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Die schönsten Inselromane

Die schönsten Insel- und Küstenromane - romantisch und gefühlvoll

Mit diesen Büchern können Sie sich an die Nord- und Ostsee träumen oder an die Küsten Cornwalls. Gefühlvolle Liebesromane und und spannende Familiensagas warten auf Sie.

Begeben Sie sich auf intensive Reisen an die schönsten Küsten und lassen sich vom einmaligen Charme des Insellebens verzaubern! Losgelöst von der Hast und dem Lärm des Festlands und vom unendlichen Meer umgeben, führen die Insulaner ein eigenes Leben. Ein idealer Schauplatz also für die Entstehung kleiner Bäckereien, dramatische Familiensagen, Freundschaften in Zeiten des Umbruchs, die große Liebe und resolute Hobbyermittlerinnen. 

Rauschendes Meer, weicher Sand unter den Füßen und packende Geschichten im Herzen – wir wünschen Ihnen eine wundervolle Zeit mit unseren Büchern! 

Eine bewegende Suche nach Versöhnung im Schatten einer wunderschönen norddeutschen Mühle

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Die Töchter der KornmühleDie Töchter der Kornmühle

Roman

Eine Schwester ist das Stück Kindheit, das für immer bleibt.

In diesem norddeutschen Familiengeheimnis-Roman auf zwei Zeitebenen entführt uns die SPIEGEL-Bestseller-Autorin Regine Kölpin auf eine bewegende Suche nach Versöhnung im Schatten einer wunderschönen norddeutschen Mühle.

Die beiden Schwestern Rena und Viktoria könnten unterschiedlicher nicht sein. Während Rena sich Zeit ihres Lebens pflichtbewusst um die Kornmühle der Familie gekümmert hat, zog es Viktoria schon früh in die weite Welt. Jetzt wohnt sie in Hamburg in einer kleinen Wohnung und hat kaum Kontakt zu ihrer Familie. Doch dann bekommt sie die Nachricht, dass ihre Mutter im Krankenhaus liegt und mit den Schwestern ein letztes Mal sprechen möchte – über die Mühle und ein Geheimnis aus ihrer Kindheit, das die Leben der beiden Frauen für immer verändern wird.

Vor der atmosphärischen Kulisse Norddeutschlands entfaltet sich in „Die Töchter der Kornmühle“ das Schicksal zweier Frauen und ihrer Familie: wahrhaftig, atmosphärisch und bewegend!

„Mit großer Empathie erzählt Regine Kölpin davon, wie es den Menschen gelingt, trotz aller widrigen Umstände einen Weg zu finden, das Leben zu lieben.“ Wilhelmshavener Zeitung

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Italienischer Flair auf Sylt

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TreibholzTreibholz

Ein Sylt-Krimi

Das Meer schwemmt jede Menge Fragen an

Vor fünf Jahren wurde Sandra Lührsen des Mordes an ihrer Schwiegermutter schuldig gesprochen. Nun stellt sich heraus, dass eine Falschaussage zu dem Urteil führte. Was für ein Skandal! Die vermeintliche Mörderin muss freigesprochen werden und kehrt nach Sylt zurück. Wie zu erwarten, überschlagen sich die Spekulationen der Sylter – Mamma Carlotta jedenfalls steht auf Sandras Seite, welch schreckliches Schicksal die Arme durchleiden musste! Doch wer ist der wahre Mörder ihrer Schwiegermutter? Genau das soll Kommissar Erik Wolf jetzt herausfinden; kein leichtes Unterfangen nach so langer Zeit. Er ahnt natürlich nicht, dass es tatsächlich jemanden auf der Insel gibt, der mehr weiß und gute Gründe hat, zu schweigen …

Die Kult-Ermittlerin Mamma Carlotta ist auch in ihrem neuesten Fall wieder auf geheimer Verbrecherjagd und erlebt so manches Abenteuer. 

Mamma Carlottas 17. Fall auf Sylt! Diese Bände der Reihe sind bereits erschienen:

  • Band 1: Die Tote am Watt
  • Band 2: Gestrandet
  • Band 3: Tod im Dünengras
  • Band 4: Flammen im Sand
  • Band 5: Inselzirkus
  • Band 6: Küstennebel
  • Band 7: Kurschatten
  • Band 8: Strandläufer
  • Band 9: Sonnendeck
  • Band 10: Gegenwind
  • Band 11: Vogelkoje
  • Band 12: Wellenbrecher
  • Band 13: Sturmflut
  • Band 14: Zugvögel
  • Band 15: Lachmöwe
  • Band 16: Schwarze Schafe
  • Band 17: Treibholz


Carlotta Capella kochte gern. Vor allem, wenn sie viel Zeit hatte, wenn sie in aller Ruhe einkaufen, Gemüse putzen, sich während des Schnippelns unterhalten oder zumindest mit dem Radiomoderator diskutieren konnte. Das tat sie, wenn niemand da war, der für einen Meinungsaustausch zur Verfügung stand. In ihrem Dorf in Umbrien war sie zwar selten allein, aber häufig war ihre Gesellschaft ein schlafendes Baby oder ein Kindergartenkind, das mit Teigausrollen, Plätzchenausstechen oder Supperühren bei Laune gehalten werden musste. Keine echten Gesprächspartner also, noch ungeeigneter als der Radiomoderator, der genauso wenig auf Carlottas Einwände einging wie ein Kleinkind, aber wenigstens beim Thema blieb.

Auf Sylt war alles anders. Hier fehlte auch oft ein Gesprächspartner, aber vor allem die Zeit, sich in aller Ruhe den Antipasti, dem Primo, Secondo und Dolce zu widmen. Immer musste alles schnell gehen, oft zwischen Tür und Angel, ständig war etwas zu erledigen, in das sich das Kochen manchmal nur mühsam einfügte. Carlotta fragte sich häufig, wie ihre Tochter es früher hinbekommen hatte, neben Eriks aufregendem Beruf noch den Haushalt zu führen. Möglich natürlich, dass Lucia sich nie mit den Fällen ihres Mannes beschäftigt hatte, das war die einzige Erklärung. Aber sich aus einer Sache raushalten, das war nicht Mamma Carlottas Ding. Auch in Panidomino interessierte sie sich für die Arbeit des Dorfpolizisten, erst recht, seit sie regelmäßig nach Sylt fuhr und viel von Polizeiarbeit gelernt hatte. Das hatte sogar Francesco eingesehen, der noch nie in die Lage gekommen war, einen Mord aufklären zu müssen. Ladendiebstahl, Betrug oder üble Nachrede war das Äußerste. Dann holte er gern Carlottas Meinung ein, sie war für ihn so etwas wie eine Expertin geworden. Jemand, der schon bei der Aufklärung von mehreren Morden geholfen hatte, erledigte solche Kleinigkeiten ja nebenbei. Allora … immer hatte es mit der Aufklärung leider nicht geklappt, aber trotzdem hatte Francesco nie an ihren Fähigkeiten gezweifelt. Er wusste dann nur: Was Carlotta Capella nicht herausbekam, konnte man getrost zu den unerledigten Fällen legen, von denen es viele in der Polizeistation von Panidomino gab. Auf einen mehr oder weniger kam es da wirklich nicht an.

An diesem Tag war Mamma Carlotta nervös. Auch das kam in Panidomino selten vor. Aber dass sie kochte, ohne zu wissen, ob und wann jemand hungrig heimkehren würde, das passierte nur auf Sylt und wurde dort sogar nach und nach zur Regel. „Molto noioso!“

Sie strich ihre dunklen Locken aus dem Gesicht, die nach wie vor nur wenige graue Strähnen aufwiesen, und wischte sich über die feuchte Stirn. Obwohl es in der Küche nicht warm war, schwitzte sie. Voller Ingrimm dachte sie an die Worte der mageren Verkäuferin auf dem Markt von Panidomino. Die hatte doch tatsächlich behauptet, dass dicke Leute nun mal mehr schwitzten als dünne. Mamma Carlotta kaufte ihr Gemüse seitdem immer an dem Stand direkt nebenan, um der mageren Verkäuferin zu zeigen, wie unverschämt sie diese Bemerkung gefunden hatte. Sie trug Größe 44! Das war für eine italienische Mamma in ihrem Alter völlig normal. Während ihr Dino gepflegt werden musste und sie gezwungen gewesen war, Tag und Nacht bei ihm zu wachen und ihr Leben mit viel Schokolade erträglicher zu machen, hatte sie Kleidung in Größe 48 gebraucht. Als Witwe war sie dann schlanker geworden und sehr stolz darauf. Und dann kam so eine Verkäuferin … Aber sie wischte diesen Gedanken beiseite. Es gab jetzt Wichtigeres zu tun: ein Essen vorbereiten, das später schnell und ohne Qualitätsverlust aufgewärmt werden konnte. In Panidomino kam das Essen Tag für Tag zur selben Zeit auf den Tisch, und die ganze Familie fand sich immer pünktlich in der Küche ein. Aber die Familie ihrer verstorbenen Tochter war aus den Fugen geraten. Carolin lebte mit einem Mann, vor dem ihre Nonna sie gründlich gewarnt hatte, in Hamburg, und Felix machte zurzeit ein Praktikum bei einem Immobilienmakler, der es mit geregelten Arbeitszeiten nicht so genau nahm. Manchmal erschien Felix pünktlich bei Tisch, mal verspätet, dann wieder gar nicht. Und wenn Erik in einem Kapitalverbrechen ermittelte, wusste man nie, ob er Zeit zum Essen finden würde. Andererseits war es natürlich ein Ding der Unmöglichkeit, dass Erik und sein Mitarbeiter Sören Kretschmer von ihrer schweren Ermittlungsarbeit erschöpft in den Süder Wung zurückkehrten und zu hören bekamen, dass kein Essen für sie bereitstand. Dieses Risiko ging Mamma Carlotta niemals ein. Etwas gekocht zu haben, ohne dass jemand Zeit fand, auch nur einen Löffel davon zu probieren, war zwar höchst ärgerlich, aber doch längst nicht so schlimm wie der Hunger eines Angehörigen, der sich genötigt sah, ihn mit einem Fischbrötchen an einer Straßenecke zu stillen.

An diesem Tag war mal wieder alles unklar. Erik war nach Flensburg gefahren, zu einem Prozess, dem er mit gemischten Gefühlen entgegengesehen hatte. Wann er zurückkommen würde, war völlig offen. Möglich, dass das Essen erst am Abend auf den Tisch kommen konnte. Aber das hatte Carlotta bedacht. Die Mortadellaröllchen lagen schon im Kühlschrank und würden am Abend noch gut schmecken, die Kichererbsensuppe war gekocht und musste nur erhitzt werden, wenn die Familie heimkam, ob mittags oder abends, spielte keine Rolle. Den Schweinerouladen mit den Aprikosen konnte sie, wenn alle am Tisch saßen, noch den letzten Schliff geben, und der Rhabarberkuchen war längst aus dem Ofen geholt worden. Den konnte sie auch servieren, wenn Erik und Sören am Nachmittag zurückkamen und einen starken Kaffee brauchten, zu dem der Rhabarberkuchen gut passen würde.

Sie strich die Mischung aus klein gehackten Aprikosen und angebratenem Speck auf die Rouladen, rollte sie auf und steckte sie mit spitzen Holzstäbchen fest, damit sie nicht auseinanderfielen. Wie mochte dieser Prozess ausgehen? Erik litt sehr darunter, dass an diesem Tag womöglich eine Frau freigesprochen werden würde, die vor fünf Jahren immer wieder ihre Unschuld beteuert hatte. Er war dennoch fest davon überzeugt gewesen, dass sie ihre Schwiegermutter erschlagen hatte, und die Richter waren ebenfalls zu diesem Schluss gekommen. Ein Indizienprozess! Mamma Carlotta hatte dieses neue Wort lange üben müssen, bis es ihr über die Lippen floss.

„Indizien.“

Natürlich war auch „processo indiziario“ kein leichtes Wort, aber das rollte ihr nur so von der Zunge. Klar, für eine echte Italienerin war das eben kein Problem. Aber mit den spitzen Lauten von „Indizien“ hatte sie ihre liebe Mühe gehabt, selbst wenn sie den Sinn des Wortes natürlich sofort verstanden hatte. Gestand ein mutmaßlicher Täter nicht, wurde er manchmal anhand der vorhandenen Indizien verurteilt, sofern sie ausreichten, um von seiner Schuld überzeugt zu sein. Ein Prozess, der immer einen schalen Beigeschmack hatte.

War Sandra Lührsen die Mörderin, oder war sie es nicht? Diese Frage war nach der Urteilsverkündung vor fünf Jahren noch lange gestellt worden, auch wenn Richter und Staatsanwalt von ihrer Schuld überzeugt gewesen waren. Die Frage, ob vielleicht die Falsche ins Gefängnis gegangen war, wurde auf Sylt noch immer gestellt, und jeder hatte eine andere Meinung. Für Mamma Carlotta war es jedoch das Schlimmste, dass Erik sich Vorwürfe machen würde. Hatte er damals gründlich genug ermittelt? Hätte er andere Schlüsse ziehen müssen? Hatte er nichts unversucht gelassen, der Wahrheit auf die Spur zu kommen? Sie wusste, dass ihn keine Schuld traf, aber er selbst zweifelte, seit der Ehemann der verurteilten Mörderin gestorben war und einen Brief hinterlassen hatte, der alles infrage stellte …



„Ich muss Sören anrufen“, sagte Erik. „Ich hab’s versprochen.“

Tilla drückte seine Hand. „Ich warte auf dich.“

Erik zog sein Handy aus der Gesäßtasche seiner Jeans und ging vom Gerichtssaal auf den Flur. Dort hatte er es endlich geschafft, das Smartphone in der Hand zu halten. Die Jeans war einfach zu eng. Hatte er etwa zugenommen? Oder sich von einer Verkäuferin beschwatzen lassen, die nicht eingesehen hatte, dass für ihn eine Jeans nicht nur gut sitzend, sondern vor allem bequem sein musste? Eine Fensterscheibe auf der anderen Seite des Flurs warf sein Spiegelbild zurück. Erschrocken zog er den Bauch ein. Scheinbar war er tatsächlich dicker geworden. Erik seufzte. Er musste endlich Sport treiben! Wie lange nahm er sich das schon vor?

Als er durch die offene Tür zurückblickte, sah er, dass die Staatsanwältin auf den Richtertisch zutrat und den Vorsitzenden begrüßte. Er war ein Studienfreund von ihr, die beiden hatten schon viele Prozesse gemeinsam hinter sich gebracht, Tilla als Vertreterin der Anklage, er als derjenige, der das Urteil fällte. Erik ließ sich vom Strom der Zuschauer mitreißen, die noch aufgeregt über den Verlauf der Gerichtsverhandlung diskutierten, und ging bis zum Ende des Ganges, wo die Treppe hinabführte bis zu einem Fenster, durch das er auf die Straße blicken konnte. Er holte Sörens Nummer aus dem Speicher und starrte einem Auto hinterher, während er darauf wartete, dass sich sein Mitarbeiter meldete.

Es dauerte nicht lange. „Ist die Verhandlung vorbei, Chef?“

„Ja.“

„Das Urteil wurde aufgehoben?“

„Ja. Sandra Lührsen ist frei.“

Sören seufzte. „Dann geht also alles wieder von vorne los. Fünf Jahre nach der Tat einen Mörder fangen … das wird nicht leicht.“

Erik blickte auf die Uhr. „Ich werde in etwa zwei Stunden zu Hause sein. Die Staatsanwältin wird mit mir kommen. Treffen wir uns im Süder Wung? Meine Schwiegermutter hat sicherlich gekocht.“

„Okay, Chef.“

Erik blieb noch eine Weile am Fenster stehen, das Smartphone in der rechten Hand, als plante er ein weiteres Telefongespräch. Mit der Linken strich er sich seinen Schnauzer glatt, wie er es immer tat, wenn er nachdachte. Er hatte wieder Sandra Lührsens Gesicht vor Augen. Fünf Jahre ihres Lebens waren ihr gestohlen worden, weil ihr Mann auf Rache aus gewesen war! Trotzdem hatte er keinen Hass in ihren Augen gesehen, nur Erleichterung.

Erik zog den Bauch ein, schob den Bund seiner Hose etwas tiefer, wo er weniger drückte, und nahm sich vor, zu Hause sofort in seine bequemste Cordhose zu steigen, eine, die schon so ausgeleiert war, dass sie ihn nirgendwo kniff und sogar einen Gürtel brauchte, damit sie ihm nicht auf die Füße fiel. Er ging auf die Tür des Gerichtssaals zu, die sich, noch bevor er sie erreichte, öffnete. Tilla trat auf den Flur. Das Lächeln, das über ihr Gesicht ging, als sie ihn sah, wärmte ihm das Herz. Dr. Eva-Mathilda Speck, die Staatsanwältin, der er früher die Fähigkeit zu jedweder Gefühlsregung glatt abgesprochen hatte, freute sich, wenn sie ihn sah. Dass sich diese energische Person auf ihren hohen Stilettos, deren Klack-klack in der ganzen Flensburger Staatsanwaltschaft gefürchtet war, diese attraktive Frau mit dem runden Gesicht und den hochgesteckten blonden Locken, dem knappen dunklen Kostüm mit dem kurzen Rock und der Bluse, die gerade so weit geöffnet war, dass man eine Ahnung von ihrem Dekolleté bekam, ausgerechnet in ihn, den langweiligen Hauptkommissar von Sylt, verguckt hatte, konnte er noch immer nicht glauben. Aber es gab keinen Zweifel. Sie kam zu ihm, hob sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen flüchtigen Kuss. „Es ist Freitag. Ich könnte das Wochenende auf Sylt verbringen.“

Erik freute sich, obwohl ihm schlagartig klar wurde, dass dann wohl aus der ausgeleierten Cordhose nichts wurde. Er griff nach ihrer Hand, während sie auf die Treppe zugingen, die ins Erdgeschoss führte, und lächelte über den vielsagenden Blick einer Gerichtsangestellten, die vermutlich wusste, dass die Staatsanwältin mal ein rotes Tuch für Kriminalhauptkommissar Wolf aus Westerland gewesen war.

„Wir können das Wochenende auch bei dir verbringen“, sagte Erik. „Dann sage ich Sören ab und …“

Er wurde durch eine Stimme unterbrochen, die ihm so vertraut war, dass Tränen in seine Augen schossen, als wäre ihm jemand mit Pfennigabsätzen auf die Zehen getreten.

„Hey, Papa.“

Erik fuhr herum und starrte seine Tochter an. „Carolin!“ Er wollte einen Schritt auf sie zu machen, hatte dann plötzlich Angst, dass sie zurückweichen würde, traute sich mit dem Vorbeugen seines Oberkörpers, ihr entgegenzukommen, und streckte am Ende nur die Arme aus. Als sie an seine Brust flog, als er sie fest an sich drücken und sein Gesicht in ihren Haaren verstecken konnte, rollte ihm tatsächlich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Carolin.“ Hastig wischte er sich über das Gesicht.

Fast zwei Monate war es her, dass sie auf Sylt von einem Augenblick auf den anderen ihre Zelte abgebrochen, zwei Koffer gepackt, ihren Ausbildungsplatz gekündigt hatte und ausgezogen war. Nach Hamburg. Mit einem Mann, der Erik ganz und gar nicht gefiel. Einmal hatte er sie in der winzigen Wohnung besucht, in der sie mit Maximilian lebte. Er war erschrocken gewesen, mit wie wenig sie sich zufriedengab, hatte seine Sorge nicht verbergen können, als er hörte, dass sie ihr Geld als Kellnerin verdiente, bis in die tiefe Nacht in einer Kneipe arbeitete und anschließend mit Maximilians Fahrrad nach Hause fuhr, damit sie schneller war als die Betrunkenen, von denen sie belästigt werden konnte. Sein Versuch, sie wieder nach Sylt zu holen, sein Angebot, bei ihrem Ausbilder, dem Hotelier, vorzusprechen und ein gutes Wort für sie einzulegen, hatte nicht gefruchtet. Nicht einmal sein Angebot, sie finanziell zu unterstützen, hatte sie angenommen. Und als er es nicht geschafft hatte, seine Antipathie gegen Maximilian Witt zu verbergen, als er dem jungen Mann sogar vorgeworfen hatte, die Zukunft seiner Tochter aufs Spiel zu setzen, hatte sie ihn gebeten zu gehen. Sie hatte ihn zum Abschied nicht umarmt, ihm nicht einmal die Hand gereicht, ihn nur gebeten, sie künftig in Ruhe zu lassen und mit guten Ratschlägen zu verschonen.

Und nun stand sie mit einem Mal vor ihm, sehr erwachsen, sehr selbstbewusst, und er durfte sie in die Arme nehmen. Sein Glück kannte keine Grenzen. Erst als er den jungen Mann bemerkte, der noch in der Tür des Gerichtssaals stand, hatte es mit seiner Euphorie schlagartig ein Ende. Er ließ Carolin los und sah ihr lange ins Gesicht, ehe er bereit war, Maximilian Witt zur Kenntnis zu nehmen, der nun zu ihnen trat.

„Guten Tag.“

Erik riss sich zusammen und zwang sich, Maximilian Witt die Hand zu reichen. „Guten Tag.“

Einen Augenblick sah es so aus, als wollte der junge Mann seine Hand ausschlagen, aber dann erwiderte er doch Eriks Händedruck. Als er Tilla begrüßte, deutete er sogar eine kleine Verbeugung an. Dann sagte er zu Eriks großer Erleichterung zu Carolin: „Wir sehen uns“, und lief die Treppe hinab.

Carolin, die als fremde junge Frau auf ihren Vater zugekommen war, wurde in Sekundenschnelle wieder Eriks kleines Mädchen. Sie war schlanker geworden, ihr Gesicht schmaler, sie sah blass aus, als bekäme sie wenig Schlaf. Aber Erik hütete sich, dazu etwas zu sagen, und nickte eifrig, als Tilla seiner Tochter ein Kompliment machte: „Du bist in den beiden Monaten ja richtig erwachsen geworden!“

Carolin hatte Maximilian nicht nachgeblickt. „Ich dachte mir, dass ich dich hier treffen würde. Deswegen habe ich keine Zugfahrkarte gekauft.“

Erik brauchte einen Moment, bis er begriff, was sie sagen wollte. „Du kommst mit nach Sylt?“

Sie nickte lächelnd. „Die Nonna ist auch da, das trifft sich gut.“

„Das weißt du?“

Ihr Lächeln vertiefte sich. „Sie ruft mich natürlich ständig an und will wissen, ob ich genug esse, ausreichend Schlaf bekomme und Freunde gefunden habe. Und natürlich, ob Maximilian nett zu mir ist und ob ich genug Geld habe.“

All das hätte Erik auch gerne gewusst, aber im Gegensatz zu seiner Schwiegermutter hatte er nie den Mut gehabt, Carolin anzurufen und ihr solche Fragen zu stellen. Jetzt hatte er auch nicht den Mut, sie zu fragen, warum sie mit nach Sylt fahren wollte. Ging es ihr um einen Besuch zu Hause? Oder wollte sie etwa …? Nein, diesen Gedanken verbot er sich. Er war zu schön. Erik würde nur schrecklich enttäuscht sein, wenn er zu hören bekam, dass sie selbstverständlich nur ein, zwei Tage auf Sylt sein wolle und dann wieder nach Hamburg zurückkehren würde.

Tilla hatte jedoch keine Scheu, Carolin zu fragen: „Was ist mit deinen Koffern? Oder bist du etwa ohne Gepäck gekommen?“

Carolins Gesicht verschloss sich prompt. „Mein Rucksack steht in der Garderobe. Ich durfte ihn nicht mit in den Gerichtssaal nehmen.“ Ihr Blick wurde angriffslustig. „Ich brauche ja nicht viel. Oder habt ihr meine Klamotten, die noch in meinem Schrank sind, etwa verkauft?“

Es sollte vielleicht wie ein Scherz klingen, aber Erik konnte nicht darüber lachen. Carolin wusste ja nicht, wie oft er heimlich in ihr Zimmer ging, ihren Schrank öffnete und die Kleidung anstarrte, die dort noch auf den Bügeln hing und in den Fächern lag. Und er war zufrieden gewesen, als seine Schwiegermutter nach ihrer Ankunft auf Sylt Carolins Bett frisch bezogen und ihr Zimmer geputzt hatte, als sollte alles für die Rückkehr ihrer Enkelin bereit sein.

Als sie die Treppe hinabstiegen, erklärte Carolin: „Maximilian will eine Reportage über die Frau schreiben, die fünf Jahre unschuldig im Knast gesessen hat. Aber er hat noch zwei andere Aufträge. Deswegen soll ich für ihn nach Sylt fahren und alle Fakten zusammentragen, die er braucht. Jetzt, wo sie freigesprochen wurde, kehrt sie sicherlich nach Sylt zurück. Ich will versuchen, ein persönliches Interview mit ihr zu führen. Es ist doch total spannend zu erfahren, wie eine Frau sich fühlt, die jahrelang dachte, sie müsste den Rest ihres Lebens hinter Gittern verbringen, obwohl sie nichts Böses getan hat.“

Aus dem Glück, das Erik bis zu diesem Moment vorgekommen war wie ein großer Berg Zuckerwatte, lösten sich einige Fetzen und flogen davon. Carolin kam also nicht wegen ihrer Familie nach Sylt, nicht, weil sie Sehnsucht hatte und alle gerne wiedersehen wollte, sondern nur, um Maximilian einen Gefallen zu tun. Sobald sie alles recherchiert hatte, was er wissen wollte, würde sie nach Hamburg zurückkehren, damit er aus dem, was sie zusammengetragen hatte, eine Reportage machen konnte.

„Wirst du es schaffen, den richtigen Mörder zu finden?“, fragte Carolin.

„Das ist schwer nach fünf Jahren“, antwortete Erik vage. „Mal sehen …“

Kalte, feuchte Luft schlug ihnen entgegen, als sie aus dem Gebäude traten. Zum Glück stand der Wagen auf dem Parkplatz des Gerichts, nur ein paar Schritte vom Eingang entfernt. Carolin warf ihren Rucksack in den Kofferraum und machte es sich auf dem Rücksitz bequem, als wäre es nicht zwei Monate, sondern erst einen Tag her, dass sie dort gesessen hatte. Erik merkte, dass seine Hände zitterten, als er den Wagen startete und zurücksetzte. Diesmal verließ er sich nicht auf die Ansicht, die ihm der kleine Bildschirm seines Autos zeigte, sondern drehte sich um und schaute nach hinten, weil er dann auch Carolin im Blick haben konnte. Sie trug ihre Haare anders, fiel ihm jetzt auf, nur noch kinnlang, mit einem gefransten Pony, der ihr bis in die Augen reichte, sodass sie ihn oft zurückpusten musste. Sie schaute ihn nicht an, starrte auf Tillas Hinterkopf, als dächte sie darüber nach, ob sie die Staatsanwältin akzeptieren wollte, obwohl sie nicht zur Familie gehörte. Dann begann sie, an den Schnallen ihres Rucksacks zu nesteln, als hätte sie einen Entschluss gefasst, den sie nicht zu erkennen geben wollte. Erik setzte so weit wie möglich zurück, dann sah er wieder nach vorn, stellte aber den Rückspiegel so ein, dass er Carolin im Blick behielt. Er wollte, dass sie auf Sylt blieb! Er wollte sie nicht wieder zurück nach Hamburg lassen. Er wollte nicht, dass ihr Maximilian Witt wichtiger war als ihre Familie. Mit aller Macht wollte er, dass wieder alles so wurde wie früher.

Tilla legte die linke Hand auf seinen Schenkel, ganz leicht, er spürte nur ihre Fingerspitzen. Aber er wusste, dass sie seine Gedanken erahnte. Und sie wollte ihm sagen, dass er geduldig sein musste. Auf keinen Fall durfte er Carolin bedrängen.


3

Sie hatten Glück. Von Flensburg bis Niebüll brauchten sie keine Stunde, und als sie an der Verladestation ankamen, dauerte es nur zehn Minuten bis zur Abfahrt des nächsten Autozugs. Die Ladefläche war nicht voll, im November war keine Saison. Erik stellte die Rückenlehne zurück, Tilla und Carolin schnallten sich ab, als der Zug das Festland verließ und auf den Hindenburgdamm fuhr. Es war ein sonniger, wenn auch kalter Tag. Eine silbrige Wintersonne wurde von schleierhaften Wolken garniert, die den ganzen Himmel überzogen, ohne ihm sein Blau zu nehmen. Das Wasser stieg, die Flut war aber noch von ihrem Höhepunkt entfernt. Kleine, muntere Wellen sprangen auf den Damm zu, als wollte eine die andere überholen, um als erste zu dem Zug zu kommen, der Richtung Sylt fuhr.

Erik genoss es, Carolin auf dem Rücksitz zu wissen, und die Frage schoss durch seinen Kopf, ob es ihm lieber wäre, sie säße auf dem Beifahrersitz und er könnte allein mit ihr sein. Aber ihm wurde schnell klar, dass die Überfahrt dann schwieriger würde. Er sollte froh sein, dass er nicht in Versuchung kommen würde, Carolin nach ihren Zukunftsplänen zu fragen. Das war viel zu früh. Seine Tochter würde sich nur wieder in die Familie einfügen, wenn ihr die Rückkehr leicht gemacht wurde. Und dabei half die Anwesenheit der Staatsanwältin.

Erik seufzte auf. „Hätte ich damals merken müssen, dass Sandra Lührsen unschuldig war?“

Die Frage hatte er an Tilla gerichtet. Sie nahm den Kopf nicht von seiner Schulter, während sie antwortete: „Wie denn? Es gab keinen Grund, der Aussage des Ehemanns nicht zu vertrauen.“

„Er hat eiskalt gelogen“, sagte Carolin, und Erik war froh, dass sie ihn von jeder Schuld freisprach. Er hatte tatsächlich Angst davor gehabt, dass sie ihm vorwarf, daran schuld zu sein, dass Sandra Lührsen fünf Jahre unschuldig im Gefängnis gesessen hatte.

„Weil sie ihn eiskalt betrogen hat“, meinte Tilla. „Sie kann froh sein, dass er so früh verstorben ist. Sonst hätte sie noch länger gesessen.“

„Was hatte er?“, fragte Carolin. „Krebs?“

Erik nickte. „Magenkrebs. Er wusste wohl ziemlich bald nach der Diagnose, dass er nicht lange überleben würde, und hat den Brief rechtzeitig geschrieben.“

Jetzt setzte Tilla sich aufrecht hin. „Ein starkes Stück.“ Sie zupfte ihren Rock zurecht und kontrollierte den Knopfverschluss ihrer Bluse, als ginge es darum, in die Rolle der Staatsanwältin zu schlüpfen und gut gekleidet zu sein, wenn sie die Anklage vorlas. „Als ihr Mann damals die Aussage gemacht hat, muss sie gewusst haben, dass er sie ans Messer liefern wollte. Und auch, warum.“

„Ich weiß noch, dass sie ihren Mann angeschrien hat.“ Erik schüttelte sich, als er sich an die Szene im Gerichtssaal erinnerte. „Du lügst! Warum lügst du? Willst du mich loswerden?“ Er senkte seine Stimme. „Man hat sie aus dem Saal gebracht, weil sie nicht aufhörte zu schreien und zu toben.“

Tilla blieb sachlich. „Aber sie hat nicht erwähnt, dass sie einen Geliebten hatte? Dann hätte sie Jesko vor Gericht unterstellen können, dass er sich an ihr rächen wollte.“

Erik schüttelte den Kopf. „Vermutlich ist sie davon ausgegangen, dass ihr das mehr schaden als nützen könnte. Wahrscheinlich hat sie auch nicht gewusst, dass er ihr längst auf die Schliche gekommen war. Sie hatte Angst, etwas auszuplaudern, was niemand ahnte. Und wenn er sich unwissend gestellt hätte, wäre seine Aussage weiterhin glaubwürdig gewesen.“

„Aber schlimmer, als es dann gekommen ist, hätte es für sie nicht werden können.“

„Als das Urteil gesprochen war, konnte sie nichts mehr machen.“ Es blieb eine Weile still im Auto, bis Erik leise fragte: „Hätten wir das erkennen können?“

„Du hast nicht gewusst, dass sie einen Liebhaber hatte. So konnte auch keiner auf die Idee kommen, dass ihr Mann sich rächen wollte. Es gab mehrere Zeugen, die übereinstimmend erklärt haben, dass Jesko Lührsen seine Frau sehr geliebt hat. Er hat viel für sie getan und sie immer gegen seine Mutter verteidigt. Als sie wegen eines Rückenleidens nicht mehr arbeiten konnte, hat er Schulden aufgenommen und ihr ein Atelier gebaut. Sie wollte dann ja Malerin werden. Sie soll schon als junges Mädchen gern gemalt haben. Aber in ihrem Elternhaus gab es selten Geld für so was wie Farben und gute Pinsel.“

„Hat sie jemals ein Bild verkauft?“, fragte Carolin neugierig.

Erik zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber sie hat Zeichenkurse gegeben, um ein bisschen Geld zu verdienen.“

„Eine erfolglose Künstlerin zeigt anderen, wie man erfolgreich malt?“ Tillas Stimme war voller Spott.

„Ihre Kurse waren bei Touristen wohl sehr beliebt. Vor allem die Aktmalerei. Vielleicht versteht sie ja wirklich etwas von der Sache, ich weiß es nicht.“ Erik wischte dieses Thema unwirsch aus der Luft. „Jedenfalls gab es für niemanden einen Zweifel, dass Jesko Lührsen in seine Frau geradezu vernarrt war. Das hat jeder betont, der das Ehepaar kannte. Dass er ihr derart schaden könnte, hat niemand für möglich gehalten.“

Carolin beugte sich zwischen den beiden Sitzen nach vorn. „Das gibt eine tolle Story. Hoffentlich kann ich mit ihr reden. Kennt ihr den Namen des Liebhabers?“

Erik war erleichtert gewesen, dass er während der kurzen Verhandlung nicht genannt worden war, obwohl Jesko Lührsen ihn in seinem Brief erwähnt hatte. Aber da die Verhandlung öffentlich gewesen war, hatte der Richter den Brief nicht Wort für Wort vorgelesen.

„Der Name ist unbekannt“, antwortete Erik und merkte, dass Tilla fast unmerklich nickte. Sie war also auch der Ansicht, dass Carolin diesen Namen nicht erfahren sollte. Das fehlte noch, dass er Maximilian Witt zu einer Story verhalf, in der er eine Sensation verkündete, die den nächsten Prozess wegen Rufmords nach sich zog. Er kannte diesen Kerl doch! Der würde nicht erst herausfinden wollen, ob eine Behauptung der Wahrheit entsprach. Der würde den Namen des Liebhabers raushauen, auch wenn er damit eine Ehe zerstörte und einen Mann verunglimpfte.

4 

Sören Kretschmer kam als Erster im Süder Wung an, mit rosigen Wangen und aufgeplusterten Haaren, als er die Mütze vom Kopf gezogen hatte. Er war knapp dreißig Jahre alt, durchtrainiert und schlank. Wer allerdings nichts anderes als sein kugelrundes Gesicht sah, konnte ihn für untersetzt halten, denn es war dick und apfelbäckchenrot. Mamma Carlotta hätte ihm die schütteren blonden Haare am liebsten geglättet, die um seinen Kopf herum abstanden wie das Gefieder eines Gänsekükens. Sie hatte das Klappern seines Schlosses gehört, mit dem er sein Rennrad am Gartenzaun befestigte, und riss schon die Tür auf, kaum dass die Melodieklingel mit dem Donauwalzer begonnen hatte. Kükeltje, die rabenschwarze Katze der Wolfs, stolzierte die Treppe herunter, um nachzusehen, wer zu Besuch kam, hatte sich aber längst damit abgefunden, dass sie selten als Erste die Tür erreichte. Gegen Mamma Carlottas Tempo kam selbst eine gesunde Katze in besten Jahren nicht immer an.

„Buon giorno, Sören!“ Carlotta stieß die Küchentür auf und schob den Mitarbeiter ihres Schwiegersohns hindurch. „Siediti! Nehmen Sie Platz, Sören! Un espresso? Un acqua minerale? Enrico ist noch nicht da.“ Während sie darüber lamentierte, dass es für eine Köchin sehr unangenehm sei, nicht zu wissen, wann die Familie zu erwarten war, die dann aber, wenn sie heimkam, den Anspruch hatte, sofort beköstigt zu werden, gelang es Sören nicht, sie zu unterbrechen. Erst als er ein Glas vor sich stehen hatte und die Schwiegermutter seines Chefs ihm einen Limoncello eingoss, obwohl er eigentlich um einen Espresso hatte bitten wollen, schaffte er es zu sagen: „Er muss bald kommen. Die Staatsanwältin auch.“

Dem Wirbel, der auf seine Worte folgte, entzog er sich, indem er sich ausgiebig dem Limoncello widmete. Ein weiteres Gedeck musste her! Carlotta hatte ja keine Ahnung gehabt, dass die Staatsanwältin mitkommen würde! Hoffentlich reichte das Essen! Sie würde gleich die Anzahl der Mortadellaröllchen überprüfen müssen! Und wie gut, dass sie immer ein oder zwei Schweinerouladen mehr machte, als es der Personenzahl entsprach! „Dio mio!“

Bei solchen Gelegenheiten vermied Sören es, die Schwiegermutter seines Chefs zu beobachten. Ihm wurde dann immer ganz schwindelig. Dieses Tempo! Und diese Lautstärke! Manchmal war er schon versucht gewesen, sich die Ohren zuzuhalten, aber sein Taktgefühl hatte es ihm bisher verboten, so deutlich zu zeigen, wie sehr ihn ihre schrillen Schreie erschreckten, die sie häufig, und nach Sörens Meinung fast immer grundlos, ausstieß.

So wie in diesem Augenblick. Mamma Carlotta war zum Fenster gegangen, weil sie gehört hatte, dass ein Auto vorgefahren war. Zufrieden hatte sie festgestellt, dass es tatsächlich Eriks Wagen war, und wollte sich gerade umdrehen, um zur Tür zu gehen – da kam dieser Schrei. Sören fuhr zusammen, das Glas rutschte ihm aus der Hand. In dem Bemühen, es nicht auf die Erde fallen zu lassen, griff er nach und erwischte es direkt über seinem Knie, wo es sich entleerte, sodass Sören nun mit einer Jeans dasaß, die mit klebrigem Gelb bekleckert war. Menschen mit Fantasie würden bei diesem Anblick mit Würgereiz zu kämpfen haben.

Entsetzt sah er Mamma Carlotta an und wartete auf eine Erklärung, zum Beispiel dass sein Chef von der Bremse gerutscht war und den neuen Wagen eines Nachbarn gerammt hatte, dass ein Radfahrer in die geöffnete Tür gerauscht war oder eine Möwe tot vom Himmel gefallen war, direkt in das hochgesteckte Haar der Staatsanwältin. Aber Mamma Carlotta schluchzte nur den Namen ihrer Enkelin, taumelte zur Haustür und gebärdete sich dort wie jemand, der einen Angehörigen empfing, nachdem er jahrelang in Grönland verschollen gewesen war.

Mamma Carlotta riss Carolin an ihre Brust, die offenbar nichts anderes erwartet hatte und sich wehrlos der Umarmung ihrer Nonna ergab. Als sie sich daraus löste, war zu erkennen, dass sie ihr sogar gefallen hatte. „Hey, Nonna.“

Sie wurde mit einem Schwall italienischer Liebkosungen übergossen, die Jacke wurde ihr vom Körper gerissen, als sei sie selbst nicht in der Lage, sie auszuziehen, dann wurde sie in die Küche geschoben und lächelte, als sie Sören sah. „Hey.“ Sie krauste die Stirn und blickte auf seine Jeans. „Was ist das? Eiter? Igitt!“

Sören erlaubte sich den Scherz, erst zu nicken und dann mit dem Zeigefinger über das klebrige Gelb zu fahren und ihn abzulecken.

„Iiiii!“, kreischte Carolin.

Ihre Oma kreischte vorsichtshalber mit und erkundigte sich erst anschließend, warum ihre Enkelin sich ekelte. Als sie hörte, dass Sören gelber Eiter auf der Jeans klebte, stürzte sie sich auf ihn, um ihn zu untersuchen, während sie in kürzester Kurzform einen Großonkel erwähnte, der Tage vor seinem Ende aus einer Körperöffnung geeitert hatte, die unmöglich beim Namen genannt werden konnte. Dann erst war es Sören gelungen, den Irrtum richtigzustellen, woraufhin noch einmal gekreischt wurde, diesmal vor Empörung.

Carlotta hörte, wie Tilla leise zu Erik sagte: „Das liebe ich so an deiner Familie.“

Erik antwortete nicht, was auch gut war, denn Zustimmung wäre sicherlich nicht über seine Lippen gekommen.

Als endlich alle am Tisch saßen und die Mortadellaröllchen in der Mitte prangten, fiel Mamma Carlotta auf, dass Carolin lediglich einen Rucksack dabeihatte, also offenbar nicht die Absicht hegte, wieder am Süder Wung einzuziehen. Das dämpfte ihre Euphorie gewaltig. Dennoch schaffte sie es, diesen Umstand unkommentiert zu lassen, nahm sich aber vor, die Zeit, die vor ihr lag, mochte sie auch noch so kurz sein, gründlich zu nutzen, damit das Kind daran erinnert wurde, wie wunderbar es war, zu Hause zu sein und sich verwöhnen zu lassen.

Momentan sah es wirklich so aus, als genösse Carolin den Küchentisch und die Anwesenheit derer, die neben ihr saßen. Dass Felix ein Praktikum bei einem Immobilienmakler machte, fand ihren Beifall. „Dann lernt er endlich mal, was Arbeit ist.“

Diese Aussage fand ihre Großmutter bemerkenswert, der es jedoch wiederum gelang, sich eines Kommentars zu enthalten. Offenbar hatte Carolin eine neue Einstellung zur Erwerbstätigkeit bekommen, seit sie sich mühsam mit Kellnern über Wasser hielt.

Carolin wandte sich an ihren Vater. „Du kennst doch die Adresse von Sandra Lührsen? Gibst du sie mir, damit ich sie wegen des Interviews fragen kann?“

Erik sah aus, als würde er Carolin jeden Wunsch erfüllen, sofern er in der Lage dazu war, aber dann ging ihm wohl auf, dass er damit auch Maximilian Witt einen Wunsch erfüllte. So fiel seine Zustimmung verhalten aus. „Lass ihr Zeit“, meinte er. „Wer weiß, ob sie überhaupt wieder nach Sylt zurückkommt. Könnte ja auch sein, dass sie von der Insel die Nase voll hat.“

„Aber ihr Haus steht hier“, warf Carolin ein. „Wo soll sie sonst hin?“

Erik zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hat sie Verwandte oder Freunde, die sie für eine Weile aufnehmen. Jedenfalls bis Gras über die Sache gewachsen ist.“ Seine Miene wurde anzüglich. „Ich könnte verstehen, wenn sie sich vor Zeitungsleuten erst mal in Sicherheit bringen will.“

Carolin wollte sich gerade an die Verteidigung aller Journalisten machen, insbesondere eines Journalisten namens Maximilian Witt, aber die donnernd ins Schloss fallende Haustür hielt sie davon ab. Felix erschien in der Küche und begrüßte seine verloren gegangene Schwester hocherfreut.

„Lässt du dich auch mal wieder bei uns blicken?“ Er umarmte sie fest, was seit seiner Konfirmation nicht mehr vorgekommen war. „Mensch, Caro! Wurde aber auch Zeit!“ Mannhaft versuchte er, sich seine Rührung nicht anmerken zu lassen, sondern warf sich auf einen Stuhl und konzentrierte sich auf die Mortadellaröllchen. „Bleibst du hier?“, fragte er so beiläufig wie möglich.

Es entstand eine Pause, so lange wie ein Atemanhalten. Alle warteten auf Carolins Antwort, dann machte jeder aus der Tatsache, dass sie nicht kam, das, was ihm am besten gefiel. Mamma Carlotta war sicher, dass Carolin sich noch keine Blöße geben wollte und erst allmählich damit herausrücken würde, dass sie sich nach ihrer Familie sehnte. Ein Blick in Eriks Gesicht zeigte ihr, dass er skeptischer war, während Tilla und Felix ihr Bestes gaben, so zu tun, als wüssten sie nicht, wovon die Rede war. Und Sören kratzte an den Limoncello-Flecken auf seiner Jeans herum. Er zog sich immer raus, wenn die Probleme familiär wurden.

Carolin antwortete schließlich mit einem Themenwechsel. „Was wäre aus Sandra Lührsen geworden, wenn ihr Mann gesund geblieben wäre?“

Erik zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hätte er sich irgendwann besonnen und die Wahrheit gesagt. Vielleicht hätte sich Sandra Lührsens Unschuld aber auch nie herausgestellt.“

„Jesko Lührsen hätte ja auch einen Autounfall haben können“, warf Felix ein. „Oder einen Herzinfarkt. Tot von jetzt auf gleich! Dann hätte er keine Gelegenheit mehr gehabt, diesen Brief zu schreiben.“

Mamma Carlotta griff sich ans Herz. „Che fortuna! Fünf Jahre unschuldig im Gefängnis ist ja schon schrecklich genug.“ Sie wusste, dass es problematisch war, eine konkrete Frage zu Eriks Fall zu stellen. Dann reagierte er meistens ungehalten und gab ihr mehr oder weniger deutlich zu verstehen, dass sie sich in seine Arbeit nicht einmischen solle und sie das Ganze sowieso nichts anging. Deswegen richtete sie ihre Frage vorsichtshalber an die Staatsanwältin. „Wie war das mit dem Brief, Tilla?“

Die Staatsanwältin gab bereitwillig Auskunft. Der Brief von Jesko Lührsen war in seinem Nachlass gefunden worden. Auf dem Umschlag hatte die Anschrift des Gerichts gestanden und der Name des Richters, der Sandra Lührsen vor fünf Jahren zu lebenslanger Haft verurteilt hatte. Der war erschüttert gewesen, als sich herausstellte, dass Jesko Lührsen seine Frau mit seiner Aussage schwer belastet hatte. So schwer, dass der Richter von Sandra Lührsens Schuld überzeugt gewesen war. „Erik auch, und ich ebenfalls. Aber es war eine Falschaussage gewesen, um Sandra Lührsen zu schaden!“ Nun aber hatte Jesko Lührsen in seinem letzten Brief, der nach seinem Tod gefunden wurde, bekannt, dass er seine Frau für ihre Untreue hatte bestrafen wollen. Als seine Mutter Witta Lührsen ermordet wurde, hatte Jesko gerade herausbekommen, dass seine Frau ihn schon lange betrog. Und er rächte sich, indem er dafür sorgte, dass Sandra ins Gefängnis kam. Er hatte eine falsche Uhrzeit genannt, zu der sie angeblich an jenem verhängnisvollen Abend heimgekommen war, und behauptet, er habe beobachtet, wie sie sich Blut von den Händen wusch. Das war eine glatte Lüge gewesen. Da vor allem Jeskos Aussagen zu der Verurteilung geführt hatten, musste natürlich ein Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet werden. „Nun geht alles wieder von vorne los“, endete Tilla Speck.

„Madonna!“, stöhnte Mamma Carlotta. „Weiß man überhaupt, ob es stimmt, was dieser Jesko behauptet hat? Hat die Frau ihren Mann wirklich betrogen?“

Sie sprang auf und ging zum Herd, um die Suppe zu erhitzen. Sören folgte ihr mit den Blicken und murmelte: „Das wäre der Gipfel, wenn Jesko Lührsen ein eifersüchtiger Ehemann war, der sich die Untreue seiner Frau nur eingebildet hat.“

„Er hat während des Prozesses kein einziges Mal davon gesprochen, dass seine Frau ihn betrügt“, meinte Erik.

Tilla lachte trocken. „So was gibt kein Mann gerne zu. Das kratzt am Selbstbewusstsein, wenn die Frau einem Hörner aufsetzt.“

Mamma Carlotta ist eine typische italienische Nonna. Die Familie ist ihr Ein und Alles, ihre Kinder stehen für sie immer im Mittelpunkt. Mamma Carlotta hatte keineswegs ein leichtes Leben. Schon mit sechzehn wurde sie schwanger und bekam in kurzer Folge sieben Kinder. Ihre Schwiegereltern wurden pflegebedürftig und später auch ihr Mann schon in jungen Jahren. Ihr Leben hat immer aus viel Arbeit, Schicksalsschlägen und Entbehrungen bestanden. Trotzdem hat sie es genossen und wollte nie ein anderes. Immer war sie mit dem zufrieden und glücklich, was sie hatte. Eine, wie ich finde, bemerkenswerte Eigenschaft. 


Gisa Pauly

Ein liebenswerter Dackel, Sylt und ein Happy End

Blick ins Buch
Pfotenglück – Dackel Max sucht seine große LiebePfotenglück – Dackel Max sucht seine große Liebe

Ein Sylt-Roman

Wo die Liebe hindackelt ... 

Mein Name ist Max – nicht Maxl, wie mein Frauchen behauptet –, und ich muss da mal was loswerden. Mein Frauchen hat einen neuen Freund. Er mag angeblich Hunde, aber gegen mich hat er jede Menge Vorurteile, das rieche ich. Immerhin sind wir uns einig, dass ein Urlaub auf Sylt eine ziemlich doofe Idee ist, noch dazu in einem Wohnwagen auf dem Campingplatz.

Zumindest dachte ich das, bis ich beim ersten Spaziergang über Frauchens Lieblingsinsel meine Jugendliebe Goldie erschnüffelt habe. Ich muss sie wiedersehen! Und wenn ein Dackel sich mal was in den Kopf gesetzt hat, ist das Chaos nicht weit.

Hunde-Freundin und Sylt-Liebhaberin Sina Beerwald erzählt für Fans von „Dackelblick“ und „Herrchenjahre“ von einer ganz besonderen Suche auf Sylt aus Dackel-Perspektive 

"Pfotenglück - Dackel Max sucht seine große Liebe" war auf der Shortlist des Lovelybooks Community Awards und erreichte Platz 22! 

Kapitel 1

Tja, wo fange ich am besten an? Die Geschichte glaubt mir sowieso kein Mensch.

Am besten stelle ich mich erst mal vor. Mein Name ist Maximilian, oder auch Max, aber nicht Maxl, wie mein Frauchen behauptet, und ich muss da mal was loswerden, denn mein Frauchen Ronja verhält sich seit einiger Zeit wie eine Hündin mit Dauerläufigkeit – nicht auszuhalten. Sie ist Mitte dreißig und frisch geschieden.

Und jetzt kommt das Problem – das erste Problem: Ihr neuer Freund mag angeblich Hunde, aber gegen mich als Rauhaardackel hat er ganz schön viele Vorbehalte, das rieche ich.

Aber ausgerechnet dieser Typ musste es sein. Ständig hat sie gejammert, dass sie mit ihren fünfunddrölfzig Jahren keinen neuen Mann mehr findet.

Was für ein Blödsinn. Die laufen doch wie Straßenköter überall frei herum, und schließlich findet ein blindes Korn auch mal ein Huhn. Ich meine, ein blindes Huhn trinkt auch mal ein Korn. Also, es findet einen Hahn. Das Korn, nein, das Huhn.

Wie auch immer. Ich war jedenfalls der festen Überzeugung, dass ein Mann in unser Rudel kommt, der zu uns passt.

Tja, was soll ich sagen. Seit einem halben Jahr gibt es dieses Trostpflaster, also das neue Männchen in Frauchens Leben.

Mausebär heißt er. Das ist ein ziemlich komischer Name für einen Mann, finde ich. Mein letztes Herrchen hieß Stefan, das war wenigstens ein richtiger Name. Er hat in ein anderes Revier gewechselt, wenn ich das zwischen den Tränen meines Frauchens damals richtig verstanden habe.

Ich war ehrlich gesagt froh darüber, dieses Alphatier, genannt Stefan, nicht mehr an der Backe zu haben, weil er mich immer vom Sofa verscheucht und Frauchen an meine Diät erinnert hat. Die hätte er lieber mal selbst einhalten sollen.

Jedenfalls hab ich Frauchens Hand abgeleckt und sie getröstet, so gut ich nur konnte, denn was sich leckt, das liebt sich.

Der Neue wohnt zwar nicht bei uns, und wenn, dann ist er nur abends da, wenn ich schlafe, aber er ist Frauchens neuer Freund und ich bin nicht gefragt worden, ob er in unser Rudel darf. Das nehme ich Frauchen bis heute übel.

Ich mag den Typen nämlich nicht. Ich weiß, Mausebär sieht meinem ehemaligen Herrchen recht ähnlich – er ist groß, hat blaue Augen und seine kurzen dunklen Haare sind so grau gescheckt wie bei einem Mischling oder einem Australian Shepherd. Da steht Frauchen drauf, und er hat immerhin nicht so einen Hängebauch wie mein altes Herrchen, weil er als Fitness-Couch arbeitet, das hat Frauchen ihren Freundinnen stolz erzählt, wobei ich nicht verstehe, was ein Sofa mit Fitness zu tun hat.

Jedenfalls ist dieser Mausebär ein ziemlich ausgeschlitztes Kochohr, denn er behauptet, dass er Hunde mag – das war Frauchen nämlich ganz wichtig. Zudem rieche ich, dass er den Posten des Rudelführers anstrebt – und das geht ja mal gar nicht. Ich hoffe, dass er für Frauchen nur ein Trostpflaster ist, das irgendwann von selbst abfällt, denn am liebsten würde ich alle Register ziehen und ihn wegekeln, aber ich will nicht, dass Frauchen wieder traurig ist und ich den ganzen Tag Tränen ablecken muss. Das ist so ein Reflex bei mir, den ich hasse. Kein Mensch würde freiwillig Salzwasser schlabbern.

Immerhin sind Mausebär und ich uns einig, dass ein Urlaub auf Sylt eine ziemlich doofe Idee ist, so ganz grundsätzlich, auch wenn wir beide die Insel nicht kennen. Das war der Vorteil von meinem alten Herrchen Stefan, der wollte nie weit weg fahren, drum sind wir immer in der Nähe von München geblieben und in die Berge gefahren. An den Fuß der Berge, nicht auf den Berg – dafür war ich ihm sehr verbunden und Frauchen hat sich breitschlagen lassen.

Und trotzdem: Urlaub. Was für ein Unwort. Diese seltsame Angewohnheit der Menschen, mindestens einmal im Jahr für vierzehn Tage das Revier zu wechseln, werde ich nie verstehen. Die Menschen haben doch nicht mehr alle Schränke in den Tassen, ich meine, alle Tassen am Zaun.

Schließlich möchte ich an meine angestammte Laterne pinkeln, jeden Tag auf dieselbe Stelle scheißen, keinen Stress mit unbekannten frei laufenden Artgenossen haben, und vor allem keine kilometerlangen Strandspaziergänge machen, die mir nichts als platte Pfoten und Sand im Maul bescheren. Furchtbar!

Aber nun wollte mein Frauchen ihrem neuen Freund unbedingt ihre Lieblingsinsel zeigen, wo sie schon von Kindesbeinen an Urlaub gemacht hat und ihm mit diesem Überraschungsgeschenk zu seinem Geburtstag beweisen, dass ein Urlaub mit Dackel ganz toll sein kann.

Allerdings hat Mausebär sichtlich keinen Bock auf diese Insel der Reichen und Schönen, aber Frauchen setzt alles daran, ihm und mir den Urlaub schmackhaft zu machen.

Ihm mit der Aussicht auf tolle Entdeckungstouren fernab aller Klischees und mir mit Extra-Futter. Als ob ich bestechlich wäre. Niemals nicht.

Leider glaubt Frauchen auch, dass ich einen Urlaub auf dem Campingplatz ganz toll finden müsse, viel besser als in einem Appartement. Der Meinung sind wohl auch zahlreiche andere Herrchen und Frauchen, denn auf dem Kampener Campingplatz gibt es so viele meiner Artgenossen, dass ich mir vorkomme wie auf einer Brennpunkt-Hundewiese.

Auf Schritt und Tritt eine Begegnung, von der man nie weiß, wie sie endet. Gruselig, ein absoluter Horrortrip.

So empfindet das wohl auch Frauchens neuer Typ, allerdings aus anderen Gründen. Der hat sich unter einem Urlaub in Kampen ein schickes Reetdachhaus und keinen Mietwohnwagen vorgestellt, schließlich sei Kampen für Luxusleben und nicht für Camping bekannt.

Aber in Kampen gibt es tatsächlich einen Campingplatz, und ein Hauch von Luxus weht auch zwischen Chemietoilette und Gemeinschaftsdusche, so jedenfalls Frauchens Meinung.

Seufz. Na ja, ich will Frauchen nicht die Laune verderben – sie hat’s nicht leicht gehabt in letzter Zeit. Ich befürchte jedoch, dass das unter diesen Bedingungen in naher Zukunft nicht besser werden wird.


Kapitel 2

Da gehe ich also am Abend unseres ersten Urlaubstages nichts ahnend mit Frauchen und ihrem neuen Anhang Gassi. Ja, ich gehe mit ihnen Gassi, denn ich bestimme, wo es langgeht und in welchem Tempo.

Ich bin schließlich ein Dackel.

Mit einem Ruck an meiner Leine macht mir Frauchen deutlich, dass sie mit ihrem Liebsten in Richtung Strand gehen will.

Ich nicht.

Ich hasse nichts mehr, als mir stundenlang nach dem Spaziergang die Sandklumpen von den Pfoten zu nagen, nur um anschließend den Sand zwischen den Zähnen zu haben.

Die Menschen haben es gut, die gehen entweder barfuß oder verpacken ihre Füße in diese wohlschmeckenden Schuhe, die ich jedem Kauknochen vorziehe. Alte Welpengewohnheit.

Frauchen zieht mich jedenfalls unerbittlich weiter.

Boah ey, nicht mal in Ruhe die Zeitung lesen darf ich. Wie soll ich denn so jemals von meinen Artgenossen erfahren, was im Revier los ist, wenn ich nicht schnüffeln darf?

Ähm, wo will Frauchen denn jetzt hin?

Ach, wir gehen gar nicht zum Strand, wir steuern diese Uwe-Düne an, die Frauchen als höchste Erhebung der Insel ankündigt.

Na toll. Das ist jetzt wie die Wahl zwischen Trockenfutter mit Rind oder Trockenfutter mit Huhn. Beides zum Kotzen.

„Das soll die höchste Erhebung der Insel sein?“, fragt Mausebär lachend, als wir vor der langen Holztreppe angekommen sind, die auf die Düne hinaufführt.

Also, ich finde den Aufstieg beeindruckend steil.

„Zweiundfünfzig Komma fünf Meter hoch“, grinst Frauchen und streicht sich ihre dichten Haare hinters Ohr, die leicht gelockt sind.

„Die Stelle hinter dem Komma nicht zu vergessen!“, feixt Mausebär.

„Warte mal ab, von dort oben hat man eine grandiose Aussicht über die gesamte Insel – aber wenn du die Uwe-Düne nicht als hoch empfindest, dann dürften die hundertneun Stufen ja kein Problem für dich sein.“ Die braunen Augen meines Frauchens blitzen vor Vergnügen auf.

„Natürlich nicht, ich bin fit.“

Tatsächlich vergeht Frauchen das Lachen, als wir mit dem Aufstieg beginnen. Mir nicht, denn Frauchen trägt mich.

Tja, Ehre, wem Ehre gebührt, aber ich muss zugeben, so einen Luxus hatte ich schon lange nicht mehr. Andererseits bleibt ihr keine andere Wahl angesichts dieser steilen Treppe, und Mausebär scheint gar nicht auf die Idee zu kommen, ihr Hilfe anzubieten, sondern schreitet zügig voran.

Ich genieße den Tragekomfort in vollen Zügen, halte meine Nase in den salzigen Wind und betrachte die Aussicht, die schon auf halbem Weg grandios ist.

Richtung Osten der schwarz-weiße Kampener Leuchtturm, vor dem diese Reetdachhäuser in den Dünentälern liegen, wo Mausebär so gern gewohnt hätte.

Ich blicke zur anderen Seite, wo sich das Meer bis zum Horizont erstreckt – und dann überholt uns ein Border Collie federnden Schrittes und wirft mir einen verächtlichen Blick von der Seite zu.

Diese Schmach kann ich nicht auf mir sitzen lassen.

Ich winsle und winde mich auf Frauchens Arm, sodass sie mich runterlassen muss.

Mausebär dreht sich zu uns um und stemmt seine Hände in die Hüften, die deutlich schmaler sind als seine breiten Schultern. Wenn man ihn so betrachtet, dann hat er doch Ähnlichkeit mit einem Staffordshire Bullterrier, wobei ich in ihm ansonsten einen Australian Shepherd sehe, der mies gelaunt ist, sobald er nicht nach seinen Vorstellungen stundenlang bespaßt wird.

„Was ist denn schon wieder mit deinem Dackel los?“

Schon wieder?, denke ich. Pah, der hat mich noch nicht kennengelernt. Innerlich grabe ich die Säbel aus und rassle mit dem Kriegsbeil.

„Ach, schon gut“, wiegelt Frauchen ab. „Er möchte eben selbst laufen.“

Jawohl, genau das möchte ich.

Exakt drei Treppenstufen weit. Aua, autsch, au. An jeder verdammten Holzkante bleibe ich mit meinem Bauch hängen. Ich trete in den Sitzstreik und jaule herzzerreißend.

„Der Hund weiß auch nicht, was er will“, seufzt Mausebär und rauft sich seine gescheckten Haare. Mir ist so, als wären da plötzlich ein paar graue Strähnen dazugekommen.

Doch, ich weiß sogar sehr genau, was ich will. Zurück auf Frauchens Arm – und zum Glück hat sie schnell ein Einsehen.

Nachdem wir oben angekommen sind und Frauchen wieder Luft bekommt, sagt sie schwärmerisch: „Ist das nicht ein wunderschöner Platz, um den Sonnenuntergang zu beobachten?“

„Allerdings“, stimmt Mausebär sichtlich beeindruckt zu. „Das war eine gute Idee von dir – und ich muss zugeben, diese fantastische Aussicht habe ich wirklich nicht erwartet. Unglaublich, wie weit man die Insel in alle Richtungen überblicken kann. Und was ist jetzt wo?“

Frauchen stellt sich neben Mausebär, legt einen Arm um ihn und streckt den anderen aus, um ihm etwas zu zeigen: „Das da im Norden ist das Dorf List, dort steuert gerade die Fähre von Dänemark den Hafen an, siehst du? Und davor, das Wanderdünengebiet, ist es nicht traumhaft schön?“

„Das ist vor allem ein ziemlich großes Gebiet, wer hätte das gedacht? Eine Wüste inmitten der grünen Heide.“

Ich würde Mausebär am liebsten in die Wüste schicken, der rückt mir definitiv zu nah auf die Pelle. Allein schon sein Geruch – für mich riecht der, als ob er bei einem Stinktier übernachtet hätte – bei einem Stinktier im Käsekeller.

Kann sein, dass ich da befangen bin, aber das ist wirklich unerträglich, ich muss dringend runter von Frauchens Arm, damit ich wieder Luft kriege.

„Was hat dein Hund denn jetzt schon wieder?“, fragt Mausebär und verzieht seinen schmallippigen Mund, der von gestutzten Tasthaaren umsäumt ist. Verstehe ich auch nicht, warum manche Männer sich die entfernen und manche aussehen wie ein Pudel im Gesicht.

Aber es ist doch ganz klar, was ich will, und Frauchen versteht mich zum Glück erneut, und so kommt sie meiner gejaulten Aufforderung sofort nach – ich habe sie eben gut erzogen.

„Maxl will nicht zu lang getragen werden – der hat als Dackel auch seine Würde“, sagt sie lachend und fährt dann nahtlos fort: „Die Wanderdüne macht ihrem Namen übrigens alle Ehre. Ich hab in Vorbereitung auf den Urlaub gelesen, dass sie jedes Jahr so fünf bis zehn Meter Richtung Osten wandert, das heißt, in Richtung Landstraße. Die kommenden Generationen müssen wohl auf einem anderen Weg als heute nach List fahren.“

Mausebär hebt seine kräftigen Schultern zu einer ratlosen Geste. „So viele Möglichkeiten für eine Straßenführung bleiben da wohl nicht übrig. Die Landzunge ist doch ziemlich schmal an der Stelle.“

„Allerdings – am schmalsten ist sie am Königshafen in List. Aber ist es nicht toll, wie man von hier oben das Wattenmeer und die Nordsee zugleich sehen kann?“

Mausebär legt seinen Arm um Frauchens Taille, wo sie ein weißes Jäckchen über ihr sportliches blaues Kleid geknotet hat, zu dem sie ihre weißen Lieblingsturnschuhe trägt.

Ey, das ist mein Revier. Am liebsten würde ich Mausebär ans Bein pinkeln.

„Deine schmale Taille gefällt mir immer noch am besten. Aber ich muss zugeben, Ronja, ich bin von der Aussicht ehrlich beeindruckt. So schön habe ich mir die Insel nicht vorgestellt.“

Mein Frauchen schmiegt sich an seine muskulöse Schulter und zeigt mit einem glückseligen Lächeln in die Gegenrichtung. „Und siehst du den Hörnumer Leuchtturm, ganz im Süden? Selbst die leuchtenden Farben vom Morsum Kliff kann man erkennen. Tja, die Skyline von Westerland ist nicht so schön, aber direkt vor uns liegt das Rote Kliff, da müssen wir morgen zum Sonnenuntergang unbedingt hin. Dort ist es auch traumhaft!“

Rotes Kliff, denke ich. Na super, mal abwarten, wie das mit meiner Rot-Grün-Schwäche aussieht.

„Lass uns den Rotwein aufmachen“, schlägt Mausebär vor und nimmt schon mal auf einer der Holzbänke Platz, die rundum auf der Aussichtsplattform aus grobem Holz gezimmert wurden. „Huch, warum ist denn mein Hosenbein so nass?“

„Vielleicht war die Bank irgendwo feucht?“ Frauchen kommt näher, um Hilfe bei der Ursachenforschung zu leisten.

„Nein, da unten ist alles trocken.“ Mausebär bückt sich und tastet die Stützen der Holzbank ab. „Merkwürdig. Wie komme ich denn zu diesem nassen Hosenbein?“

Ich könnte ihm das ja erklären, denke ich, aber er versteht mich sowieso nicht. In jeglicher Hinsicht nicht.

„Ja, wirklich merkwürdig“, sagt Frauchen kopfschüttelnd. „Aber egal. Lass uns den Sonnenuntergang bei einem schönen Glas Rotwein genießen. Ach, das ist ja so romantisch!“

Jetzt begreife ich. Ich soll meinen Menschen zusehen, wie sie eine gefühlte Ewigkeit lang auf der Bank sitzen und in die Sonne starren, jeder seinen Trinknapf in der Hand.

Dieses Ritual werde ich nie begreifen. Aber bitte, ich will meinem Frauchen ja nicht den Urlaub versauen, also trotte ich an der langen Leine auf der Plattform umher, die Schnauze am Boden. Wenigstens noch ein bisschen die Zeitung lesen.

Hoch erhobenen Hauptes kommt mir der Border Collie vom anderen Ende der Plattform her entgegen. Er reiht sich hinter sein Herrchen ein, hebt das linke Bein und gibt einen zielgerichteten Spritzer in meine Richtung ab. Für das menschliche Auge kaum wahrnehmbar, aber es war ja auch nur ein einziges Wort: Memme.

Grrr. Lautstark knurre ich ihm nach. Leider ist diese verdammte Leine nicht lang genug, ansonsten würde ich dieser arroganten Töle ins Genick springen.

Deshalb schicke ich noch eine Drohgebärde hinterher, als der Collie schon die Stufen hinuntergeht: „Wenn ich dir noch mal begegne, dann gibt’s Tot- und Mordschlag, nur damit du Bescheid weißt!“

„Maxl, was ist denn mit dir los?“, fragt mein Frauchen irritiert und zieht an der Leine. „Komm Maxl, komm her zu mir. Maxl, hierher!“

„Ganz schön aggressiv, dein Dackel, gegenüber anderen Hunden“, stellt Mausebär fest. „Und hören tut er auch nicht.“

In der Tat, denke ich, denn ich sehe rot. Okay, mehr so gelb, vielleicht auch ockerfarben – ach, egal. Diesen räudigen Köter werde ich mir krallen.

„So kenne ich meinen Maxl gar nicht …“, ruft mein Frauchen bestürzt. „Du bist ja noch nie mit uns auf einem Spaziergang gewesen, ansonsten wüsstest du, wie lieb mein Maxl normalerweise ist.“

Stimmt, um einen Spaziergang hat sich Mausebär bislang tatsächlich erfolgreich gedrückt. Überwiegend und liebend gern kam er abends und hat sich in Frauchens Schlafzimmer aufgehalten, während ich in meinem Körbchen Schlaf gesucht habe. Als Musterdackel würde ich mich allerdings wahrlich nicht beschreiben, aber Frauchen wird schon ihre Gründe haben, warum sie das tut. Soll mir ja recht sein.

Eine Sache muss ich gegenüber Frauchen jedoch klarstellen: Ich heiße Maximilian von Großbeeren. Oder schlicht und ergreifend Max. Ist das denn so schwierig? Normalerweise würde ich bellend protestieren, aber Frauchens Stimme klang ziemlich weinerlich, und das ist ein Alarmsignal. Ich will nicht schon wieder Salz lecken.

Also habe ich ein Einsehen, trotte leicht gesenkten Hauptes zu ihr zurück und setze meinen Dackelblick auf. Der wirkt immer.

„Feiner Maxl, fein …“, lobt mich Frauchen und wirft mir ein Leckerli zu.

Sag ich es nicht? Ich schnappe mir das Leckerli und beschließe, mir die Zeit erneut mit Zeitunglesen zu vertreiben und mich nicht mehr aus der Ruhe bringen zu lassen.

Den Tag über war hier ganz schön was los gewesen, stelle ich beim Schnüffeln fest, das ist ja die reinste Nachrichtenbörse. Ich entferne mich so weit, bis die Leine spannt.

Was war das? Ich bleibe abrupt stehen.

„Komm wieder her, Maxl, komm!“ Frauchen zieht noch mehr an der Leine, sodass ich mich dagegenstemmen muss.

Nein, jetzt nicht, jetzt habe ich wirklich was ganz anderes im Kopf. Ich nehme noch ein paar tiefe Schnüffler, die mich zu einem Büschel Dünengras am Rand der Plattform führen.

Das ist nicht die Abendzeitung, auch nicht die Ausgabe von gestern. Hier hat eine Dame eine brandaktuelle Nachricht hinterlassen. Ach, was sage ich, nicht nur eine Nachricht. Ein Epos! Ein Duftwerk der Leidenschaft! Die flammende Geschichte einer großen Liebe!

Okay, der Duft ist etwas reifer im Abgang als ich ihn in Erinnerung hatte, aber ich erkenne ihn wieder. Er ist einzigartig, unvergleichlich, unverkennbar – so wie meine Goldie. Meine Goldie, die schönste aller Golden-Retriever-Hündinnen, meine Jugendliebe! Was macht sie denn auf Sylt? Das gibt’s doch gar nicht. Wo ist sie?

Ich drehe mich bestimmt fünfundzwanzigmal um die eigene Achse und halte dabei Ausschau – so weit mein Dackelblick reicht und bis mir schwindlig ist.

Weit und breit keine Golden-Retriever-Dame. Wie schade, dabei ist die Nachricht noch frisch.

„Maxl, Platz!“, ertönt die strenge Stimme meines Frauchens. „Hör auf, deinem Schwanz nachzujagen! Platz!“

Wenn sie wüsste, wem ich nachjagen will. Ist das dort unten auf dem Dünenweg meine Goldie? Ich jaule und winsle.

„Puh, hast du nicht gesagt, dein Hund sei ganz lieb und überhaupt nicht anstrengend? Da kann man ja nicht mal fünf Minuten lang in Ruhe seinen Wein trinken“, stöhnt Mausebär.

„Maxl, Schluss!“, ruft Frauchen energisch.

Ja, genau, jetzt ist Schluss mit lustig. Ich habe eine Mission.

So ruckartig, wie ich mich losreiße, kann Frauchen gar nicht reagieren.

Es tut mir ja leid, dass sie dabei die Kontrolle über ihren Trinknapf verliert und sich dessen Inhalt über die Jeans von Mausebär ergießt (wobei ich Letzteres nicht bedauere) – aber ich muss Goldie finden.


Kapitel 3

Ich renne die Stufen hinunter – wobei rennen vielleicht nicht der richtige Ausdruck ist. Es ist mehr ein Stolpern, ein schmerzhaftes Aufschlagen mit dem Bauch.

Eine Treppenstufe, die wie ein Katapult wirkt, mein Hintern, der in der Luft hängt, ein Salto. Nein, nicht nur einer, mehrere. Nicht gehockt. Gestreckt. Die Krümmung lässt meine steife Wirbelsäule leider nicht zu. Leider. Anders wäre es mir auch lieber gewesen.

Die Schwerkraft sorgt dafür, dass ich irgendwann am Fuß der Treppe aufschlage und dort wie betäubt liegen bleibe – in Einzelteile zerlegt.

Jedenfalls fühlt es sich so an, als ob kein Knochen mehr an seinem Platz ist. Habe ich überhaupt noch eine Wirbelsäule?

„Maxl! Maxl!“ Erst jetzt nehme ich die Schreie meines Frauchens wahr, und aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sie die Treppe herunterläuft, so schnell sie nur kann. Mausebär hinterher. So langsam er nur kann, ohne dass Frauchen über seine mangelnde Unterstützung verärgert wäre.

Ich will aber nicht wieder auf Frauchens Arm. Ich meine, unter normalen Umständen wäre ich für jegliche Zuwendung dankbar, aber sobald Frauchen mich erreicht hat, kann ich es vergessen, Goldies Fährte zu verfolgen, so viel ist klar.

Ob ich überhaupt aufstehen kann? Vorsichtig bewege ich meine Pfoten – das klappt schon mal. Jetzt die Rute – mit der kann ich wedeln, sehr gut. Meine Nase scheint auch noch intakt zu sein – die ist am wichtigsten, wenn ich Goldie finden will. Danach spielt die Funktion eines anderen Teils die wichtigste Rolle, aber so weit sind wir noch nicht.

Anstelle von Goldie wittere ich jedoch einen meiner Erzfeinde ganz in meiner Nähe, einen Kater, dem Geruch nach ein ziemlich räudiges Exemplar.

Da entdecke ich das schwarze Biest auch schon. Es liegt keine drei Dackellängen von mir entfernt im Dünengras, krümmt sich und gibt seltsame Laute von sich.

Wider Erwarten überfällt mich Mitleid. Ob der Kater auch die Treppe runtergefallen ist? Wobei – landen diese Kreaturen, die nur auf der Welt sind, um uns Hunde in den Wahnsinn zu treiben, nicht immer auf den Füßen?

Jetzt wird mir auch klar, warum dieses Biest so seltsame Töne von sich gibt. Der Kater krümmt sich vor Lachen, japst nach Luft und stellt sein lückenhaftes Gebiss zur Schau. Ihm fehlt ein Auge und mit dem anderen sieht er mich belustigt an, was den stechenden gelben Blick nur bedingt mildert.

„Ihr Dackel seid ja von Haus aus ziemlich beschränkt, aber so ein dämliches Exemplar wie dich habe ich noch nie gesehen. Du kannst ja nicht mal Treppen laufen!“ Vor Lachen kann der Kater nicht weiterreden.

Wut steigt in mir hoch und mobilisiert meine Kräfte. Ich rapple mich auf und knurre: „An deiner Stelle würde ich den Mund halten, damit dir nicht noch mehr Zähne ausfallen.“

Ich schüttle mich, um meine Knochen wieder in die richtige Reihenfolge zu sortieren und setze mich in Bewegung – mit einem beherzten Sprung.

Gerade noch rechtzeitig, um meinem Frauchen zu entwischen, denn die ist bei mir angelangt – also dort, wo ich soeben noch gelegen habe. Ihr Gesicht ist ganz verschwitzt, und eine goldblonde Strähne klebt an ihrer Wange. Oder rührt die Feuchtigkeit von Tränen her?

Nicht darüber nachdenken, befehle ich mir.

Ich muss mich beeilen.

Ich könnte jetzt behaupten, dass ich hocherhobenen Hauptes am Kater vorbeitrabe, aber das wäre ein bisschen übertrieben – aber auch nur ein klein wenig. Nur ein Hauch von der Realität entfernt. Wirklich.

Ein Dackel kennt keinen Schmerz – erst recht nicht, wenn er eine Mission hat.

„Maxl, lauf doch nicht weg! Maxl! O Gott, der Hund hat einen Schock! Maxl, hier!“

Nein, ich habe keinen Schock, ich habe eine Fährte von der Liebe meines Lebens und da ist es ja wohl klar, dass ich spontan taub geworden bin.

Ich beiße die Zähne zusammen und renne um meine Freiheit. Das Rückrufkommando funktioniert bei mir ohnehin nur dann, wenn ich mir einen Vorteil davon verspreche, das sollte Frauchen eigentlich wissen und auch, dass ich schneller bin als sie, selbst in meiner derzeitigen Verfassung als Bruchpilot.

Die Verfolgung von Goldies Spur bringt mich auf einen anderen Weg als den, den wir gekommen sind. Auf dem stapft Mausebär zurück zum Campingplatz, wie ich jetzt sehe, während Frauchen mir weiter hinterherrennt.

Ich gebe Gas, auch wenn jeder Schritt wehtut, aber ich weiß, dass Frauchen schnell die Puste ausgehen wird.

Der Pfad führt mich durch die blühende Heide, doch selbst dieser intensive Geruch ist nichts gegen den betörenden Duft meiner Goldie. Niemals hätte ich geglaubt, sie eines Tages noch mal wiederzusehen. Was haben wir als Junghunde miteinander rumgetollt – uns konnte kein Gartenzaun trennen, denn ich hab gebuddelt wie ein Weltmeister und bin durch den Tunnel zu ihr.

Frauchen hat mit mir geschimpft und den Weg wieder zugeschaufelt, den ich mir zu meiner großen Liebe gebahnt hatte, doch irgendwann musste Frauchen einsehen, dass gegen den Willen eines Dackels keine Schaufel ankommt – erst recht nicht, wenn er sich verliebt hat.

Also stand Frauchen irgendwann nur noch lachend am Zaun und hat sich mit dem Nachbarn, dem Besitzer von Goldie, unterhalten, während wir verliebt miteinander gespielt haben.

Mein Herrchen hat derweil das Revier bewacht und gut aufgepasst, dass der Nachbar nicht in unseren Garten oder gar ins Haus kommt – das schien ihm sehr wichtig zu sein. Jedenfalls war er deutlich entspannter, als Christian plötzlich mit Goldie weggezogen ist – und für mich ist eine Welt zusammengebrochen.

Mittlerweile sind vier Jahre vergangen, aber meine Jugendliebe habe ich nie vergessen. Selbst meinem Herrchen habe ich nicht so hinterhergetrauert, nachdem er das Revier gewechselt hat, ohne uns mitzunehmen. So was macht man nicht.

Das hat Frauchen am Telefon auch zu ihm gesagt und dass er sich nie wieder blicken lassen soll. Mit der Liebe sei es vorbei.

Trotzdem hat Frauchen sehr gelitten und oft „dieses Arschloch hat mich so enttäuscht“ vor sich hingemurmelt, während sie mich mechanisch gestreichelt hat.

Deshalb tut es mir so leid, Frauchen jetzt solchen Ärger zu machen. Dumpf dringen ihre verzweifelten Rufe durch meine Schlappohren – aber ein echter Rüde lässt sich nicht vom Weg abbringen, der zu seiner großen Liebe führt – noch dazu ist Goldie läufig.

Ihr Geruch lässt keinen Zweifel zu. Schon damals hat mich dieses verführerische Bouquet fast um den Verstand gebracht und ich bekam in einer ganz bestimmten Region meines Körpers ein Gefühl dafür, dass es da eine Sache auf der Welt gibt, die noch großartiger ist als ein Kauknochen.

Allerdings war ich noch nicht reif genug, um zu wissen, was man in diesem Fall mit einer Hündin tun muss. Ich hab ganz aufgeregt an ihr geschnüffelt – vorne, hinten, überall – aber wie das so richtig funktioniert, hatte mir mein Instinkt damals noch nicht verraten. Mittlerweile habe ich eine konkrete Vorstellung von dieser Sache, die noch schöner sein muss, als einem Hasen nachzujagen, aber leider keine praktische Erfahrung.

Mit der Jagd schon, da bin ich schneller weg, als mein Frauchen „Hier“ rufen kann, aber von den Hündinnen hat sie mich bislang erfolgreich abgehalten.

Leider. Oder zum Glück. So habe ich mir diesen großen Moment für meine Goldie aufgehoben. Wobei mir angesichts unserer Größenverhältnisse die praktische Umsetzung noch ein Rätsel ist, aber wo ein Wille ist … außerdem habe ich Frauchen erst kürzlich zu Mausebär sagen hören, dass die Größe bei einem Mann doch keine Rolle spiele. Also.

Nur wo ist meine Goldie? Ich bin auf einer Straße angekommen, wo keines dieser vierrädrigen Geschosse fährt, dafür umso mehr davon parken. Dahinter erstreckt sich eine weite Aussicht über die Insel. Nun gut, so weit mein Auge reicht, aber alles, was sich bewegt, kann ich ganz wunderbar in dieser hügeligen Dünenlandschaft erkennen, die zu beiden Seiten vom Meer begrenzt wird. Keine Goldie weit und breit.

Aufgeregt schnüffle ich im Zickzack umher und mit zunehmender Panik sickert mir ins Bewusstsein, dass ich Goldies Spur verloren habe. Vernäht und zugeflixt! Das darf doch nicht wahr sein! Ist sie mit einem der Autos weggefahren?

Planlos renne ich in die nächstbeste Seitenstraße hinein, in der Häuser mit solchen Strohdächern stehen, auf die Frauchen schon auf der Fahrt zum Campingplatz mit großer Begeisterung gezeigt hat.

Also, mal ganz ehrlich, da hat ja meine geliebte Hundehütte ein besseres Dach. Meine Hundehütte, in der ich schon mit Goldie gekuschelt habe, nachdem wir entdeckt haben, dass sie einfach nur über den Zaun springen muss, um mich zu besuchen.

Damals hat Goldie gerade noch so in meine Hütte reingepasst, inzwischen ist sie bestimmt noch gewachsen und ich sollte wohl über einen Ausbau nachdenken.

Ach herrje, da träume ich schon vom Zusammenleben mit Goldie und habe nicht mal mehr ihre Fährte in der Nase.

Oder doch?

Als ich in die nächste Straße einbiege, nehme ich plötzlich wieder diesen süßen Duft wahr – es ist nur ein Hauch, aber darauf reagiert jede Faser meines Dackelherzens.

Eilig gehe ich der Spur nach, die intensiver wird, je näher ich den Lokalen komme, in deren Außenbereich sich die Menschen in kleinen Rudeln um hohe Tische mit Trinknäpfen in der Hand versammelt haben.

Ich muss Goldie finden, bevor Frauchen mich am Wickel hat. Wie von Sinnen laufe ich um die Menschenbeine herum, höre Frauen kreischen, zahllose Hände mit funkelnden Ringen und glitzernden Armbändern fassen nach mir – ich bekomme Panik und schnappe um mich – die können froh sein, dass mir eine Beißhemmung antrainiert wurde. Da bekomme ich die erste Dusche ab. Was ist das denn für ein gelbes Zeug, das stinkt ja erbärmlich. Wenn es der Urin von einem Weibchen wäre, das hätte ich mir ja noch gefallen lassen, aber … weiter kann ich nicht denken, denn ein menschlicher Trinknapf zerschellt direkt neben mir.

Vor Schreck mache ich einen Satz zur Seite und pralle gegen ein Bein – ein Tischbein. Wieder Geschrei. Die nächste Dusche. Nein, diesmal kein gelbes Zeug, ich bin unter einen Wasserfall geraten, einen saukalten Wasserfall, sodass mir fast das Herz stehen bleibt. Dann prasseln auch noch hundenasengroße Eisbrocken auf meinen Kopf.

Aua, autsch, au.

Blindlings flüchte ich mich in die nächste Ecke und remple dabei eine Afghanischen Windhund an, der mich pikiert von oben herab ansieht: „He, du Rüpel, was machst du denn für einen Aufstand? Kannst du dich nicht benehmen?“ Voller Überheblichkeit wirft er die langen, seidenglatten Strähnen vor seinen Augen mit einer knappen Kopfbewegung nach hinten. „Ach, du bist ja ein Dackel. Da wundert mich nichts mehr.“

Ich schlucke die Beleidigung hinunter. „Ich suche Goldie, ein Golden-Retriever-Weibchen. Sie muss hier irgendwo sein. Hast du sie vielleicht gesehen?“

„Ja klar, die war bis vor fünf Minuten noch hier. Hübsches Ding, würde mir auch gefallen, wenn ich noch ein intakter Rüde wäre. Aber an deiner Stelle würde ich vor einem Date erst mal in den Hundesalon gehen. Da macht ja ein begossener Pudel einen besseren Eindruck als du, – außerdem stinkst du wie ein Iltis und wenn …“

Ich lege meine Ohren an, damit ich diesem überheblichen Schönling nicht länger zuhören muss.

Fünf Minuten. Um fünf verdammte Minuten habe ich Goldie verpasst!

Andererseits bedeutet das, dass sie nur fünf Minuten von mir entfernt ist. Eine Minute, wenn ich meinen Jagdantrieb zuschalte. Okay, meinen Knochen zuliebe zwei Minuten, wobei ich vor lauter Vorfreude keine Schmerzen mehr spüre.

Aber vielleicht sollte ich doch vorher in einen Hundesalon?

Ach, was für ein Quatsch! Meine Goldie wird mich so lieben, wie ich bin.

Hoffentlich.

Ich klappe meine Ohren wieder auf und blicke zu dem Windhund hoch, wobei ich meinen Kopf dafür in die Senkrechte legen muss. „Eine Frage noch. Weißt du, in welche Richtung sie gegangen ist?“

Der Beauty-Rüde hebt seine fein gebürsteten Augenbrauen. „Bist du ein Jagdhund oder nicht?“

Ich verziehe die Schnauze. Ich bin in allererster Linie ein Stadthund, der aufgrund der Vielzahl der Düfte lange an einem Burn-out gelitten hat, und noch heute habe ich meine Schwierigkeiten bei der Spurenverfolgung, wenn ich zu aufgeregt bin, wie ich ja vorhin wieder erleben durfte.

Ich recke mich, und bemühe mich, es dem Windhund in seiner stolzen Haltung gleichzutun. „War ja auch nur eine Frage.“

„Du siehst gerade ziemlich dämlich aus“, stellt diese Überheblichkeit auf vier Beinen kopfschüttelnd fest. „Aber ich hätte mal noch eine Frage: Ist diese vor Wut kochende Zweibeinerin eigentlich dein Frauchen?“

Klick.

„Endlich hab ich dich!“, stößt mein Frauchen hervor, und schon nimmt sie mich ruckartig hoch und klemmt mich unter den rechten Arm.

Mit der anderen Hand zieht sie ein Kärtchen aus ihrer Tasche und reicht es dem Mann, der aussieht wie ein Pinguin und eine ebenso unbewegte Miene macht, die trotzdem Bände spricht.

„Ich komme selbstverständlich für alle Schäden auf“, sagt mein Frauchen außer Atem. „Bitte schreiben Sie mir bis morgen die Rechnung. Hier ist mein Personalausweis als Pfand.“

Der Pinguin nickt, und während wir die Terrasse verlassen, entschuldigt sich mein Frauchen nach rechts und links.

Als wir vor dem Lokal angekommen sind, sieht sie mich ziemlich aufgelöst und wütend an. „Meine Güte, Maxl, was ist nur in dich gefahren!“

Reflexartig setze ich meinen Dackelblick auf. „Es tut mir leid, aber bitte, bitte, lass mich runter. Ich habe eine wichtige Mission.“ Ich ziehe alle Register, belle, winsle und jaule. „Ich will doch nur zu Goldie. Sie ist gar nicht weit weg von hier. Bitte.“

Der zornige Gesichtsausdruck meines Frauchens verwandelt sich in Mitleid.

Hurra! Ich wusste es. Es geht doch nichts über einen gekonnten Dackelblick. Der wirkt immer.

„Maxl, mein armer kleiner Kerl. Du hast bestimmt furchtbare Schmerzen. Nicht jaulen, alles wird gut. Nun habe ich dich ja wieder. Ich bringe dich sofort zum Tierarzt. Mal sehen, wer Notdienst hat.“

„Nein, nicht zum Tierarzt!“, schreie ich, und mein Jaulen wird zu einem ohrenbetäubenden Gebell. „Ich will zu Goldie!“

„Schon gut, schon gut, Maxl, wir fahren ganz schnell zum Tierarzt, versprochen!“

Hinter mir höre ich das feixende Kläffen des Laufsteg-Windhunds. „Schon blöd, wenn man so ein kleiner, hilfloser Dackel ist, den man sich unter den Arm klemmen kann.“

Romantik mit Meerblick

Blick ins Buch
Ein neuer Sommer in der kleinen BäckereiEin neuer Sommer in der kleinen Bäckerei

Roman

Die perfekte Lektüre für den Sommer: Jenny Colgans neuer gefühlvoller Frauenroman zum Mitfühlen, Schwelgen und Genießen!
„Ein neuer Sommer in der kleinen Bäckerei“, der 4. Band der Reihe um „Die kleine Bäckerei am Strandweg“, führt alle Fans von  SPIEGEL-Bestsellerautorin Jenny Colgan zurück auf jene idyllische Insel vor der Küste Cornwalls.

Kleine Häuschen in Hellblau oder Zitronengelb, unberührte Natur überall – als Marisa Rossi auf der zauberhaften Insel ankommt, nimmt sie das alles kaum wahr. Seit dem Tod ihres geliebten Großvaters steht sie neben sich. Selbst das Kochen köstlicher italienischer Gerichte, sonst ihre Leidenschaft, ist ihr jetzt zu viel. Hier, am Ende der Welt, will sie sich neu erfinden.

Doch das erweist sich als schwierig, denn ihr Nachbar ist ein attraktiver russischer Klavierlehrer, der lautstark bis in die Nacht komponiert. Nur zaghaft knüpft Marisa neue Freundschaften. So zu Polly, deren kleine Bäckerei am Strandweg dringend neue Ideen bräuchte. Mehr Pep ist gefragt, mehr Leichtigkeit, mehr ... dolce vita?

„Niemand versteht sich so gut auf gemütliche Eskapismus-Romance wie Jenny Colgan“ Sunday Express

Jenny Colgans warmherzige und gleichzeitig erfrischenden Romane um „Die kleine Bäckerei am Strandweg“ und „Die kleine Sommerküche am Meer“ sind wie Urlaub: voller Sonne, Freundschaft, Liebe und gutem Essen. Marisa, die Heldin in Colgans neuem Frauenroman, sucht nach einem Neuanfang und die kleine Bäckerei nach einem neuen Erfolgsrezept. So entsteht ein sommerlich leichter Roman mit Herz!

„Wohlfühlfaktor: Sehr hoch, wie immer bei Jenny Colgan, der Meisterin der Romane, in die man immer gleich einziehen will, weil ihre Welten sich so kuschelig anfühlen beim Lesen.“ Berner Zeitung

Teil 1

Kapitel 1


Vor einer Weile war die Sonne rausgekommen, und die ganze Familie war zum Spielen nach draußen gegangen.

Wenn man sie sich so ansah, fiel einem auf den ersten Blick gar nichts Seltsames auf.

Die meisten Leute lächelten, wenn sie bemerkten, dass es sich bei den Kindern um Zwillinge handelte, von denen jeder eindeutig einem Elternteil ähnelte – der Junge mit dem rebellischen blonden Haar und der offenen, strahlenden Miene war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Das kleine Mädchen wirkte zurückhaltender und hatte die helle, mit Sommersprossen übersäte Haut und das rotblonde Haar der Mutter.

Bei genauerem Hinsehen würde man allerdings etwas um sie herumflattern sehen und annehmen, dass man sich wohl verguckt haben musste. Denn was, um alles in der Welt, sollte ein Papageientaucher hier zu suchen haben?

***

 

Während der ersten ein oder zwei Jahre ihres Lebens hatte ein Schutzgitter an der Treppe den Lebensraum von Avery und Daisy quasi auf die helle Küche im ebenerdigen Anbau beschränkt.

Denn Polly Miller, geborene Waterford, hatte furchtbare Angst davor gehabt, dass sie die Wendeltreppe des Leuchtturms hinunterfallen könnten.

In einem Leuchtturm zu leben war mit Kindern eine noch blödere Idee als vorher, so toll sie es auch finden mochten.

Pollys Hoffnung, die Sicherheit ihrer Sprösslinge möglichst lange durch das Gitter gewährleisten zu können, war dahin, als sie die etwa achtzehn Monate alten Zwillinge mal eine Sekunde lang aus den Augen ließ.

Als Polly sich wieder zu ihnen umdrehte, betätigte Avery gerade die Verschlussvorrichtung, während Daisy das Törchen öffnete.

Neil (der Papageientaucher) stand auf dem Gitter, beinahe so, als wäre das Ganze seine Idee gewesen. Immerhin flatterte er schuldbewusst durchs Treppenhaus davon, als Polly ihre Kinder wieder einfing.

Die Zeit des Treppengitters war damit jedoch definitiv vorbei.

Polly setzte sich auf das abgewetzte alte Sofa und hob sich beide Kinder auf den Schoß – den blonden Avery, der Huckle so ähnelte, und Daisy, die aussah wie Polly selbst. „Nein“, erklärte sie geduldig zum millionsten Mal. „Nein, wir gehen nicht nach oben.“

„Oben!“, wiederholte Avery.

Daisy nickte. „Oben … NEIN?“

In dem Moment kam Huckle zum Mittagessen und grinste, als die Zwillinge vom Schoß ihrer Mutter rutschten und über den steinernen Fußboden auf ihn zusausten. „DADDY!“

„Bringst du ihnen mal wieder bei, dass oben der spannendste Ort der Welt ist?“

„Sie haben das Treppengitter geöffnet. In Teamarbeit.“

Huckle hob die beiden kleinen Menschen hoch und hielt einen von ihnen in jedem Arm.

„Ihr seid wirklich genial“, sagte er und drückte seine kichernden Kinder an sich.

„Genial ist daran überhaupt nichts“, wandte Polly ein. „Wenn sie jetzt dauernd nach oben krabbeln wollen, wird irgendwann jemand die Treppe hinunterfallen und dabei draufgehen.“

„Ich dachte, deshalb hätten wir zwei“, sagte Huckle und ging zum Herd hinüber.

***

 

In den folgenden vier Jahren purzelten sie tatsächlich etliche Male die Treppe hinunter, ohne sich dabei je nennenswerte Verletzungen zuzuziehen. Auch die Zusammensetzung der Gang – Junge, Mädchen, Papageientaucher – blieb gleich, und die drei brachten sich gemeinsam in immer neue, immer unerhörtere Schwierigkeiten.

„Eigentlich hatte ich am Anfang gedacht, dass Neil auf die Babys eifersüchtig sein würde“, sagte Polly jetzt, als Huckle und sie in der angenehm warmen Frühlingssonne saßen und dabei zusahen, wie ihre Kinder mit Neil Twistball spielten. Der Vogel flatterte dabei um die Stange herum und jedes Mal nach oben, wenn sich ihm der Ball näherte.

Die Rasenfläche erstreckte sich bis zu den Klippen, und normalerweise war es hier viel zu windig, um draußen zu sitzen. Aber es gab eine windgeschützte Stelle direkt hinter einem niedrigen Mäuerchen. Da konnte man sich ausstrecken, sich die Sonne ins Gesicht scheinen lassen und einfach einen wunderbar wohligen Moment genießen.

Allerdings hatte Polly von dort aus die Zwillinge nicht mehr im Blick, wenn sie sich hinlegte, daher richtete sie sich alle paar Minuten wie ein Erdmännchen auf und trotzte dem kalten Wind.

„Neil war doch furchtbar eifersüchtig auf die Babys!“, sagte Huckle und konnte nicht fassen, dass sie das vergessen hatte. „Allerdings hast du am Anfang ja im Milchkoma vor dich hin gedämmert. Damals hätte eine Atombombe explodieren können, und du hättest es nicht mitbekommen. Außer natürlich, wenn dadurch auch nur ein Staubkorn auf den Kindern gelandet wäre. Was glaubst du denn, woher die ganzen Macken an den Babybettchen stammen?“

„Ich dachte, das wäre Dekoration!“

„Das sind Schnabelspuren.“

„O Gott! Böser Vogel!“

„Ja, er ist ein ganz böser Vogel“, bestätigte Huckle gleichmütig. „Komisch, da könnte man fast denken, es wäre keine gute Idee, sich einen wilden Seevogel als Haustier zuzulegen.“

„Das sollte man ja auch nicht“, nickte Polly. „Aber er hat sich eben mich zugelegt.“

Vor Jahren war innerhalb kürzester Zeit nicht nur Pollys Firma, sondern auch die Beziehung zu ihrem damaligen Verlobten den Bach runtergegangen, weshalb sie allein und nervös nach Mount Polbearne gezogen war. Eines Nachts war ein Papageientaucherjunges in das Lokal gekracht, in dem sie inzwischen ihre Bäckerei hatte.

Sie hatte das Tier gepflegt, bis sein gebrochener Flügel geheilt war, und es dann freizulassen versucht.

Davon hatte der Vogel aber nichts wissen wollen. Neil hatte beschlossen, dass es viel besser war, bei einer Bäckerin zu leben, als jeden Tag ins kalte Seewasser tauchen zu müssen. Und das konnte Huckle durchaus verstehen.

Jetzt schauten Polly und er dabei zu, wie Neil um ihre Kinder herumsauste.

„Ich meine, er könnte vielleicht …“

„Nein, Neil kann nicht babysitten!“, versetzte Polly streng.

„Schon klar, schon klar“, sagte Huckle. „Ich hab nur überlegt, wie schön es doch wäre, sich mal bei Andy draußen hinzusetzen.“

Andy gehörte nicht nur der Pub des Ortes, sondern auch die Imbissbude, bei der es köstliche Pommes gab.

„Oder vielleicht sogar in das schicke Restaurant zu gehen und dort ein Glas Wein zu trinken. Ohne dass die ganze Zeit kleine Monster auf uns herumturnen.“

„Wir könnten doch Kerensa anrufen“, schlug Polly vor.

Das war die Frau von Reuben, ihrem reichen Freund, der auf dem Festland wohnte.

„Im Moment bin ich nicht in der Stimmung dazu, mich mit Reuben herumzuschlagen“, sagte Huckle. „Ganz zu schweigen von … Lowin.“

Obwohl die Zwillinge meilenweit weg gewesen waren, hüpften sie bei der Erwähnung dieses Namens sofort herbei.

„GEHEN WIR RÜBER ZU LOWIN?“

Lowin, der Sohn von Reuben und Kerensa, war inzwischen acht und der große Held der Zwillinge. Was auch kein Wunder war, schließlich lebte er in einer riesigen Villa, die aussah wie die von Tony Stark, und besaß jedes Computerspiel und jedes einzelne Playmobil-Set auf Erden.

Lowin seinerseits duldete die Zwillinge mehr oder weniger, solange sie beim Spielen genau seinen Befehlen Folge leisteten und ihm wie das Dienstpersonal jeden verrückten Wunsch von den Lippen ablasen.

Daisy und Avery stellten sich mit Begeisterung als willige Sklaven zur Verfügung und ließen sich nur zu gern auf jede von Lowins neuen Phasen ein.

Und das war auch kein Problem, solange sein Interesse zum Beispiel den Avengers oder Rennautos galt.

Seit Neuestem war Lowin allerdings ganz verrückt nach Schlangen. Und trotz Kerensas Beteuerungen war Polly sich nie hundertprozentig sicher, ob Reuben seinem Sohn nicht doch eine riesige Königsboa kaufen würde. Es fehlte gerade noch, dass er sie wie einen Schal um den Hals überallhin mitnehmen und die Schlange am Ende gar noch Neil verspeisen würde.

„Heute nicht“, antwortete Polly auf die Frage ihrer Kinder.

Enttäuschung machte sich auf den Gesichtern der Zwillinge breit.

„Aber er kriegt doch eine riesige Rutsche, die aussieht wie eine Schlange! Die längste Rutsche der Welt!“

„Das klingt ganz schön gefährlich“, bemerkte Polly und stand auf. „Okay. Zum Essen gibt es nur was aus den Hähnchenresten, sorry.“

„Ist nicht schlimm“, erwiderte Huckle, der bald wieder losfahren würde, um für seinen Honigverkauf Klinken zu putzen. Die Zeiten waren hart – im Südwesten Englands hatte es etliche Überschwemmungen gegeben, und viele Geschäfte kämpften ums Überleben, aber er gab sein Bestes.

„Ich freue mich einfach über was selbst Gekochtes, schließlich stehen für mich in den nächsten zwei Wochen immer nur Mahlzeiten in Restaurants und Hotels an.“

„Tu doch wenigstens so, als würde dich das stören!“, bat Polly.

„Da brauche ich gar nicht so zu tun!“, versicherte Huckle. Dann wurde seine Miene ernster, während er nach ihrer Hand griff. „Und das weißt du genau!“

„Ich wünschte, ich könnte losziehen und in Hotels übernachten.“

„Wir reden hier nicht vom Ritz, sondern vom Travelodge an der A40!“

„Ich weiß. Aber in deiner Gesellschaft wirkt alles wie das Ritz.“

Sie küssten sich.

Huckle fand es furchtbar, dass er wegmusste, aber es ging nicht anders. Und auch so war es für sie schon schwierig genug, über die Runden zu kommen.

„Denk an die Fenster!“, sagte er.

„Ich weiß, ich weiß.“

Es würde ihre Lebensqualität enorm verbessern, wenn sie die alten, klapprigen Leuchtturmfenster mit Einfachverglasung gegen denkmalschutzgerechte Doppelglasfenster austauschen könnten. Nie wieder würden sie sich widerwillig aus dem Bett quälen und in eisiger Kälte durchs Treppenhaus laufen müssen.

Oder vielleicht doch? Wer konnte schon sagen, ob man den Turm je auf eine Temperatur bringen könnte, die andere Leute als warm bezeichnen würden – Pollys Mutter zum Beispiel oder Kerensa oder, na ja, so ziemlich jeder.

Aber für ihre kleine Familie war der Leuchtturm perfekt – und die Kinder kannten ja nichts anderes.

Huckle hatte einen alten Fernseher ins Elternschlafzimmer gestellt, und im Winter machten die vier es sich dort unter einer Heizdecke gemütlich. Dann schauten sie sich zusammen Vaiana an, während Neil auf dem Nachttisch herumhopste. In diesen Momenten war der Turm für Polly einer der glücklichsten Orte auf Erden, zugige Fenster hin oder her.

Und jetzt kam ja endlich der Frühling! Wenn Huckle dieses Jahr genug verdiente, würden sie sich die Fenster und einen neuen Boiler leisten können, und dann würde es wirklich keinen Grund mehr zur Klage geben, dachte Polly, während sie in die Küche ging.

Sie hörte das fröhliche Geplapper der Zwillinge, die von ihrem Vater verlangten, dass er JETZTSOFORT zum Tiger wurde. Als Huckle dieser Aufforderung bereitwillig nachkam, brüllte er allerdings so wild und laut, dass Polly sich Sorgen um Avery machte. Aber im Notfall würde Daisy dessen Tränen schon trocknen.

Polly hatte aus den Resten des Brathähnchens eine Brühe gemacht, zu der sie jetzt Graupen und Gemüse gab.

Voller Vorfreude dachte Polly an den Sommer, wenn Huckle zurück zu Hause sein und erste Touristen die Saison einläuten würden. Dann würden sie alle Hände voll zu tun haben.

Sie konnte es kaum erwarten, wieder warme Sonnenstrahlen auf den Wangen zu spüren, nachdem im Winter gefühlt jedes einzelne Wochenende ein Unwetter über sie hereingebrochen war.

Wenn monatelang Regen gegen die Fenster klatschte, standen überall Gummistiefel herum, und die Kinder wurden gereizt, weil sie nicht genug an die frische Luft kamen. Zu Hause Höhlen zu bauen und Mama beim Backen zu helfen verlor im Laufe der Zeit seinen Reiz.

Die Stürme wurden schlimmer – was mit dem Klimawandel zu tun hatte, das war Polly klar – und die Winter härter.

Huckle kam in die Küche. „Und, was steht bei euch so an, während ich weg bin?“, fragte er und lauschte gleichzeitig mit einem Ohr Averys Geschichte darüber, dass Lowin zu seinem Geburtstag die größte Schlange der Welt bekommen würde.

„Das Übliche“, sagte Polly. „Ach, nein, das hab ich ja ganz vergessen! Reubens Streuner kommen!“


Kapitel 2


Auf dem Festland, drüben in Exeter, hatte eine von Reubens „Streunern“ noch keine Ahnung davon, dass sie bald in diese Kategorie fallen würde.

Dort trommelte gerade ohne jeden Erfolg Caius laut gegen die Tür seiner Mitbewohnerin. Sein Name wurde „Kies“ ausgesprochen, mit langem I, wie er bei der ersten Begegnung gern hochnäsig erklärte, außer in dem Fall, dass die andere Person es durch Zufall richtig gesagt hatte. Dann behauptete er stattdessen: „Ehrlich gesagt ist es ja ›Ki-us‹, okay?“

„Marisa!“, rief er. Über den ganzen Radau hinweg war es zugegebenermaßen kaum zu hören.

Theoretisch fand Caius es cool, dass er mit vielen DJs befreundet war, oder zumindest mit Leuten, die sich als solche bezeichneten. Aber er hatte leider den Fehler gemacht, sie ums Auflegen bei seinen Partys zu bitten.
Das Resultat war furchtbar, denn jetzt stritten sie darüber, wer die teuersten Kopfhörer hatte, brachten ihre albernen Lautsprecher durcheinander und wetteiferten darum, wer das bizarrste Zeug auflegte. Es herrschte absolutes Chaos.

Vielleicht hätte Caius sich auch überlegen sollen, was seine Nachbarn eigentlich von dem Theater hielten, wenn er sich denn um die Nachbarn geschert hätte.

Aber Caius war reich und gut aussehend, daher traf er selten jemanden, der ihn nicht mochte, und konnte sich kaum vorstellen, wie das wohl war.

Die Wohnung war proppenvoll, vor allem mit – zumindest entfernten – Bekannten von ihm. Aber am wichtigsten war ihm, dass hier alle gut aussehend und wohlhabend waren, mehr musste er über sie gar nicht wissen.

Und er brauchte für diese Leute nun das Zimmerchen, das er sowieso bloß vermietet hatte, weil seine Eltern darauf bestanden hatten – sie hatten irgendwas von „Verantwortung tragen“ und „vernünftig wirtschaften“ gefaselt. Schwer zu sagen, was genau es gewesen war, denn er hatte an dem Tag einen schlimmen Absturz hinter sich gehabt und bei dem Gespräch auch noch seine Kopfhörer getragen, es hätte also alles sein können.

„Marisa!“, brüllte er jetzt wieder, so laut er konnte. Caius verzog das Gesicht, weil er nicht gern laut wurde. Am liebsten sprach er ganz langsam und gedehnt oder sagte am besten gar nichts und gab einfach nur Kellnern ein Zeichen, damit sie ihm Sachen brachten.

„Marisa! Na, komm schon, das ist eine Party! Kannst du uns nicht ein paar Kanapees machen?“

Immer noch keine Antwort. Caius zog eine Schnute. Mittlerweile musste sie ihn doch gehört haben.

Früher hatte man mit Marisa noch Spaß haben können. Okay, so richtig auch wieder nicht, schließlich hatte sie einen echten Job und ging zu einer vernünftigen Uhrzeit ins Bett.

Aber sie hatte gekocht und gelächelt und war witzig gewesen, und es hatte ihm gefallen, dass sich jemand ein bisschen um ihn gekümmert hatte.

Irgendwann war sie jedoch ganz still geworden und hatte sich zurückgezogen. Er wusste, dass sie ihm den Grund dafür erklärt hatte, irgend so ein Familienscheiß, aber er vergaß es immer wieder, und die ganze Sache wurde wirklich lästig.

„Marisa! Die Gäste wollen dieses Zimmer benutzen! Für ihre Jacken!“

„Und auch für Sex und Drogen!“, erklärte eine von drei Personen mit dickem schwarzem Eyeliner, die gerade hinter Caius erschienen waren. Die anderen beiden nickten nachdrücklich.

„Quatsch, es geht wahrscheinlich echt nur um Jacken!“, versicherte Caius. Er runzelte die Stirn. „Du weißt schon, dass es hier draußen Tequila gibt, oder? Hier gibt es Tequila und da drin bei dir nicht, deshalb kann ich dich wirklich nicht verstehen.“

***

 

Na, da haben wir was gemeinsam, dachte Marisa. Sie selbst verstand sich nämlich auch nicht.

Eine dramatische Familiensaga vor der stimmungsvollen Kulisse der Nordseeküste

Blick ins Buch
Der Nordseehof – Als wir träumen durftenDer Nordseehof – Als wir träumen durften

Roman

„Wir müssen nach vorn sehen. Da liegt die Zukunft.“
In diesem ersten Band ihrer Saga um den ostfriesischen Nordseehof erzählt Regine Kölpin – spannend, bewegend und voller norddeutscher Atmosphäre – den Beginn einer dramatischen Emanzipationsgeschichte um drei Frauen aus drei Generationen.  

Ostfriesland, 1948: Johanna, Tochter eines Großbauern, verliebt sich in den Schlesien-Flüchtling Rolf – eine Liebe, die keine Zukunft hat, denn Johanna ist bereits dem wohlhabenden Hoferben Eike versprochen. Doch die beiden hören nicht auf zu träumen – von dem Glück der Heimat, der Wärme einer Familie und ihrer gemeinsamen Zukunft.

Der Nordseehof: Vor der stimmungsvollen Kulisse der norddeutschen Landschaft entfaltet sich eine opulente Familiensaga über die Macht der Träume und den Wunsch nach Freiheit, über verbotene Liebe und wahre Heimat.  

Band 1: Der Nordseehof – Als wir träumen durften
Band 2: Der Nordseehof – Als wir der Freiheit nahe waren
Band 3: Der Nordseehof – Als wir den Himmel erobern konnten

1948–1949


Kapitel 1

Das Unwetter war abgezogen, hatte die Luft gereinigt, und die verbliebenen wenigen Wolken sahen aus wie mit lässigen Strichen an den Himmel gewischt. Obwohl die Sonne an diesem Tag im Juni schien, war es ziemlich abgekühlt, sodass Johanna sich ein Wolltuch um die Schultern gelegt hatte. Nach dem Gewitter war es nötig gewesen, alle Kühe auf den Marschwiesen durchzuzählen und sich zu vergewissern, dass mit den Tieren alles in Ordnung war.

Kurz bevor Johanna zum Landwirtschaftsweg abbog, der zum Eilershof, dem Gehöft ihrer Eltern, führte blieb sie stehen, denn Rolf Menzel winkte zu ihr herüber. Er hatte gerade das Gatter der Schafweide verschlossen.

„Ist bei euch alles in Ordnung, Hanna?“, rief er, schob sich eine dunkle Strähne aus dem Gesicht und setzte die Schiebermütze wieder auf. „Das war aber ein Regen und ein Donnern! Ich habe eben nach den Tieren geschaut.“ Er stellte den Eimer neben dem Gatter ab und kam auf sie zu. Verlegen und ein wenig unbeholfen. Er fixierte sie mit seinem einzigartigen Blick. Genau das mochte Johanna an ihm. Sie hatte noch nie einen Menschen mit so schönen blauen Augen gesehen.

„Ja, danke!“ Johannas Stimme zitterte. Wie immer, wenn sie ihm nah war.

Rolf nahm die Schiebermütze wieder vom Kopf und drehte sie mit den Händen. „Hauptsache, alles ist heil geblieben“, sagte er schließlich mit seinem schlesischen Akzent.

Rolf war nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit vielen anderen Flüchtlingen nach Ostfriesland gekommen und lebte seit einem Jahr auf dem Nordseehof, der großen Deichschäferei von Thilo und Lientje Deeken, die nicht weit vom Eilershof entfernt ebenfalls in der Marsch lag.

„Ein Fremder, aber fleißig“, sagte Lientje Deeken immer. „Kann man was mit anfangen. Ist ja nun wirklich nicht mit allen so.“

Johanna stieß es ab, wenn die Schäferin derart abfällig über die Vertriebenen redete. Und noch weniger mochte sie es, wenn sie solche Dinge über Rolf sagte.

„Mit eurem Vieh ist doch auch nichts passiert, oder?“, riss er Johanna aus ihren Gedanken. „Keine Kuh durch den Draht gegangen? Keine vom Blitz erschlagen?“

„N… nein, alles gut“, stotterte Johanna und begann, mit einer Schuhspitze über den Schotter zu scharren. Sie suchte krampfhaft nach einem unverfänglichen Thema.

„Bist du später bei der Friesen-Jugend?“, fragte Rolf.

Erleichtert sah sie ihn an. Dort hatten sie sich kennengelernt, zur Akkordeonmusik zum ersten Mal zusammen getanzt – und sich dabei ineinander verliebt. Seitdem schlichen sie umeinander herum wie eine Katze um einen Topf Sahne, die genau wusste, dass sie Schläge bekommen würde, wenn sie auch nur einen winzigen Tropfen davon kostete.

Johanna, die Tochter des Großbauern Eilers, und ein schlesischer Vertriebener. Ein Ding der Unmöglichkeit!

Johanna nickte rasch. „Ich versuche es.“ Um jeden Preis, setzte sie in Gedanken hinzu. Es war ihre einzige Chance, sich zu sehen, herumzuflachsen und ab und zu ein Wort miteinander zu wechseln. Auch wenn das andere Jungvolk aus Neusiel dabei war.

Rolf lächelte sie an. „Das ist schön, dort können wir bestimmt in Ruhe und ein bisschen länger reden, weil keine Arbeit ruft.“ Er fügte mit dunkler Stimme hinzu: „Allein.“

Johannas Herz klopfte wie verrückt. „Ja, gern.“

Rolf setzte sich die Mütze wieder auf den Kopf. „Ich muss dann mal, sonst bekomme ich Ärger mit dem alten Deeken. Bis später, Hanna.“

„Bis dann.“ Johanna mochte es, wie er ihren Namen abkürzte, und auch, wie er ihn aussprach. Rolf nahm am Gatter den Eimer wieder auf und setzte seinen Weg fort. Immer mit leicht gebeugter Haltung und zugleich mit einem Stolz, der ihn unangreifbar erscheinen ließ.

Johanna wartete, bis Rolf um die Wegbiegung verschwunden war, und lehnte sich dann an ein Weidegatter. Sie sog die klare Luft tief ein und schaute über die Marsch, deren Grünfläche sich scheinbar endlos dahinzog und erst am Meer oder am nächsten Geestrücken endete.

Heute strich der Wind heftiger über die Wiesen und ließ das Gras in Wellen tanzen. Johanna liebte die Weite der Landschaft, die nur hin und wieder von vereinzelten Hecken oder Bäumen durchbrochen wurde. Oder von den paar Höfen und Katen, die wie kleine rote Sprenkel im Grün der Marsch wirkten.

Johanna liebte auch den Wind, der in Ostfriesland sein stetiges Lied sang, und sie liebte das Schreien der Möwen, wenn sie sich in seinen Armen wiegten. Hier war sie zu Hause, hier gehörte sie hin. Das Dorf, die Leute, der Hof …

Johanna wusste, was Heimat bedeutete, und hatte mit denen, die ihre verlassen mussten, unendliches Mitleid.

Bis zum Mittagessen dauerte es noch eine Weile, und so konnte sie die Zeit hier draußen in der Natur ein wenig genießen. Es war ohnehin besser, nicht derart aufgewühlt zu Hause zu erscheinen, denn Johanna hatte keine Lust, unangenehme Fragen beantworten zu müssen.

Wie immer hatte Rolf sie arg durcheinandergebracht, und allein die Vorstellung, ihn später wiederzusehen, machte sie nervös. Ihre Hände zitterten, sie konnte sich einfach nicht gegen diese Gefühle wehren. „Du musst ihn dir aus dem Kopf schlagen“, sagte sie zu sich selbst, als sie sich wieder etwas beruhigt hatte. „Egal, ob nun die neue Zeit anbricht oder nicht. In Neusiel wird es noch ein wenig länger dauern, bis alle die Veränderungen akzeptiert haben.“

Die neue Zeit, in der jetzt, nach der Währungsreform, alles besser werden sollte. Davon sprachen alle. Die Welt hatte sich in den letzten Jahren mit einer Geschwindigkeit gedreht, die Johanna, nein, allen im Dorf fast Angst machte. Die Wunden des Krieges waren noch zu präsent, hatten auch auf dem Land ihre Spuren hinterlassen. Vor allem die Bombardierungen von Wilhelmshaven und die vereinzelten Stabbrandbomben, die zwar keine größeren Schäden angerichtet hatten, aber über Neusiel abgeworfen worden waren, hatten zu großer Verunsicherung geführt.

Dann waren nach dem Krieg unzählige Flüchtlinge aus dem Osten gekommen. Von den Behörden wurde angeordnet, dass die Menschen auf den Höfen und bei anderen Familien im Dorf untergebracht werden mussten. Jede Kammer wurde genutzt. Und nicht nur das: Die Menschen lebten auf Dachböden, in Stallungen und Kammern. Gefreut hatte es keinen, aber es nützte ja nichts, den Vertriebenen musste geholfen werden, und alle packten irgendwie mit an.

Viele gingen freundlich und hilfsbereit mit den Neuankömmlingen um, andere reagierten weniger positiv und redeten verächtlich über die Ostländer.

Obwohl es den Menschen hier während des Krieges noch recht gut gegangen war, vor allem den Bauern, hatte es ohne den Schwarzmarkt auch bei ihnen an vielen Dingen gefehlt, und nicht alle waren gut über die Runden gekommen. Und nun sollten sie das wenige auch noch mit den Fremden teilen. Etliche Familien auf dem Land waren Teilselbstversorger und hielten das ein oder andere Schwein, von denen so manches schwarzgeschlachtet worden war. Für alles andere hatte es Lebensmittelmarken gegeben.

Inzwischen hatte sich das Leben recht gut eingespielt, und Johanna war davon überzeugt, dass die Menschen nach und nach Teil der heimischen Bevölkerung werden würden. Spätestens, wenn sie endlich eigene Häuser und Wohnungen hätten und nicht mehr bei den Neusielern in den Häusern und auf den Höfen untergebracht waren. Nur würde das bestimmt noch eine Weile dauern. Trotz der neuen Zeit.
Seit einer Woche hatte sich mit der Währungsreform über Nacht allerdings viel verändert. Glaubte man den Neusielern, die in Oldenburg oder Wilhelmshaven gewesen waren, so waren die Lager in den Geschäften aufgefüllt, ja, diese brachen unter der Last des Angebots förmlich zusammen. Auch im Dorfladen war plötzlich alles zu haben.

Das Land wirkte wie befreit von einer festen Kette, deren Glieder noch vor ein paar Wochen unzerstörbar gewirkt hatten.

Johanna atmete einmal tief ein und aus.

Die Wunden heilten trotzdem nicht von heute auf morgen, und das Bedürfnis nach Sicherheit und festen Strukturen war nach wie vor das höchste Gebot. Ihre Eltern und viele andere im Dorf hielten deshalb weiter an ihren Traditionen fest und würden davon keinen Fingerbreit abweichen. Egal, ob das Herz ihrer einzigen Tochter für einen Vertriebenen aus Schlesien schneller schlug.

Wenn Keno da gewesen wäre, wäre die Lage gewiss anders. Er hätte sie verstanden, sie unterstützt … Johanna schluckte die aufkommenden Tränen hinunter, wie immer, wenn sie an ihren Bruder dachte. Sie hoffte wie ihre Eltern Tag für Tag, dass er noch lebte, denn Keno war nach dem Krieg bisher noch nicht zurückgekehrt. Er war 1943 bei der Schlacht vor Stalingrad dabei gewesen und entweder gefallen, oder er befand sich wie so viele andere in sowjetischer Gefangenschaft. Sie hatten seitdem kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten. Die Angst um den Erben war überall auf dem Eilershof spürbar. Lautes Lachen wurde augenblicklich verschluckt, und aus jeder Ecke kroch die unausgesprochene Trauer wie eine fette Spinne und wickelte die ganze Familie fest in ihren Kokon.

Mutter und Vater hatten natürlich alles darangesetzt, Keno zu finden, und durchforsteten ständig sämtliche Vermissten-Listen des Suchdienstes vom Roten Kreuz. Und jedes Mal, wenn die Suche wieder erfolglos war, legte sich eine weitere Schicht Schwermut über den Eilershof, sodass Johanna oft glaubte, darunter zu ersticken. Vielleicht wäre es gut gewesen, endlich Klarheit zu haben.

Johanna schob die Gedanken beiseite und ließ ihren Blick lieber noch etwas über das flache Land schweifen, genoss das Summen der Bienen und Hummeln und den Schrei des Bussards über ihr.

Es war nicht nur Kenos Abwesenheit, auch ihr Vater war nach seiner Rückkehr aus Frankreich verändert.

Er war still geworden. Schlich tagsüber wie ein Schatten über den Hof, gab mechanisch seine Anweisungen und zog sich zurück, sobald er konnte. Einzig wenn er mit den anderen Männern aus dem Dorf oder den Nachbarhöfen über die politische Lage sprechen konnte, taute er kurzzeitig auf, um sich danach noch mehr zurückzuziehen. Johanna verstand ihren Vater oft nicht.

Mitten in der Nacht aber schrie er, weil ihn böse Träume quälten. Zudem hatte ihr Vater den „komischen Blick“, wie Johanna ihn nannte – alle Heimkehrer im Dorf schauten anfangs so. Die Augen wirkten wie tot, und sah man hinein, erkannte man das Dunkel der Seele. Was auch immer die Männer in diesem vermaledeiten Krieg erlebt hatten: Danach war mit ihnen eine Veränderung vorgegangen, die Angst machte. Keiner sprach über seine Erlebnisse. Aber diese Leere im Blick spiegelte deutlicher als jedes Wort wider, dass die Seelen der Männer zerstückelt worden waren. Zerhackt von Erlebnissen, die zu grausam waren, als dass man sie je aussprechen durfte.

Ob die Heimkehrer je wieder die Alten wurden, konnte keiner sagen. Wo die Söhne und Ehemänner noch nicht nach Hause gekommen waren, hoffte einfach jeder, dass sie überhaupt zurückkehrten. Gleichgültig, in welcher Verfassung.

Ihre Mutter sagte, irgendwann würde Vater vergessen können. Und da er auch bessere Tage und Nächte hatte, gab Johanna die Hoffnung nicht auf, dass sie recht hatte.

„Wenn Keno zurückkommt, wird alles gut“ – auch das sagte ihre Mutter Tag für Tag. Was sein würde, wenn es nicht so wäre, wurde totgeschwiegen. „Bis dahin belastest du deinen Vater nicht und bist eine gute und folgsame Tochter. Dann wird es schon werden.“

Rolf Menzel zu lieben, sich gar mit ihm einzulassen und auf dieser Liebe zu bestehen, war da sicher keine gute Idee. Ihr Vater brauchte die alten Strukturen, um gesund zu werden. Und Johanna wollte nicht schuld sein, wenn er seine trüben Gedanken nicht loswurde.

Sie seufzte so laut, dass einer der Schafböcke sie erstaunt anblickte. „Guck du nur!“ Johanna lachte auf. „Deine Frauen grasen alle am Deich des Jadebusens, und du hast keinen Kummer mit der Liebe!“ Der Bock gab einen kurzen Ton von sich und fraß weiter.

Johanna schrak zusammen, als die Glocke der Kirche in Neusiel zwölfmal schlug. Wenn sie sich jetzt nicht beeilte, kam sie zu spät zum Mittagessen. Das würde ihre Mutter verärgern, und dann könnte sie ihr vielleicht verbieten, heute Nachmittag zur der Friesen-Jugend zu gehen. Johanna umfasste ihr Tuch und sputete sich.

Kapitel 2

Schon wenige Minuten später war sie am Hofeingang angekommen. Vor ihr lag der Gulfhof ihrer Eltern.

Das Wohnhaus klebte wie eine Nase vorn rechts am breiteren Scheunen- und Stalltrakt. In der angrenzenden Scheune befand sich unten die große Diele, wo auch das Korn gedroschen wurde, und am Ende des Ganges das Plumpsklo. In einem weiteren Raum lagerten Futtervorräte. Von der Diele aus gelangte man in die rechts und links abgetrennten Kuhställe.

Oben auf der Tenne stapelten sich Heu und Stroh.

Als Johanna näher trat, glänzte das große grüne Scheunentor an der Giebelseite in der Sonne. Der Eilershof verfügte auch über Nebengelasse wie die geschlossene Remise, in der die Kutschen und Gerätschaften untergestellt waren. In einem Stalltrakt war Platz für die zehn Kutsch- und Arbeitspferde.

Im hinteren Teil des Hofes gab es ein paar Schweinekoben mit Auslauf. Der Obstgarten schloss sich der Scheune an, dort war auch der Hühnerstall zu finden.

Links vom Eilershof ging ein Weg zu einem kleinen Haus ab, das einmal das Altenteil der Eltern werden sollte.

Die Hühner stoben gackernd auseinander, als Johanna über das rot geklinkerte Pflaster des Hofes rannte. Ihre Mutter schaute ihr schon ungeduldig aus der Haustür entgegen. Sie hatte einen derben Leinenrock mit einer Strickjacke an, und ihr aschblodes Haar war zu einem Kranz geflochten. „Johanna!“, rief sie. „Was träumst du herum? Wir wollen essen!“

„Ich beeile mich!“ Sie hastete in die Waschküche, wusch sich dort die Hände und stand kurz darauf in der Küche, wo auf dem weißen Ofen in einem großen Topf eine Hühnersuppe blubberte. Ihre Mutter hatte gestern zwei der Hennen geschlachtet.

Der rechteckige, grobe Holztisch war für vier Leute gedeckt. Ihre Mutter stellte Kenos Teller täglich mit dazu. Schließlich konnte er jederzeit überraschend zurückkehren und sollte sich dann sofort zu Hause fühlen. Immer diese Hoffnung. Diese grausame, verratene Hoffnung.

„Füllst du bitte etwas von der Suppe um, und bringst es nach nebenan?“ Ihre Mutter sagte immer nebenan und nicht Diele. Sie zeigte auf einen schwarzen Emailletopf, der erheblich kleiner als der andere war.

Johanna nickte. Das Essen, das sie nach nebenan auf die Diele bringen sollte, war für die anderen, wie ihre Mutter sich ebenfalls stets ausdrückte, ohne auch sie genau zu benennen. Vielleicht fühlte sie sich dann besser.

Die anderen waren das Gesinde und die bei ihnen untergebrachte Flüchtlingsfamilie. Dem Eilershof war eine Frau mit zwei Kindern zugewiesen worden. Martha Selig und ihre beiden fünf- und siebenjährigen Jungs waren ruhige Mitbewohner. Frau Selig versuchte, so gut es mit den Kindern eben ging, auf dem Hof mitzuhelfen.

Die Unterkunft der Familie befand sich in der Achterkök, einem Anbau hinter der eigentlichen Hofküche. Johannas Mutter hatte sie notdürftig hergerichtet. Es war zwar eng, aber Frau Selig verfügte so über eine kleine Küche mit Brennhexe, eine Bank, einen Tisch mit Stühlen und einen alten, zerschlissenen Sessel. Hinter einem notdürftigen Vorhang aus alten Bettlaken standen zwei Feldbetten, die sie sich zu dritt teilten. Wasser bekamen sie aus der Pumpe. Es war leider sehr eisenhaltig, zum Teekochen taugte es ebenso wenig wie zum Wäschewaschen. Für richtig gutes Wasser mussten alle zum Brunnen hinter dem Feld laufen. Das Mittagsmahl brauchte Martha Selig aber nicht selbst zubereiten, das wurde stets von Johannas Mutter in der großen Hofküche für sie mitgekocht. „Den Rest bekommt Frau Selig dann schon hin“, sagte sie immer.

Nur mochte sie es nicht, Fremde am Tisch sitzen zu haben, weshalb die anderen eben in der Diele essen mussten.

Johanna bemerkte, dass ihre Mutter sie mit kritischem Blick ansah, als sie den Topf mit einer großen Schöpfkelle füllte. „Du wirkst noch immer völlig verschwitzt.“

„Der Weg war weit“, erwiderte Johanna ausweichend. „Ich habe alle Weiden kontrolliert, mit dem Vieh ist alles in Ordnung.“ Sie nahm den Topf und brachte ihn in die Diele, wo die beiden Mägde, die Knechte und Frau Selig mit ihren Kindern schon sehnsüchtig warteten. Frisches Brot und Butter hatte ihre Mutter bereits hingestellt.

Jetzt im Sommer war es still hier. Im Winter konnte man durch die Wände die Kühe in dem dahinterliegenden Stall rumoren hören.

Johannas Eltern saßen mit gefalteten Händen am Tisch, als sie zurückkam. Kenos leerer Platz wirkte wie immer bedrückend, und Johanna mied den Blick dorthin.

Sie lauschte dem Gebet des Vaters und wartete dann, bis ihre Eltern sich von der Suppe genommen hatten, bevor sie sich selbst einen Teller auftat. Der salzige Duft der Brühe zog durch ihre Nase, und sie merkte, wie hungrig sie nach dem langen Weg durch die Marsch war.

„Morgen gehen wir zum Tee zu den Deekens“, sagte ihre Mutter unvermittelt und, wie Johanna fand, eine Spur zu beiläufig. Sie schob ihrer Tochter den Brotkorb rüber. Dabei zitterten ihre Finger ein wenig.

Johanna starrte in die Fettaugen der Suppe und schob mit dem Löffel ein Stück Hühnerhaut beiseite. Sie ahnte, was der Besuch in der Deichschäferei bedeutete.

Ihre Mutter bestätigte ihre Befürchtung, als sie hinzufügte: „Eike wird auch da sein. Der Jung hat sich ja wieder gefangen. Hat lange genug gedauert. Nun müssen wir, wo das auch mit der D-Mark angelaufen ist, so langsam wieder an die Zukunft denken. An deine Zukunft!“

Johanna schluckte.

„Wie meinst du das?“

Ihre Mutter lächelte versonnen. „So, wie ich es sage. Denk mal nach. Du und Eike, wäre das nicht schön? Ihr kennt euch schon so lange. Du hättest ausgesorgt. Und Vadder wäre wirklich glücklich.“ Sie sah zu ihrem Mann, der unmerklich nickte, aber weiter schweigend seine Suppe aß.

Johanna umklammerte den Löffel so fest, dass er ihre Hand fast einschnitt. Sie wollten sie also wirklich mit Eike, dem Erben vom Nordseehof, verkuppeln. Sie hatte schon lange damit gerechnet. Sie und Eike, ihr Kinderfreund. Inzwischen hatten sie sich aber aus den Augen verloren, und auch er war nach dem Krieg ein anderer geworden.

Johanna wusste nur, dass er irgendwo in Afrika und anderswo gekämpft hatte und wie ihr Vater völlig verändert zurückgekommen war. Es gab den alten Spielkameraden von früher nicht mehr. Eike war in den ersten Monaten nach seiner Heimkehr stundenlang mit gesenktem Kopf durch die Marsch spaziert und hatte nicht mal ein „Moin“ für seine Nachbarn übriggehabt. „Der wird schon wieder“, hieß es dennoch.

Und er wurde wieder, denn mittlerweile grüßte Eike die Nachbarn, und er legte auch Hand auf dem Hof an. Aber er lachte kaum, und wenn, wirkte es nicht echt.

„Der Jung kann ja man froh sein, dass er nicht in Gefangenschaft geraten ist wie unser Keno“, sagte Johannas Mutter nun. „Und man muss schließlich nach vorn sehen. Nie aufgeben, weißt du? Immer den nächsten Schritt machen.“ Sie klang sehr zufrieden. „Nun sach du doch auch mal was, Marten!“

Johannas Vater nickte nur. „Jo“, kam es schließlich mit einem versuchten Lächeln.

Als seine Frau die Brauen hochzog und ihn noch einmal eindringlich ansah, wählte er langsam und bedächtig seine Worte: „Foline, also deine Mutter, hat recht. Eike ist eine gute Partie für dich, mien Deern.“ Er tätschelte Johannas Hand. „Dir soll es ja mal besser gehen. Kein Krieg mehr, keine Angst und keine unnützen Toten. Alles in Butter. Überleg es dir, du würdest uns mit dieser Verbindung eine große Freude machen. Und für dich wäre es eine gute Absicherung!“ Er tauchte den Löffel wieder in die Suppe und schlürfte sie ab. „Thilo Deeken findet die Idee, dass ihr heiratet, genauso gut wie ich, und Lientje wird sich schon fügen und sich an den Gedanken gewöhnen. Dieses eine Mal hat sie keine Wahl.“ Ihr Vater nahm sich Suppe nach. „Am liebsten würde sie Reent den Hof geben, aber das ist nun mal ausgeschlossen, er ist der jüngere Sohn. Also braucht Eike eine Frau, damit das alles seinen Weg geht.“ Er atmete tief ein, denn das war für ihn eine übermäßig lange Rede gewesen.

„Siehst du! Dein Vater würde sich freuen. Genau wie ich.“ Ihre Mutter lächelte. „Bei Eike passt alles. Du kennst ihn seit deiner Kindheit, er ist ein guter Mensch.“ Sie bemerkte Johannas skeptischen Blick und fügte hastig hinzu: „Herzklopfen ist keine Basis für ein ganzes Leben – und muss es auch nicht sein. Die Liebe kommt von allein, wenn man sich erst aneinander gewöhnt hat.“

Johanna war der Appetit vergangen. Sie legte den Löffel weg, starrte auf den Teller und schwieg. Was sollte sie auch erwidern? Sie wusste keinen Weg, wie sie ihren Eltern diesen Wunsch abschlagen sollte, ohne sich mit ihnen zu überwerfen. Trotzdem ging es doch um sie!

Der Nordseehof war ein zwar imposantes, aber auch düsteres Gebäude, und Eikes Eltern waren keine herzlichen Menschen, vor allem Lientje Deeken war eine unangenehme Frau. Zudem war Johanna Eikes jüngerer Bruder Reent suspekt. Sie konnte ihn nicht einordnen. Nach außen hin wirkte er freundlich, aber da lag etwas in seinem Blick, was Johanna nicht mochte. Es erinnerte sie an eine ihrer Katzen, die schnurrend auf alle Besucher zukam, ihnen dann aber ohne Warnung die Krallen in die Hand hieb.

Woher Eike sein freundliches Gemüt hatte, wusste Johanna nicht. Vielleicht war Thilo Deeken ein umgänglicher Mann, nur tat der es ihrem Vater gleich und sprach nur dann, wenn ihn etwas wirklich interessierte.

Weil Johanna immer noch schwieg, plauderte ihre Mutter munter weiter. Jede Silbe aber erschien Johanna wie ein winziger Nadelstich.

„Wenn Keno erst aus dem Krieg zurück ist, kann der unseren Hof übernehmen. Du hast dann ein neues Zuhause und eine Aufgabe. Das wünscht man sich in diesen Zeiten für seine Kinder! Absicherung.“ Es klang, als wäre alles längst beschlossene Sache. „Von uns kriegst du eine Kuh, das unterschreibst du, und damit ist das mit dem Erbe geklärt. So wird es seit Generationen gemacht, das weißt du.“

Jetzt sah Johanna von ihrem Teller auf. Sie wollte ihren Eltern klarmachen, dass sie Eike nicht heiraten konnte. Dass sie Rolf Menzel mochte. Aber ihr blieben die Worte im Hals stecken. Nein, das konnte sie ihren Eltern nicht sagen. Es wäre bestimmt gut, erst einmal den Mund zu halten und mitzuspielen.

„Mach dich morgen ein bisschen hübsch. Wie sich das gehört.“

Johanna schluckte. „Ja.“ Sie hegte noch den Funken Hoffnung, dass Eike sie vielleicht gar nicht wollte. Johanna fand selbst, dass sie keine Schönheit war. Sie hatte langes, leicht gewelltes aschblondes Haar, das sie meist unter einem Kopftuch zu einem Dutt zusammenband. Manchmal zog sie es auch vor, alles sorgsam zu flechten und zurückzustecken. Ihren Po fand sie eine Spur zu breit, die Schenkel zu dick. Es gab hübschere Mädchen im heiratsfähigen Alter. Und die Männer waren in der Unterzahl und konnten wählen.

„Was hast du heute noch vor?“, fragte ihre Mutter jetzt. „Der erste Heuschnitt ist eingefahren, wir haben ein bisschen Luft, bevor die Getreideernte beginnt.“

„Ich möchte mal wieder zur Friesen-Jugend. Die anderen sind aus dem Zeltlager in Upschört zurück. Mal sehen, was sie erzählen. Es waren nicht alle mit, aber ich habe gehört, dass es lustig gewesen ist.“

Johanna war auch nicht mitgefahren, weil Rolf auf dem Nordseehof arbeiten musste und sie ohne ihn keine Lust gehabt hatte. So konnten sie sich zumindest zwischendurch mal von Weitem sehen. Warum sollte sie im Zeltlager mit einem anderen tanzen, wenn ihr Herz bereits vergeben war?

Außerdem war auf dem Hof wegen der Heuernte eine Menge zu tun gewesen, weil das Gras vor dem Regen in die Scheune gebracht werden musste. Sie hatten es gerade noch geschafft. Manchmal beneidete sie die jungen Menschen in der Friesen-Jugend, deren Eltern keine Landwirtschaft hatten und die deshalb an viel mehr Aktivitäten teilnehmen konnten.

„Langsam bist du mit deinen zwanzig Jahren für die Friesen-Jugend eigentlich zu alt“, sagte ihre Mutter. „Aber gut, dann geh hin. Die Briten wollen es ja nicht anders mit ihrer demokratischen Umerziehung. Als ob wir das nicht selbst hinkriegen könnten.“

Johanna mochte die Treffen der Friesen-Jugend, weil sie eine Abwechslung zum anstrengenden Hofalltag darstellten. Unter Aufsicht der Britischen Militärregierung hatte sich dieser Jugendbund aus der Gruppe „Waterkant“ gebildet. Die Besatzer legten Wert darauf, dass die jungen Menschen etwas über Demokratie lernten und auch, wie die Eingliederung der Vertriebenen unterstützt werden konnte. In Deutschland sollte ein anderer Wind wehen als während der Jahre des Faschismus. Und da wollten sie bei der Jugend beginnen. Deshalb waren alle im Dorf angehalten, den jungen Leuten keine Steine in den Weg zu legen, wenn sie sich treffen wollten.

Es war eine bunt gemischte Gruppe, die keine Unterschiede zwischen Einheimischen und Fremden machte. Dort herrschte Lockerheit. Lebendigkeit. Das Stück Freiheit, das ihnen abhandengekommen war und ihnen auch jetzt zu Hause oft fehlte. Bei der Friesen-Jugend durfte man unbeschwert lachen und fröhlich sein. Beides war dort ehrlicher als anderswo. Sie machten außerdem viel Musik, sangen und tanzten Volkstänze. Ja, Johanna war nicht mehr jugendlich, aber auch noch nicht volljährig.

Mittlerweile hatte sie die Suppe doch aufgegessen und wartete, bis auch die Eltern so weit waren. Dann stand sie auf und verabschiedete sich höflich. Sie wollte in ihr Zimmer gehen und sich ein wenig frisch machen.

In der Waschkumme befand sich noch ein Rest Wasser vom Morgen, und in der Schublade hatte sie ein kleines Stück Lavendelseife versteckt. Sie wollte gut riechen, wenn sie Rolf gegenüberstand.

Johanna schlüpfte aus dem derben Leinenrock und der Bluse, wusch sich gründlich, putzte die Zähne und suchte aus dem schweren Eichenschrank ihr Sommerkleid mit den halblangen Armen heraus. Es war aus dunkelgrünem, leichtem Stoff, auf dem sich ein paar rosafarbene Blumen verteilten. Vorn geknöpft umschmeichelte es Johannas Oberkörper, von der Hüfte an war es leicht ausgestellt und umspielte ihre Waden.

Als sie das Kleid angezogen hatte, nahm sie sich die Haare vor. Es dauerte, ehe sie die ausgebürstet hatte.

Johanna entschied sich für einen geflochtenen Zopf, den sie nach vorn über die Schulter legen konnte. Die Kühle vom Morgen hatte sich verflüchtigt, und der Wind war abgeflaut, sodass sie auf ihr Schultertuch verzichten konnte.

Als sie fertig war, blieb ihr noch eine volle Stunde, die sich endlos vor ihr ausdehnte. Johanna legte sich aufs Bett.

In der Ruhe war es allerdings schwer, die dunklen Gedanken zu vertreiben. Also richtete sie sich wieder auf und trat ans Fenster.

Morgen würde sie zu Eike auf den Nordseehof gehen müssen. Aber heute war heute. Und gleich würde sie erst einmal Rolf treffen.

Nordsee-Atmosphäre pur

Blick ins Buch
Das Haus am Deich – Fremde UferDas Haus am Deich – Fremde Ufer

Roman

Salzige Luft, Meeresrauschen, der Ruf der Möwen

In ihrem Roman „Das Haus am Deich – Fremde Ufer“ erzählt SPIEGEL-Bestsellerautorin Regine Kölpin die Geschichte zweier ungleicher Freundinnen. Inspiriert von der Geschichte ihrer eigenen Familie geht es in diesem 1. Band der dreiteiligen Saga um die Jahre 1947 – 1950, um Flucht, Neuanfang und Suche nach Heimat.  
1947: Nach einer dramatischen Flucht aus Stettin findet die junge Frida mit ihren Eltern in der Wesermarsch Zuflucht – Heimat ist es nicht. Um zu überleben, muss die Familie auf einem Bauernhof hart arbeiten; Fridas Traum, Pianistin zu werden, rückt in weite Ferne. Auch ihre Kindheitsfreundin, die Anwaltstochter Erna, kann ihr nicht helfen. Denn auch sie tut sich schwer, in Norddeutschland anzukommen, und findet zudem bei ihren Eltern keinen Halt, als sie unehelich schwanger wird. Erst ein kleines Haus direkt am Deich bringt Hoffnung – auf Wärme, Zugehörigkeit, ja sogar eine neue Heimat!  

Vor der atmosphärischen Kulisse Norddeutschlands entfaltet sich in „Das Haus am Deich“ das Schicksal zweier Frauen und ihrer Familien: wahrhaftig, atmosphärisch und bewegend! 

Band 1: Das Haus am Deich – Fremde Ufer
Band 2: Das Haus am Deich – Unruhige Wasser
Band 3: Das Haus am Deich – Sicherer Hafen

1947–1948


Kapitel 1

Dichter Nebel lag über dem Jadebusen und machte es Ulrich Köhle und Hero Gerken schwer, in Sichtweite der anderen vier Männer zu bleiben, die sich zu ihren Granatfangkörben und Stellnetzen ins Watt aufgemacht hatten. Schon früh am Morgen waren sie von Eckwardersiel links vom großen Priel losgezogen.
Gespenstisch hallten vereinzelte Rufe über die See, die sich langsam zurückzog und das Wattenmeer schon bald freigeben würde. Der Rückweg würde dann etwas leichter werden.
Ulrich schob den Schlickschlitten, auf dem der Granatfangkorb stand, mit gebeugtem Oberkörper durch die hüfthohe, braungraue Nordsee. Auch wenn sie mit der Tide gingen, bot das Wasser großen Widerstand, und jeder Schritt konnte zur Qual werden.
Die Arbeit forderte seine ganze Kraft. Schon bald war die Kleidung von Schweiß durchtränkt, sein Atem ging schwer. Der feuchte Nebel hemmte das Luftholen zusätzlich, man hatte den Eindruck, als setzten sich die winzigen Wassertröpfchen in seiner Lunge fest. Schritt für Schritt stampfte Ulrich vorwärts, Schritt für Schritt ein Kampf mit den Naturgewalten, denen sie etwas Nahrung abtrotzen wollten.
Ulrich war müde. Er schlief trotz der harten Arbeit schlecht und hatte sich auch heute aus dem Bett gequält. Es machte ihm Sorge, dass er mit seiner Frau Margret und der Tochter Frida noch immer auf dem Hof von Hero Gerken lebte und sie noch kein eigenes Zuhause hatten, aber jegliche Versuche, ein eigenes Häuschen oder eine Kate – und sei es auch nur zur Miete – zu finden, waren bislang gescheitert. Wie oft war Ulrich schon bei der Gemeinde gewesen, aber es schien momentan aussichtslos. Und so fristeten sie bereits viel zu lange ihr Dasein auf dem Hof der Gerkens, wo sie nach dem Krieg und nach der Flucht aus Stettin mehr schlecht als recht in einem kleinen Zimmer untergekommen waren. Eine Wahl hatten sie nicht gehabt.
Man hatte ihn, Ulrich, gegen Kriegsende zum Volkssturm verpflichtet, so wie alle Männer zwischen sechzehn und fünfundsechzig Jahren an die Waffen gerufen worden waren. Verteidigung des Heimatbodens hatten sie es genannt. Er und die anderen mit der schwarz-roten Armbinde und der weißen Aufschrift: Volkssturm.
Margret und Frida hatten Stettin derweil mit dem letzten Zug verlassen und waren in einer Odyssee Richtung Westen gefahren, bis sie in Nordenham strandeten. Von dort kamen sie mit der Kleinbahn nach Eckwarden, wo mehrere Bauern mit Pferdegespannen bereitstanden, um die Flüchtlinge aufzunehmen. Und so waren die beiden Frauen auf dem Hof der Gerkens gelandet. Ulrich war nach Kriegsende zu ihnen gekommen, nachdem er irgendwann die Panzerfaust einfach weggeworfen hatte und getürmt war. Er hatte sich als Bauernjunge verkleidet auf einem Milchwagen bis Eckwarden durchgeschlagen.
Gefunden hatte er seine Frau und seine Tochter mithilfe der Pappkarten, die Margret aus Kartons gebastelt und nach Stettin-Stolzenhagen an die alte Adresse geschickt hatte.
Nun musste Ulrich sich aber beeilen, denn obwohl Hero Gerken sonst ein umgänglicher Mann war, konnte er ziemlich grantig werden, wenn seine Helfer nicht spurten. Weil er eine Menge Körbe draußen im Watt hatte, ging ihm neben Ulrich auch Focko Ewert aus Fedderwardersiel zur Hand. Focko war ein kräftiger, rothaariger Mann, wortkarg, wie die Menschen der Region eben waren, und fleißig wie kein anderer. Da er aus einer alteingesessenen Fischerfamilie stammte, fiel ihm die Arbeit leicht, schließlich kannte er zeitlebens nichts anderes.
Bauer Gerken hatte sich heute die Schultertrage gegriffen und kam ebenfalls nur langsam voran, weil auch er bis zum Knöchel im Schlick einsackte. Das Joch der Trage, man nannte es einfach Jöck, hatte einen ausgefrästen Bogen, und an den Seiten hingen dünne Ketten mit Körben.
Die Fischerei war für Hero Gerken wie für viele zwar nur ein Nebenerwerb, den sie zusätzlich zur Landwirtschaft betrieben, aber in diesen Zeiten war man froh über jedes Einkommen.
Ulrich bohrte seine Augen in das undurchdringliche Weiß. Er mochte den Nebel nicht, obwohl er ihn auch aus seiner Heimat kannte. Hier aber, wohin es ihn mit seiner Familie verschlagen hatte, zeigte er ihm den Verlust, die Lähmung. Die Tristesse. Ein Leben ohne Musik, nur geprägt von harter Arbeit und ohne Ziel. Es gab kein gemütliches Zusammensein wie vor dem Krieg. Keine Stunden, in denen ihre Tochter Frida am Klavier saß und ihnen vorspielte, was sie im Konservatorium gelernt hatte. Und dann diese dunklen Gedanken, die ihn seit der Flucht immer mal wieder ohne Vorwarnung überfielen und ummantelten wie Pech, das er einfach nicht abkratzen konnte.
Ulrich kämpfte sich weiter durch die Nordseefluten, bis sie die Granatkörbe, mit denen sie die Garnelen fingen, erreicht hatten.
Diese speziellen Fanggeräte waren gegen den Ebbstrom im Watt waagerecht auf einer Holzstellage angebracht und mit Tauen gegen das Abtreiben gesichert. Es handelte sich um Körbe, die wie lange, runde Trichter gefertigt waren, deren Öffnungen vorn einen Durchmesser von einem Meter hatten. Der vorderste Korb verjüngte sich nach hinten, wo ein weiterer, schmalerer Korb von über einem Meter Länge angesteckt war. Er endete in einer kleinen Öffnung, die mit einem konischen Holzklotz verschlossen wurde.
Sie schoben den Schlitten auf die Rückseite der Körbe, und Ulrich wischte sich den Schweiß von der Stirn. Noch immer herrschte um sie herum diese dichte, undurchdringliche Brühe, die die Weite des Meeres in eine kleine Welt verwandelte. Ulrich konzentrierte sich wieder auf die Arbeit. Je schneller sie waren, desto eher konnten sie zurück an Land.
„Fang einholen!“, befahl Hero Gerken, der bei der Arbeit stets deutlich machte, wer das Sagen hatte. Er war, genau wie die anderen Fischer, in Ölzeug gekleidet, und hüfthohe Stiefel schützten ihn vor der Nässe. Auf dem Kopf trug er eine Schiebermütze.
Ulrich hatte in den letzten zwei Jahren Routine beim Leeren der Fangkörbe bekommen. Die Wattenfischerei war anders als die Binnenfischerei, die er von Stolzenhagen her kannte und an die er sich gern wehmütig erinnerte. Dort hatten sie vom Fischerdorf Glienken aus mit kleinen Holzbooten in der Oder und im Dammschen See Aale gefischt. Im Sommer waren sie vorwiegend in der Nacht mit ihren sieben Meter langen Booten und leichten Schleppnetzen, die sie Zeesen nannten, rausgefahren. Da der Aal empfindlich war, durften sie den Motor nur nutzen, um in die Fanggebiete zu gelangen.
Im Herbst und Frühjahr waren sie tagsüber in die Odergewässer gefahren, hatten dort größere Schleppnetze ausgeworfen und mit dem Strom gezogen. Auch dort musste für das Bewegen der Boote die Muskelkraft der Fischer eingesetzt werden.
Teilweise fuhren sie bis zu fünfundzwanzig Kilometer weit hinaus. Damit sie in der Dunkelheit erkannt wurden, hatten sie kleine Petroleumlampen als Erkennungslichter auf die Boote gesetzt. Kam das erste Eis oder gefror die Oder gar zu, musste der Fischfang eingestellt werden. Damit es keine Schäden an den Booten gab, hatten sie die Rümpfe ständig mit der Eisaxt freigeschlagen.
Da der Fisch auch in Kriegszeiten nie rationiert worden war, hatte er direkt an den Bootsliegeplätzen verkauft werden können. Aber die Frauen fuhren auch mit den Booten nach Stettin zum Fischmarkt, wo die Tiere in der Regel lebendig an den Mann gebracht wurden.
Ulrich seufzte. Hier war eben alles anders, aber in diesen Zeiten durfte man weder nachdenken noch trauern. Es galt zu überleben und die Familie durchzubringen. Alles andere war ein Luxus, den sich keiner leisten konnte.
Er zog nun den Holzklotz mit einem gezielten Griff aus der Öffnung des hinteren Korbes und leerte den Fang in das Behältnis auf dem Schlitten.
Dann ging es weiter. Insgesamt hatte Hero Gerken sechs Granatkörbe aufgestellt.
Ulrich war froh, dass Focko mit ins Watt gegangen war. Er lächelte ihm wortlos zu, und sie arbeiteten Hand in Hand. Er mochte den jungen Mann, der mit seinen zwanzig Jahren etwas älter als Frida war.
„Heute hat es sich gelohnt“, meinte Hero Gerken mit einem Blick zum Schlitten, wo der Behälter schon gut gefüllt war. „Zwei haben wir noch, die bekomme ich auch noch mit.“
Ulrich und Focko halfen ihm, auch diesen Fang einzubringen. Inzwischen war das Wasser so weit abgelaufen, dass es nur noch die Knie umspülte. Ulrich fand das wesentlich angenehmer, der Rückweg war noch weit und beschwerlich genug.
Auch die anderen Fischer hatten ihre Körbe geleert, und die, die zu den Stellnetzen wollten, liefen weiter. Sie mussten nur auf den noch niedrigeren Wasserstand warten, damit der Butt, der sich im Watt eingegraben hatte, aufgesammelt werden konnte.
Ulrich, Focko und Bauer Gerken aber machten kehrt. „Wir gehen zurück!“, rief Hero den anderen Fischern zu.
„Jo!“, hörte Ulrich, dann war wieder nur das Durchpflügen der Stiefel durchs Wasser zu vernehmen. Ganz regelmäßig, Schritt für Schritt ein leichtes Glucksen und Ziehen.
Ulrich konzentrierte sich darauf, den Schlitten mit dem wertvollen Fang sicher über den Schlick zu schieben, und war froh, als er das Festland im Dunst erkennen konnte. Hier war der Nebel nicht ganz so dicht wie eben noch auf See, und man konnte erahnen, dass sich die Sonne gleich durch die Schwaden kämpfen und sie später vertreiben würde.
Am Hafen angekommen, setzte Hero Gerken das Joch ab und lupfte die Schiebermütze. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Das war ja mal ein erfolgreicher Morgen, was?“
Ulrich nickte und begutachtete zusammen mit Focko den Granat. „Ist nur wenig Beifang dabei, und die Garnelen sind recht groß.“
„Jo.“ Hero setzte die Mütze wieder auf. „Die werden unsere Frauen schnell los. Dann lass uns mal sehen, dass wir fix zum Hof kommen. Focko muss ja auch nach Fedderwardersiel, die warten sicher schon auf dich, was?“
„Jo, immer sinnig“, antwortete Focko mit seinem gleichbleibend freundlichen Lächeln. Er strich sich über den kurzen Bart, der sein Kinn zierte.
„Ich geb dir Ende der Woche deinen Lohn. Auf jeden Fall danke, dass du wieder geholfen hast.“
„Da nich für. Ich helfe ja noch einmal, dann kannst du mich danach bezahlen.“ Focko schob sich die Strickmütze, die er immer bis über die Ohren hochrollte, ein Stück in den Nacken. „Denn will ick mol.“ Er nickte Ulrich zu und machte sich mit den Händen in den Hosentaschen auf den Weg zum Hof, wo er seinen Einspänner stehen hatte, mit dem er die knapp fünfzehn Kilometer nach Fedderwardersiel fahren würde.
Hero warf einen Blick zum Himmel. „Nu word dat ok tied för mi. Die Frauen haben bestimmt schon mit dem Melken begonnen. Und dann givt dat een moi Tass Tee!“ Er angelte in der Tasche nach einem Priem und stopfte ihn in den Mund.
Ulrich lehnte ab, als Hero ihm auch einen anbot. Er mochte Kautabak nicht. Sie verstauten den Schlitten in einem Verhau und schlossen die Tür. Der Bauer nahm den Jöck wieder auf, Ulrich hob den Korb mit den Garnelen an den Griffen an und balancierte ihn vor seinem Bauch.
„Denn man tau!“, sagte Hero Gerken.
Der Korb war schwer und unhandlich zu schleppen. Ulrich war froh, dass der Bauer weiterhin keine Lust verspürte, sich zu unterhalten. Er zog es ohnehin vor, seinen Gedanken nachzuhängen – immerzu dachte er darüber nach, dass sich in ihrem Leben schon bald etwas ändern musste.
Kurz darauf erreichten sie den Hof. Es war ein typisches Gehöft aus rotem Klinker und mit Satteldach. Vorn das Wohnhaus, an das sich die Stallungen mit den Kühen anschlossen. Hinzu kamen Nebengebäude mit Pferdeboxen und Schweinekoben, eine Remise für die Fahrzeuge sowie eine Scheune.
Sowohl Hero als auch seine Frau Elsa-Maria machten keinen Hehl daraus, dass sie die Flüchtlingsfamilie aus Stettin nur duldeten, auch wenn sie nie unhöflich waren und nie ein böses Wort fiel. Trotzdem waren sie Eindringlinge in eine fest gefügte Familienstruktur.
Immerhin waren die Köhle-Frauen günstige Arbeitskräfte. Die Familie musste fünfundzwanzig Reichsmark Miete für das fünfzehn Quadratmeter große Zimmer zahlen. Ulrich verdingte sich als Tagelöhner. Mal arbeitete er als Zimmermann, zudem auf den Höfen im Stall oder auf den Feldern, oder er half wie heute beim Fischen. Stets zog er von Bauer zu Bauer, bot seine Tätigkeiten an und war dankbar über jede Arbeit, denn die sicherte seiner Familie das Überleben. Da jedoch noch immer viele Männer nicht aus dem Krieg zurückgekehrt waren, fehlte es an Fachkräften, sodass Ulrich ein gewisses Auskommen hatte, das aber meist in Naturalien gezahlt wurde.
Häufig durften sie alle am Mittagstisch der Bauernfamilie teilnehmen, vor allem, wenn er auch bei den Gerkens wieder etwas instand gesetzt hatte. Das wenige Geld, das ihnen zur Verfügung stand, ging für Lebensmittel und andere überlebenswichtige Dinge drauf. Die Lebensmittelkarten reichten nicht, und so war großes Geschick angesagt, wenn man wie die Köhles nichts zum Tauschen hatte.
Zwar besaßen sie noch die Sparbücher, die sie aus Stolzenhagen mitgenommen hatten und von denen sie bei der örtlichen Bank auch immer mal wieder ein paar Reichsmark abheben konnten, aber dieses Kapital wollte Ulrich nur dann ernsthaft anzapfen, wenn es unbedingt nötig war. Es war ihre Rücklage, um sich ein eigenes Zuhause herzurichten, sobald sich die Möglichkeit bot. Er beschloss, nächste Woche noch einmal zur Gemeinde zu gehen, auch wenn er es hasste, als Bittsteller aufzutreten. Doch Skrupel brachten ihn nicht weiter.
Ein eigenes Haus zu finden hatte für Ulrich höchste Priorität, vor allem, weil sich die neunzehnjährige Frida bei den Gerkens in der Landwirtschaft sehr unwohl fühlte.
Ulrich hatte ein schlechtes Gewissen. Er wollte sein Kind wieder lachen sehen. Doch dazu bedurfte es nicht der frischen Nordseeluft, nicht der Fischerei und schon gar nicht eines Kuhstalls. Dazu brauchte es ein Klavier. Noten. Und die Welt der Musik. Und Ulrich wusste nicht, woher er das hier bekommen sollte.

Es roch süßlich und nach Kuh. Die Ketten klirrten, nur selten gab eines der Tiere einen Laut von sich. Frida hörte das regelmäßige Kauen, ab und zu klatschte ein Schwanz die Fliegen von den Flanken.
Sie hatte manchmal das Gefühl, vom Heimweh aufgefressen zu werden. Es war die Wortkargheit der Menschen. Die Sprache, die sie oft nicht verstand, weil sich das Platt hier von dem in Stettin unterschied.
Sie war doch erst neunzehn und nun zu einem Leben gezwungen, das sie sich so anders vorgestellt hatte! Sie liebte das Klavierspiel, und nun saß sie neben einer Kuh und versuchte, ihr die Milch zu entlocken, was ihr ebenso wenig gelang wie viele andere Arbeiten auf dem Bauernhof. Aber sie sollte aufhören zu jammern.
Immerhin war es im Augenblick möglich, im Stall zu melken. Dazu trieben sie die Kühe von den nahen Weiden zum Hof und anschließend wieder zurück. Das war bequem, denn wenn die Tiere weiter entfernt weideten, war es notwendig, hinzulaufen und die Tiere dort an einen Melkbaum zu binden, der von Weide zu Weide geschleppt wurde. Das war echte Knochenarbeit. Frida seufzte.
Gegen ihren Widerwillen half nur eins. Sie schloss die Augen und hatte sofort Franz Schubert im Kopf. In Gedanken spielte sie das Allegro vivace durch, während sie am Euter der Kuh zerrte. Wieder einmal traf sie ein Schlag vom Kuhschwanz, und sie wich angeekelt zurück, als sie sah, dass ihr eine Kuhlaus über den Arm krabbelte. Das Allegro im Kopf verstummte, Frida sprang auf und stieß dabei den Eimer um. Der Melkschemel kippte hintenüber, und sie begann zu straucheln. Nur mit Mühe stürzte sie nicht gegen die nächste Kuh.
Die wenige Milch versickerte im Stroh. Zu allem Überfluss bekam Frida noch einen weiteren heftigen Schlag mit dem Kuhschwanz ins Gesicht. Es brannte, als hätte sie jemand mit der Peitsche malträtiert. Ihr kamen die Tränen.
„Mist“, fluchte Frida. „Verdammter, blöder Kuhmist!“
Hinter ihr tappten Schritte. Kalle Gerken, der Sohn des Bauern, tauchte bei ihr auf. „Zu blöd zum Melken!“, sagte er, rollte mit den Augen und stieß mit der Stiefelspitze ein Stück getrockneten Kuhfladen in Fridas Richtung. Er bückte sich, betastete das Euter der Kuh, die Frida eben gemolken hatte. „Sag mal, wie lange bist du schon dabei?“
Frida zuckte mit den Schultern.
„Das ist ja nix, was du da rausgepumpt hast. Nix!“
Kalle seufzte genervt und griff nach dem Schemel. Er setzte sich darauf und begann mit regelmäßigen Bewegungen an den Zitzen zu drücken und zu ziehen. Schon bald spritzte die Milch mit kräftigem Strahl in den Eimer. „So geiht dat!“, sagte er zufrieden.
Frida nickte. Sie würde es wohl nie lernen. Dazu hasste sie es zu sehr. Ihre Finger gehörten auf die Tasten eines Klaviers und nicht an das Euter einer schwarz-weiß gefleckten Kuh! „Da war eine Laus“, sagte sie entschuldigend.
„Das kommt vor“, gab Kalle ungerührt zurück. „Ich sag Vadder Bescheid, dann machen wir das Ungeziefer weg.“ Er schaute Frida an. Sie konnte den Blick nicht deuten. Lag Schalk darin? Verachtung? Oder doch ein kleines bisschen Sympathie?
Nein, korrigierte sie sich. Es ist Mitleid. Kalle Gerken hatte Mitleid mit dem Flüchtlingsmädchen mit diesen schmalen langen Fingern, denen die Kraft fehlte, um Milch aus einem Euter zu bekommen. Er konnte schließlich nicht wissen, was diese Hände wirklich vermochten. Dass sie in der Lage waren, die Klavierversion von Mozart in d-Moll zu spielen. Oder von Beethoven das Klavierkonzert Nr. 1 in C-Dur. Das konnte Kalle nicht wissen, und so hatte er Mitleid mit ihr, die in seinen Augen unfähig zum Leben war. Weil sie nicht einmal eine Kuh melken konnte.
„Nu sieh zu, dass du vorankommst. Gibt gleich Frühstück. Mudder macht sicher schon Tee!“
Er verließ den Stall, nicht ohne sie noch einmal mit diesem eigenartigen Blick anzusehen. Dieses Mal machte er Frida Angst, denn sie erkannte noch etwas anderes darin, und das war – Verlangen.
Frida nahm schnell den Hocker und wischte den Gedanken beiseite. Eine Kuh musste noch gemolken werden, bei den anderen war ihre Mutter schon gewesen. Sie trug eben ihren letzten gefüllten Eimer aus dem Stall. Frida setzte sich erneut auf den Schemel, die Kuh drehte den Kopf zu ihr und sah sie mit den großen Kulleraugen an. Als Frida mit dem Melken begann, wandte sie sich wieder der Grasration zu.
„Ich muss das hinkriegen, damit ich schnell aus diesem Mief rauskomme!“, versuchte Frida murmelnd, sich selbst Mut zu machen.
Mit verbissenem Gesichtsausdruck umfasste sie die Zitzen und legte los. Genauso, wie Kalle es eben gemacht hatte. Kein lustloses Ziehen, das keinen Erfolg brachte. „Du brauchst Gefühl“, hatte ihre Mutter gesagt, die das Melken erstaunlicherweise sehr schnell gelernt hatte.
Frida bemühte sich nach Kräften, und tatsächlich schoss etwas Milch in den Eimer. Aber wieder versiegte der Strom schnell, sosehr sie auch drückte und zog. Sie konnte es nicht, wahrscheinlich, weil diese Arbeit sie so unglaublich abstieß.
Frida lehnte den Kopf an den Bauch der Kuh, zuckte aber sofort zurück, weil sie fürchtete, auch dieses Tier könnte Läuse haben.
Erneut vernahm sie Schritte und zerrte rasch wieder am Euter herum.
Es war ihre Mutter Margret. Sie erkannte das allmorgendliche Dilemma, und ihr Mund verzog sich zu einem Strich. „Komm, ich mach das“, sagte sie kopfschüttelnd und wie immer ein bisschen genervt, weil Frida sich so dumm anstellte.
Binnen kurzer Zeit war das Euter leer.
„Gut, dass wir fertig sind, ich habe großen Hunger, nun noch die Viecher raus“, sagte ihre Mutter. Doch Frida spürte, dass sie ihr am liebsten eine Ohrfeige verpasst hätte. Sie schaute ihr hinterher, als sie die Kühe rasch auf die Weide trieb.
Frida knurrte der Magen ebenfalls, zudem war sie müde, aber auf einem Bauernhof gab es keine Gnade, und sie mussten früh raus aus dem Bett. Frida wischte sich mit dem Unterarm übers Gesicht und stöhnte, als sie wahrnahm, dass sie aus jeder Pore nach Kuhstall roch.
Wie sie den Krieg hasste, der ihr all das eingebracht hatte! Wie sie Hitler und seine Gleichgesinnten hasste, die der Auslöser für ihr jetziges Leben waren!
Sie wollte, zum Teufel noch mal, keine Kühe melken, keine Ställe ausmisten und Kartoffeln hacken. Sie wollte nicht gleich losziehen und den Granat, den ihr Vater heute Morgen aus dem Meer gefischt hatte, sieben und kochen und schließlich an den Haustüren verkaufen. Nein, verdammt, das wollte sie alles nicht! In Stolzenhagen hatten das die Mütter getan, und sie durfte sich auf das Klavierspielen konzentrieren. Oder darauf, bei Kulescza mit ihren Freundinnen ein Eis zu essen.
Bei schönem Wetter waren sie hoch zur Göringstraße gelaufen, hatten sich an einen der vom Grün umrankten Tische gesetzt und es sich gut gehen lassen.
Nicht nur danach sehnte sich Frida, sondern vor allem auch nach ihrer Freundin Erna, mit der sie in Stettin das Löwe-Konservatorium besucht hatte. Sie hatten sich zum letzten Mal auf der Flucht im Zug gesehen, seitdem hatte Frida nichts mehr von ihrer Freundin gehört und wusste nicht einmal, ob sie noch lebte. Erna und sie, das war eine besondere Verbindung gewesen. Zwei junge Mädchen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Ernas Vater war Anwalt und verkehrte in den angesehenen Kreisen Stettins, weshalb Erna das Löwe-Konservatorium besuchen durfte, obwohl sie nicht zu den talentiertesten Schülerinnen gehörte. Das war normalerweise vollkommen ausgeschlossen, denn die Aufnahmekriterien waren überaus streng, und man konnte dort nur mittels einer Empfehlung die Ausbildung genießen. Trotzdem machte Erna das Musizieren Spaß, und sie hatte irgendwann auch einen gewissen Ehrgeiz entwickelt, damit sie nicht die Schlechteste war. An Fridas außergewöhnliche Begabung kam sie zwar nie heran, aber das gelang auch den anderen Schülerinnen nicht.
Frida hatte eben ein besonderes Talent, auch wenn sie aus einer einfachen Fischerfamilie stammte. Sie lebte nicht wie Erna in der wunderschönen Altstadt Stettins, sondern im Stadtteil Stolzenhagen, genauer gesagt in dem kleinen Viertel Glienken direkt an der Oder. Ihre Familie besaß ein gemütliches Haus, in dem genügend Platz für alle gewesen war. Umgeben von einem Garten. Hinter ihrem Haus liefen die Bahnschienen entlang.
Erna hatte Frida nur selten zu Hause besuchen dürfen, weil ihre Eltern nicht wollten, dass sich ihr Kind in einer Fischersiedlung aufhielt, weshalb Frida meist bei Erna zu Besuch gewesen war. Ihre Freundin selbst hatte ihre einfache Herkunft nie gestört. Doch wenn sich ihre Eltern im Konservatorium oder beim Abholen begegnet waren, hatte Frida den von Geests stets angesehen, dass sie heimlich die Nase über sie, das Fischermädchen, rümpften.
Wie gern würde sie mit ihrer Freundin wieder durch Stettin streifen, mit ihrem Vater in Konzerte und Theater gehen und schöne Kleider tragen! Das alles hatte sie schon als Kind gedurft, weil ihr Vater den Drang seiner Tochter zur Musik und Kultur immer sehr unterstützt hatte.
Aber an all das war in Eckwarderhörne gar nicht zu denken. In Stettin auch nicht mehr, dachte Frida. Stettin liegt in Schutt und Asche. Und ich sollte mich glücklich schätzen, dass ich noch beide Eltern habe.
Dennoch wäre es hier leichter gewesen, wenn ihre Familie wenigstens einen kleinen Garten gehabt hätte, den sie zum Blühen hätte bringen können. Dazu ein Gemüsebeet, wo sie täglich etwas ernten konnten, um daraus ein schmackhaftes Essen zu bereiten. Das wäre ein winzig kleiner Lichtblick in der großen Finsternis gewesen. Denn im Garten zu arbeiten hatte sie in Glienken immer gemocht. Ihre Hände konnten nicht nur dem Klavier wunderbare Töne entlocken, sondern auch wahre Wunder an Pflanzen verbringen.
Aber nicht einmal das gab es hier für sie. Den Garten des Bauernhofs durfte sie nicht betreten, vermutlich weil die Gerkens befürchteten, sie könnte sie bestehlen.
Frida seufzte noch einmal leise auf und machte sich auf den Weg aus dem Stall. Sie hielt sich die Nase zu, als sie am Misthaufen vorbeikam und ein Schwarm Schmeißfliegen aufstob.

Focko war nicht gleich losgefahren, weil er hoffte, Frida noch zu sehen. Sie war für ihn mit ihrem goldblonden Haar und den einzigartigen grünen Augen das schönste Mädchen, das ihm je begegnet war. Er kam nur deshalb gern zu Bauer Gerken, weil er so die Möglichkeit hatte, ihr zu begegnen. Doch leider schaute sie ihn gar nicht an. Jedenfalls nicht so, wie er es sich wünschte. Sie war nett und freundlich, wie sie zu jedem nett und freundlich war – aber sonst?
Focko seufzte, doch ein Lächeln glitt über sein Gesicht, als er sie sah. Sie wirkte frustriert, wahrscheinlich hatte es mal wieder mit dem Melken nicht geklappt.
„Moin“, begrüßte er sie.
Frida blieb stehen, und sofort wurden ihre Gesichtszüge weicher. „Seid ihr schon vom Fischen zurück?“
„Jo, guter Fang.“ Focko nahm die Wollmütze vom Kopf und drehte sie verlegen. „Wird sicher ein freundlicher Tag. Die Sonne kommt durch.“ Er scharrte mit der Schuhspitze über das grobe Pflaster des Hofs.
„Ich muss dann auch“, sagte Frida. „Sie warten mit dem Frühstück. Ich bin spät dran, weil …“ Sie brach ab. Es schien ihr unangenehm zu sein, dass sie mit dem Melken Probleme hatte.
„Ist auch schwer. Ich kann es auch nicht“, sagte Focko, der sofort wusste, worum es ging.
„Nein?“ Frida wirkte erstaunt. „Ich dachte, nur ich stelle mich so dumm an.“
„Nein, ich kann es wirklich nicht. Sieh nur!“ Focko streckte seine Hände vor. Doch sogleich schämte er sich. Sie waren klobig, unter den Nägeln klebte das Watt, und auf der Oberfläche kringelten sich rote Haare. „Bin eher Fischer.“
Frida fing an zu kichern und zeigte ihm ihre Hände, die schmal und feingliedrig waren. Aber auch ihre Nägel waren von der harten Arbeit abgesplittert. „Ich bin Pianistin“, sagte sie und hielt die Hände noch näher an Fockos. Er hätte sie mit einer Hand umfassen können. So aber berührten sich nur ihre Fingerspitzen. Sie standen eine Weile voreinander und tauchten in den Blick des anderen ein. Mit einem Mal glaubte Focko so etwas wie Magie zu spüren. Mochte sie ihn doch? Wenigstens ein ganz kleines bisschen? Ihm klopfte das Herz bis zum Hals. Es wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein. Das scheue Mädchen aus Stettin und er, der muskulöse Fischer. Grün und Grau, Gold und Rot.
Frida hatte noch nicht aufgehört zu lächeln. Sie ließ aber ihre Hände wieder sinken. „Danke, Focko. Ganz doll danke, dass du mir Mut machst. Ist wirklich nicht einfach für mich. Das alles hier.“
Sie machte einen Schritt rückwärts. „Bis dann. Wir sehen uns!“ Frida rannte zum Haus, als wäre der Teufel hinter ihr her.
Focko aber blieb noch eine ganze Weile stehen und sah ihr nach. Sie hatte sich mit ihm unterhalten, sich sogar bei ihm bedankt! Was hatte Frida für schöne Augen …
Diesen Blick würde er mitnehmen nach Fedderwardersiel. Und schon bald wollte er zurückkommen. Zu Frida. Auch wenn er sich besser keine Hoffnungen machte.


Kapitel 2

Erna von Geest schüttelte den Kopf. Dieses grün getupfte Kleid mit dem weißen Spitzenkragen war eine einzige Katastrophe. Das konnte sie unmöglich anziehen! Sie brauchte dringend neue und moderne Kleider, aber die zu bekommen war selbst für ihre Familie im Augenblick nicht so einfach. Sie waren nach dem Bombenangriff auf Stettin im August 1944, als sie ihr gesamtes Hab und Gut verloren hatten, zunächst aufs Land zu Freunden gezogen, und ihr Vater hatte für Nachschub gesorgt. Wie er auch immer an die Kleider und Hüte gekommen war. Erna wollte das gar nicht so genau wissen.
Das alles hatten sie auch auf der Flucht mitnehmen können, aber etliches Gepäck war im Güterwagen während der Fahrt gen Westen verloren gegangen, und dazu gehörte der gesamte Kleiderbestand von Erna. Ihr verbliebener Koffer war zuvor am Bahnhof in Stettin auch noch gestohlen worden.
Als sie nach der Flucht die Villa in Varel bezogen hatten, war Ernas Kleiderschrank leer gewesen. Wieder hatte ihr Vater dafür gesorgt, dass es nicht lange so blieb, aber es war einfach nichts dabei, was Erna wirklich gefiel. Dieses Fähnchen, das ihre Mutter jetzt angeschleppt hatte, passte überhaupt nicht zu ihr!
„Mutter!“ Ernas Stimme klang schrill, das tat sie immer, wenn sie aufgebracht war.
„Was ist denn?“, fragte ihre Mutter mit strenger Stimme und steckte den Kopf zur Tür herein.
„Das Kleid ist unmodern und hässlich. Ich will so nicht rausgehen.“ Erna zog es wieder aus und schleuderte es auf den Stuhl. „Der Krieg ist vorbei, und ich will wieder hübsch aussehen!“ Sie warf sich aufs Bett wie ein trotziges Kind. Erna wusste selbst, dass ihr Verhalten für eine Neunzehnjährige überaus kindisch war und sich nichts änderte, wenn sie herumwütete, aber das schäbige Kleid, das einer Großmutter hätte dienlich sein können, hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.
Erna ging das derzeitige Leben auf die Nerven, sie hatte unsägliches Heimweh nach Stettin. Und sie vermisste Frida. Sie vermisste das Lachen ihrer Freundin und die vielen Gespräche, die nur mit ihr möglich waren.
Ihre Mutter Stine stand starr im Türrahmen und wusste mit dem Wutanfall der Tochter nichts anzufangen. „Man hat dir auf der Flucht den Koffer gestohlen, der Rest ist verschollen, und derzeit bekommt man nicht viel, das weißt du. Die Marken reichen hinten und vorne nicht. Ich trage im Augenblick auch nur das, was da ist. Wir müssen geduldig sein. Es gibt nichts anderes. Aber das wird sich bald ändern, glaub mir. Ich habe munkeln gehört, dass es bald besser wird.“ Sie wandte sich zum Gehen. Wie immer in kerzengerader Haltung, das Kinn ein Stück nach vorn gereckt. Die Illusion von Stolz und Unnahbarkeit. „Nun mach dich schon fertig. Assessor Braun und seine Gemahlin kommen gleich.“
Klack, war die Tür zu, und Erna hörte die zackigen Schritte auf der Treppe.
Was interessierte sie dieser blöde Assessor? Erna trommelte weiter mit den Fäusten auf dem Kissen herum. Es tat so gut, diese ohnmächtige Wut hinauszuschlagen! Sie war doch noch jung, hatte Träume und Ziele, und alles war in den letzten zwei Jahren völlig zerstört worden.
Erna wollte ihr altes Leben zurück. Sie wollte in Stettin am Manzelbrunnen vorbeiflanieren. Aber den gab es nicht mehr, genauso wenig wie das Stettiner Schloss, das wie vieles andere den Bombenangriffen zum Opfer gefallen war. Und wo lebte sie nun? In der provinziellen Kleinstadt Varel, die der Pracht Stettins nicht im Mindesten das Wasser reichen konnte.
Es war aber nicht nur das. Ihr ging es nicht gut, denn sie wachte nachts oft auf, weil sie die Grausamkeit der Träume nicht ertragen konnte. Mit Schaudern holten sie dann die Erinnerungen an den Krieg ein.
Diese ständige Angst, dass die Sirenen jaulten und die Flieger kamen. Die Panik, ob man es auch dieses Mal in den Bunker schaffen konnte, und dann, ob die Wände und Rohre dort hielten oder ob man bereits im vorgefertigten Grab saß.
Nicht einmal ihre Zeugnisse hatte Erna mitnehmen dürfen. Alles, was ihrer Mutter überflüssig erschienen war, musste zurückbleiben und wurde nicht in die Tasche gepackt, wenn sie in den Luftschutzkeller gingen. Ernas Einwände hatte sie ignoriert. „Zeugnisse braucht heutzutage kein Mensch!“
Damals nicht, da ging es ums Überleben, aber jetzt?
Mutters Satz hatte in ihren Ohren so endgültig und frustrierend geklungen. Jahrelang hatte sie gelernt, weil sie nicht wie ihre Mutter nur Hausfrau eines großen Hausstandes an der Seite des erfolgreichen Mannes sein wollte. Insgeheim träumte Erna von einem Studium der Medizin, auch wenn sie am Konservatorium ausgebildet wurde und die Musik durchaus mochte. Und dann durften die Beweise für ihr Geschick in Mathematik und Biologie nicht mitgenommen werden! Nach dem letzten Bombenangriff lagen die Zeugnisse ohnehin unter einem Berg von Schutt in Stettin begraben.
Dieser furchtbare Angriff, bei dem sie alles verloren hatten … Wieder drängten sich in Erna die Bilder hoch. Anfangs waren die Bomber über die Stadt nur hinweggeflogen, und es kam schnell Entwarnung, aber schon bald wurde der Luftschutzkeller zum zweiten Zuhause.
Erna biss sich auf die Unterlippe, um den Schmerz ertragen zu können. Dieser Schmerz, der seit dem einen Angriff 1942 in ihr wütete, denn es war der Anfang vom Ende gewesen. Sie würde dieses Bombardement nie vergessen. Diesen grausamen Vorboten auf das, was sie noch ertragen musste.
Gegen zehn Uhr hatten die Scheinwerferfinger ihre Strahlen in den Himmel gereckt und nach den Fliegern der Alliierten gesucht. Kaum saßen Erna und ihre Eltern im Luftschutzkeller, fielen die Bomben. Es ging die ganze Nacht, aber ihr Haus und ihr Viertel hatten alles schadlos überstanden.
Ihre Seelen jedoch nicht. Wer einmal in einem solchen Keller gehockt hatte, dem Tod auf Gedeih und Verderben ausgeliefert, würde das niemals vergessen können. Diese Angst, dass es wieder passieren konnte, und das langsame, innere Absterben mit jedem weiteren Angriff.
Zwei Jahre später erfolgte im August 1944 das große, furchtbare Inferno, als das Bomber Command der Royal Air Force kam und von Angriff zu Angriff die wunderschöne Altstadt Stettins mit den imposanten Gebäuden und dem Hafengebiet fast völlig zerstörte. Und nicht nur die Gebäude.
An dieser Stelle konnte Erna nicht weiterdenken, sonst hätte sie geschrien, so wie in den Träumen, wenn sie das Grausame wieder und wieder erlebte.
Ach, ihr schönes Stettin! Erna seufzte. Die Stadt, die sie mit Lachen und Lebensfreude verband. Die Stadt, in der die Leichtigkeit ihre Bewohner tanzen ließ. Da, wo der Himmel so blau war wie sonst nirgendwo.
Vorbei.
Stettin war zu einem Haufen Schutt geworden, aus dem die Mauern der zerstörten Gebäude wie Gerippe in den Himmel ragten.
Geblieben war ihr dieses schrecklich getupfte Omakleid mit dem leicht ausgestellten Rock, das ihre Mutter gestern irgendwo aufgetrieben hatte. Es wirkte wie ein Zeichen dafür, mit welcher Tristesse es weitergehen würde.
Die Tür klackte erneut, und ihre Mutter kam zurück. Sie wirkte aufgebracht. „Erna, nun reiß dich mal zusammen! Immerhin haben wir ein Dach über dem Kopf. Herold wird bald bestimmt aus der Gefangenschaft zurückkommen. Und genug zu essen haben wir auch, weil dein Vater Verbindungen hat“, hob sie an. „Der neue Staat braucht Menschen wie ihn. Sein Wissen als Jurist ist unverzichtbar. Nun zieh dich schon an, wir bekommen doch gleich Besuch.“ Ihre Mutter klang verärgert und ungeduldig. Sie war eigentlich nie freundlich und entspannt. Jedenfalls nicht richtig. Nach außen, ja, da lächelte sie. Aber wann hatte sie ihre Tochter das letzte Mal in den Arm genommen? Erna konnte sich nicht erinnern. Ihre Mutter war kalt wie ein Fisch. Sie war noch nie eine herzliche Frau gewesen, aber seitdem ihr Sohn Herold eingezogen worden war und niemand wusste, wo er steckte, und dann der kleine Toni …
Nein, jetzt nicht Toni.
Erna hieb abermals mit der Faust aufs Kissen. Was war das für ein Gott, der ihnen den Kleinen unverhofft geschenkt und ihn dann gleich wieder zu sich genommen hatte? Kein Wunder, dass ihre Mutter wie von einem Eiskegel umgeben war. Vermutlich hätte sie die Welt sonst nicht ausgehalten.
„Ich gehe in die Küche und erwarte Gehorsam.“ Ihre Mutter verschloss nachdrücklich die Tür. Sie würde niemals über ihre Gefühle reden oder darüber, was das alles mit ihr gemacht hatte. Und schon gar nicht, welche Schuld und Verantwortung im Krieg sich auch ihre Familie auf die Schultern geladen hatte. Erna setzte sich auf und stützte das Gesicht in ihre Hände. Die Verbindungen ihres Vaters kannte sie nicht im Detail, aber sie ahnte von Tag zu Tag mehr, in welchen Kreisen er sich bewegte und stets bewegt hatte.
Ihr Vater war einer von denen, die den Führer lautstark unterstützt hatten und jetzt keine Skrupel kannten, sich wieder ganz nach vorn durchzukämpfen – die Vergangenheit bewusst ignorierend.
Erna erinnerte sich gut an die Familie Salomon, die in der Wohnung nebenan gelebt und bei der sich ihre Mutter immer Mehl oder Eier geliehen hatte. Ihre Eltern sprachen stets mit vorgehaltener Hand über die Nachbarn, weil sie nicht wie die anderen eintausend in Stettin lebenden Juden nach Polen deportiert worden waren, da „der Führer“ Wohnraum brauchte für jene Deutschen, die in seenahen Berufen arbeiteten.
„Da hat der Salomon Glück mit seiner Mischehe. Die haben sie noch verschont“, hatte ihr Vater einmal abfällig geäußert. „Ich betone: noch! Warum auch immer sich eine deutsche Frau mit einem Juden einlässt.“

Dr. Salomon war Arzt und viele Jahre lang auch abends zu den von Geests rübergekommen, wenn es nötig war. Auch als ihm schon nicht mehr erlaubt war zu praktizieren. In der Zeit litt Erna einmal unter Halsweh und Fieber, und so spät am Abend war kein Arzt mehr zu bekommen. Die Praxis von Dr. Salomon war schon lange geschlossen, Leute wie ihn, den Juden, durfte man nicht mehr aufsuchen. Erna aber ging es schlecht. Zwar hatte Vater verboten, dass sie mit Familie Salomon Kontakt hatten, aber er war an jenem Abend nicht da.
Ihre Mutter wusste sich keinen anderen Rat, als bei den Nachbarn zu klingeln. Erna stand in der Tür und schaute mit fiebrigen Augen auf die andere Seite des Hausflurs, wo Frau Salomon mit blassem Gesicht öffnete und sich Mutters Anliegen anhörte.
Sie sah zu Erna, nickte dann, und kurz darauf kam Dr. Salomon mit der Arzttasche in ihre Wohnung. Er untersuchte Erna schweigend. Seine Hände zitterten, als er etwas zum Spülen für den Hals und zum Senken des Fiebers aus der Tasche zog und mit wenigen Worten erklärte, wie sie alles einnehmen und anwenden sollte. Dann huschte er fast lautlos zur Wohnungstür.
Kaum stand er aber im Hausflur, stampfte Ernas Vater die Treppen herauf. Er verstellte Dr. Salomon kurz den Weg, musterte ihn und ließ ihn dann vorbei, woraufhin dieser augenblicklich in seiner Wohnung verschwand, als wäre er eine Maus, die vor der Katze Deckung sucht.
„Was hat der Jude hier gemacht?“ Die eiskalte Stimme des Vaters machte Erna Angst. Sie war so anders als die, mit der er ihr eine gute Nacht wünschte oder sie für ihre ausgezeichneten Noten lobte. Das hier war die Stimme des Mannes, der alles zerschmetterte, was nicht in sein Weltbild passte.
Mutter zog ihn rasch in den Wohnungsflur und schloss die Tür. „Erna ist krank, und ich habe keinen anderen Arzt erreicht“, verteidigte sie sich. „Es geht ihr wirklich schlecht, Heinz!“
Erna stand mit zitternden Knien im Türrahmen ihres Zimmers, weil sie aufgestanden war, als sie die schneidende Stimme ihres Vaters vernommen hatte. Er musterte sie. „Geh zurück in dein Bett!“ Dann drehte er sich zu seiner Frau um. „Das mit dem Arzt hätte bis morgen Zeit gehabt. Bevor du den Quacksalber bemühst. Er ist des deutschen Volkes Feind!“, knurrte ihr Vater. „Wir sprechen uns noch.“
Erna wollte eigentlich zurück ins Bett kriechen, denn sie fühlte sich wirklich sehr elend, aber sie sah, dass der Vater den Telefonhörer in die Hand nahm. Er hob nur kurz die Brauen, als er seine Tochter bemerkte, und Erna verschloss die Tür, bevor sie sich hinlegte und die Decke bis zur Nasenspitze hochzog.
Dann versuchte sie zu lauschen, was ihr Vater sagte. Leider verstand sie nichts.
Kurz darauf kam die Mutter zu ihr. Sie legte den Finger an die Lippen, schüttelte den Kopf und bedeutete Erna zu schweigen. Ihre Mutter versorgte sie mit der Medizin, die Dr. Salomon ihnen gegeben hatte, und verschwand genauso lautlos, wie sie gekommen war.
In der Nacht wurde es nebenan laut.
Erna hörte, wie Porzellan zerschellte, vernahm das Flehen von Frau Salomon. Ihr Weinen und Schluchzen. Dank der Medizin ging es Erna etwas besser, und sie quälte sich aus dem Bett zum Fenster. Vor dem Haus stand ein großer Transporter, der von Männern mit Maschinenpistolen bewacht wurde. Sie wusste, was das bedeutete. Ihre Nachbarn wurden abgeholt wie zuvor so viele Juden. Es hieß, sie würden umgesiedelt, und man sah sie nie wieder. Erna schluckte, denn jetzt war auch Jakob fort. Er hatte so wunderschöne braune Augen und als erster Junge ihre Hand gehalten.
Sie stürzte durch den Flur zum Schlafzimmer der Eltern. „Vati, hilf ihnen doch!“, rief sie.
Aber ihr Vater stand mit grimmigem Gesicht am Fenster und schaute sich die Deportation der Nachbarn seelenruhig an. „Das geht alles seinen rechten Weg, Erna. Der Staat muss aufräumen mit denen, die sich nicht an das halten, was für sie vorgesehen ist.“
Erna wusste damals nicht so genau, was er meinte. Sie war zu jener Zeit dreizehn Jahre alt, Mitglied im Jungmädelbund, und sie freute sich darauf, bald zum BDM, dem Bund deutscher Mädchen, gehen zu dürfen. Schon bei den Jüngeren lernte sie, dass Juden Menschen zweiter Klasse waren, aber das traf doch nicht auf die Salomons zu. Das waren schließlich ihre Nachbarn, und die Mutter war nicht einmal Jüdin.
„Hast du sie gemeldet?“, fragte Erna am nächsten Morgen ihren Vater. „Weil er mir geholfen hat, als ich krank war?“
Die Antwort blieb der Vater ihr schuldig.

Erna lachte hämisch auf. Jetzt, nach dem Krieg, als all die schlimmen Sachen langsam publik wurden, formten sich immer mehr Bilder einer verblendeten Zeit, die sie nicht sehen wollte, aber zur Kenntnis nehmen musste. Manchmal fiel es ihr schwer, ihren Eltern noch in die Augen zu blicken.
Erna stand auf und schaute in den ovalen Spiegel. Ihre Augen waren rot unterlaufen, das Haar stand wirr in alle Richtungen ab.
„Du siehst schlimm aus“, sagte sie laut und streckte sich die Zunge heraus. Sie äffte die Stimme ihrer Mutter nach. „Mach dich zurecht, Erna! Assessor Braun und Gemahlin kommen gleich!“
Keine Frage dazu, warum ihr Kind so verzweifelt war. Welche Ängste sie quälten. Warum sie seit der Flucht extrem abgenommen hatte. Das Leben ging weiter. Immer geradeaus.
Im Hause von Geest bewahrte man Haltung. Gleichgültig, was passiert war. Ihre Eltern lebten noch in der alten Zeit. Sie hatten nur die Lebensumstände verändert, weil sie es mussten. Und trotzdem gab es schon wieder fast alles, was man benötigte, um weiterhin nach außen hin Eindruck zu schinden. Eine vollständig eingerichtete Villa.
Passendes Geschirr und Kristallgläser. Weiße Stoffservietten, die allerdings an den Kanten verschlissen waren und einige Löcher aufwiesen. Erneut drängte sich Erna die Frage auf, warum ihre Familie ein Haus und Dinge besaß, die andere nicht hatten. Und wie immer schob sie diese Gedanken beiseite, weil sie die Antwort in Wahrheit gar nicht kennen wollte.
Ihre Trauer hatten die von Geests in Stettin gelassen. Über Toni wurde nicht mehr gesprochen. Auch nicht über die schöne Altbauwohnung, in der sie gelebt hatten und die mit allem ausstaffiert gewesen war, was man sich wünschen konnte. Vergoldete Wasserhähne, flauschige Teppiche und viele Bücher in einem Regal, das bis zur Decke reichte. Mein Kampf immer schön in Sichtweite, weil es Vaters Lieblingsbuch war.
Ihre Eltern hatten das alles zurückgelassen, abgehakt, und waren in Varel zwar in ein anderes Haus gezogen, doch sie hatten das privilegierte Denken mitgenommen und ignorierten einfach, dass es ihre Welt nicht mehr gab.
Und doch befürchtete Erna, es würde den Eltern und ihresgleichen gelingen, in der neuen Welt eine weitere aufzubauen, die der von vor dem Krieg ähnelte. Warum war ihr Vater nie belangt worden und hatte auch jetzt schon wieder einen hohen Posten, obwohl er in Stettin dicht an der Seite des stellvertretenden Gauleiters Paul Simon agierte hatte? Welche Verbindungen hatte sich ihr Vater schon wieder zunutze gemacht, dass sie so bevorzugt wohnen durften? Manchmal verglich Erna ihren Vater mit einem Aal, der sich durch finstere und dicht verwachsene Gewässer stets stromaufwärts schlängelte und immer am Ziel ankam.
Menschen wie ihr Vater würden auch in der neuen Demokratie ihren Platz finden und nach und nach die Fäden in die Hand nehmen, sie straffen und die Geschicke im Land am Ende lenken.
Seufzend wusch sich Erna das Gesicht, zupfte die Frisur zurecht und zog das verhasste Kleid an.
Es musste doch einen Weg aus diesem Gefängnis geben! Einen Weg zurück zum tiefen Blau des Himmels. Sie glaubte nicht, dass es den nur in Stettin gab.

„Die Nordsee ist die Landschaft meiner Seele. Nirgendwo lässt sich besser träumen,...“

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Das alte Hotel an der NordseeküsteDas alte Hotel an der Nordseeküste

»Die Nordsee ist die Landschaft meiner Seele. Nirgendwo lässt sich besser träumen, streiten oder lieben als in ihrer unmittelbaren Nähe.«

Eigentlich hat Isabell, 32, geschiedene Mutter von zwei Kindern, fast nur schlechte Erinnerungen an ihre Kindheit an der deutschen Nordseeküste. Und auch mit der Liebe hat sie nach ihrer Scheidung und einer heftigen Enttäuschung abgeschlossen. Doch als ihr Vater stirbt und sie gemeinsam mit ihrer Schwester das alte Familienhotel erbt, zögert Isabell trotz allem keine Sekunde, ihr ruhiges Leben in Bozen gegen zu erwartenden Streit und drohende Feindseligkeiten in der alten Heimat einzutauschen.

Schließlich ist es ihr Kindheitstraum, den Ballsaal des Hotels endlich wieder zum Leben zu erwecken. Dumm nur, dass ihre Schwester bereits beschlossen hat, aus dem gemeinsamen Erbe ein Tagungshotel zu machen. Und dass der neue Freund ihrer Schwester ausgerechnet Isabells einstige große Liebe ist. Doch Isabell gibt die Hoffnung nicht auf, dass über verschlungene Wildrosenpfade alles irgendwie noch gut werden kann…

Ein herrlich romantischer Roman um eine Frau, ihre Vergangenheit und einen traumhaften Ballsaal.

  • Für alle Leser*innen von Jenny Colgan und Sontje Beerman
  • Erschien bereits 2018 unter dem Titel „Die Wahrheit über Wildrosen“
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Eine Liebesgeschichte wie ein Sommertag am Meer

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Sylter RosenSylter Rosen

Ein Nordsee-Inselroman

Sylt im Sommer und ein familiengeführter Pferdehof - Ein Inselroman zum Träumen und Schwelgen für alle Fans von Sontje Beermann und Julia Rogasch

»Ich antwortete nicht auf seine Frage. Sein linker Arm lag auf der Banklehne. Er könnte mich erreichen mit seiner Hand, meine Schulter berühren, wenn da nicht ein Geschirrtuch zwischen uns wäre. Würde er dann den Arm um mich legen? Ein Geschirrtuch, das uns trennte  – verflucht.«

Liebeskummer, Geldsorgen und Schreibblockade: Es könnte besser laufen für die junge Autorin Lisa. Traummann Markus hat sich als Betrüger entpuppt und Lisa ohne einen Cent und mit einer üppigen Hotelrechnung auf Sylt sitzengelassen. Außerdem ruft ihr Verlag täglich an und möchte endlich eine Idee für ihren neuen Roman sehen. Da kommt der Job auf dem Insel-Pferdehof gerade recht. Hier trifft Lisa den wortkargen, aber attraktiven Kristian, der zwar ihr Herz bewegt, den sie aber nicht recht einschätzen kann ...


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Spannend, gefühlvoll, idyllisch

Das kleine Gestüt an der OstseeDas kleine Gestüt an der Ostsee

Roman

Ein spannender Ostsee-Liebesroman um ein Pferdegestüt und ein dunkles Familiengeheimnis 

Auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Ex-Freund ist Riley in Bradebüll, einem kleinen Dorf an der Ostsee, untergetaucht. Hier am Meer kann ihre verletzte Seele heilen und sie ein neues Leben beginnen, davon ist sie überzeugt. Ihr Vorsatz, sich auf keinen Mann mehr einzulassen, gerät allerdings ins Wanken, als sie Hendrick kennenlernt, Juniorchef des Gestüts Hansen und Sohn des einflussreichsten Mannes im Ort. Riley und Hendrick verlieben sich Hals über Kopf ineinander – doch das Gestüt steht kurz vor dem Ruin und nicht nur in Rileys Vergangenheit gibt es dunkle Schatten, die sie beide jetzt einholen …

Neuauflage: Erschien bereits 2020 unter dem Titel „Und irgendwann wird alles gut“.

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Wellen, Meeresbrise und Neuanfang

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Die kleine Ostsee-BäckereiDie kleine Ostsee-Bäckerei

Ein Küstenroman

Warmherziger Liebesroman um eine Bäckerei an der traumhaft schönen Ostseeküste. Für alle LeserInnen von Jenny Colgan und Meike Werkmeister

„Ich erinnerte mich nur zu gern an diese Ferien zurück. Das Meer, der Duft nach frischen Brötchen und die Liebe meiner Tante waren fest mit meiner Jugend verwoben.“

Liz zieht nach dem Tod ihres Freundes zu ihrer Tante an die See. Dort hofft sie, ihre Schuldgefühle besiegen zu können. Schnell steckt sie all ihre Energie in den Erhalt der kleinen Bäckerei. Trotz gebrochenem Herzen entwickelt sie Gefühle für den gut aussehenden Bjarne. Doch die beiden verfolgen unterschiedliche Ziele, denn Bjarne hat andere Pläne mit der Bäckerei. Hat die Liebe da überhaupt eine Chance?

„Eine wirklich romantische und unterhaltsame Geschichte, die ich jedem ans Herz legen kann, man spürt einfach dieses gewisse Küstenfeeling. Bitte mehr davon“  ((Leserstimme auf Netgalley))

Erschien bereits 2018 unter dem Titel „Glück hat viele Farben“

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Krimis an Nord- und Ostsee
Buchblog
24. April 2023
Ein neuer Fall für Mamma Carlotta
Eine verurteilte Mörderin ist zurück auf Sylt, ein alter Fall wird neu aufgerollt und Mamma Carlotta ist mittendrin! Erfahren Sie alles über die Sylter Krimi-Reihe um Mamma Carlotta und ihren neuen Fall „Treibholz".