausen bei Biberach zurück. Die Familie La Roche folgt ihm. Der kleine Hof wird in jenen Jahren zu einem Hort der Künste und strahlt weit über die Grenzen der Herrschaft hinaus. Auch Christoph Martin Wieland, der in seine Heimatstadt Biberach zurückgekehrt ist und dort das Amt des Kanzleiverwalters versieht, geht auf dem Schloss ein und aus. Mit Sophie hat er sich ausgesöhnt. Er ermutigt sie, sich literarisch zu versuchen.
In Sophie von La Roche reift in jenen Jahren der Plan, einen Erziehungsroman in Briefen zu schreiben. Impetus hierzu ist die Sehnsucht, sich ein – wie sie sich ausdrückt – „ papierenes Mädchen “ zu erschaffen, das sie nach ihren Vorstellungen zu einem Idealwesen erziehen kann – gerade weil ihr das bei ihren eigenen Kindern versagt bleibt, die sie auf Geheiß ihres Mannes Gouvernanten oder einem Internat überlassen muss. So entstehen die ersten Kapitel. Teile schreibt sie in Warthausen, Teile auf Schloss Bönnigheim bei Heilbronn, wohin die Familie 1770 nach dem Tod des Grafen Stadion zieht. Nur Wieland ist eingeweiht, und er liest Korrektur und unterbreitet Verbesserungsvorschläge.
Im Frühjahr 1771 geht ein Raunen durch die literarische Welt : Es erscheint ein Roman, der binnen kürzester Zeit zu einem Bestseller wird und um den sich Gerüchte ranken. Sein Titel : Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Das Buch fasziniert weniger wegen seiner Handlung, sondern wegen seiner Haltung. Es ist die Zeit der Empfindsamkeit. Individuelle Ge­­fühle, durch den Rationalismus und die Aufklärung verdrängt, treten nun in den Vordergrund, und obgleich sie intimen Charakter haben, verlangen sie Teilhabe verwandter Seelen.
In jenen Jahren um 1770 bilden sich in den Salons des Bürgertums – der neuen Bildungsschicht – Zirkel, in denen man sich briefliche Herzensergüsse vorliest. Der Brief wird zum Leitmedium jener Zeit, und er verliert als solches jeglichen privaten Charakter. Der Roman Geschichte des Fräuleins von Sternheim bedient diese sentimentale, empfindsame Richtung und treibt sie auf einen künstlerischen Höhepunkt. Denn in ihm wird nicht nur die Lebensgeschichte eines empfindsamen Menschen dargestellt, sondern sie wird auch – zum ersten Mal in der deutschen Literatur – aus der Sicht einer Frau beschrieben.
Doch eine Frage bleibt zunächst unbeantwortet : Wer ist der Autor des Buches ? Der Roman erscheint anonym. Nur der Name des Herausgebers wird genannt : Christoph Martin Wieland. Schließlich sickert des Rätsels Lösung durch, denn der Kreis der Empfindsamen ist immer wohlunterrichtet : Tatsächlich handelt es sich beim Autor des Romans um eine angesehene Dame des gehobenen Bürgertums, die durch Heirat sogar mit dem Adel in Verbindung steht.
Die La Roches wohnen seit Kurzem in Ehrenbreitstein gegenüber Koblenz. Georg Michael von La Roche ist Minister am kurtrierischen Hof. Binnen kurzer Zeit ist das Haus der La Roches ein Sammelpunkt der geistigen Elite. Die Dichter und Philosophen Christoph Martin Wieland, Georg und Friedrich Jacobi, der schriftstellernde Kriegsrat Johann Heinrich Merck und der schreibende Hofmeister Franz Michael Leuchsenring kommen nach Ehrenbreitstein, der geniale, aber arg aufdring­liche Jakob Michael Reinhold Lenz umschwärmt die Hausherrin, und der gerade einmal dreiundzwanzigjährige Johann Wolfgang Goethe wandert zu Fuß von Frankfurt nach Ehrenbreitstein. Noch im Alter schreibt er enthusiastisch über Sophie von La Roche : „ Sie war die wunderbarste Frau, und ich wüßte ihr keine andre zu vergleichen. “
Die Zeitgenossen sind begeistert. Die einen sehen in der Er­ziehungsgeschichte des Fräuleins von Sternheim die exemplarische Darstellung dessen, was die Aufklärung vermag : die Be­­freiung des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Die Bewegung der Empfindsamen hingegen schätzt an dem Roman die gefühlsintensive Darstellung, die sich zum ersten Mal in einem belletristischen Werk ausspricht. Das Buch heizt die bisweilen exhibitionistischen Allüren der Empfind­samen an, und es kommt im Hause Sophie von La Roches in Ehrenbreitstein zu wahren Vorlese-Marathons : Abende, an denen man sich die schönsten gefühlsschwangeren Stellen aus eigenen Briefen und denen Dritter vorliest.
Auch der junge Goethe gehört zu den empfindsamen Jüngern von Ehrenbreitstein. Eben war er in unglücklicher Liebe zu der Wetzlarer Bürgerstochter Charlotte Buff entbrannt. Jetzt, im Hause La Roche, verliebt er sich in die schöne Tochter Maximiliane. Doch deren sonst so gefühlsselige Mutter hat ein wachsames Auge auf das Kind. Sie möchte eine standesgemäße Hochzeit. Ein unsteter Literat wie der junge Goethe bietet ihr zu wenig. Der jedoch schreibt – unter dem Eindruck seiner unglücklichen Amouren – in wenigen Wochen einen Roman, der ihn berühmt, ja, berüchtigt machen wird und in dessen Weltschmerz sich eine ganze Generation junger Menschen widergespiegelt sieht : Die Leiden des jungen Werthers. Goethes Geniestreich kommt nicht aus dem Ungefähren. Das Buch ist in vielem die fiktional kaum verbrämte Darstellung autobiografischer Erlebnisse. In der „ Lotte “ des Romans sind Züge von Charlotte Buff, aber auch von Maximiliane von La Roche verwoben. Den gefühlsbetonten Stil des Werther und die Technik individueller Sprechweisen hat Goethe exemplarisch im Sternheim-Roman seiner Autorenkollegin vorgezeichnet gefunden. Ihr gegenüber zeigt sich der junge, von seinem Genie überzeugte Stürmer und Dränger voller Vertrauen und Hochachtung. Der „ chère maman “, wie er Sophie von La Roche liebevoll nennt, schreibt er Anfang Juni 1774 : „ Sie werden sehn wie Sie meinem Rad Schwung geben wenn Sie meinen Werther lesen, den fing ich an als Sie weg waren den andern Tag, und an einem fort ! Fertig ist er. “
Nur kurze Zeit ist Sophie von La Roche das Idol der jungen Generation. Ihr Ruhm verblasst recht schnell. Die neue literarische Richtung des Sturm und Drang schafft sich Vorbilder aus den eigenen Reihen, darunter Goethe und etwas später Friedrich Schiller. Sophie von La Roche erscheint den Jungen bald als zu alt, zu mütterlich, zu bürgerlich. Hand in Hand mit dem literarischen Bedeutungsverlust geht der gesellschaftliche Niedergang der La Roches. Zwar kann Sophie im Jahre 1774 die älteste Tochter Maximiliane an den reichen Frankfurter Kaufmann Pietro Antonio Brentano verheiraten – eine Ehe, der zwölf Kinder entspringen, darunter die später als Schriftsteller so bekannten Geschwister Clemens und Bettine Brentano. Doch stürzt Georg Michael von La Roche im Jahre 1780 über eine Intrige am kurtrierischen Hof. Er hat sich mit seiner kirchenkritischen Schrift Briefe über das Mönchswesen zu weit ­vorgewagt und wird von seinem Brotherrn, Kurfürst Clemens Wen­zeslaus, entlassen. Die La Roches ziehen sich nach Speyer zurück, in das Haus des befreundeten Domherrn Christoph Philipp von Hohenfeld.
Doch gerade in jenen Jahren gesellschaftlicher Schmach und persönlicher Not – Georg Michaels Pension reicht kaum zum Leben, er kränkelt, und die Ausbildung der Söhne verschlingt viel Geld – beweist Sophie von La Roche Tatkraft und Erfindungsreichtum. Um Geld dazuzuverdienen, gründet sie 1783 eine eigene Zeitschrift, die sie zum großen Teil selbst schreibt, redigiert, und deren Vertrieb in ihren Händen liegt. Der Titel des Journals : Pomona. Für Teutschlands Töchter. Die Zeitschrift erscheint in den Jahren 1783/84 in vierundzwanzig Heften und ruft Sophie von La Roche in die Erinnerung des Publikums zurück. Pomona ist die erste deutsche Zeitschrift für Frauen, die von einer Frau betreut wird. Sogar die russische Zarin Katharina abonniert fünfhundert Exemplare. Dabei ist das Konzept der Zeitschrift nicht neu. Sophie von La Roche überträgt darin nur die Erziehungs- und Bildungsgrundsätze, die sie bereits 1771 an ihrem „ papierenen Mädchen “ Sophie von Sternheim exemplarisch dargelegt hat. Die Palette der Themen, die in Pomona behandelt werden, ist groß : Das Überzeitliche wird mit dem Alltäglichen verbunden, das Schöne mit dem Nützlichen. Es geht um Mythologie, Geschichte, Naturforschung und Philosophie, aber auch um Mode, um einen zeitgemäßen Schul­unterricht für Mädchen, um Gartenbau, Haushalt und Ge­­dächtnistraining.


Sehnsucht nach den „ Eißgebürgen “
Auch Reiseberichte werden in die Pomona aufgenommen. Kein Wunder, dass sich die Herausgeberin Sophie von La Roche bald nach der Ferne sehnt. In den Jahren 1784 bis 1786 bricht sie zu drei Reisen auf, die jeweils mehrere Monate dauern und sie in die Schweiz und nach Savoyen, nach Frankreich, Holland und England führen. Den kranken Ehemann lässt sie unter Obhut in Speyer zurück.
Sie ist bereits Mitte fünfzig, für damalige Verhältnisse eine Frau an der Schwelle zum Alter. Die Straßen sind schlecht, die Gasthäuser verwanzt, die Kutschen unbequem und zugig, in den Wäldern lauern Räuber. Dass eine Frau dieses Alters sich auf den beschwerlichen Weg macht, weil sie neugierig auf die Welt ist, dazulernen und sich durch eigene Anschauung ein Bild von Ländern und Menschen machen will, ist ein ziemliches Novum. Sophie von La Roche hat über ihre Reisen mehrere umfangreiche Bücher geschrieben, die noch heute in ihrer An­­schaulichkeit lesenswert sind. Es besticht der unverstellte, un­­voreingenommene Blick. Sie besichtigt nicht nur die üblichen Sehenswürdigkeiten, sondern besucht auch Waisenhäuser, Ge­­fängnisse, Manufakturen und Arbeiterwohnungen. Die Neugier siegt über das Vorurteil, die Liebe zum anderen Menschen über die Furcht vor dem Fremden.
Am 25.Juni 1784 ist es so weit : In Begleitung ihres sechzehnjährigen Sohnes Franz fährt Sophie von La Roche Richtung Süden, zunächst nach Straßburg. Über Freiburg im Breisgau – Sophie bewundert dort das Münster – geht es nach Neustadt im Schwarzwald und Donaueschingen. Bei Schaffhausen betritt sie Schweizer Boden und ist ganz außer sich, endlich im Land ihrer Sehnsucht zu sein. Wissensdurstig besucht sie in der Stadt sogleich ein „ Naturalienkabinett “, ein privates Naturkundemuseum – davon kann sie auf all ihren Reisen nie genug bekommen. Dann geht es weiter zum Rheinfall. Sie ist überwältigt :
„ Dieser Anblick, meine Kinder ! kann man nicht beschreiben; aber ein vorher nie bekanntes Gefühl von der Macht und Schönheit der Natur durchdringt hier die Seele. Der herrliche Fluß […] stürzt […], wie im Unmuth der Starke gegen Hindernisse anprellt, gegen zwey in der Mitte stehende hohe und hundert damit verbundene kleine Felsen an, mit einer Schnelligkeit, einem Eifer und Treiben der nachkommenden Fluthen, daß alle vor sich, seitwärts und rückwärts sich stoßen, in die Höhe schäumen, als wirblende Wolken vom Sturm getrieben, sich übereinander wälzen und in den Abgrund stürzen. Meine Feder vermag nicht, es weiter zu beschreiben. “
Sophie ist überrascht, überall als eine Berühmtheit empfangen zu werden. Doch kann sie sich nicht lange damit abgeben, denn wieder sind es äußere Eindrücke, die sie überwältigen : Sie sieht in der Ferne die selbst jetzt, im Sommer, schneebedeckten Hochalpen : „ Bey einem Ruhpunkte wurde meine Seele von einem lebhaften Vergnügen überrascht, denn ich erblickte auf einmal die Kette der Eißgebürge, welche in Lindau in meiner ersten Jugend, bey meinem Fortwachsen in Biberach, und in meinem verheyratheten Stande in dem Schlosse Warthausen immer so anziehend für mich war. “
Weiter geht es nach Zürich. Die Nachricht von ihrer Ankunft verbreitet sich rasch. An ihre Zimmertür klopfen der Idyllendichter Salomon Gessner und seine Frau, die die Autorin der Geschichte des Fräuleins von Sternheim wie eine alte Freundin „ mit der Freymüthigkeit einer Republikanerin “ begrüßen und nach empfindsamer Manier innig umarmen. Gessners führen Sophie sogleich zu dem Bibliothekar und „ würdigen Professor “ Leonhard Usteri, der der Besucherin die Schätze der Zürcher Stadtbibliothek zeigt.
Luzern, die nächste Station, „ liegt schön an einem Busen des vier Waldstädter Sees, und kann durch die Schiffarth den Überfluß des Korns, des Obstes und der Kastanien, welche ihr Land trägt, leicht verhandlen und verführen “, so schreibt sie in ihr Tagebuch. Ihr Sohn Franz schaut sich hier, am See, gern nach den Mädchen um, was Sophie nicht ohne Wohlwollen bemerkt, denn tatsächlich gibt es hier, wie sie schreibt, „ viele schöne und artige Frauenzimmer “. Der Vierwaldstätter See blinkt verführerisch in der Sonne, und Sophie und Franz unternehmen mit ein paar Bekannten eine Bootsfahrt. Die Literatin kennt keinen Müßiggang und greift auf offenem Wasser zum Notizbuch, um ihre Beobachtungen und Empfindungen für die Leserschaft festzuhalten : „ Ich schreibe mühsam, weil die Ruderstöse meine Hand beunruhigen und ich euch doch so gerne alle Gefühle meiner Seele mittheilen möchte […]. “
Sie will ein kleines Stück in die Berge und überredet ihren Sohn zu einem Ausflug auf eine Alm auf dem Rigi. In Begleitung eines Schweizer Führers, der sich um die etwas füllig ge­­wordene Dame sorgt, steigen sie eine Almwiese hinan. Belustigt notiert sie : „ Wir stiegen über große und kleine Steine zwischen den schönsten Wasserkräutern nah zu dem größten [Wasser-]Fall, wo ich bey dem Schweitzer blieb, weil er ernstlich sagte : › Mama ! Ihr müßt nit weiter, ihr syd a schwere Frau, die das Stige nit gewohnet ist. ‹ “ Sie mag vielleicht das Steigen nicht gewohnt sein, die Strapazen des damaligen Reisens, in engen Kutschen über holprige, ausgefahrene Wege, erträgt sie gleichwohl erstaunlich gut. Fast nie findet man in ihren Aufzeichnungen, die ansonsten mit persönlichen Details nicht geizen, Be­­merkungen über Müdigkeit oder einen von den Schlaglöchern schmerzenden Rücken. Kaum ist sie an einem neuen Ort, oft hat sie noch nicht einmal ihren Koffer ausgepackt, schon stattet sie Bekannten einen Besuch ab oder findet sich auf einem Fest wieder.

Armin Strohmeyr

Über Armin Strohmeyr

Biografie

Armin Strohmeyr ist promovierter Germanist und Autor viel beachteter Biografien, Porträtsammlungen und Romane. Sein Buch „Verkannte Pioniere“ wurde von der Zeitschrift DAMALS beim Wettbewerb „Historisches Buch des Jahres“ mit dem 3. Platz prämiert und stand auf der Shortlist »Wissenschaftsbuch des...

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