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Café Altschwabing (Cafés, die Geschichte schreiben 2)

Lea Kampe
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Roman

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Café Altschwabing (Cafés, die Geschichte schreiben 2) — Inhalt

Das Café des Blauen Reiters

Kaufering, 1913: Cläre ist ein Landei. Sie träumt vom Abitur, doch sie muss ihrem Vater in der Forellenzucht helfen. Als ihre Tante stirbt, steht ihr Leben plötzlich kopf, denn diese hat ihr das Geld für den Schulabschluss und ein Studium vererbt. Einzige Bedingung: Sie muss nach München ziehen. Und so landet Cläre bei einer Freundin ihrer Tante im Café Altschwabing, dem Zentrum der Boheme. Künstler und Literaten gehen ein und aus, es wird diskutiert und gestritten, gezeichnet, gedichtet und Geschichte geschrieben. Und während Cläre im Café aushilft, schnuppert sie Leben, Freiheit und Liebe …

Kunst und Liebe, Krawalle und Kriegsgefahr – im Künstlercafé Altschwabing trifft sich die Bohéme

Die Maler und Literaten, die die beliebten Cafés wie das Altschwabing, das Simplicissimus oder das Stefanie in Schwabing und der Maxvorstadt bevölkerten, sind heute weltbekannte Namen wie Wassily Kandinsky und Franz Marc, der Anarchist Erich Mühsam und die Schriftsteller Joachim Ringelnatz, Paul Heyse und Franz Wedekind. Hier zeichnete Thomas Theodor Heine die bissigsten Karikaturen im Kaiserreich für die Satirezeitschrift Simplicissimus, und der Verleger Reinhard Piper diskutierte mit Wassily Kandinsky und Franz Marc die Herausgabe des Almanachs „Der Blaue Reiter“.

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 27.07.2023
400 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-31809-9
Download Cover
€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 27.07.2023
400 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-60505-2
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Leseprobe zu „Café Altschwabing (Cafés, die Geschichte schreiben 2)“

Kapitel 1

München, Dezember 1910

Von draußen klopfte es gegen die Scheibe des großen Rundbogenfensters, auf dem mit geschwungenen Buchstaben Café Altschwabing stand. Christine warf einen Blick auf die kleine Traube von Gästen vor der verschlossenen Eingangstür, dann sah sie zu Rosi. Die rundliche junge Frau mit den geflochtenen Zöpfen machte ihr ein Zeichen: Eine Minute noch! Dann hängte sie bedächtig die letzten Engel an den Weihnachtsbaum in der Ecke, zupfte das Lametta zurecht und betrachtete ihr Werk. Die weinroten und goldenen Kugeln glitzerten im [...]

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Kapitel 1

München, Dezember 1910

Von draußen klopfte es gegen die Scheibe des großen Rundbogenfensters, auf dem mit geschwungenen Buchstaben Café Altschwabing stand. Christine warf einen Blick auf die kleine Traube von Gästen vor der verschlossenen Eingangstür, dann sah sie zu Rosi. Die rundliche junge Frau mit den geflochtenen Zöpfen machte ihr ein Zeichen: Eine Minute noch! Dann hängte sie bedächtig die letzten Engel an den Weihnachtsbaum in der Ecke, zupfte das Lametta zurecht und betrachtete ihr Werk. Die weinroten und goldenen Kugeln glitzerten im einfallenden Morgenlicht, und der Tannenduft mischte sich mit dem von Bohnenkaffee.

Christines Mutter Ricarda trat aus der Küche und begutachtete die Gaststube. In den Vasen auf den dunklen Holztischen standen statt der üblichen Margeriten kleine Tannenzweige, und die Wände waren mit roten Samtschleifen geschmückt. Christine fand, dass auch ihre Mutter heute besonders adrett aussah. Die dunkelblonden Haare hatte sie elegant hochgesteckt, und sie trug das lange blaue Samtkleid, das Christine besonders mochte. Jetzt hängte Ricarda die Schürze, die sie in der Küche getragen hatte, an den Haken, tauschte einen Blick mit Rosi und lief dann zur Tür, um sie feierlich zu öffnen.

„Die erste Tasse Kaffee heute Morgen geht aufs Haus!“, rief sie strahlend. „Für Ihre Geduld – und zu Ehren unseres wunderschönen Baums.“

Christine kannte alle, die jetzt lachend eintraten. Zuallererst der achtzigjährige Schriftsteller Paul Heyse, der regelmäßig während seiner Spaziergänge im Altschwabing einen Kaffee trank. Wie meistens hatte er seinen Hund dabei, einen Rauhaardackel, der auch schon in die Jahre gekommen war. Man sah dem alten Herrn mit dem grauen Bart und der Halbglatze nicht an, dass er erst kürzlich den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte und als einer der wichtigsten deutschen Schriftsteller galt.

Hinter ihm drängten zwei junge Maler in viel zu dünnen Mänteln ins Warme. Sie würden mehrere Stunden bleiben, um Kohle zu sparen und der Kälte ihrer kleinen Zimmer und Ateliers zu entgehen. Zum Schluss trat das „Trio“ ein – oder zumindest nannte Christines Mutter Ricarda die drei Männer so, die sich häufig auf einen Kaffee oder ein Bier im Altschwabing zusammensetzten. Es waren die Verleger Georg Hirth, Albert Langen und Reinhard Piper.

Piper hängte seinen Mantel auf und griff nach der Zeitung, die an einer Holzstange befestigt an einem Wandhaken hing, doch schneller, als man es ihm zugetraut hätte, war Paul Heyse bei ihm und nahm sie ihm ab.

„Piper, Sie werden doch einem alten Mann nicht die Zeitung rauben?“, brummte er. „Die hier ist die einzige, die man als liberal denkender Mensch der Mitte noch lesen kann. Alle anderen sind voll von diesem unsäglich bigotten Chauvinismus und untertäniger Schwanzwedelei vor dem Kaiser, diesem Nichtsnutz. Der wird uns noch irgendwann ins Verderben stürzen.“ Damit machte er auf dem Absatz kehrt und trug die ergatterte Zeitung zu seinem persönlichen Stammtisch, wo sein Dackel schon auf ihn wartete. Piper machte sich nichts daraus, sondern setzte sich augenzwinkernd zu den anderen beiden Verlegern an ihren angestammten Tisch.

Christine liebte die ersten Stunden des Tages im Altschwabing, das Auf und Ab der Gespräche, die mal bedächtig und fast noch schläfrig, mal laut und erregt geführt wurden. Aber da war auch dieser besondere Duft von Kaffee, warmem Teig und Pfeifentabak, in den sich im Lauf des Tages stärkere Gerüche wie von Suppe und Bier mischen würden. Das Café, in dem sich das Leben jeden Tag aufs Neue entfaltete, war für Christine wie ein Fels in der Brandung. Etwas, das ihr Sicherheit gab und so etwas wie Geborgenheit.

Heute gelang es ihr jedoch nicht, sich ganz zu entspannen. Als die kleine Glocke über der Tür erneut läutete, schreckte sie auf. Es war Luise, die Frau, die für sie und ihren Bruder Peter im Lauf der Jahre wie eine zweite Mutter geworden war. In den Händen trug sie zwei große Taschen, aus denen einige Stangen Lauch und ein Bund Petersilie hervorschauten. Sie zwinkerte ihr im Vorbeigehen zu, stellte die Taschen auf der Theke ab und kramte eine Tafel Schokolade heraus, die sie Ricarda gab. Die drückte Luise einen Kuss auf die Backe, dann steckten die beiden die Köpfe zusammen, tuschelten und lachten.

Wie zwei Backfische, dachte Christine amüsiert. Sie liebte es, ihre Mutter und Luise so unbeschwert zu sehen. Doch jetzt drehte sich Luise zu ihr um und kam auf sie zu.

„Oh, sehe ich da etwa eine steile Sorgenfalte auf dem hübschen Gesicht?“

Christine lächelte schwach. „Die Abschlussprüfung ist in zwei Stunden“, sagte sie kläglich, als ob Luise es noch nicht wüsste. „Ich weiß gar nicht, wie ich die Zeit bis dahin rumbringen soll.“

Luise nahm Christines Hände in ihre und lächelte. „Als Erstes hörst du jetzt mal auf, Kaffee zu trinken, Liebes, und dann solltest du auch bald los. Die Lehr- und Versuchsanstalt für Photografie ist ja nicht gerade um die Ecke. Hast du Geld für die Tram?“

Christine nickte.

„Die schriftlichen Prüfungen hast du doch schon mit Auszeichnung bestanden“, fuhr Luise fort. „Was also kann beim mündlichen Teil schiefgehen?“

„Ach, ich weiß nicht. Alles kann schiefgehen. Ich kann mich verhaspeln oder die Antworten nicht wissen, oder meine Fotomappe gefällt der Kommission nicht …“

Luise blätterte in der Mappe, in die Christine sorgfältig ihre besten Fotografien eingeklebt hatte.

„Ich habe diese Bilder jetzt schon so oft gesehen, und trotzdem bin ich immer noch beeindruckt“, sagte sie mit fester Stimme. „Du hast ein untrügliches Gespür für die Spannung des Augenblicks. Jedes dieser Bilder ist so echt wie das Leben selbst. Du wirst einmal eine hervorragende Fotografin, und das wissen deine Prüfer auch.“

„Ach, Luise.“ Christine beugte sich über den kleinen Tisch und drückte sie kurz. „Du bist die Beste, auch wenn ich weiß, dass du parteiisch bist.“

„Parteiisch oder nicht“, sagte Luise unerwartet ernst. „Eines ist jedenfalls klar. Du, Peter und auch meine Nichte Cläre, die hoffentlich bald die Reifeprüfung machen wird – ihr seid eine neue Generation. Vor allem ihr Mädchen … Ihr seid fähige junge Frauen und werdet euren Weg gehen. Ach, ich wünsche mir so, dass du und Cläre euch einmal kennenlernen könntet …“ Das Lächeln verschwand aus Luises Gesicht.

„Wann macht sie denn nun eigentlich ihre Prüfung?“, fragte Christine, doch schon im nächsten Moment bereute sie die Frage, denn ein Schatten legte sich über Luises Gesicht.

„In den Monaten vor dem Tod meiner Schwester lagen Cläres Prüfungsvorbereitungen auf Eis, und als ich auf der Beerdigung mit meinem Schwager Michael darüber sprechen wollte, hat er jede weitere Einmischung abgelehnt. Ich habe das Geld für die privaten Lehrer auch weiterhin jeden Monat hingeschickt, aber ich fürchte …“ Sie sprach nicht weiter und griff noch einmal nach Christines Händen. „Was meinst du … vielleicht sollte ich selbst nach Kaufering fahren und nach dem Rechten sehen?“

Christine nickte ohne große Überzeugung, doch zu ihrer Überraschung wechselte Luise das Thema. „Ach, was belaste ich dich mit solchen Sachen. Denk jetzt besser an deine Prüfung. Wenn du magst, bringe ich dich hin. Ich bin mir sicher, dass Ricarda mich eine Stunde entbehren kann, oder willst du lieber mit ihr gehen?“

Christine lachte. „Am besten mit euch beiden – so wie früher, als ihr Peter und mich zur Schule gebracht habt? Um Himmels willen, Luise, auf keinen Fall. Ich bin erwachsen.“

„Das stimmt. Und nun mach dich auf den Weg. Ich wünsche dir alles Gute.“

Sie standen auf, und Christine gab Luise einen Kuss. „Wenn alles gut geht, habe ich nächstes Jahr um diese Zeit schon eine Stellung. Vielleicht können wir bald mal wieder eine Winterwanderung machen, so wie letzten Dezember? Es war so schön, als wir alle zusammen auf der Hütte Chanukka und Weihnachten zugleich gefeiert haben, oben auf der Neureuth.“

Luise lachte. „So ist’s richtig. Immer nach vorne schauen und Pläne schmieden. Aber jetzt los.“

„Drück mir die Daumen.“ Christine nahm ihre Mappe und ging zur Theke, um sich von ihrer Mutter zu verabschieden.

Als kurz darauf die Glastür des Cafés hinter ihr zufiel, blickte sie sich noch einmal um und sah ihre Mutter und Luise, die ihr zuwinkten. Sie winkte zurück. Dann lief sie zur Tram.

Als Christine Stunden später beschwingt die Schellingstraße hinablief, dämmerte es schon. Hauchzarte Schneeflocken schwebten vom Himmel, so vereinzelt, dass sie sie zunächst gar nicht wahrnahm. Die Prüfung war ausgezeichnet gelaufen, und sie hatte ehrliches Lob geerntet, selbst von den Professoren, die sich mit den neuen Studentinnen der letzten Jahre noch schwertaten. Jetzt brannte sie darauf, ihrer Mutter und Luise alles zu berichten. Bestimmt würde ihre Mutter im Lokal einen Punsch ausgeben, wie immer, wenn es etwas zu feiern gab, und mit einem Mal hatte Christine einen Bärenhunger. Ihre Augen suchten die erleuchteten Rundbogenfenster des Cafés, doch ohne Erfolg.

Verwirrt stand sie vor den großen dunklen Scheiben. Sie rüttelte an der Tür, doch die war verschlossen. Christine drückte ihre Nase an das kalte Glas. Im Inneren war es dunkel. Auch aus der Küche war kein Lichtstreif zu erahnen, und die Christbaumkugeln glänzten düster im fahlen Dämmerlicht. Ungläubig zog Christine noch einmal an der Tür, an der kein Zettel hing – nichts. Panik stieg in ihr auf. Ihre Mutter würde das Altschwabing nur in einem absoluten Notfall schließen. Was war seit dem Morgen geschehen?

Mit ihrer Mappe unter dem Arm rannte sie die wenigen Schritte zur Haustür, durch die man ins Treppenhaus gelangte, kramte ihren Schlüssel aus der Manteltasche, ließ ihn fallen, fluchte. Im düsteren Treppenhaus donnerten ihre Schritte auf den Holzstufen, während sie, immer zwei auf einmal nehmend, nach oben rannte.

Auf dem Treppenabsatz des zweiten Stocks sah sie Licht.

Nicht auch noch die Sedlmayr, dachte Christine, doch die korpulente Frau stand bereits vor dem erleuchteten Rechteck ihrer Tür.

„Armes Kindl“, grüßte sie Christine mit penetranter Stimme. „Aber Gott straft halt doch das Laster. Glaubt’s mir, für euch Kinder ist’s am Ende das Beste.“

Obwohl Christine längst an ihr vorbei auf den Treppen zum dritten Stock war und nur mit halbem Ohr hingehört hatte, rannte sie noch schneller. Mit zitternden Händen schloss sie die Wohnungstür auf. Aus dem Schlafzimmer kam leises Weinen. Einen Augenblick stand Christine wie erstarrt im dunklen Flur, unfähig, sich dem zu stellen, was hinter der Tür auf sie wartete, aber schließlich gab sie sich einen Ruck. Sachte schob sie die Tür auf.

Ihre Mutter saß auf dem Bett, vor ihr lag Luise mit geschlossenen Augen und bleichem Gesicht. Die am Morgen noch so makellose Frisur der Mutter hatte sich gelöst, Tränen liefen die Wangen hinunter, während ihre flatternden Hände Luises Haar und Gesicht streichelten.

Als sie ihre Tochter im Türrahmen sah, stöhnte sie auf. „Ach, Christine …“

Mit wenigen Schritten war Christine bei ihr und umarmte sie. „Luise … Was ist mit ihr?“

Ihre Mutter schlang die Arme um sie, ihr Weinen wurde heftiger. „Sie ist tot, einfach so … vor zwei Stunden. Sie fühlte sich nicht gut … hatte Rückenschmerzen und war so müde. Ein bisschen schlecht war ihr auch, und sie wollte sich hinlegen. Als ich eine halbe Stunde später hochkam, um nach ihr zu sehen, lag sie hier. Ich habe mich zu ihr gesetzt, und sie hat meine Hand genommen und gesagt, dass sie uns lieb hat und dass sie sich schon besser fühlt … und dann ist sie gestorben.“ Ricarda schluchzte auf.

Christine drückte sie fest an sich. Sie spürte, wie die warmen Tränen ihrer Mutter sich mit ihren eigenen vermischten.

„Ich habe einen Arzt gerufen, aber es war zu spät. Dann habe ich Rosi und Irmi gebeten, das Lokal zu schließen“, erzählte Christines Mutter unter Tränen. „O Gott, was soll ich nur ohne Luise machen?“

Christine hatte keine Antwort, in ihrem Kopf war nur Leere. Ein Leben ohne Luise? Seit ihrer Kindheit war Luise immer für sie da gewesen – mit ihrem herzlichen Lachen, ihrer Großzügigkeit und der innigen Wärme, mit der sie alle Herzen gewonnen hatte. Alle bis auf eines … Christine erinnerte sich an das Gespräch am Morgen, an Luises Jahrzehnte währenden Streit mit der Schwester in Kaufering, an ihre Sorge um die Nichte Cläre und den Wunsch, dort hinzufahren und nach dem Rechten zu sehen. Ob diese Sorgen Luise am Ende …? Christine wollte den Gedanken nicht zu Ende denken, dennoch spürte sie, wie sich etwas in ihr verhärtete und in ihr tiefstes Inneres hinabsank wie ein Stein.

„Ich werde Peter telegrafieren“, sagte sie leise. „Er muss sofort aus Berlin nach Hause kommen.“

Am Tag vor Luises Beerdigung hatte es wieder geschneit, und der Nördliche Friedhof in der Maxvorstadt lag weiß und friedlich da. Umso dunkler und bedrohlicher wirkte die nasse schwarze Erde des Grabs. Christine stand zwischen ihrer Mutter Ricarda und ihrem Bruder Peter, umgeben von so vielen Trauernden, dass sie die Größe der Gruppe kaum erfassen konnte. Nicht nur sämtliche Freunde und Bekannte waren gekommen, auch alle Stammgäste des Cafés standen mit betroffenen Gesichtern am Grab von Luise Wolff, die kaum mehr als fünfzig Jahre alt geworden war. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass die Hand ihrer Mutter zitterte, und nahm sie in ihre. Mit der anderen Hand fasste sie nach Peters.

Die Worte des Pfarrers hatten nur wenig mit ihrer Luise zu tun, und Christine fragte sich bitter, ob er sich deshalb so wenig Mühe gab, weil Luise keine Kirchgängerin gewesen war. Dazu hatte sie mit ihrer Mutter, einer Jüdin, zusammengelebt. Dass sie ein herzensguter Mensch war, spielte unter diesen Umständen möglicherweise keine Rolle.

Ricarda drückte ihre Hand ganz fest, und Christine erinnerte sich, dass ihre Mutter erst vor einem halben Jahr zusammen mit Luise auf der Beerdigung von deren Schwester in Kaufering gewesen war. Im Gegensatz zu Luise hatte die Schwester viele Jahre an einem schwachen Herzen gelitten und war nicht plötzlich gestorben. Christine war nicht mit zur Beerdigung gefahren, denn sie hatte Luises Schwester nie kennengelernt. Sie wusste nur, dass ihre Mutter und Luise an jenem Abend noch bis spät in die Nacht in der Küche gesessen und eindringlich miteinander geredet hatten, und Christine hatte sich oft gefragt, wie es kam, dass Luise der Tod ihrer Schwester so naheging. Immerhin hatte diese den Kontakt mit Luise schon vor Jahrzehnten abgebrochen und jede Versöhnung abgelehnt – selbst, als die gemeinsamen Eltern gestorben waren.

Ob meiner Mutter auffällt, dass Luises Nichte Cläre gar nicht hier ist?, dachte sie. Denn natürlich hatte ihre Mutter auch nach Kaufering telegrafiert. Jahrelang hatte sich Luise um diese Cläre gesorgt und Geld geschickt, aber für eine Zugfahrkarte nach München zur Beerdigung der Tante hatte es dann offenbar doch nicht gereicht.

Wie benommen warf Christine mit Peter und ihrer Mutter Erde auf den Sarg. Dann nahmen sie die Beileidswünsche der anderen entgegen. Sogar der alte Paul Heyse war gekommen, die Nase über dem buschigen Bart war rot vor Kälte. Als sie als Letzte den Friedhof verließen, sah sie einen jungen Mann vor der Friedhofsmauer stehen, den sie unter seiner Kappe und dem dicken Schal erst erkannte, als sie schon fast bei ihm waren.

„Das ist Fritz“, sagte sie leise zu den anderen. „Geht schon mal vor, ich komme nach.“

Fritz war einer der Karikaturisten der Satirezeitschrift Simplicissimus und, zusammen mit seinen Kollegen und dem Verleger Albert Langen, ein Stammgast im Altschwabing. In letzter Zeit hatten er und Christine mehr Zeit miteinander verbracht, und Christine freute sich, dass er auf sie gewartet hatte.

„Es tut mir so leid für dich … für euch … vor allem für deine Mutter“, sagte er unsicher und suchte ihren Blick.

Christine nickte. „Ja, ich weiß selber nicht, was ich denken oder fühlen soll. Erst vor ein paar Tagen wurde der Christbaum im Café geschmückt, und ich hatte meine Abschlussprüfung. Dieses Jahr fällt der Beginn von Chanukka auf den ersten Weihnachtsfeiertag. Was wäre das für ein schönes Fest gewesen. Und Luise ist einfach so … verschwunden.“ Eine lautlose Träne rollte Christines Wange herunter, und Fritz nahm sie in den Arm. Es tat gut.

„Luise und ich … wir haben da noch etwas für dich, Christine, etwas, das nichts mit Chanukka oder Weihnachten zu tun hat“, sagte Christines Mutter am nächsten Abend, nachdem sie in ihrer Küche in der Schellingstraße die letzte Chanukkakerze angezündet und kleine Geschenke ausgetauscht hatten.

Die Stimmung war traurig. Seit Jahren feierten sie als „gemischte Familie“ sowohl das jüdische Lichterfest als auch das christliche Weihnachten. Zwei Feste, die so eng beieinanderlagen und in denen es wie durch einen Zufall um das Licht ging, das in eine dunkle Welt kam. Aber obwohl die acht Kerzen auf dem Leuchter dasselbe Licht abgaben wie in jedem Jahr, kam die Küche Christine dieses Jahr dunkel und trostlos vor. Daran änderten auch die zwei Petroleumlampen nichts. Die eine hing über dem großen Küchentisch, die andere stand auf einem kleineren Tisch zwischen zwei Sesseln. Und obwohl es in der geräumigen Wohnung auch ein Wohnzimmer gab, konnte Christine sich an keinen Abend erinnern, an dem ihre Mutter und Luise nach der Arbeit im Café nicht auf den beiden Sesseln in der Küche gesessen, gelesen, gelacht und erzählt hatten. Vor allem, als sie und Peter noch in die Schule gingen, hatten sie versucht, leise zu sprechen, um die „schlafenden Kinder“ nicht zu stören, doch Christine hatte sie immer gehört. Beunruhigt hätte es sie nur, wenn die Gespräche der beiden ausgeblieben wären. Jetzt war der eine Sessel überflüssig geworden.

Geistesabwesend blickte Christine auf das Paket, das ihre Mutter vor ihr auf den Küchentisch gestellt hatte.

„Was ist das?“, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen und sah fragend von ihrer Mutter zu Peter.

„Ich weiß es“, meinte ihr Bruder. „Aber ich habe damit nichts zu tun. Das Geschenk ist allein von Mutter und Luise.“

Christines Gesicht verdüsterte sich. „Ich will es nicht. Nicht heute.“

„Bitte“, sagte ihre Mutter nachdrücklich. „Es ist ein Geschenk zur bestandenen Prüfung. Eigentlich wollten wir es dir an jenem Abend geben …“ Ihre Stimme schwankte, und sie hielt einen Augenblick inne, dann sprach sie gefasster weiter. „Ich finde es richtig, dass du es heute bekommst. Gerade heute, um dir zu zeigen, dass Luise noch unter uns weilt.“

Christine nickte langsam. Behutsam löste sie das Geschenkband und nahm das Geschenkpapier ab. Ein großer Kasten kam zum Vorschein.

„O nein …“, flüsterte sie. „Eine Eastman Kodak No. 3. Das ist ja …“ Dann umarmte sie ihre Mutter heftig.

„Wir haben sie gemeinsam ausgesucht“, erklärte diese. „Und ich weiß, dass du an Luise denken wirst, wenn du deine Fotografien machst. Sie war wie ich davon überzeugt, dass du eine großartige Fotografin wirst.“

Christine schluckte hart.


Kapitel 2

Seit Cläre denken konnte, begann jeder Tag gleich – und das schloss den Morgen des Heiligen Abends nicht aus. Der einzige Unterschied war, dass früher ihre Mutter den Großteil der Aufgaben erledigt hatte, die nach ihrem viel zu frühen Tod Cläre zugefallen waren.

Selbst der Schein der Petroleumlampe war um 6 Uhr morgens trüb, als Cläre ein Bündel Reisig in den Ofen schob und einen brennenden Span darunter hielt, bis die ersten zaghaften Flammen emporzüngelten. Dann setzte sie den Wassertopf für den Kaffee auf. Seit ihr älterer Bruder Max in München studierte, saßen außer ihr und dem Vater nur noch die beiden Dienstboten mit am Frühstückstisch. Rudi, ein junger Bursche mit rötlichem Haar, half dem Vater schon seit Jahren bei der Forellenzucht, Erna dagegen war erst seit ein paar Monaten da und unterstützte Cläre in der Wirtschaft beim Putzen und Kochen. Sobald das Gasthaus öffnete, musste Cläre bedienen, während der Vater am Tresen stand und ausschenkte. So ging es vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein, und Cläre wusste, dass der Vater das von ihr erwartete.

Nach dem Frühstück ging sie in die Küche und begann, die verschiedenen Gerichte vorzubereiten. Erna kam zu ihr und stellte eine Milchkanne neben der Anrichte ab.

„Die beiden Küah san g’füttert und g’molken“, erklärte sie.

„Drüben stehen die Essensreste von gestern Abend bereit, für die Schweine“, erinnerte Cläre sie.

„I woaß scho“, sagte Erna. „Kannt i heit Nachmittag wohl um drei gehn?“

Cläre lächelte in sich hinein. Sie wusste, dass es Erna nicht nur um den Weihnachtsabend mit ihrer Familie ging, denn seit einigen Wochen hatte sie auch einen Verehrer.

„Um 3 Uhr heute Nachmittag machen wir zu“, entgegnete sie lachend. „Dann dürfen unsere Stammgäste ausnahmsweise mal einen Abend zu Hause verbringen … Ich hoffe, ihre Ehefrauen erkennen sie überhaupt noch wieder.“

Erna kicherte. „I geh derweil zu den Schweinderln.“ Damit war sie aus der Küche.

„Nachher hilfst du mir aber gleich mit dem Weihnachtsessen!“, rief Cläre ihr nach.

Der Vormittag verging wie im Flug. Schon gegen Mittag war die Wirtsstube gefüllt mit all jenen, die zur Feier des Tages ihre Geschäfte früher zugesperrt hatten. Am Stammtisch in der Ecke saßen der Hufschmied und der Schreinermeister mit ihren Söhnen und den beiden Gesellen. Mehrere Bauern der Umgebung hatten sich den Nachmittag freigenommen, tranken eine Maß und tauschten sich aus über die Wintersaat, die unter der Schneedecke ruhte, die Tiere im Stall und die Familie im Haus. Die Rauchschwaden wurden immer dicker. Ein schwerer Geruch von Bier und Essen lag in der Luft. Wer alleinstehend war wie der Schuster oder der Apotheker, aß hier in der Wirtschaft schon sein Weihnachtsessen, das aus Würstln und Kartoffelsalat bestand.

Nachdem die letzten Gäste sich verabschiedet und ihnen frohe Weihnachten gewünscht hatten, überließ Cläre ihrem Bruder, der mit dem Zug aus München gekommen war, das Aufräumen in der Gaststube. Sie zog sich den Mantel an, dazu den roten Schal, die Handschuhe und die passende rote Mütze, die die Mutter ihr vor Jahren zu Weihnachten gestrickt hatte, und lief zum Forellenteich hinter dem Wirtshaus.

Längst war die frühe Dämmerung in Dunkelheit übergegangen. Nur das warme Licht aus den Fenstern hinter ihr ließ die weiche Schneedecke zu beiden Seiten des festgetrampelten Pfades glitzern.

Am Ufer des zugefrorenen Teichs blieb sie stehen. Die Kälte prickelte auf ihrem Gesicht, und ihr Atem stand als weißer Fleck vor ihr. Sie sah in den mit Sternen übersäten Nachthimmel. Die helle Venus schien zum Greifen nah. Sie dachte an ihre Mutter. Zum ersten Mal würde das Weihnachtsessen heuer ohne sie stattfinden. Cläre kämpfte gegen die Tränen an. Wie sehr sie ihr fehlte – und wie sehr sich ihr Leben seit ihrem Tod verändert hatte.

Noch vor einem Jahr hatte ihr Weg klar vor ihr gelegen. Jeden Tag hatte sie sich mit einem privaten Lehrer auf die Reifeprüfung an einem Knabengymnasium vorbereitet, die zwar keine Mädchen aufnahmen, sie aber als externe Prüflinge zuließen. Erst als die Mutter vor einem dreiviertel Jahr zu schwach geworden war, um ihre Aufgaben im Haus zu erledigen, hatte Cläre den Unterricht aufgeben müssen. Anfangs hatte sie abends im Bett noch über ihren Büchern gebrütet und fest daran geglaubt, dass es sich nur um eine Unterbrechung auf Zeit handele. Wenn es der Mutter erst wieder besser ginge, würde sie einfach doppelt so viel lernen und das Versäumte schnell nachholen. Aber dann war ihre Mutter gestorben, und mit ihr hatte Cläre auch ihren Traum begraben. Eines Abends, als sie nach einem langen Tag in ihre Kammer zurückgekommen war, hatten die schon seit Langem ungenutzten Bücher sie so vorwurfsvoll angestarrt, dass sie sie erst in einem Anfall von Wut vom Tisch gefegt und danach weinend in den Kleiderschrank verfrachtet hatte – ganz nach hinten, unter die grüne Strickjacke mit den aufgestickten Gänseblumen, die sie nur zu besonderen Gelegenheiten trug. Und da lagen sie bis heute.

Cläre steckte die kalten Hände in die Manteltaschen und scharrte mit den Füßen auf dem vereisten Boden herum. Wie still es war. Plötzlich schoss ein silberner Faden in weitem Bogen über den dunklen Himmel.

Eine Sternschnuppe! Cläre stand regungslos da. Sollte sie? Du bist doch viel zu groß für so einen Unfug, dachte sie. Dann wünschte sie sich etwas.

„Cläre! Wo bist du? Wir wollen bald essen!“

Die Stimme ihres Bruders klang ungewohnt laut in der Nacht. Cläre seufzte.

„Ich komme!“, rief sie und setzte sich in Bewegung.

Wenige Stunden später hatten sie das erste Weihnachtsessen zu dritt hinter sich gebracht. Über das Lob des Vaters, dass der von ihr hergerichtete Tisch genauso feierlich aussah wie bei der Mutter, konnte sie sich nicht freuen. Still räumte sie die Teller zusammen, da stand ihr Bruder Max auf.

„Ich habe noch etwas aus München mitgebracht. Als Nachtisch sozusagen.“

Er ging nach draußen und kam mit einer Flasche Aprikosenlikör und drei Gläsern wieder. Ihr Vater schenkte ein.

„Der ist gut“, sagte er, als er das erste Glas geleert hatte. Offenbar heiterte der Likör seine melancholische Laune etwas auf, denn er wurde gesprächig. „Na, Max, wie läuft denn das Jurastudium in München?“

Max zuckte mit den Schultern. „Ganz gut, denke ich.“

„Hast dir ein schweres Fach ausgesucht, aber du wirst’s schon schaffen. Und deine Studentenverbindung? Hast schon Anschluss gefunden?“

Cläre sah, wie Max das Gesicht verzog. Er wirkte blass, doch das konnte auch nur der Kontrast zu seinen schwarzen Haaren sein, die er, seit er in München lebte, kürzer trug und akkurat scheitelte. Cläre hatte die etwas längere, struppige Frisur besser gefallen, aber sie nahm an, dass sie nicht zum Stil der Studentenverbindung gepasst hätte.

Noch ehe Max antworten konnte, redete der Vater weiter. „Ich hab dem Herrn Schmiedinger aus München ordentlich was zukommen lassen jetzt zu Weihnachten, als Dank, dass er dir einen Platz in der Studentenverbindung beschafft hat. Ohne die Fürsprache eines alten Herrn wärst nicht reingekommen in so ein feines Haus wie diese Victoria – und auch in keine andere Studentenverbindung. Aber mir ist das wichtig, dass ich dich da gut aufgehoben weiß – unter jungen Männern, die die rechte Gesinnung haben. In der Großstadt kann so ein unerfahrener Bub wie du schnell an die falschen Leute geraten.“

Cläre sah ihren Bruder an, der mit verdrießlichem Gesicht in sein noch volles Likörglas starrte. Doch der Vater bemerkte sein offensichtliches Unbehagen nicht.

„Leider ist bei der Victoria das Schlagen ja ned verpflichtend, aber du wirst es doch auf jeden Fall machen, oder?“

„Vater … deswegen wollte ich …“, setzte Max an.

Doch Michael Wiesner ließ sich nicht unterbrechen. „Jetzt bist schon ein paar Monate dort und hast noch gar nix in der Art unternommen.“

„Magst du noch ein Gläschen?“, versuchte Cläre, ihn abzulenken. Ihr Bruder warf ihr einen dankbaren Blick zu, doch Cläres Motive waren nicht ganz uneigennützig. Auch sie hatte noch ein Anliegen, und da war es besser, den Vater bei Laune zu halten.

„Vati …“, hob sie an. Die Koseform benutzte sie nur bei besonderen Anlässen.

Ihr Vater strich ihr über die Wange. „Gut gemacht hast das heut in der Wirtschaft. Hast dich wacker geschlagen.“

„Ja. Und ich schaffe das auch sehr gut mit der Arbeit. Aber gerade deshalb dachte ich, dass ich ja vielleicht doch nebenbei die Prüfungsvorbereitung mit den Lehrern wieder aufnehmen könnte. Ich …“

„Cläre, ich brauch dich in der Wirtschaft. Das Lokal, die Tiere, das Kochen, Saubermachen und Bedienen … Wer soll dich denn in den Stunden ersetzen, die du dann jeden Tag lernen musst? Soll ich etwa noch eine Kraft anstellen? Allein was mich die Erna schon kostet, die ich nach dem Tod von der Mutter hab dazunehmen müssen. Und du weißt doch, wie knapp wir bei Kasse sind. Vor allem jetzt, wo der Bachmaier drüben in Landsberg auch Forellen züchtet und jeder Lackl neuerdings auf die Idee kommt, eine Wirtschaft zu eröffnen.“ Seine Stimme war mit jedem Satz härter geworden. Er schenkte sich noch einen Likör ein. „Und außerdem wirst ja sowieso mal das Ganze hier übernehmen, wenn ich ned mehr kann“, fuhr er fort. „Der Max fällt ja jetzt aus mit seiner Juristerei. Aber du … du wirst schon einen Passenden finden, der einheiraten will in so ein alteingesessenes Lokal wie unsres. Viel Arbeit, aber man kann schon was draus machen, wenn man die Müh nicht scheut.“

Jetzt war es also ausgesprochen. Cläre sollte heiraten und das Geschäft übernehmen. Jeden Tag dasselbe machen, jahraus, jahrein. Sicher gab es junge Frauen, die gerne mit ihr getauscht hätten, aber war es wirklich so falsch, dass sie selbst von etwas anderem träumte?

Wie ein Blitz durchfuhr sie die Erinnerung an die Sternschnuppe. Wenn man sich schon auf Sternschnuppen verlassen muss, sieht es wirklich düster aus, dachte sie resigniert.


Kapitel 3

Als es am Neujahrstag gegen Mittag an der Wohnungstür klingelte, sahen Peter und Christine sich überrascht an. Da Christine keine Anstalten machte aufzustehen, erhob Peter sich und öffnete die Tür.

„Ach, Fritz, du bist’s. Komm rein“, hörte Christine ihn sagen.

Peter brachte Fritz mit in die Küche.

„Grüß dich, Fritz.“ Christine spürte, dass sie errötete. „Wie schön, dass du vorbeischaust.“

Fritz nickte verlegen. „Ich wollte mal hören, wie es euch so geht, und fragen, ob du … also, ob ihr vielleicht mitkommen wollt zum Schlittschuhlaufen auf dem Kleinhesseloher See. Einfach, um euch mal abzulenken.“

Peter schüttelte den Kopf. „Ich habe meiner Mutter versprochen, unten im Café zu helfen. Es hat heute zum ersten Mal seit Luises Tod wieder geöffnet. Und in ein paar Tagen muss ich nach Berlin zurück, da möchte ich mich noch nützlich machen.“

„Ich weiß auch nicht …“, meinte Christine leise.

„Du solltest zum Eislaufen gehen“, riet Peter. „Fritz hat recht. Wir haben in den ganzen letzten Tagen nichts anderes getan, als in der Wohnung zu sitzen und die Wände anzustarren. Ein bisschen frische Luft wird dir guttun.“

Christine nickte. „Also gut, dann hole ich meine Kufen.“

„Ich habe dir noch gar kein frohes neues Jahr gewünscht“, sagte Christine, als sie wenig später auf vereisten Wegen zum Englischen Garten gingen. In den letzten Tagen war es deutlich kälter geworden.

„Ich dir auch nicht“, meinte Fritz. „Es schien mir irgendwie unpassend nach Luises Tod. Trotzdem …“ Er blieb kurz stehen und sah sie an. „Ich wünsche dir ein gutes Jahr, Christine.“

„Danke.“ Einige Sekunden hielt sie den Blick seiner blauen Augen, dann sah Fritz weg und ging weiter, schneller als zuvor, und Christine hatte Mühe, Schritt zu halten.

Als sie im Englischen Garten ankamen, atmete Christine innerlich auf. Die Luft war glasklar, und die weißen Flächen des Parks glitzerten in der Sonne. Am Kleinhesseloher See war weniger los, als sie gedacht hatte.

Sie schnallten sich die Kufen an. „Fährst du gut?“, fragte Christine.

„Auf den Kufen bin ich ein Gott.“ Er warf sich demonstrativ in die Brust, und Christine lachte.

„Schön, dass ich dir ein kurzes Lachen entlocken kann. Genau das hatte ich gehofft“, sagte Fritz. „Zu deiner Frage: Zu Hause in Augsburg bin ich im Winter fast jeden Tag Schlittschuh gefahren.“

„Wie oft siehst du eigentlich deine Eltern?“, wollte Christine wissen.

Ein Schatten fiel über sein Gesicht. „Nicht so oft. Mein Vater wollte, dass ich Medizin studiere und später mal seine Praxis übernehme. Dass ich mich für Germanistik entschieden habe, hat ihn … irritiert. Er meinte, das sei eine brotlose Kunst.“

„Aber du studierst doch gar nicht mehr?“, fragte Christine überrascht.

Fritz grinste schief. „Genau. Der zweite Schlag ins Kontor war, dass ich mit dem Studium ganz aufgehört habe und nur noch für den Simplicissimus zeichne. Jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, muss ich mir anhören, dass das kein rechtschaffener Broterwerb sei, und dann auch noch eine Zeitschrift, die Kaiser, Reich und Obrigkeit durch den Dreck zieht! Wir leben einfach in völlig verschiedenen Welten. Mein Vater in der alten, die ihm passt wie ein gut eingelaufener Schuh, und ich … ich weiß auch nicht.“

„Ich weiß, was du meinst. Wir Jungen können nicht mehr hinwegsehen über den großen Unterschied zwischen Arm und Reich, die staatliche Zensur und die Kriegstreiberei unserer Politiker, die versuchen, uns gegen die anderen europäischen Länder aufzuhetzen.“

Fritz nickte zustimmend. „Na ja, jetzt weißt du wenigstens, warum ich so selten nach Hause fahre. Du hast Glück. Deine Mutter und Luise sind so ganz anders …“ Erschrocken brach er ab. „Tut mir leid. Es geht einfach noch nicht in meinen Kopf, dass Luise …“

„In meinen auch nicht“, entgegnete Christine. „Komm, lass uns laufen.“

Sie fuhren los. Schweigend drehte Christine ihre Kreise. Mal liefen sie nebeneinander, mal in entgegengesetzte Richtungen. Christine genoss die Anstrengung in der kalten Luft und spürte die Röte in ihren Wangen und Ohren, doch auf einmal blieb sie mit der Kufe an einer unebenen Stelle hängen und stürzte. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihr Knie und ihr Handgelenk.

Fritz eilte zu ihr und ging neben ihr in die Hocke. „Hast du dir wehgetan?“, fragte er besorgt. Vorsichtig betastete er Christines Gelenke und bewegte sie sacht hin und her.

„Vielleicht hatte dein Vater recht, und du hättest doch Medizin studieren sollen“, bemerkte Christine grimmig.

Fritz lächelte. „Jedenfalls stelle ich fest, dass die Patientin nicht ernsthaft verletzt sein kann, da sie noch zu Späßen aufgelegt ist. Kannst du aufstehen?“

„Ich denke schon.“

Fritz nahm ihre Hand und zog sie vorsichtig hoch, dabei stützte er sie unter der anderen Achsel. Einen ganz kurzen Augenblick waren sie sich so nah, dass sie seinen warmen Atem spüren konnte. Verwirrt hielt Christine inne, doch da war der Moment auch schon vorbei.

„Also, stehen kann ich jedenfalls“, sagte sie betont munter. „Aber ob ich heute noch weiterfahren sollte?“

„Besser nicht, Madame. Davon rät der verhinderte Arzt an Ihrer Seite ab“, kommentierte er und reichte ihr die Hand. „Ich schleppe dich an Land.“ Christine spürte einen Stich in der Herzgegend und sah ihn an, doch er erwiderte ihren Blick nicht.

Im fünfzig Kilometer entfernten Kaufering blieb die Wirtschaft nach einer langen Silvesternacht geschlossen. Cläre hatte sich erlaubt, eine Stunde später aufzustehen als sonst. Da Erna und Rudi freihatten, musste sie sich um die Tiere kümmern. Sie trug die Essensreste zu den Schweinen, mistete aus und schüttete Stroh auf.

Sie war todmüde, denn die letzten Gäste hatten die Wirtsstube erst weit nach Mitternacht verlassen, und danach hatten sie und Erna noch sauber gemacht. Ihr Bruder Max war schon vor zwei Tagen nach München zurückgefahren, um mit seinen Kameraden in der Studentenverbindung zu feiern. Cläre musste sich eingestehen, dass sie ihn beneidete.

Zurück in der Küche schenkte sie sich missmutig eine Tasse Kaffee ein und trank ihn schwarz. Wenigstens hatte sie das Haus heute für sich. Um sich etwas Gutes zu tun, beschloss sie, einen der süßen Lebkuchen zu essen, die sie vor Weihnachten beim Spezereihändler gekauft hatte. Sie waren nicht billig gewesen, aber ihre Mutter hatte das würzige Oblatengebäck geliebt, und für Cläre gehörte es zur Weihnachtszeit dazu. Sie öffnete die Vitrine und zog die Dose heraus. Dabei segelte ein Blatt Papier zu Boden. Sie bückte sich und stellte erstaunt fest, dass es ein Telegramm war. Es bestand nur aus wenigen Zeilen:

Frau Luise Wolff gestern an Herzinfarkt verstorben. Beerdigung 18. Dezember 1910, 14 Uhr Nordfriedhof.

 

„Tante Luise ist tot“, murmelte Cläre. Die Beerdigung lag keine zwei Wochen zurück, und der Vater hatte ihr nichts erzählt. Ob ihr Bruder davon wusste? Ärger stieg in ihr auf. In diesem Moment hörte sie den Vater an der Haustür. Er zog sich die Stiefel aus und hängte die Joppe an den Garderobenständer. Kurz darauf stand er in der Küche.

Cläre funkelte ihn böse an. „Tante Luise ist gestorben, und du hast mir nichts davon gesagt. Warum?“ Sie hielt ihm das Telegramm hin.

Einen Moment wirkte ihr Vater verlegen, dann fasste er sich wieder. „Wir hatten mit dieser Frau nix zu schaffen“, sagte er betont barsch. „Nicht mal deine Mutter, und die war schließlich ihre Schwester.“

„Du hättest es mir trotzdem sagen müssen und Max auch, oder weiß er es?“

Der Vater schüttelte den Kopf. „Was hättest du denn gemacht, wenn du’s gewusst hättest? Zur Beerdigung wärst ohnehin nicht gefahren.“

„Warum eigentlich nicht?“, rebellierte Cläre. „Tante Luise ist schließlich zu Mutters Beerdigung gekommen … trotz ihres Streits!“

„Die konnte ja leicht die Großmütige spielen“, brummte ihr Vater. „Die wurde ja nicht enterbt, sondern hat alles bekommen von ihrer Familie. Allein das Haus in der Schellingstraße ist eine wahre Goldgrube. Weißt du eigentlich, was ein Grundstück in München wert ist heute? Dazu das ganze Vermögen. Die Wolffs waren eine piekfeine Familie, und deine Mutter hat keinen Pfennig gesehen, nur weil sie einen halben Bauern wie mich geheiratet hat, mit einer Forellenzucht und einer Wirtschaft. In einem Landgasthof Bratkartoffeln und Würste zubereiten, das war den gelackten Städtern für ihre Tochter nicht gut genug. Deine Mutter hat das nie verwunden. Ein Leben lang hat sie sich gegrämt. Nicht mal auf den Bestattungen ihrer Eltern war sie, als die gestorben sind. Und du willst auf die Beerdigung von dieser Tante? Na, gute Nacht.“

Die Erinnerung an das Unrecht, das der Mutter widerfahren war, besänftigte Cläre. Vielleicht hatte ihr Vater ja recht. Großmut kostete nichts, wenn man alles bekommen hatte und die andere nichts. Und letztlich hatte sie selbst die Tante nie richtig kennengelernt. Sie dachte an die schlanke Gestalt auf der Beerdigung der Mutter und die fremde Frau neben ihr. Nach der Beisetzung hatte Tante Luise ihren Vater abgepasst und zur Seite genommen. Zunächst hatten sie normal miteinander gesprochen, aber dann waren die Stimmen lauter, die Worte heftiger geworden. Vermutlich war es wieder einmal um das Erbe gegangen.

„Wer war eigentlich die Frau, die auf Mutters Beerdigung neben Tante Luise stand? Gehört sie auch zur Familie?“

Zu Cläres Überraschung lief ihr Vater rot an. „Familie? Die ganz bestimmt nicht. Das ist eine ganz liederliche Person. Die hat deine Tante Luise ausgenommen wie eine Weihnachtsgans. Die Frau hat von ihr ein Lokal im Haus in der Schellingstraße gemietet, so ein neumodisches Café. Und von da an hat sie sich rangemacht an deine Tante und ihr alles abgenommen. Aber das haben die Wolffs nicht besser verdient. Das war die gerechte Strafe, dass sie sich so ein Sodom und Gomorrha ins Haus geholt …“ Abrupt brach er ab, offenbar verärgert, dass er so viel gesagt hatte. „Und jetzt Schluss mit dem ganzen Spuk.“

Mit einer heftigen Bewegung riss er Cläre das Telegramm aus der Hand. Bevor sie etwas sagen konnte, hatte er es in zwei Hälften zerrissen. Er öffnete das Türchen des Holzofens und warf die zwei Teile in die Flammen. Dann verließ er die Küche.

Cläre blieb ratlos zurück. Wie oft hatte sie in den letzten Jahren ähnliche Gespräche zwischen ihren Eltern belauscht, doch noch immer konnte sie nichts Genaues damit anfangen.

Lea Kampe

Über Lea Kampe

Biografie

Lea Kampe alias Iris Claere Mueller, geboren 1971 in Mannheim, wuchs in Bad Wimpfen bei Heilbronn auf. Nach ihrem Studium der Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft an der Universität Heidelberg zog sie in die USA, wo sie an der renommierten Yale University im Fachbereich Medieval Studies...

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