Teil 1
Kapitel 1
Vor einer Weile war die Sonne rausgekommen, und die ganze Familie war zum Spielen nach draußen gegangen.
Wenn man sie sich so ansah, fiel einem auf den ersten Blick gar nichts Seltsames auf.
Die meisten Leute lächelten, wenn sie bemerkten, dass es sich bei den Kindern um Zwillinge handelte, von denen jeder eindeutig einem Elternteil ähnelte – der Junge mit dem rebellischen blonden Haar und der offenen, strahlenden Miene war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Das kleine Mädchen wirkte zurückhaltender und hatte die helle, mit Sommersprossen übersäte Haut und das rotblonde Haar der Mutter.
Bei genauerem Hinsehen würde man allerdings etwas um sie herumflattern sehen und annehmen, dass man sich wohl verguckt haben musste. Denn was, um alles in der Welt, sollte ein Papageientaucher hier zu suchen haben?
***
Während der ersten ein oder zwei Jahre ihres Lebens hatte ein Schutzgitter an der Treppe den Lebensraum von Avery und Daisy quasi auf die helle Küche im ebenerdigen Anbau beschränkt.
Denn Polly Miller, geborene Waterford, hatte furchtbare Angst davor gehabt, dass sie die Wendeltreppe des Leuchtturms hinunterfallen könnten.
In einem Leuchtturm zu leben war mit Kindern eine noch blödere Idee als vorher, so toll sie es auch finden mochten.
Pollys Hoffnung, die Sicherheit ihrer Sprösslinge möglichst lange durch das Gitter gewährleisten zu können, war dahin, als sie die etwa achtzehn Monate alten Zwillinge mal eine Sekunde lang aus den Augen ließ.
Als Polly sich wieder zu ihnen umdrehte, betätigte Avery gerade die Verschlussvorrichtung, während Daisy das Törchen öffnete.
Neil (der Papageientaucher) stand auf dem Gitter, beinahe so, als wäre das Ganze seine Idee gewesen. Immerhin flatterte er schuldbewusst durchs Treppenhaus davon, als Polly ihre Kinder wieder einfing.
Die Zeit des Treppengitters war damit jedoch definitiv vorbei.
Polly setzte sich auf das abgewetzte alte Sofa und hob sich beide Kinder auf den Schoß – den blonden Avery, der Huckle so ähnelte, und Daisy, die aussah wie Polly selbst. „Nein“, erklärte sie geduldig zum millionsten Mal. „Nein, wir gehen nicht nach oben.“
„Oben!“, wiederholte Avery.
Daisy nickte. „Oben … NEIN?“
In dem Moment kam Huckle zum Mittagessen und grinste, als die Zwillinge vom Schoß ihrer Mutter rutschten und über den steinernen Fußboden auf ihn zusausten. „DADDY!“
„Bringst du ihnen mal wieder bei, dass oben der spannendste Ort der Welt ist?“
„Sie haben das Treppengitter geöffnet. In Teamarbeit.“
Huckle hob die beiden kleinen Menschen hoch und hielt einen von ihnen in jedem Arm.
„Ihr seid wirklich genial“, sagte er und drückte seine kichernden Kinder an sich.
„Genial ist daran überhaupt nichts“, wandte Polly ein. „Wenn sie jetzt dauernd nach oben krabbeln wollen, wird irgendwann jemand die Treppe hinunterfallen und dabei draufgehen.“
„Ich dachte, deshalb hätten wir zwei“, sagte Huckle und ging zum Herd hinüber.
***
In den folgenden vier Jahren purzelten sie tatsächlich etliche Male die Treppe hinunter, ohne sich dabei je nennenswerte Verletzungen zuzuziehen. Auch die Zusammensetzung der Gang – Junge, Mädchen, Papageientaucher – blieb gleich, und die drei brachten sich gemeinsam in immer neue, immer unerhörtere Schwierigkeiten.
„Eigentlich hatte ich am Anfang gedacht, dass Neil auf die Babys eifersüchtig sein würde“, sagte Polly jetzt, als Huckle und sie in der angenehm warmen Frühlingssonne saßen und dabei zusahen, wie ihre Kinder mit Neil Twistball spielten. Der Vogel flatterte dabei um die Stange herum und jedes Mal nach oben, wenn sich ihm der Ball näherte.
Die Rasenfläche erstreckte sich bis zu den Klippen, und normalerweise war es hier viel zu windig, um draußen zu sitzen. Aber es gab eine windgeschützte Stelle direkt hinter einem niedrigen Mäuerchen. Da konnte man sich ausstrecken, sich die Sonne ins Gesicht scheinen lassen und einfach einen wunderbar wohligen Moment genießen.
Allerdings hatte Polly von dort aus die Zwillinge nicht mehr im Blick, wenn sie sich hinlegte, daher richtete sie sich alle paar Minuten wie ein Erdmännchen auf und trotzte dem kalten Wind.
„Neil war doch furchtbar eifersüchtig auf die Babys!“, sagte Huckle und konnte nicht fassen, dass sie das vergessen hatte. „Allerdings hast du am Anfang ja im Milchkoma vor dich hin gedämmert. Damals hätte eine Atombombe explodieren können, und du hättest es nicht mitbekommen. Außer natürlich, wenn dadurch auch nur ein Staubkorn auf den Kindern gelandet wäre. Was glaubst du denn, woher die ganzen Macken an den Babybettchen stammen?“
„Ich dachte, das wäre Dekoration!“
„Das sind Schnabelspuren.“
„O Gott! Böser Vogel!“
„Ja, er ist ein ganz böser Vogel“, bestätigte Huckle gleichmütig. „Komisch, da könnte man fast denken, es wäre keine gute Idee, sich einen wilden Seevogel als Haustier zuzulegen.“
„Das sollte man ja auch nicht“, nickte Polly. „Aber er hat sich eben mich zugelegt.“
Vor Jahren war innerhalb kürzester Zeit nicht nur Pollys Firma, sondern auch die Beziehung zu ihrem damaligen Verlobten den Bach runtergegangen, weshalb sie allein und nervös nach Mount Polbearne gezogen war. Eines Nachts war ein Papageientaucherjunges in das Lokal gekracht, in dem sie inzwischen ihre Bäckerei hatte.
Sie hatte das Tier gepflegt, bis sein gebrochener Flügel geheilt war, und es dann freizulassen versucht.
Davon hatte der Vogel aber nichts wissen wollen. Neil hatte beschlossen, dass es viel besser war, bei einer Bäckerin zu leben, als jeden Tag ins kalte Seewasser tauchen zu müssen. Und das konnte Huckle durchaus verstehen.
Jetzt schauten Polly und er dabei zu, wie Neil um ihre Kinder herumsauste.
„Ich meine, er könnte vielleicht …“
„Nein, Neil kann nicht babysitten!“, versetzte Polly streng.
„Schon klar, schon klar“, sagte Huckle. „Ich hab nur überlegt, wie schön es doch wäre, sich mal bei Andy draußen hinzusetzen.“
Andy gehörte nicht nur der Pub des Ortes, sondern auch die Imbissbude, bei der es köstliche Pommes gab.
„Oder vielleicht sogar in das schicke Restaurant zu gehen und dort ein Glas Wein zu trinken. Ohne dass die ganze Zeit kleine Monster auf uns herumturnen.“
„Wir könnten doch Kerensa anrufen“, schlug Polly vor.
Das war die Frau von Reuben, ihrem reichen Freund, der auf dem Festland wohnte.
„Im Moment bin ich nicht in der Stimmung dazu, mich mit Reuben herumzuschlagen“, sagte Huckle. „Ganz zu schweigen von … Lowin.“
Obwohl die Zwillinge meilenweit weg gewesen waren, hüpften sie bei der Erwähnung dieses Namens sofort herbei.
„GEHEN WIR RÜBER ZU LOWIN?“
Lowin, der Sohn von Reuben und Kerensa, war inzwischen acht und der große Held der Zwillinge. Was auch kein Wunder war, schließlich lebte er in einer riesigen Villa, die aussah wie die von Tony Stark, und besaß jedes Computerspiel und jedes einzelne Playmobil-Set auf Erden.
Lowin seinerseits duldete die Zwillinge mehr oder weniger, solange sie beim Spielen genau seinen Befehlen Folge leisteten und ihm wie das Dienstpersonal jeden verrückten Wunsch von den Lippen ablasen.
Daisy und Avery stellten sich mit Begeisterung als willige Sklaven zur Verfügung und ließen sich nur zu gern auf jede von Lowins neuen Phasen ein.
Und das war auch kein Problem, solange sein Interesse zum Beispiel den Avengers oder Rennautos galt.
Seit Neuestem war Lowin allerdings ganz verrückt nach Schlangen. Und trotz Kerensas Beteuerungen war Polly sich nie hundertprozentig sicher, ob Reuben seinem Sohn nicht doch eine riesige Königsboa kaufen würde. Es fehlte gerade noch, dass er sie wie einen Schal um den Hals überallhin mitnehmen und die Schlange am Ende gar noch Neil verspeisen würde.
„Heute nicht“, antwortete Polly auf die Frage ihrer Kinder.
Enttäuschung machte sich auf den Gesichtern der Zwillinge breit.
„Aber er kriegt doch eine riesige Rutsche, die aussieht wie eine Schlange! Die längste Rutsche der Welt!“
„Das klingt ganz schön gefährlich“, bemerkte Polly und stand auf. „Okay. Zum Essen gibt es nur was aus den Hähnchenresten, sorry.“
„Ist nicht schlimm“, erwiderte Huckle, der bald wieder losfahren würde, um für seinen Honigverkauf Klinken zu putzen. Die Zeiten waren hart – im Südwesten Englands hatte es etliche Überschwemmungen gegeben, und viele Geschäfte kämpften ums Überleben, aber er gab sein Bestes.
„Ich freue mich einfach über was selbst Gekochtes, schließlich stehen für mich in den nächsten zwei Wochen immer nur Mahlzeiten in Restaurants und Hotels an.“
„Tu doch wenigstens so, als würde dich das stören!“, bat Polly.
„Da brauche ich gar nicht so zu tun!“, versicherte Huckle. Dann wurde seine Miene ernster, während er nach ihrer Hand griff. „Und das weißt du genau!“
„Ich wünschte, ich könnte losziehen und in Hotels übernachten.“
„Wir reden hier nicht vom Ritz, sondern vom Travelodge an der A40!“
„Ich weiß. Aber in deiner Gesellschaft wirkt alles wie das Ritz.“
Sie küssten sich.
Huckle fand es furchtbar, dass er wegmusste, aber es ging nicht anders. Und auch so war es für sie schon schwierig genug, über die Runden zu kommen.
„Denk an die Fenster!“, sagte er.
„Ich weiß, ich weiß.“
Es würde ihre Lebensqualität enorm verbessern, wenn sie die alten, klapprigen Leuchtturmfenster mit Einfachverglasung gegen denkmalschutzgerechte Doppelglasfenster austauschen könnten. Nie wieder würden sie sich widerwillig aus dem Bett quälen und in eisiger Kälte durchs Treppenhaus laufen müssen.
Oder vielleicht doch? Wer konnte schon sagen, ob man den Turm je auf eine Temperatur bringen könnte, die andere Leute als warm bezeichnen würden – Pollys Mutter zum Beispiel oder Kerensa oder, na ja, so ziemlich jeder.
Aber für ihre kleine Familie war der Leuchtturm perfekt – und die Kinder kannten ja nichts anderes.
Huckle hatte einen alten Fernseher ins Elternschlafzimmer gestellt, und im Winter machten die vier es sich dort unter einer Heizdecke gemütlich. Dann schauten sie sich zusammen Vaiana an, während Neil auf dem Nachttisch herumhopste. In diesen Momenten war der Turm für Polly einer der glücklichsten Orte auf Erden, zugige Fenster hin oder her.
Und jetzt kam ja endlich der Frühling! Wenn Huckle dieses Jahr genug verdiente, würden sie sich die Fenster und einen neuen Boiler leisten können, und dann würde es wirklich keinen Grund mehr zur Klage geben, dachte Polly, während sie in die Küche ging.
Sie hörte das fröhliche Geplapper der Zwillinge, die von ihrem Vater verlangten, dass er JETZTSOFORT zum Tiger wurde. Als Huckle dieser Aufforderung bereitwillig nachkam, brüllte er allerdings so wild und laut, dass Polly sich Sorgen um Avery machte. Aber im Notfall würde Daisy dessen Tränen schon trocknen.
Polly hatte aus den Resten des Brathähnchens eine Brühe gemacht, zu der sie jetzt Graupen und Gemüse gab.
Voller Vorfreude dachte Polly an den Sommer, wenn Huckle zurück zu Hause sein und erste Touristen die Saison einläuten würden. Dann würden sie alle Hände voll zu tun haben.
Sie konnte es kaum erwarten, wieder warme Sonnenstrahlen auf den Wangen zu spüren, nachdem im Winter gefühlt jedes einzelne Wochenende ein Unwetter über sie hereingebrochen war.
Wenn monatelang Regen gegen die Fenster klatschte, standen überall Gummistiefel herum, und die Kinder wurden gereizt, weil sie nicht genug an die frische Luft kamen. Zu Hause Höhlen zu bauen und Mama beim Backen zu helfen verlor im Laufe der Zeit seinen Reiz.
Die Stürme wurden schlimmer – was mit dem Klimawandel zu tun hatte, das war Polly klar – und die Winter härter.
Huckle kam in die Küche. „Und, was steht bei euch so an, während ich weg bin?“, fragte er und lauschte gleichzeitig mit einem Ohr Averys Geschichte darüber, dass Lowin zu seinem Geburtstag die größte Schlange der Welt bekommen würde.
„Das Übliche“, sagte Polly. „Ach, nein, das hab ich ja ganz vergessen! Reubens Streuner kommen!“
Kapitel 2
Auf dem Festland, drüben in Exeter, hatte eine von Reubens „Streunern“ noch keine Ahnung davon, dass sie bald in diese Kategorie fallen würde.
Dort trommelte gerade ohne jeden Erfolg Caius laut gegen die Tür seiner Mitbewohnerin. Sein Name wurde „Kies“ ausgesprochen, mit langem I, wie er bei der ersten Begegnung gern hochnäsig erklärte, außer in dem Fall, dass die andere Person es durch Zufall richtig gesagt hatte. Dann behauptete er stattdessen: „Ehrlich gesagt ist es ja ›Ki-us‹, okay?“
„Marisa!“, rief er. Über den ganzen Radau hinweg war es zugegebenermaßen kaum zu hören.
Theoretisch fand Caius es cool, dass er mit vielen DJs befreundet war, oder zumindest mit Leuten, die sich als solche bezeichneten. Aber er hatte leider den Fehler gemacht, sie ums Auflegen bei seinen Partys zu bitten.
Das Resultat war furchtbar, denn jetzt stritten sie darüber, wer die teuersten Kopfhörer hatte, brachten ihre albernen Lautsprecher durcheinander und wetteiferten darum, wer das bizarrste Zeug auflegte. Es herrschte absolutes Chaos.
Vielleicht hätte Caius sich auch überlegen sollen, was seine Nachbarn eigentlich von dem Theater hielten, wenn er sich denn um die Nachbarn geschert hätte.
Aber Caius war reich und gut aussehend, daher traf er selten jemanden, der ihn nicht mochte, und konnte sich kaum vorstellen, wie das wohl war.
Die Wohnung war proppenvoll, vor allem mit – zumindest entfernten – Bekannten von ihm. Aber am wichtigsten war ihm, dass hier alle gut aussehend und wohlhabend waren, mehr musste er über sie gar nicht wissen.
Und er brauchte für diese Leute nun das Zimmerchen, das er sowieso bloß vermietet hatte, weil seine Eltern darauf bestanden hatten – sie hatten irgendwas von „Verantwortung tragen“ und „vernünftig wirtschaften“ gefaselt. Schwer zu sagen, was genau es gewesen war, denn er hatte an dem Tag einen schlimmen Absturz hinter sich gehabt und bei dem Gespräch auch noch seine Kopfhörer getragen, es hätte also alles sein können.
„Marisa!“, brüllte er jetzt wieder, so laut er konnte. Caius verzog das Gesicht, weil er nicht gern laut wurde. Am liebsten sprach er ganz langsam und gedehnt oder sagte am besten gar nichts und gab einfach nur Kellnern ein Zeichen, damit sie ihm Sachen brachten.
„Marisa! Na, komm schon, das ist eine Party! Kannst du uns nicht ein paar Kanapees machen?“
Immer noch keine Antwort. Caius zog eine Schnute. Mittlerweile musste sie ihn doch gehört haben.
Früher hatte man mit Marisa noch Spaß haben können. Okay, so richtig auch wieder nicht, schließlich hatte sie einen echten Job und ging zu einer vernünftigen Uhrzeit ins Bett.
Aber sie hatte gekocht und gelächelt und war witzig gewesen, und es hatte ihm gefallen, dass sich jemand ein bisschen um ihn gekümmert hatte.
Irgendwann war sie jedoch ganz still geworden und hatte sich zurückgezogen. Er wusste, dass sie ihm den Grund dafür erklärt hatte, irgend so ein Familienscheiß, aber er vergaß es immer wieder, und die ganze Sache wurde wirklich lästig.
„Marisa! Die Gäste wollen dieses Zimmer benutzen! Für ihre Jacken!“
„Und auch für Sex und Drogen!“, erklärte eine von drei Personen mit dickem schwarzem Eyeliner, die gerade hinter Caius erschienen waren. Die anderen beiden nickten nachdrücklich.
„Quatsch, es geht wahrscheinlich echt nur um Jacken!“, versicherte Caius. Er runzelte die Stirn. „Du weißt schon, dass es hier draußen Tequila gibt, oder? Hier gibt es Tequila und da drin bei dir nicht, deshalb kann ich dich wirklich nicht verstehen.“
***
Na, da haben wir was gemeinsam, dachte Marisa. Sie selbst verstand sich nämlich auch nicht.