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Der Engel von Warschau (Bedeutende Frauen, die die Welt verändern 5)

Lea Kampe
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Irena Sendler – Für die Rettung der Kinder riskierte sie ihr Leben

„Lea Kampe hat gut recherchiert, an einigen Stellen die Geschichte aufgefüllt, wie sie gewesen sein könnte, und daraus einen spannenden Roman gemacht.“ - Radio ZuSa

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Der Engel von Warschau (Bedeutende Frauen, die die Welt verändern 5) — Inhalt

Die Geschichte des „weiblichen Oskar Schindler“

Warschau, 1940: Die Nazis errichten das Ghetto. Die 29-jährige Sozialarbeiterin Irena versucht alles, um den jüdischen Menschen zu helfen. Sie versteckt ein kleines, von verzweifelten Eltern ausgesetztes Mädchen unter falschem Namen bei einer nicht-jüdischen Familie. Was als mutige Tat beginnt, wird zur groß angelegten Rettungsaktion. Irena schmuggelt immer mehr Kinder mit gefälschten „arischen“ Identitäten aus dem Ghetto. Sie denkt nie ans Aufgeben, obwohl sie in ständiger Lebensgefahr schwebt. Aber Irena muss nicht nur um ihr eigenes Leben bangen. Denn Adam, ihre große Liebe, ist Jude.

In dunkelster Zeit schenkte sie Hoffnung

Historischer Hintergrund: Irena Sendler (1910-2008) rettete 2.500 jüdische Kinder vor dem sicheren Tod, indem sie sie aus dem Ghetto schmuggelte. Sie hoffte, die Kinder nach dem Krieg ihren Eltern zurückgeben zu können. Selbst als die Gestapo Irena Sendler unter Folter verhörte, soll „Die Mutter der Holocaust-Kinder“ keine Informationen preisgegeben haben. 1965 würdigte Yad Vashem Irena Sendler als „Gerechte unter den Völkern“.

€ 12,99 [D], € 13,40 [A]
Erschienen am 28.10.2021
432 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-06215-2
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€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 28.10.2021
432 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99990-8
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Leseprobe zu „Der Engel von Warschau (Bedeutende Frauen, die die Welt verändern 5)“

Kapitel 1

Herein!«, rief Reichsminister Dr. Hans Frank und sah vom Schreibtisch seines Berliner Büros auf.

Ein junger SA-Mann trat ein. Auf den ersten Blick machte Ludwig Fischer mit seinem kräftigen Körper und dem vollen Gesicht den Eindruck eines gutmütigen Bauernjungen, doch in seinen kleinen Augen lauerte etwas Perfides.

„Kommen Sie, kommen Sie“, sagte Frank jovial. „Cognac? Brandy? Oder doch lieber einen Schnaps?“

Fischer zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

Frank lachte. „Unser heutiges Treffen ist erfreulicher Natur, setzen wir uns doch.“ Er ging auf [...]

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Kapitel 1

Herein!«, rief Reichsminister Dr. Hans Frank und sah vom Schreibtisch seines Berliner Büros auf.

Ein junger SA-Mann trat ein. Auf den ersten Blick machte Ludwig Fischer mit seinem kräftigen Körper und dem vollen Gesicht den Eindruck eines gutmütigen Bauernjungen, doch in seinen kleinen Augen lauerte etwas Perfides.

„Kommen Sie, kommen Sie“, sagte Frank jovial. „Cognac? Brandy? Oder doch lieber einen Schnaps?“

Fischer zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

Frank lachte. „Unser heutiges Treffen ist erfreulicher Natur, setzen wir uns doch.“ Er ging auf einen niedrigen Tisch mit Gläsern und Flaschen zu und schenkte ein, bevor er sich auf das Sofa sinken ließ und Fischer den Platz auf dem Sessel gegenüber anbot. Dann warf er einen kurzen Blick auf die Standuhr. „Jetzt ist es so weit. Wie ich eben erfahren habe, wurde unserem SS-Sturmbannführer Naujocks um Punkt sechzehn Uhr das Losungswort ausgegeben.“ Er grinste. „›Großmutter gestorben‹. Wer sich das wohl ausgedacht hat? Na ja, jedenfalls werden Naujocks und seine Männer in ein paar Stunden als polnische Rebellen verkleidet unseren eigenen Rundfunksender in Gleiwitz angreifen. Eine unglaubliche Provokation, die wir Deutschen natürlich nicht hinnehmen können, weshalb wir uns gezwungen sehen, den Polen den Krieg zu erklären. Ich gehe davon aus, dass der Angriff in den frühen Morgenstunden erfolgen wird.“

Ludwig Fischer lachte. „Natürlich rechnen die Polen mit uns. Sie haben in aller Schnelle ein paar Truppen an der Grenze zusammengetrommelt. Alles ganz geheim, damit wir uns nicht provoziert fühlen. Und sie glauben tatsächlich, dass wir das nicht gemerkt hätten.“

„Ach ja, es heißt, sie hätten sogar berittene Truppen. Pferdchen, Fischer, Pferdchen. Was glauben Sie, was die sagen, wenn sie unseren Panzern gegenüberstehen. Ich hoffe, unsere Jungs richten kein Blutbad unter den armen Tieren an.“ Er grinste wieder und legte den Arm auf die Sofalehne.

„Dazu werden sie gar keine Zeit haben“, erwiderte Ludwig Fischer. „Wir alle wissen, dass die ganze Farce höchstens ein paar Wochen dauern wird. Spätestens Ende September haben wir Polen in der Tasche, und Warschau gehört uns.“

„Das ist die richtige Einstellung, Fischer!“, rief Frank und beugte sich ein wenig vor. Seine breite Stirn mit den hohen Geheimratsecken glänzte in der tief stehenden Nachmittagssonne. Das glatte Leder des Sofas leuchtete rotbraun, wie der noch unberührte Brandy in seiner Hand. „Und genau deshalb habe ich Sie kommen lassen.“ Er machte eine kurze Pause. „Sehen Sie, man hat mich zum Generalgouverneur des neu zu gründenden Generalgouvernements Polen ernannt. Und für die Stadt Warschau brauche ich einen besonders verlässlichen Mann.“ Er sah Fischer mit wachen Augen an. „Ich hatte an Sie gedacht. Was meinen Sie? Gouverneur von Warschau? Na, wie klingt das?“

„Es wäre mir eine Ehre, Dr. Frank.“

Der nickte bedächtig. „Ehre, wem Ehre gebührt. Für Ihren Amtssitz hatten wir an das Brühlsche Palais gedacht. Am Piłsudski-Platz, den wir in Adolf-Hitler-Platz umbenennen werden. Wohnen können Sie in einer Villa im Nobelvorort Konstancin, den wir bei den Luftangriffen unbedingt aussparen müssen.“ Er hob sein Glas. Fischer tat es ihm gleich. „Auf Warschau, die neue deutsche Stadt und ihren Gouverneur. Prost!“


Kapitel 2

Draußen auf dem Flur öffnete sich eine Tür und wurde leise wieder ins Schloss gedrückt. Irena hörte schnelle, leichte Schritte. Sie warf einen Blick auf die Uhr und lächelte. Halb fünf. Nach Elena konnte man die Uhr stellen. Alle im Warschauer Sozialamt wussten, dass sie regelmäßig eine halbe Stunde früher Feierabend machte, nur Elena selbst war felsenfest davon überzeugt, dass ihre tägliche Flucht aus dem Büro niemandem auffiel.

Irena lehnte sich auf dem Bürostuhl zurück, und während im Flur die Verbindungstür zum Treppenhaus zuklappte, schloss sie die Augen. Von draußen drangen Motorenlärm, Schritte und die hellen Stimmen zweier Frauen herein. Jetzt näherte sich ein Droschkengespann auf dem Kopfsteinpflaster. Der Kutscher stieß einen lang gezogenen Pfiff aus. Doch plötzlich drängte sich ein anderes Geräusch in den Vordergrund. Eine dicke Fliege schlug brummend ein ums andere Mal gegen die Scheibe. Irena machte die Augen auf. Einen Augenblick sah sie dem Insekt zu, das die unsichtbare Barriere mit reiner Willenskraft zu durchbrechen versuchte, dann erhob sie sich und öffnete das Fenster.

Zurück am Schreibtisch, schloss sie den letzten Bericht des Tages ab und überflog, was sie geschrieben hatte. Alles sah sehr ordentlich aus. Nichts lud dazu ein, genauer hinzusehen. Aber seit sie ihre kleinen Faktenberichtigungen nicht mehr alleine, sondern gemeinsam mit ihrer Kollegin Irka Schultz vornahm, fühlte sie sich ohnehin sicherer. Gewissensbisse hatte sie jedenfalls keine. Was sie tat, war richtig, denn vor ein paar Jahren hatte die polnische Regierung Sozialleistungen für jüdische Mitbürger stark eingeschränkt und an tausend unsinnige Bedingungen geknüpft, was die ärmeren Familien hart traf. Seitdem unterliefen Irena bei der Bearbeitung ihrer Fälle regelmäßig kleine Fehler. Manchmal wurde ein Kind auf dem Papier ein paar Monate jünger, um der ohnehin schon am Rand der Armutsgrenze lebenden Familie weiterhin Unterstützung zu gewähren. In anderen Fällen, so wie heute, verkleinerte sich der Wohnraum. Eigentlich war das nicht einmal gelogen, dachte Irena. Ihr Hausbesuch bei den Geremeks am Nachmittag hatte sie deprimiert. Angeblich lebte die sechsköpfige Familie in zwei Zimmern, tatsächlich aber war von dem schlitzohrigen Vermieter nur ein hölzerner Raumteiler eingezogen worden. Auf dem Formular hatte Irena sich genötigt gesehen, diese Illusion zu korrigieren, wodurch die Familie wieder Anspruch auf einen monatlichen Zuschuss bekam.

Sie zog das Blatt aus der Schreibmaschine und legte es zu den anderen. Draußen schlug die Uhr des nahe gelegenen Kirchturms fünf. Irena war dafür bekannt, so lange zu bleiben, bis auch die letzte Aufgabe erledigt war. Aber heute würde sie pünktlich Feierabend machen. Eine befreundete Kollegin wollte ihren Geburtstag mit einem Picknick im Park nachfeiern.

Draußen schlug ihr eine schwüle Hitze entgegen. Sie verstaute die Tasche und das Paket mit dem Kuchen in ihrem Fahrradkorb und radelte los. Der Ogród Saski, der Sächsische Garten, war ein herrlicher Park aus dem 18. Jahrhundert und nur einen Steinwurf von ihrem Büro in der Złotastraße entfernt. Irena trat in die Pedale, bis ihr der Fahrtwind in die blonden schulterlangen Haare fuhr. Auf der stark befahrenen Emilii-Plater-Allee musste sie über Kopfsteinpflaster fahren und versuchte mit der linken Hand das Kuchenpaket stabil zu halten. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, einen Babka zu backen, und Irena wollte das Hefegebäck nur ungern in Form von Krümeln zum Picknick bringen.

Schwungvoll umrundete sie eine Droschke, die unvermittelt vor ihr zum Stehen gekommen war, und bog kurz darauf durch das weit geöffnete schmiedeeiserne Tor des Parks. Durch die Kronen der hohen Linden und Buchen fiel das warme Nachmittagslicht. Kinder waren mit ihren Müttern und Gouvernanten unterwegs, und auf den Grünflächen saßen kleine Gruppen von Freunden und vereinzelte Pärchen. Je tiefer Irena in das Grün hineinfuhr, desto weiter entfernte sich der Lärm der Stadt. An seine Stelle traten Vogelstimmen und das Summen von Bienen, und ein Luftzug brachte die Blätter der alten Bäume zum Rascheln. Plötzlich sah Irena winkende Arme vor sich auf der Grünfläche. Automatisch fuhr auch ihr Arm nach oben.

„Na endlich!“ Das Geburtstagskind stürmte auf sie zu, noch während Irena das Fahrrad gegen einen Baum lehnte.

Irena umarmte sie fest. Dann hielt sie sie prüfend vor sich. „Dass wir uns auch mal wieder sehen“, sagte sie halb vorwurfsvoll. Seit Ewa Rechtman einige Monate zuvor wegen ihrer jüdischen Abstammung aus dem Sozialamt entlassen worden war, hatten sie sich viel zu selten getroffen. Irena vermisste den unerschütterlichen Optimismus ihrer Freundin.

„Fass dich mal an die eigene Nase, Fräulein Vielbeschäftigt“, gab Ewa schlagfertig zurück. Sie löste sich von Irena, fuhr sich mit den Händen durch die hellen Haare und steuerte auf das Kuchenpaket zu.

„Hmm, Babka!“

Irena lachte und begrüßte die anderen. Die meisten von ihnen, darunter Irka Schultz, Jaga Piotrowska und Janka Grabowska, waren wie Irena im städtischen Sozialamt angestellt. Ala Gołąb-Grynberg dagegen, die wie Ewa Jüdin war, arbeitete im jüdischen Krankenhaus.

Auf der bunt karierten Decke lagen Teller und Schalen mit belegten Broten. Janka hatte selbst gemachte Zitronenlimonade mitgebracht. Ewa stellte Irenas Babka in die Mitte.

„Ich hoffe, nicht du hast ihn gebacken, sondern deine Mutter“, sagte sie schelmisch, während sie rote Kerzen in den Kuchen steckte.

„So deutlich musst du es nun auch wieder nicht sagen“, beschwerte sich Irena. Doch sie war Ewa nicht böse. Kochen und Backen lagen ihr tatsächlich nicht.

„Dafür hast du andere Stärken!“ Jaga, die neben ihr saß, drückte ihr einen Kuss auf die Backe.

Als Ewa die Kerzen angezündet hatte, sangen sie Sto lat, das polnische Geburtstagslied, das Ewa „hundert Jahre“ wünschte. Die Spaziergänger auf den Kieswegen drehten sich lächelnd nach ihnen um. Doch kaum hatte Ewa die Kerzen ausgepustet und die Kuchenstücke verteilt, trat Stille ein.

„Fast komme ich mir schuldig vor, dass wir hier sitzen und meinen Geburtstag nachfeiern, als wäre nichts“, sagte Ewa schließlich.

„Wann, wenn nicht jetzt?“, gab Janka trocken zurück. „Wenn Deutschland Polen tatsächlich angreifen sollte, wird uns das Feiern erst mal vergehen.“

„Mietek ist eingezogen worden. Ich habe ihn gestern zum Bahnhof gebracht“, sagte Irena.

Wieder entstand Schweigen. Seit Wochen waren die Spannungen zwischen Deutschland und Polen mit Händen zu greifen. Im Juli schon hatte es Gerüchte gegeben, dass Polen still und heimlich seine Streitkräfte mobilisiere, aber erst jetzt hatte es Irenas Mann getroffen. Dabei war Mietek ein durch und durch friedliebender, bodenständiger Familienmensch. Ein paar Jahre zuvor hatte er seine erste Stelle an der Universität in Poznań angenommen und war wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass Irena ihm dorthin folgen würde. Aber ihr waren die soziale Arbeit und das Studium in Warschau wichtiger gewesen. Wie unterschiedlich sie und Mietek waren, hatte sie sich erst da so recht bewusst gemacht. Er war ein ganz und gar unpolitischer Mensch, dessen Träume über seine Professur in Altphilologie und eine kleine Familie nicht hinausgingen. Sie hingegen wollte für andere da sein, mit ihren Freunden an der Uni und in der sozialistischen Partei Pläne schmieden, die Welt verbessern. Und wo ließ sich besser damit anfangen als unter Warschaus Armen und Benachteiligten?

Doch obwohl Mietek und sie nun schon seit Jahren getrennt lebten und ihre Ehe nur noch auf dem Papier existierte, war er ihr wichtig. Er war ihre Sandkastenliebe, der Freund, mit dem sie jeden Winter auf der gefrorenen Weichsel Schlittschuh gelaufen war. Und nun sollte Mietek mit seinen feingliedrigen Händen gegen die Deutschen kämpfen? Es war nur schwer vorstellbar. Da schon eher Adam, ein früherer Kommilitone von der Universität und ihr bester Freund. Unwillkürlich wurde Irena warm. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, von ihm zu sprechen, ihren Freundinnen zu erzählen, dass auch er eingezogen worden war. Und warum auch nicht? Alle kannten Adam, den Hitzkopf mit den revolutionären Ideen für ein neues, gerechteres, vor allem aber freies Polen. Adam, der von romantischen Gedichten bis hin zu Gesetzbüchern alles verschlang und mit dem sie oft bis spät in die Nacht in einem Café oder unter den Bäumen im Park träumte und diskutierte.

Doch sie sagte nichts und nahm stattdessen ein zweites Stück Kuchen. Irka tat es ihr gleich. Als sich ihre Hände über dem Kuchenteller berührten, trafen sich ihre Blicke.

„Es wird alles gut gehen“, meinte Irka. „Diesmal werden England und Frankreich Polen nicht im Stich lassen, ihr werdet sehen. Wir haben eine feste Zusage. Die Deutschen sollen bloß kommen. Ihr Vergnügen wird von kurzer Dauer sein. Und ehe man sichs versieht, sind Mietek und die anderen wieder zurück.“

„Das will ich hoffen“, erwiderte Ala, aber sie klang nicht überzeugt. „Wenn nicht, sehe ich schlimme Zeiten auf uns zukommen. Für ganz Polen, vor allem aber für Ewa und mich und die anderen polnischen Juden. Was die Deutschen mit ihren jüdischen Mitbürgern in Deutschland machen, ist schlimm genug, aber wenn ihr mich fragt, werden sie es hier weitab von zu Hause noch viel wilder treiben.“

Ewa griff nach Alas Hand. „Komm schon, jetzt sei nicht immer so pessimistisch. Außerdem feiere ich hier gerade Geburtstag … ich meine, rein theoretisch, falls ihr’s vergessen haben solltet. Also, wer hat Lust auf einen Themawechsel?“

Irka und Janka hoben lachend die Hände. Ala drückte Ewas Hand, doch ihr Lächeln wirkte gezwungen.

 

Es war schon dunkel geworden, als sie aufbrachen und sich auf den Heimweg machten. Irena liebte die langen Sommerabende, die ihr ein Gefühl von Freiheit gaben. Treffen im Park, in Cafés und Eisdielen. Auch heute hatten sich viele Menschen auf den Straßen getummelt. Alles war so wie immer. Oder doch nicht? Waren die Stimmen lauter gewesen? Ihr Lachen etwas zu schrill? Waren die Autos schneller gefahren? Irena hätte es nicht zu sagen vermocht.

Zu Hause angekommen, stellte sie ihr Fahrrad im Hof ab und schloss leise die Tür zur Wohnung auf, die sie mit ihrer Mutter teilte. Drinnen war es dunkel. Sie lauschte auf den Atem ihrer schlafenden Mutter. Er ging ganz ruhig. Irena war erleichtert. Ihre Mutter hatte Herzprobleme und atmete oft schwer. Ohne Licht zu machen, ging sie in die Küche und öffnete das Fenster. War es der Krupnik, der selbst gemachte Honiglikör, den Irka mitgebracht hatte, oder die Erinnerung an den gestrigen Tag, die keine Müdigkeit aufkommen ließ?

Die meisten Fenster der Ludwikistraße waren noch erleuchtet. Im Wohnzimmer auf der gegenüberliegenden Straßenseite konnte Irena die Nowaks um das Radio sitzen sehen. Ihre Gedanken wanderten zu Mietek. Sein Marschbefehl hatte von einer „geheimen Mobilisierung“ gesprochen, aber bei der Ankunft auf dem Bahnhof war ihnen klar geworden, dass das einzig Geheime daran die fehlenden Nachrichten in Zeitung und Radio waren. Nur mit Mühe hatten sie sich ins Bahnhofsgebäude und zu Mieteks Gleis vorgearbeitet. Sämtliche jungen Männer Warschaus schienen gekommen zu sein, und zum ersten Mal hatte Irena eine reale Furcht beschlichen. Verheimlichte ihnen die Regierung etwas? Sie wusste, dass Polen ursprünglich eine vollständige Mobilisierung geplant hatte, aber England und Frankreich waren dagegen gewesen. Hitler sollte nicht unnötig provoziert werden. Irena hatte auf dem Bahnsteig nach bekannten Gesichtern Ausschau gehalten oder, besser gesagt, nach einem bekannten Gesicht. Adam hatte sie am Tag zuvor angerufen, um ihr mitzuteilen, dass auch er an die deutsch-polnische Grenze beordert worden war. Er musste hier irgendwo sein, aber bei diesem Andrang war die Suche aussichtslos.

Ihr Abschied von Mietek war kurz gewesen. Von allen Seiten hatten Soldaten sie angerempelt, und der sonst so wortgewandte Mietek wusste zum ersten Mal nicht, was er sagen sollte. Schließlich hatte Irena ihm die Aufgabe abgenommen. „Pass auf dich auf“, hatte sie geflüstert und ihm einen Kuss auf die Wange gegeben. Mietek hatte nur kurz genickt und sich dann abrupt umgedreht, um sich in den überfüllten Waggon zu zwängen. Wie aufgekratzt und voller Energie die jungen Männer gewesen waren, die überall aus den Zugfenstern hingen und anderen lautstark etwas zuriefen. Als würden sie in die Ferien fahren. Aber vielleicht war ja am Ende wirklich alles halb so schlimm? Mit Verbündeten wie England und Frankreich würde ein eventueller Krieg nicht lange dauern.

Oder war das nur eine Illusion, und Adam, der radikale Klarseher, hatte recht? „Sie wollen nicht, dass wir das erkennen“, hatte er gesagt. „Aber die Zimmer im europäischen Haus werden gerade in Windeseile neu verteilt, die Wände eingerissen und andere hochgezogen.“ Sie hatte nicht gewusst, was sie darauf antworten sollte.

Die Wanduhr im Wohnzimmer schlug elf. Irena schloss das Fenster, legte sich aufs Bett und schlief ein.

 

Der Raum hinter Irenas Augen füllte sich mit einem hohen, schmerzhaften Ton. Ein Aufheulen, das an- und wieder ab-
schwoll. Sie warf sich auf die andere Seite, doch sie wachte nicht auf, und der Ton blieb.

„Irena!“ Eine Hand auf ihrer Schulter. „Irena, wach endlich auf!“

Irena riss die Augen auf. Das Heulen wurde lauter, bedrohlicher. „Mama, was ist los?“

„Luftschutzsirenen. Komm endlich, wir müssen aus dem Haus.“ Ihre Mutter reichte ihr einen Bademantel, während Irena nach den Hausschuhen angelte. In der Küche warf sie einen Blick nach draußen. Auf der anderen Straßenseite saß Herr Nowak vor dem Radio, seine Frau zerrte an seinem Arm, doch er beachtete sie nicht. Irenas Mutter war bereits im Treppenhaus. Ihre rechte Hand umklammerte das Geländer, während sie mit unsicheren Schritten einen Fuß vor den anderen setzte. Fest griff Irena ihr von hinten unter den Arm und lotste sie, so schnell es ging, die Treppe hinunter. Die Tür zum Hof stand offen, er war voller Menschen. Warum waren sie nicht im Keller?

Erst jetzt fiel Irena auf, dass die Luftschutzsirenen das einzige Geräusch waren. Ansonsten herrschte Stille. Während sie ihrer Mutter in den Hof hinaushalf, lauschte sie auf Motorengeräusche, Einschläge. Nichts. Die im Hof versammelten Hausbewohner sahen die Neuankömmlinge stumm an. Sie wirkten ungläubig, desorientiert. Ihre Haare waren vom Schlaf zerzaust, die müden Augen blickten fragend. Später hätte Irena nicht mehr sagen können, wie lange sie so gestanden hatten. Über dem Hof begann das milchige Morgenlicht golden zu leuchten. Dann brachen die Luftschutzsirenen ab. Einige Sekunden war es totenstill. Ein Raunen ging durch die Gruppe, und plötzlich redeten alle durcheinander.

„Entwarnung, gehen Sie in Ihre Häuser zurück! Entwarnung …“ Die Aufforderung aus einem Megafon vor dem Hoftor war wie aus dem Nichts gekommen und wurde leiser, je weiter der Wagen sich wieder entfernte. Wie eine Herde Schafe setzten sich alle in Bewegung. Irena half ihrer Mutter die Stufen zum zweiten Stock hinauf. Dann lief sie zum Radio. Wie alle anderen, dachte sie, während sie an dem Knopf drehte. Sie musste nicht suchen. Alle Sender brachten dieselbe Nachricht. Die Deutschen hatten bereits vor Stunden eine Offensive aus dem Norden, Süden und Westen begonnen. Die Luftwaffe war unbemerkt über die Grenze geflogen und hatte die Grenzregionen bombardiert. Gleichzeitig waren von Panzern unterstützte Infanteriedivisionen eingerückt. Die Nachrichtenstimme sprach davon, dass sich die polnischen Truppen neu formieren mussten, was immer das hieß.

„Warschau ist sicher“, behauptete die Stimme im Radio. „Bewahren Sie Ruhe! Alle Mitglieder der Regierung, alle Angestellten der Stadt sind aufgerufen, sich an ihren Arbeitsplatz zu begeben.“

Irena hastete in ihr Zimmer, um sich anzuziehen, während der Radiosender im Nebenzimmer dieselbe Nachricht endlos wiederholte.

„Wo willst du hin?“, rief ihre Mutter, als sie kurz darauf in die Küche stürmte.

„Zur Arbeit, du hast es doch gehört!“

Ihre Mutter fasste sie am Arm. „Es ist sieben Uhr. Setz dich, und trink deinen Kaffee. Das Büro ist doch noch gar nicht offen.“

Wortlos ließ sich Irena auf den Küchenstuhl drücken. Ihre Gedanken wanderten zu Mietek und Adam. Ging es ihnen gut? Waren ihre Regimenter in Kämpfe verwickelt? In die Gedanken an Adam mischte sich Bitterkeit. Er hatte Jura studiert, hatte seine Examina mit Auszeichnung bestanden und wollte Anwalt werden. Aber die antisemitischen Tendenzen der letzten Jahre schmälerten seine Karriereaussichten. „Wenn es um eine Anstellung als Anwalt geht, bin ich ein Jude und nicht erwünscht. Aber wenn es darum geht, mich an die Front zu schicken, bin ich plötzlich wieder Pole genug“, hatte er bei ihrem letzten Telefongespräch ironisch bemerkt.

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als ihre Mutter die Kaffeekanne vor sie hinsetzte, dazu Brot, Butter und Marmelade. „Iss“, sagte sie nur. Ihre Stimme ließ keinen Widerspruch zu.

Irena begann sich mechanisch ein Brot zu schmieren. Sie war ihrer Mutter dankbar, dass sie nicht versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Hastig schlang sie das Brot hinunter und trank den Kaffee. Dann sprang sie auf, drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Stirn und rannte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen hinunter.

 

Falls Irena damit gerechnet hatte, menschenleere Straßen anzutreffen, hatte sie sich getäuscht. Ganz Warschau schien auf den Beinen zu sein, und alle waren in Eile. Männer auf Fahrrädern, Frauen, die ihre Kinder hinter sich herzogen. Die Trambahnen waren überfüllt. Trotz der frühen Stunde hatten die Läden geöffnet, und Frauen füllten ihre Einkaufstaschen mit Fleisch, Gemüse und Brot. Was der hektischen Betriebsamkeit eine unheimliche Note verlieh, war die Stille. Niemand sprach. Abgesehen von ein paar quengelnden Kindern waren nur die Geräusche der Bahn, der Autos und der Droschken zu hören. Irena trat in die Pedale.

Schon im Treppenhaus des Sozialamts schlugen ihr aufgeregte Stimmen entgegen. Der Gang war voller Menschen, die nach Sachbearbeitern riefen oder denen, die anwesend waren, ihre Forderungen vortrugen. Irena hatte den Gang kaum betreten, da bildete sich schon eine Menschentraube um sie.

„Augenblick! Einer nach dem anderen!“, rief sie, während sie sich mühsam zu ihrem Büro vorarbeitete. Plötzlich packte eine Hand sie am Arm und schob sie zu ihrer Tür. Die verdutzte Menge war stehen geblieben. Irka Schultz schloss die Bürotür hinter ihnen und drehte den Schlüssel im Schloss.

„Puh“, sagte sie nur und ließ sich auf den Besucherstuhl fallen. Beinahe hätte Irena laut lachen müssen. Irka war Abteilungsleiterin und legte großen Wert auf ein professionell adrettes Auftreten. Jetzt hing ihr die Bluse aus der Hose, und der Knoten ihrer dünnen Krawatte hatte sich gelockert. Mit ihren zerzausten blonden Haaren wirkte sie, als hätte sie die Nacht in einem Jazzclub durchgemacht.

Irena verkniff sich die Bemerkung und nickte stattdessen in Richtung Gang. „Was ist denn hier los?“

Irka rollte mit den Augen. „Was wohl? Alle wollen ihre monatliche Unterstützung sofort. Ihr Geld, ihre Lebensmittelmarken, die Bons für die Suppenküchen. Sie haben Angst, dass bald nichts mehr da sein wird. Viele wollen die Stadt verlassen. Sie haben Angst vor Luftangriffen. Dabei sind heute längst nicht alle Kollegen zur Arbeit gekommen.“

Irena setzte sich an ihren Schreibtisch. „Wie wär’s, wenn du deine Autorität spielen lässt und da draußen für Ordnung sorgst? Versuch einfach, uns die Leute einzeln reinzuschicken.“

Irka nickte ergeben. Ein paar Sekunden genoss sie noch die Ruhe in Irenas Büro, dann schloss sie die Tür auf und stürzte sich ins Getümmel.

Irena hatte eine gute Stunde gearbeitet und gerade überlegt, ob sie es schaffen würde, sich in der Büroküche einen Kaffee zu holen, als die Luftschutzsirenen erneut zu heulen begannen. Sofort hörte man auf dem Gang Dutzende von Füßen Richtung Ausgang hasten. Auch Irena trat aus dem Büro, da ging auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges die Tür auf. Statt eines Grußes deutete Jan Dobraczyński, der Chef des Sozialamts, nur Richtung Treppenhaus.

„Wer weiß, vielleicht bleibt es ja wieder bei einer Warnung, so wie heute Morgen“, stieß er hervor, während sie nach unten hasteten. Von draußen ertönte ein unbestimmtes Rauschen. Unvermittelt blieb Irena stehen, doch die von hinten Nachdrängenden schoben sie weiter. Aus dem Rauschen wurde ein Dröhnen. Als die Luft zu vibrieren begann, spürte Irena Panik in sich hochsteigen. Sie erreichte den Keller, als die erste Detonation die Wände des Gebäudes ins Wanken brachte. Eine Druckwelle ging durch ihren Körper und presste die Luft aus den Lungen, ihre Ohren fielen zu, Betonstaub rieselte wie Mehl von der Decke.

In der nächsten halben Stunde wiederholte sich immer wieder dieselbe Abfolge: ein Summen, das zu einem immer lauteren Dröhnen wurde, dann die Detonation, bevor der Lärm wieder abschwoll. Jedes Mal, wenn eine Bombe in der Nähe einschlug, war für ein paar Sekunden das Licht weg. Irenas Impuls war es, zu schreien, doch sie riss sich zusammen, genau wie die anderen.

Endlich kam die Entwarnung, und alle strömten auf die Straße. Irena hustete, als sie die graubraune Luft einatmete und sich Rauch und Schuttstaub auf ihre Lungen legten. Die Gebäude der Złotastraße waren alle intakt, doch ein Stück entfernt stiegen schwarze Rauchsäulen in den Himmel, und das Schrillen der Sirenen kam aus allen Richtungen.

Eine Hand legte sich von hinten auf Irenas Schulter, und sie drehte sich um.

„Jaga!“ Impulsiv umarmte sie ihre Freundin und Kollegin.

„Kommen Sie?“ Jan Dobraczyński war neben ihnen stehen geblieben. Der große, kräftig gebaute Mann sah aus, als wäre er geschrumpft, und sein sonst so streng nach hinten gekämmtes, dunkles Haar war weiß vom Betonstaub und völlig zerzaust. Jaga, seine Sekretärin, löste sich aus Irenas Umarmung und folgte ihrem Chef als Erste.

Als sich die Kollegen in Jan Dobraczyńskis Büro versammelt hatten, blickte der seine Mitarbeiter schweigend an. Er war ein Mann, dem es selten an Worten mangelte, doch in diesem Augenblick hatte es ihm die Sprache verschlagen. Fahrig versuchte er die gelösten Haarsträhnen nach hinten zu streifen, ließ es aber bleiben, als er den weißen Schuttstaub auf dem Kopf spürte. Beinahe tat er Irena leid. Er war ein ordentlicher Chef, der seine Arbeit gut machte. Daran ließ sich nicht rütteln, auch wenn er Irena persönlich nicht sympathisch war. Sie war überzeugte Sozialdemokratin, Dobraczyński dagegen in der konservativ nationalen Partei – und er machte keinen Hehl daraus, dass er Juden nicht besonders schätzte. Das Gute an ihm war, dass er seine Mitarbeiter eigenverantwortlich handeln ließ. Und das gab Irena die nötige Freiheit, die Dinge auf ihre Weise zu regeln.

Jetzt ergriff Dobraczyński das Wort.

„Frau Sendler ist bei uns unter anderem für die Suppenküchen in der Stadt verantwortlich.“ Er machte eine kurze Pause und wandte sich an sie. „Ich muss Ihnen wohl nicht sagen, dass wir in den nächsten Tagen und Wochen einen wahren Ansturm erwarten müssen. Allein bei diesem ersten Angriff heute werden viele Menschen ihre Wohnung verloren haben. Außerdem sollten wir mit Flüchtlingen aus den umliegenden Regionen rechnen. Menschen, die wir unterbringen und versorgen müssen.“ Er legte eine Pause ein und fuhr dann fort. „Ich möchte, dass Sie jetzt nach Hause zu Ihren Familien gehen und nach dem Rechten sehen. Wenn wir uns wieder treffen, will ich Vorschläge hören, wie wir dem Ansturm begegnen können.“ Er sah in die Runde. Lauter ernste Gesichter. „Und seien Sie vorsichtig. Sie werden hier gebraucht. Jeder Einzelne von Ihnen, und mehr denn je!“

Lea Kampe

Über Lea Kampe

Biografie

Lea Kampe alias Iris Claere Mueller, geboren 1971 in Mannheim, wuchs in Bad Wimpfen bei Heilbronn auf. Nach ihrem Studium der Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft an der Universität Heidelberg zog sie in die USA, wo sie an der renommierten Yale University im Fachbereich Medieval Studies...

Die historischen Hintergründe zu Irena Sendler

Die junge Polin Irena Sendler ist noch keine dreißig, als Polen nach dem Blitzkrieg im Herbst 1939 von Deutschland besetzt wird. Anfangs hoffen die Menschen noch auf ein baldiges Ende des Krieges, doch schon bald wird klar, dass dem Land nie gesehene Gräuel bevorstehen und sie völlig auf sich allein gestellt sind. Innerhalb der nächsten fünf Jahre zwingen die Besatzer die jüdische Bevölkerung des Landes zunächst in Ghettos, um sie anschließend systematisch zu vernichten. In dieser dunkelsten Stunde europäischer Geschichte wächst die junge Irena Sendler über sich selbst hinaus. Obwohl schon auf das Zustecken einer Scheibe Brot die Todesstrafe steht, gelingt es ihr, in den kommenden Jahren über zweitausendfünfhundert jüdische Kinder vor der Ermordung zu retten.

Schon vor Beginn des Krieges kümmert sich die Sozialarbeiterin Irena um die Ärmsten Warschaus. „Kreative Sozialarbeit“ nennen sie und ihre Kolleginnen es, wenn sie Angaben auf Formularen fälschen, um gesetzliche Benachteiligungen auszugleichen und den Menschen ungeachtet ihrer Herkunft und Religion zu helfen, wo es geht. Dann kommt der Krieg. Von Anfang an führen die deutschen Besatzer Polen mit eiserner Hand.

Es hagelt Erlasse gegen die jüdische Bevölkerung: Enteignungen, Entlassungen, das Tragen des Judensterns, die Schließung von Schulen und Synagogen. Davon betroffen ist auch Adam Celnikier, ein junger Jurist, mit dem Irena in diesen schweren Monaten eine Liebesbeziehung beginnt. Im Herbst 1940 ist es dann soweit. Innerhalb weniger Wochen werden über dreihunderttausend jüdische Mitbürger in ein Ghetto von 3,4 Quadratkilometern gepfercht. Durchschnittlich neun Menschen teilen sich von nun an einen Raum. Kein Wunder, dass in den folgenden zwei Jahren Tausende an Hunger, Kälte und Typhus sterben. Irena und ihren Kolleginnen gelingt es, Passierscheine für das Ghetto zu erhalten.

Unermüdlich schmuggeln sie Medikamente und Nahrung zu den eingesperrten Menschen, eine Hilfeleistung, auf die längst die Todesstrafe steht. Was sie nicht wissen: Die Deutschen bauen unweit Warschaus ein Todeslager. Dann geschieht das Unfassbare. Im Sommer 1942 beginnen die Deutschen das Ghetto zu „evakuieren“. Täglich werden sechstausend Menschen zusammengetrieben und in Viehwagen ins Vernichtungslager Treblinka gekarrt. Für Irena und ihre Freundinnen beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. In Werkzeugkisten, Säcken und Taschen schmuggeln sie unter den Augen der deutschen Wachen Babys und Kleinkinder aus dem Ghetto.

Größeren Kindern verhelfen sie durch Löcher in der Ghettomauer oder durch das stinkende Labyrinth der Kanalisation zur Flucht. Doch damit ist es nicht getan. Mithilfe gefälschter Papiere gelingt es ihnen, die Kinder in Waisenhäusern, Pflegefamilien oder Konventen unterzubringen. Auch ihrem Geliebten Adam gelingt mit Irenas Hilfe die Flucht. Die wahre Identität der Geretteten hält Irena auf dünnen Zigarettenpapieren in einem Einmachglas fest, welches sie unter einem Apfelbaum versteckt, in dem Wissen, dass ihnen die Besatzer dicht auf den Fersen sind. Und tatsächlich: Im Herbst 1943 wird Irena von der Gestapo festgenommen.

Zum Glück ist den Deutschen nicht klar, welch bedeutende Rolle die junge Frau bei der Rettung der Kinder wirklich spielt. Monatelang wird sie verhört, bevor ihre Freunde sie in einer gewagten Aktion retten können. Als die Besatzer im Januar 1945 die Stadt Warschau aufgeben, sind fast vierhunderttausend jüdische Bewohner tot, eine Zahl, die die Anzahl der geretteten Kinder beinahe klein erscheinen lässt. Und dennoch steht hinter jedem einzelnen von ihnen ein ganzes Menschenleben, eine neue Zukunft, neue Generationen. Der Preis, den Irena und ihre Freunde gezahlt haben, ist hoch. Viele ihrer Helfer überleben den Krieg nicht. 1946 verleiht Polen Irena Sendler das goldene Verdienstkreuz.

1965 ehrt der Staat Israel sie als „Gerechte unter den Völkern“, 1991 wird sie israelische Ehrenbürgerin. Viele weitere Ehrungen folgen in diesen und späteren Jahren. 2009 erscheint ein TV-Film unter dem Namen „The Courageous Heart of Irena Sendler“, die Adaption eines Theaterstücks. 2003 wird sie von Papst Johannes Paul II. in einem Brief geehrt. Am 12. Mai stirbt Irena Sendler mit 98 Jahren in Warschau.

Weitere Titel der Serie „Bedeutende Frauen, die die Welt verändern“

Tauchen Sie ein in das Leben inspirierender und außergewöhnlicher Persönlichkeiten!

Pressestimmen
Radio ZuSa

„Lea Kampe hat gut recherchiert, an einigen Stellen die Geschichte aufgefüllt, wie sie gewesen sein könnte, und daraus einen spannenden Roman gemacht.“

musenblaetter.de

„So brillant geschrieben, dass man das Buch nicht aus der Hand legen kann.“

buchempfehlungensterzik.com

„›Der Engel von Warschau‹ ist ein gefühlvoller, sehr authentischer Roman.“

Kommentare zum Buch
Eine Geschichte gegen das Vergessen- großartige Erzählung
Märchens Bücherwelt am 01.07.2023

Ich mag historische Geschichten sehr und als ich dieses Hörbuch entdeckt und reingehört habe, wusste ich, dieses Buch muss auch in mein Regal.   Die Geschichte von Irena Sendler, die während des 2.Weltkriegs 2500 Menschen durch ihren mutigen Einsatz das Leben gerettet hat und unermüdlich zusammen mit anderen mutigen, tapferen Helfern, die auch geschichtlich belegt sind, ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt haben, hat mich tief berührt und unglaublich beeindruckt.   Als junge Sozialarbeiterin in Warschau versucht sie jüdischen Mitbürgern vor der Säuberungsaktion des Warschauer Ghettos zu helfen. Ob Notunterkünfte, gefälschte Papiere und Schmuggel - sie haben sich so viel einfallen lassen, nur um so gut es geht zu helfen. Während man Irenas Geschichte miterlebt, erhält man parallel Einblick in die perfiden, teuflischen Pläne des Gouverneurs von Warschau Ludwig Fischer und des Gouverneurs des Generalgouvernements Hans Frank, beides nachgewiesene Nazifunktionäre. Zu lesen, mit welcher Arroganz, mit welchem Hass und einer Unmenschlichkeit sie vorgegangen sind, hat mich echt erschüttert und mir eine Gänsehaut nach der anderen verschafft.   Es ist auch durch die geniale, gefühlvolle Wiedergabe von Verena Wolfien als Sprecherin so authentisch gewesen, als wenn man die Abläufe direkt miterlebt. Ich mag ihre Stimmer sehr gern, sie hat einen angenehmen Farbklang, der zu so einem speziellen Thema perfekt passt und die Charaktere realistisch wirken lassen hat, ebenso wie die richtige Wiedergabe von Fremdwörtern und Namen.   Einerseits ist es erlebte Geschichte, für die man sich wirklich schämt und andererseits bejubelt man jede Aktion der tapferen Helfer so sehr, lässt sich mitreißen und ist über die raffinierten Einfälle erstaunt. Man fühlt sich mit einbezogen, überlegt, wie man selbst gehandelt hätte, gerade unter Folter, um Namen und Helfer preiszugeben. Auch schlägt man den Bezug zu heute, wo kann man helfen, wie geht man mit anderen um, wie schnell wird Hass geschürt, es braucht nur kleine Funken.   Deshalb ist diese Geschichte eine Mischung aus Aufarbeitung, Wertschätzung, Entschuldigung, Mitgefühl und Warnung zugleich und so wertvoll gelesen und gehört zu werden. Man sitzt mit Tränen, weil leider auch nicht jede Aktion gut verläuft, man fühlt die Angst, den Schmerz, die Verzweiflung, die Hoffnung auf ein Wiedersehen und so manchen bitteren Abschied. Jede Empfindung, jedes Geräusch, jede Aktion ist wie ein Nervenspiel. Die Kombination zwischen einzelnen fiktiven Begebenheiten und dem Großteil historischer Ereignisse und Persönlichkeiten ist sehr überzeugend und beeindruckend. Ebenso wie das sehr persönliche und ehrliche Nachwort der Autorin.   Ich wurde komplett mitgerissen, ich war oft auch so wütend über diese makabre dunkle Geschichte Deutschlands und all die Gräueltaten. Der Einblick in diese furchtbare Ära, so schwer es auch fallen mag, ist für mich selbst ein Lehrfaktor, mit dem ich mich selbst spiegeln kann und genau deshalb würde ich auch dieses Buch jedem empfehlen, damit die Erinnerung an diese vielen ermordeten Menschen nicht in Vergessenheit gerät und die tapferen Helfer auch im Nachhinein noch gewürdigt werden.

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