Der Milchhof – Das Flüstern der Gezeiten (Milchhof-Saga 2) Der Milchhof – Das Flüstern der Gezeiten (Milchhof-Saga 2) - eBook-Ausgabe
Roman
— Gefühlvolle Nordsee-Familiensaga„Exakt recherchiert, atmosphärisch dicht und voller Empathie erzählt, mag man das Buch gar nicht zur Seite legen.“ - Nordwest-Zeitung
Der Milchhof – Das Flüstern der Gezeiten (Milchhof-Saga 2) — Inhalt
„Unsere Milch ist weißes Gold – machen wir das Beste daraus!“
Dramatisch, atmosphärisch, authentisch: Der zweite Band der neuen gefühlvollen Nordsee-Familiensaga der SPIEGEL-Bestsellerautorin Regine Kölpin.
Friesische Wehde 1920: Nach den Kriegsjahren stehen Lina und ihre Tochter Alea vor der Herausforderung, die Molkerei wieder in Schwung zu bringen. Doch die finanzielle Situation des Milchhofs verschlechtert sich durch die zunehmende Inflation, und die inzwischen verwitwete Lina steht bald vor einer schweren Entscheidung: Entweder sie gibt den Hof auf oder sie heiratet den zwanzig Jahre älteren Großgrundbesitzer Wilhelm, obwohl sie Derk noch immer liebt und sie nun endlich zusammen sein könnten. Lina entscheidet sich schweren Herzens für die Ehe mit Wilhelm, denn damit ist das Überleben der Molkerei vorerst gesichert. Doch sie zahlt einen hohen Preis für ihre Entscheidung, denn Derk verlässt enttäuscht den Milchhof. Als dann auch noch Wilhelm stirbt, es zu einem tiefen Zerwürfnis zwischen Alea und ihrer Tochter Enna kommt, und die Frauen unter den erstarkenden Nationalsozialisten die Molkerei nicht mehr alleine führen dürfen, geht es für den Milchhof bald wieder ums Überleben, und den drei Frauen wird einmal mehr klar: Wenn sie nicht zusammenhalten, werden sie untergehen.
Vor der atmosphärischen Kulisse einer privaten Molkerei an der Nordseeküste entfalten sich in der „Milchhof“-Saga die Schicksale von drei starken Frauen aus drei Generationen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Leseprobe zu „Der Milchhof – Das Flüstern der Gezeiten (Milchhof-Saga 2)“
Teil 1
1920–1924
Kapitel 1
Januar 1920
Winzige Eiskristalle zierten das Schilfgras am Wegrand, das sich aber nur verhalten im seichten Wind wiegte, als fürchtete es, abzuknicken. Lina Bleeker kam es vor, als würde sich selbst die Natur noch vorsichtig zeigen, weil sie dem Frieden, der seit zwei Jahren wieder in Europa herrschte, nicht traute. Denn es war kein wirklicher Frieden. Eher ein Konstrukt, das auf maroden Pfählen gebaut war und bei der kleinsten Erschütterung zusammenzubrechen drohte.
Immerhin hatten sie hier in der Friesischen Wehde diesen [...]
Teil 1
1920–1924
Kapitel 1
Januar 1920
Winzige Eiskristalle zierten das Schilfgras am Wegrand, das sich aber nur verhalten im seichten Wind wiegte, als fürchtete es, abzuknicken. Lina Bleeker kam es vor, als würde sich selbst die Natur noch vorsichtig zeigen, weil sie dem Frieden, der seit zwei Jahren wieder in Europa herrschte, nicht traute. Denn es war kein wirklicher Frieden. Eher ein Konstrukt, das auf maroden Pfählen gebaut war und bei der kleinsten Erschütterung zusammenzubrechen drohte.
Immerhin hatten sie hier in der Friesischen Wehde diesen schlimmen Krieg einigermaßen schadlos überstanden. Jedenfalls, was die Gebäude anging. Viele Familien jedoch waren auseinandergerissen worden, hatten Väter und Söhne verloren, und diese Lücken konnten durch nichts gefüllt werden.
Es würde Zeit brauchen, bis sich die Wunden verschlossen, auch wenn Narben blieben, die vermutlich noch oft aufplatzten und erneut bluteten.
Wie lange würde es dauern, bis die Menschen wieder Vertrauen zum Leben bekamen?
Lina seufzte. Sie hoffte trotz allem auf Besserung. Gleichgültig, welche Verträge die anderen Staaten mit dem verhassten Deutschland machten und wie sehr sie das Land nach Kriegsende knebelten. Es musste doch wieder bergauf gehen! Gestern, am 10. Januar, war der Versailler Vertrag mit allen Konsequenzen in Kraft getreten. Was auf sie zukam, hatten sie schon gewusst, weil die Absegnung lange zuvor erfolgt war. Doch nun war es beschlossen, und sie mussten damit zurechtkommen.
Die meisten Deutschen lehnten den Vertrag ab, denn die Bevölkerung durfte nun zusehen, wie sie mit all den Knebeln und Bestimmungen zurechtkam. Das betraf auch den Milchhof Bleeker.
Hinzu kam die Schmach, die viele Deutsche angesichts der Forderungen empfanden, selbst liberale Politiker hießen das nicht gut. Die extremeren aber nutzten alles für sich und waren sich einig, dass die Kommunisten und Staatsfeinde sowie die Juden ihre Finger im Spiel gehabt hatten – einzig, um Deutschland zu schaden. Diese Dolchstoßlegende, von der Obersten Heeresleitung in die Welt gesetzt, machte immer schneller die Runde, und sie wurde immer stärker ausgeschmückt, sodass viele Menschen daran glaubten.
Lina sah das alles skeptisch, mochte so nicht urteilen, und eigentlich interessierte sie auch nur, welche Konsequenzen auf den Milchhof zukamen.
„Wir schaffen auch das und lassen uns nicht unterkriegen“, flüsterte sie. „Ich habe noch nie aufgegeben. Noch nie!“ Lina wickelte sich den Schal fester um den Kopf, denn die Luft war zum Schneiden kalt. Aber sie hatte rausgemusst, um nachzudenken und den Kopf frei zu bekommen. Frische Luft und tief durchatmen halfen immer.
Die Marsch erstreckte sich vor Lina, sie konnte allerdings den Geestrücken der Friesischen Wehde schon gut erkennen. So weit würde sie nicht laufen, das kurze Stück reichte, damit sie wieder klar denken konnte. Es waren ja nicht nur die Sorgen um den Betrieb, die Lina zusetzten.
Auch ihre Söhne Wilko und Ludger machten ihr großen Kummer. Wilko, inzwischen sechsundzwanzig Jahre alt, war in den letzten Kriegstagen nach Hause gekommen – und hatte sein rechtes Bein verloren. Sein bester Freund war tot, direkt neben ihm von einem Geschoss zerfetzt. Mehr wusste Lina nicht. Nur dass Wilko Nacht für Nacht von seinen Erinnerungen aufgefressen wurde. Wilde Tiere, die als Gedanken getarnt über ihn herfielen und ihn quälten.
Und Ludger? Ihr kleiner Ludger, der doch eigentlich Bankier hatte werden wollen, bevor ihm der Kriegswahnsinn das Gehirn vollkommen vernebelt und schließlich verschluckt hatte? Ludger lebte seit der Rückkehr von der Westfront in seiner eigenen Welt. Er lieferte sich nachts einen choralen Wettstreit im Gebrüll mit dem älteren Bruder. Äußerlich unverletzt, aber die Seele offenbar mehrfach durchlöchert. Und sie als Mutter konnte sich das nur hilflos mit ansehen. Dieser Krieg hatte nicht nur viele Menschenleben gekostet, auch die eigentlich Unversehrten waren zerstört.
Wäre Derk Voigt, ihr alter Freund und Obermeier auf dem Milchhof Bleeker, nicht wie eh und je ein Fels in der Brandung und stets an ihrer Seite, zurück nach Ellenserdammersiel gekommen, wäre Lina inzwischen vollkommen verzweifelt. Seine Ruhe und sein unerschütterlicher Glauben an sie und den Milchhof gaben ihr Kraft.
Lina ließ ihre Fingerspitzen über einen der Halme streifen. Die Ähre war braun, der Stängel vergilbt. Doch sie hatten den Winter fast überstanden.
Vorsichtig strich Lina die Eiskristalle von der Spitze ab. Erst war es kalt, doch dann schmolz der Reif, und sie spürte die Nässe auf ihrer Haut.
Lina huschte unwillkürlich ein Lächeln übers Gesicht. Auch ihre Probleme würden verschwinden. Genau wie das Eis zu Wasser wurde, wenn nur die Sonne länger darauf schien.
„Jetzt kann ich wieder zur Molkerei zurückgehen“, sagte Lina zu sich. „Jetzt habe ich wieder Kraft und Mut. Was doch das Schmelzen eines einzigen Kristalls vermag.“
Sie wandte sich um und lief zum Milchhof, wo sie von den vertrauten Geräuschen und Gerüchen empfangen wurde, die sie so sehr liebte.
Es war das Scheppern der Milchkannen, das Klirren der Glasflaschen, das beruhigende Geräusch der Käseharfe und das ewige Brummen der Dampfmaschine, von der sie sich trotz der Elektrizität nicht hatte trennen mögen. Diese Maschine gab ihr die nötige Sicherheit. Gleichgültig, wie sich die Versorgungslage auch darstellen mochte: Sie hatten Strom. Sämtliche Geräusche wurden umhüllt vom süßlichen Duft der Milch, den Lina von Kindesbeinen an so sehr genoss. Allein wenn sie sich vorstellte, wie sich das sämige Weiß drehte, wenn sie zu rühren begann. Welche Köstlichkeiten sie aus der Milch herstellen konnte.
Aus der Käsefertigung kam Lina ihre Tochter Alea entgegen.
„Moin!“ Sie war stets früh auf den Beinen, und beide hatten sich heute noch nicht gesehen.
„Moin, min Söten“, begrüßte Lina ihr Kind. „Gibt es Neuigkeiten?“
Alea nickte. „Erzähl ich dir gleich.“ Sie wandte den Kopf und entdeckte eine der Molkereigehilfinnen, die mit den Klotschen aus der Fertigungshalle über den Hof lief. „Ich muss nur kurz …“ Alea rannte auf das Mädchen zu und maßregelte sie. Hygiene war in einer Molkerei das höchste Gebot! Darauf mussten sie achten, auch wenn immer wieder versucht wurde, nachlässig damit umzugehen, weil Sauberkeit unbequem war und Mehrarbeit bedeutete.
Linas Tochter zählte inzwischen dreiundzwanzig Lenze und war ihrer Mutter zu einer echten Unterstützung im Betrieb geworden. Ohne Alea wären die Kriegsjahre für Lina zu einer noch schlimmeren Belastungsprobe geworden, zumal ihr Derks Frau Talke und ihr Mitstreiter gegen den Milchhof, der Sozialist Karl Doden, das Leben unendlich schwer gemacht hatten. Das war nun hoffentlich vorbei, denn Karl war gleich nach dem Krieg ohne Abschied bei Nacht und Nebel verschwunden. Lina müsste lügen, wenn sie nicht froh darüber wäre, und sie hoffte, dass er nie wiederauftauchte.
Und Talke?
Talke hatte in all den Jahren eine Wendung gemacht, die Lina lange nicht durchschaut hatte. Geheiratet hatte Derk eine graue Maus, bei der er Zuflucht und Ruhe hatte finden wollen. Aber das Schicksal konnte grausam sein. Erst war ihr Sohn Onno bei der Geburt gestorben, weil die Hebamme nicht ihr, sondern Linda bei deren schwerer Geburt beigestanden hatte. Und dann musste Talke feststellen, dass sie es nie schaffen würde, das Herz ihres Mannes wirklich zu gewinnen, denn es war an sie, Lina Bleeker, vergeben.
Sie fand es erschreckend, zu welchen Taten der Hass einen Menschen treiben konnte. Erst waren es nur kleine Intrigen gegen Lina und die Molkerei gewesen, zu denen Talke auch noch von Linas verstorbenem Mann Thees verleitet worden war. Doch als das nichts fruchtete und ihr deutlich wurde, dass sie auf ganzer Linie verloren hatte, war sie zu einer Frau geworden, die nur noch ihre Vorteile sah und ihre Zufriedenheit daran ausmachte, dass es Lina schlecht ging. Dafür tat Talke alles und scheute vor nichts zurück. Nicht einmal vor der eigenen Erniedrigung.
So manches Mal hatte Lina deshalb ein schlechtes Gewissen. Sie trug an dieser Verwandlung große Mitschuld, weil sie und Derk …
Aber ändern konnte sie auch nichts mehr an der Situation. Gegen große Gefühle herrschte eben große Machtlosigkeit.
„Bitte achte zukünftig darauf, sonst wird es zu Problemen mit uns kommen“, durchdrang nun Aleas Stimme Linas finstere Gedanken und holte sie in die Wirklichkeit zurück.
Lina beobachtete ihre Tochter, wie sie dem Mädchen zwar umsichtig, aber zugleich mit der nötigen Strenge erklärte, warum sie die Klotschen draußen nicht tragen durfte und sie aus Hygienegründen in der Fertigung zu bleiben hatten.
Lina lächelte. Alea war zu einer hübschen jungen Frau herangereift, sicher würden sich bald viele Verehrer einfinden, die um sie freiten. Es gab nach den schlimmen Verlusten im Krieg einen Frauenüberschuss, aber keiner der Männer wäre so blind, als dass Alea keinen bleibenden Eindruck hinterließ.
Ihre Gesichtszüge waren ebenmäßig, und sie trug stets ein freundliches Lächeln auf ihren vollen Lippen. Das lange blonde Haar war zwar immer zu einem Knoten oder zu Schnecken gefasst, aber wenn die Sonne es streichelte, glänzte es so golden wie deren Strahlen. Alea lief auch nicht, sie bewegte sich geschmeidig wie eine Katze, ihre Bewegungen waren weich und von großer Anmut und Ruhe geprägt.
Nein, kein Mann würde das übersehen. Lina war zuversichtlich, dass ihre Tochter das große Glück finden würde, auch wenn noch kein Galan in Sicht war, den Alea auch nur annähernd ins Auge gefasst hätte.
Die junge Molkereigehilfin ließ die Predigt über sich ergehen, nickte mit gesenktem Kopf und verschwand wieder in der Käsefertigungshalle. Erst danach kam Alea zu Lina zurück.
„Diese jungen Deerns müssen wirklich alles von der Pike auf beigebracht bekommen. Auch Dinge, die eigentlich klar sein sollten!“ Sie seufzte.
Lina strich ihrer Tochter über den Arm. „Sie werden es schon lernen, genau wie wir früher.“
„Ja, das werden sie, und der Milchhof Bleeker wird als Molkerei weiter ganz oben mitspielen. Dafür sorgen wir! Egal, was in der Politik geschieht, wir halten hoffentlich dagegen, auch wenn es sicher schwer wird.“
Alea wischte sich mit dem Handrücken eine unter dem Tuch herausgerutschte Haarsträhne aus der Stirn.
Lina war stolz auf sie. Für ihre Tochter gab es momentan nur den Milchhof Bleeker. Sie wusste, welche Verantwortung sie zusammen mit ihrer Mutter trug, und sie würde alles tun, um dem gerecht zu werden.
„So, nun erzähl mir, was es an Neuigkeiten gibt!“, forderte Lina sie auf.
„Es geht voran, Mutter. Richtig gut voran.“ Alea strahlte regelrecht. „Wir haben die ersten größeren Bestellungen für den Käse bekommen – und Derk sagt, die Milchanlieferungsquoten steigen wieder an! Das ist doch beeindruckend!“
Lina nickte verhalten. Das klang grundsätzlich zwar gut, aber sie durften die von außen auf sie einwirkenden Tatsachen nicht aus den Augen verlieren. Alea war stets leicht zu begeistern und verdrängte Unangenehmes gern.
„Du weißt aber, dass die Probleme dadurch nicht kleiner werden“, begann Lina vorsichtig. „Was nützen die höheren Milchanlieferungen, wenn wir keine Absatzmärkte haben. Die Holländer und Dänen drängen nach Abschluss des Vertrages ganz sicher mit ihrer Markenbutter auf den deutschen Markt. Bei deren niedrigen Preisen können wir aber nur schwer mithalten.“
Der Versailler Vertrag machte zur Bedingung, dass der deutsche Markt für ausländische Produkte geöffnet werden musste. Das führte zu mächtigen Schwierigkeiten auf dem Binnenmarkt.
„Kommt Zeit, kommt Rat“, antwortete Alea mit ihrem unerschütterlichen Optimismus. „Immerhin haben wir noch meinen Käse, Bleekers Kräuterglück, und der verkauft sich nach wie vor gut. Derk hat auch schon überlegt, was wir modernisieren können, damit wir wettbewerbsfähig bleiben.“ Aleas Blick schweifte schon wieder über den Hof, und dabei entdeckte sie, dass eine Kuh dort frei herumlief.
„Dammich“, fluchte sie. „Mutter, geh doch zu Derk, der kann es dir selbst erzählen. Ich kümmere mich derweil um das Vieh!“
Alea rannte los und fing die Kuh ein. Kurz darauf kam ein junger Knecht mit hochroten Ohren, die wie kleine Segel unter der Schirmmütze hervorlugten, gemächlich aus dem Stall. Er hatte das Tier wohl schon vermisst.
„Da bist du ja“, sagte er mit ruhiger Stimme und tätschelte der Gefleckten den Hals. „Danke, Fräulein Bleeker. Kommt nicht wieder vor.“
Alea drückte ihm den Strick in die Hand, schob aber noch ein paar mahnende Worte nach.
Ihr freundliches, aber zugleich bestimmtes Wesen trug dazu bei, dass sich keine der Arbeiterinnen und kein Gehilfe kleingemacht fühlten, und dennoch zollten sie Linas jüngster Tochter höchsten Respekt, denn jeder wusste um ihre Fachkenntnis und ihren Gerechtigkeitssinn. Das alles war keineswegs selbstverständlich, denn Frauen hatten in der Regel keinen guten Stand – und ernst genommen wurden sie schon gar nicht. Da gab es noch eine Menge zu tun.
Lina lächelte. Ihre Tochter aber hatte es geschafft. Sie stand durchsetzungsfreudig und mit beiden Beinen im Leben. Wie sie es einst selbst gewesen war – ehe sie Thees Bleeker geheiratet hatte und damit in eine unglückliche Ehe geschlittert war, die sie eine Zeit lang entmündigt hatte. Seit so vielen Jahren war sie nun schon Witwe. Lina wischte die Erinnerungen beiseite.
Sie wurde höchst ungern an ihren verstorbenen Ehemann erinnert. Schlimm genug, dass es diesen Gedenkstein mitten auf dem Hof gab, der ihm zu Ehren aufgestellt worden war. Ein Ehrenmal für einen Mann, der rücksichtslos agierte, moralisch zwei Menschen auf dem Gewissen hatte und dem die Familie völlig gleichgültig war.
Lina gab sich einen Ruck.
„Alea hat recht“, murmelte sie. „Ich spreche mit Derk, was wir gegen diese wirtschaftliche Übermacht aus den Niederlanden und Dänemark tun können.“
Wie immer, wenn sie an Derk dachte, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Sie liebten sich schon so lange, aber da er mit Talke verheiratet war, gingen sie sich privat aus dem Weg, damit sie sich nicht in noch größere Schwierigkeiten brachten, als sie es zuvor schon getan hatten. Auch darüber mochte Lina jetzt nicht nachdenken.
Im Kontor war es gewohnt stickig. Durch die kleinen Fenster fiel nur wenig Licht, die dunklen Möbel trugen ebenfalls nicht dazu bei, dass der Raum freundlich wirkte.
Im Licht der einfallenden Sonne tanzten kleine Staubkörner, es roch stets nach Papier und Tinte.
Derk brütete hoch konzentriert über den Zahlen, und seine Zunge wanderte von einem Mundwinkel zum anderen. Der Bart war wie immer ausgedünnt, so als hätte er kein Interesse daran, das gut aussehende Gesicht zu verdecken. Lediglich den Schnäuzer konnte man als Bartwuchs bezeichnen.
Derk trug heute ein weißes Hemd, die Ärmel waren bis kurz über den Ellenbogen hochgekrempelt. Darüber hatte er eine braun karierte Weste gezogen, und die Beine steckten in den von ihm so geliebten Knickerbockern, die jetzt modern waren. Seine Schirmmütze lag achtlos neben ihm auf dem Tisch.
Lina blieb kurz stehen, weil sie es liebte, diesen Mann, der ihr so nah und zugleich so fern war, anzuschauen.
Es dauerte einen Moment, ehe Derk sie bemerkte. Sofort legte er den Stift beiseite und lächelte Lina warmherzig an. „Moin. Sicher hat dir Alea schon erzählt, dass wir von den Bauern jetzt mehr Milch bekommen.“
„Das hat sie“, antwortete Lina. „Aber nützt es uns etwas?“
Sofort wurde Derks Gesicht ernst. „Das kann ich nicht abschließend beurteilen“, wich er aus. „Das große Problem ist der Versailler Vertrag, wie du weißt. Das drückt die Preise. So billig wie Holland und Dänemark können wir nicht produzieren.“ Derk nahm den Stift wieder in die Hand und trommelte damit auf dem Papier herum.
„Was wäre die Lösung?“, fragte Lina. Bloß nicht den Kopf in den Sand stecken. Nie aufgeben, sondern immer gleich neue Pläne schmieden.
„Investieren, wie immer“, schlug Derk vor. „Gib mir ein paar Tage! Ich bin gerade dabei, eine Aufstellung zu machen, was sinnvoll ist und wir uns leisten können. Außerdem muss es zu bekommen sein. Noch sind nicht alle Lieferketten wieder intakt.“
Derk schaute Lina mit seinem durchdringenden Blick an, und sie hielt dem stand. Weil es so wunderbar war, wenn sie sich so ansahen, denn es zeigte ihnen die Seele des anderen. Sie mussten nichts sagen, sie verstanden sich ohne Worte.
Im Augenblick schien es, als würde es zwischen ihnen beiden immer wärmer, weil sie es eine lange Zeit nicht zugelassen hatten und schon vor dem Krieg auf Abstand gegangen waren. Nach Derks Rückkehr kam das Wiederankommen und Sichneuzurechtfinden in einer Welt, die so anders war als zuvor.
Nun aber trennte sie nichts mehr, außer der Tatsache, dass er mit Talke verheiratet war.
Doch dieser Augenblick schenkte ihnen tiefes Verstehen.
Keiner sagte ein Wort, und doch sagten sie sich so viel, dass es Wochen gefüllt hätte, wären die Sätze ausgesprochen worden. Jeder aneinandergereihte Buchstabe klang wie eine perfekte Komposition in ihren Ohren, weil sie sich ausmalen konnten, was der andere dachte und mitteilen wollte.
Dennoch war es still im Kontor. Nur leise schallten die Stimmen der anderen Büromitarbeiter zu ihnen herüber, durchbrochen vom Klappern der Schreibmaschine. Die Tür aber war geschlossen, und ohne anzuklopfen wagte es keiner der Angestellten, den Raum der Betriebsleitung zu betreten.
Lina und Derk waren allein. Das war immer gefährlich, aber auf dem Milchhof waren sie vorsichtig. Nicht wie in Dresden, als sie sich geliebt hatten, weil sie wussten, dass es niemand erfahren würde. Es war bei dem einzigen Mal geblieben, denn Ellenserdammersiel war nicht Dresden. Ellenserdammersiel war die Wirklichkeit.
Doch jetzt, inmitten dieser Akten und Verträge, inmitten ihrer Molkereiwelt waren sie sich plötzlich so nah wie damals, und es gelang ihnen, die Realität auszublenden.
Es gab nur Lina und Derk. Derk und Lina.
Um sie herum existierten weder die Geräusche aus dem Nebenraum noch die Spinne, die sich gerade hinter Derk am Fenster abseilte. Talke und Linas Kinder waren ganz weit fort.
Lina näherte sich Derk mit einem kleinen Schritt.
Der stand ebenfalls auf, und wie von Marionettenfäden gezogen, bewegten sie sich langsam aufeinander zu. Ihre Hände umschlossen sich wie von selbst, und Linas Kopf fand sich von allein an Derks Kinn wieder. Dass ihre Lippen sich gleich darauf berührten, war unausweichlich.
Linas Knie wurden weich, und als ihre Zungen miteinander spielten, fühlte es sich richtig an. Weil sie zusammengehörten. Gleichgültig, ob die Umstände etwas anderes sagten.
*
Talke wollte Butter vom Milchhof holen. Außerdem hatte sie gern ein Auge auf ihren Mann Derk, der nach wie vor Seite an Seite mit Lina arbeitete.
Als sie die Butterei mit ihren Päckchen verließ, sah sie durch das Fenster des Kontors eine Bewegung. Derk saß dort gewiss am Schreibtisch, aber Talke war sicher, dass sie eben Linas blondes Haar gesehen hatte. Sie befand sich also mal wieder bei ihrem Mann im Büro. Was auch immer sie ständig zu besprechen hatten. Wie immer kochte in Talke großer Zorn hoch, wenn ihr die Nähe zwischen Lina und Derk bewusst wurde.
Talke hatte mit all ihren Intrigen in den Jahren kein bisschen Boden gutmachen können. Nicht einmal der Krieg hatte ihr genützt. Lina war immer die Stärkere geblieben. Wen wunderte es, hatte sie doch von Kindesbeinen an immer auf der sonnigen Seite gestanden. Sah man mal vom frühen Tod der Mutter ab, war es Lina Harms, später Bleeker, immer gut gegangen.
Talke konnte ihre Wut auf Lina schon wieder kaum zügeln. Zu dumm, dass Karl Doden eine furchtbare Enttäuschung gewesen war. Wollte er zunächst großmäulig die Bleekers kleinkriegen, hatte er sich in Talkes Augen als Schwächling erwiesen. Nachdem er Thees Bleeker getötet hatte und nie dafür belangt worden war, hatte sie ihn davon überzeugen können, dass er auch Lina schaden musste, damit die Bleekers ein für alle Mal in die Knie gezwungen wurden.
Aber Karl hatte sich zunehmend in der Politik und im Untergrund engagiert. Auf welcher Seite er stand, hatte Talke nicht immer verstanden – wichtig war für Karl immer nur gewesen, seine eigene Haut zu retten. Er hatte es dank ihrer Unterstützung immerhin vermeiden können, als Fahnenflüchtiger erwischt zu werden.
Karl war ein Getriebener ohne Ziel.
Kurzum: Als Liebhaber hatte er seinen Mann gestanden, als Rachewerkzeug gegen den Milchhof Bleeker war er unbrauchbar. Schließlich hatte Talke Karl gleich nach Kriegsende vom Hof gejagt.
Er war inzwischen ein begeisterter Anhänger der neuen, noch sehr kleinen Bewegung, die sich Nationalsozialisten nannte und offenbar sogar eine Parteigründung im nächsten Monat plante.
Talke feixte. Was war sie früher ein Schaf gewesen, das sich nicht für solche Dinge interessierte. Aber seit dem Krieg hatte sie sich angewöhnt, die Zeitung regelmäßig zu lesen und sich zu informieren. Sie verstand längst nicht alles, aber das machte nichts. Das Wesentliche reichte. Und was die Grundfeste dieser neuen Bewegung anging – das gefiel ihr.
Dennoch war Karl Doden schuld daran, dass Lina ihre gerechte Strafe noch nicht erhalten hatte.
„Karl ist een Swienegel“, murmelte sie. „Mit Lina Bleeker werde ich auch allein fertig.“
Talke schlich sich ans Fenster, aber es war zu hoch, als dass sie ins Kontor blicken und wirklich etwas erkennen konnte. Nervös schaute sie sich um. Sie könnte doch …
Kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende gedacht, stand sie schon vor der Tür zum Bürogebäude.
Vorsichtig drückte Talke die Klinke herunter. Sie war froh, dass die weder ein Knarzen noch ein Ächzen von sich gab, sondern sich fast wie von selbst öffnete.
Es war still im Raum der Betriebsleitung und wie immer etwas dämmrig. Doch das Licht reichte, um Talke genau jenes Bild zu präsentieren, das sie sich in ihren schlimmsten Träumen ausgemalt hatte. Lina und ihr Mann standen eng umschlungen am Schreibtisch und küssten sich, als gäbe es die Welt um sie herum nicht mehr.
Talke schluckte. Am liebsten wäre sie wie eine Furie dazwischengegangen und hätte auf die beiden eingeprügelt.
Aber dann entschied sie sich anders. Das Fass war übergelaufen, dieses Mal würde sie nicht einknicken. Sie war lange töricht genug gewesen und hatte sich wie ein Tanzbär an der Nase herumführen lassen.
Das würde Lina ihr büßen. Und wie!
*
Derk genoss den Kuss und ignorierte den feinen Zug, der plötzlich seine Beine umstrich. Er wollte nicht, dass es aufhörte, sondern nur eines: Linas weichen und hingebungsvollen Lippen nachspüren. Er mochte es, wie anschmiegsam sie sein konnte, wenn sie die harte Schale der Molkereileiterin ablegte und ganz die Frau war, die er begehrte.
Derk liebte Lina schon so lange. Und so hörte er nicht auf, sie zu liebkosen, genoss Minute um Minute.
Er fuhr zusammen, als er einen neuerlichen Luftzug spürte. Mit klopfendem Herzen schob er Lina ein Stückchen weg. „Hast du das auch gefühlt?“
Seine Geliebte hatte hochrote Wangen, und ihre Augen glänzten sehnsüchtig. „Nein, was denn?“
Verlegen ordnete sie ihr Haar, das ein wenig gelitten hatte.
Derk ließ den Blick zum Eingang schweifen. Doch er war geschlossen.
„Ich habe gedacht, da ist jemand“, entschuldigte sich Derk, weil er die innige Atmosphäre so abrupt gestört hatte. Er räusperte sich. „Da habe ich mich wohl geirrt. Trotzdem sollten wir vorsichtiger sein.“
Lina seufzte. „Du hast wohl recht. Das hätte uns nicht passieren dürfen. Stell dir vor, es wäre wirklich jemand reingekommen.“ Sie kicherte wie ein junges Mädchen. „Dann wäre uns der Dorftratsch gewiss.“
Lina wurde schnell wieder ernst. Sie wusste genau wie Derk, welche Katastrophe das in seinem Leben auslösen würde. Er tätschelte ihre Hand und konnte seine Nervosität nicht verbergen, denn er war nach wie vor besorgt.
„Es ist besser, wenn du jetzt gehst. Wir müssen weiterhin Distanz wahren, sonst wird es immer wieder so enden wie jetzt.“ Derk brach die Stimme. „Uns hätte hier jeder ertappen können.“
Ein Blick zur Uhr sagte ihm außerdem, dass er losmusste.
„Es ist gleich Mittag. Talke wartet mit dem Essen.“
„Du musst nichts erklären, Liebster“, flüsterte Lina. „Ich verschwinde schon.“
Ihr Lächeln wirkte dennoch verletzt, aber ihr war ebenso klar wie ihm, dass sie sich fortan zusammenreißen mussten. Lina winkte kurz und verließ das Kontor.
Derk sah ihr eine Weile hinterher, auch als die Tür längst geschlossen war.
Sie waren so lange standhaft geblieben. Warum es gerade heute derart aus dem Ruder gelaufen war, war für Derk nicht fassbar. Da war plötzlich diese Magie gewesen. Die kleinen Wellen, die sie aufeinander zugespült hatten und deren Strömung es verhinderte, dass sie auseinanderdrifteten.
Er atmete tief durch. Talkes Warnung galt immer noch. Wenn er sich nicht privat von Lina fernhielt, würde sie ihrer Tochter Antke sagen, dass er in Dresden mit einer fremden Frau einen Sohn hatte, und auch, dass sogar Lina von ihm schwanger gewesen war. Beides kein Ruhmesblatt, weiß Gott nicht. Aber es war geschehen, weil sein Leben an Talkes Seite unerträglich geworden war, nachdem sie ihr Kind verloren hatten und der Hass auf Lina, die Molkerei und ihn so groß geworden war, dass der alles wie bei einem Flächenbrand vernichtet hatte. Talke war ihm im Laufe der Jahre fremd geworden, wobei er zugeben musste, dass er sie wohl nie wirklich gekannt hatte.
Aber Antke würde ihm seinen Verrat nicht verzeihen, egal, welche Beweggründe ihn derart an den moralischen Abgrund geführt hatten. Derk würde seine Tochter verlieren. Das war das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte. Schlimmer noch, als auf Lina zu verzichten.
Er hatte einen riesigen Fehler in seinem Leben gemacht, und das war, Talke zu heiraten. Aber er musste zu seinen Entscheidungen stehen. Das war er sowohl seiner Frau als auch der Tochter schuldig.
Plötzlich war Derk kalt. Das Kontor war mit dem neuen Kohleofen gut geheizt, aber es erschien ihm, als zöge es von überall unangenehm durch die Ritzen.
Ich muss nach Hause, so schnell es geht, schoss es durch seinen Kopf. Eine Ahnung sagte ihm, dass er sich vorhin keineswegs getäuscht hatte und wirklich jemand kurz im Kontor gewesen war.
Derk riss den Wollmantel vom Haken, knöpfte ihn noch im Laufen zu und rannte quer über den Milchhof Richtung Ellenserdammersiel, wo er mit Talke und der zwanzigjährigen Antke in einer Kate in Bahnhofsnähe wohnte.
Aus dem Schornstein kringelte sich der Rauch, es roch nach verbranntem Torf und nach Kohlsuppe.
Antke stand am Herd und rührte den Eintopf, als Derk reingestürmt kam.
„Moin, Vader! Du bist früh, eigentlich wollten wir erst um ein Uhr speisen, aber ich habe schon alles fertig“, begrüßte ihn seine Tochter und hielt Derk die Wange hin. Sie roch nach Kernseife und einem Gemisch aus dem zubereiteten Eintopf. „Moder kommt bestimmt gleich, sie wollte noch rasch zum Milchhof und etwas Butter besorgen. Hast du sie gar nicht angetroffen?“
Derk fuhr erschrocken zusammen. „Talke war in der Molkerei?“
„Jo, mich wundert, dass ihr euch nicht in die Arme gelaufen seid.“
Antke kostete die Suppe und gab etwas Salz dazu. „Nun ist sie richtig wohlschmeckend. Wenn Moder kommt, können wir essen.“
Derk setzte sich an den Tisch und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum.
„Was ist los mit dir, Vader?“, fragte Antke. Sie hatte die gleichen blauen Augen wie er und sah ihm auch sonst sehr ähnlich. „Du wirkst unruhig. Ist was in der Molkerei schiefgelaufen?“
„Nein, es ist alles in Ordnung“, antwortete Derk fahrig. „Ich frage mich nur, wo deine Mutter bleibt.“
Antke stellte ihm ein Glas Wasser hin. „Trink schon mal, das verkürzt die Wartezeit ein wenig.“
Dankbar nahm Derk einen Schluck. Er war wirklich aufgewühlt, denn wenn Talke auf dem Milchhof gewesen war, konnte das bedeuten, dass sie ihn und Lina womöglich gesehen hatte. Er wäre froh, wenn seine Frau gleich käme und sich die Zweifel zerstreuten. Er machte sich vermutlich nur selbst verrückt. Warum sollte Talke ausgerechnet dann ins Kontor gekommen sein, als er sich für einen Moment vergessen hatte?
„Weil die Tür kurz aufgegangen ist“, beantwortete ihm eine innere Stimme die Frage.
Derk fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die noch immer von Linas Kuss zu brennen schienen und das Gefühl hinterlassen hatten, es könnte ein Versprechen auf mehr sein. Er dachte an jene Nacht in Dresden zurück. Es waren die schönsten Stunden in seinem Leben gewesen.
Lina und er, sie gehörten zusammen – und würden dennoch immer vom Strom des Lebens getrennt sein. Er sollte endlich zu träumen aufhören.
Es klackte, und Talke trat ein. Sie brachte einen Schwall der frostigen Winternordseeluft mit, und sofort wurde es kalt in der Kate. Das änderte sich auch nicht so schnell, als sie die Tür wieder schloss und Antke rasch ein Stück Torf in den Ofen schob.
Talke hängte den Wollmantel in der schmalen Diele an die Garderobe, die aber nur aus drei einfachen Haken bestand. Einen für sie, einen für Derk, einen für Antke. Die restliche Kleidung war in Truhen und Kommoden in den jeweiligen Räumen untergebracht.
Talke schaute kurz ihren Mann und ihre Tochter an.
„Da bin ich. Es ist verdammt kalt draußen.“ Sie wandte sich an Antke. „Gib uns bitte schon mal die Suppe in die Teller.“ Derk bedachte sie weder mit einem Gruß noch mit einem Blick.
Ihm wurde immer unbehaglicher. Vor allem, als sich seine Frau mit einem aufgesetzten Lächeln am Tisch niederließ, zum Löffel griff und begann, die Suppe zu löffeln.
Derk und Antke taten es ihr gleich, sodass eine Weile nur das Klappern des Geschirrs zu hören war.
Derk spürte, dass die Luft in der Küche brannte – und die vernichtende Glut ging von Talke aus. Ihm blieb jedoch nichts anderes übrig, als abzuwarten.
„Läuft es in der Molkerei?“, fragte seine Frau mit einem Seitenblick zu ihrem Mann, als der Teller geleert war.
„Ja, danke der Nachfrage. Die Milchanlieferungsmengen steigen, aber wir müssen noch weiter in neue Maschinen investieren“, gab er Auskunft. Aber ihm war schon klar, dass Talke ihm diese Frage nicht wegen der zu erwartenden Neuinvestitionen gestellt hatte. O nein! Es steckte viel mehr dahinter! So gut kannte er seine Frau dann doch.
Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt.
Es half nichts, Derk musste wissen, ob Talke etwas gesehen hatte. Er trat die Flucht nach vorn an.
„Deshalb war Lina vorhin kurz bei mir im Kontor. Ich erstelle jetzt eine Liste, was für den Milchhof wichtig ist. Der Versailler Vertrag wird auch uns arg zusetzen.“
Talke schob den Löffel neben dem Teller hin und her.
„Sie war also zur Besprechung bei dir im Kontor?“
Dabei blickte sie ihrem Mann fest in die Augen und hob die Brauen.
Die darauffolgende Stille war fast unerträglich. Derk wusste jetzt, dass er in der Falle saß.
Seine Frau lächelte, doch es sah aus, als ob der Hofhund die Zähne bleckte.
„Hast du mir und Antke nicht was zu sagen? Es gibt da schließlich eine Abmachung, wie du weißt!“, sagte sie ganz ruhig. So, als würde sie übers Wetter reden.
Derk setzte sich gerade hin. Es galt, Ruhe zu bewahren.
Sie hatte kein Recht darauf, ihm Vorwürfe zu machen. Nicht nach dem, was Talke ihm im Gegenzug mit ihrem Marinesoldaten und später mit Karl Doden angetan hatte. Eheliche Treue sah anders aus.
„Wir hatten eine Abmachung. Ich mit dir und du mit mir. Wir haben uns beide nicht daran gehalten, wie du dich sicher erinnern kannst“, stellte er klar.
Talke blitzte Derk zornig an. „Der werte Herr wagt es, mir etwas vorzuhalten, was er selbst zuvor getan hat?“
Antke war kreidebleich geworden. „Moder! Vader! Wovon sprecht ihr?“
„Dass dein Vater ein Kind mit einer anderen hat und nicht einmal davor zurückgeschreckt ist, Lina Bleeker zu schwängern. Allerdings hat sie das Balg genauso verloren wie ich meinen Onno.“
Derk umfasste Talkes Handgelenk. Er konnte jetzt auf Antke keine Rücksicht nehmen und würde später mit ihr sprechen. In Ruhe, wenn sich die Wogen etwas geglättet hatten. Jetzt musste er sich erst gegen Talkes Anschuldigungen wehren.
„Und du? Du hast dich zur Hure eines Matrosen gemacht. Und zu der eines Mörders, dem wir nur seine Tat nicht nachweisen können. Oder meinst du wirklich, dass Lina und ich nicht wissen, was Karl Doden ihrem Mann angetan hat? Abgeschlachtet hat er ihn und dann in die Hunte geworfen!“
Talke sprang auf, dabei stieß sie gegen das Tischbein, und die Teller klirrten. „Aber nur, weil Thees Bleeker, der saubere Gemahl von Lina, die Magd Suntje in guter Hoffnung hat sitzen lassen, sodass ihr nur der Weg ins Wasser blieb. Ganz zu schweigen von Hero, den er mit Fieber aufs Dach gejagt hat, sodass er abgestürzt ist. Auf dem Milchhof Bleeker herrscht Sodom und Gomorrha, und alle tun dort so scheinheilig, dass mir die Galle hochkommt, wenn ich nur den Namen höre!“ Talke spuckte vor Derk auf den Tisch. „Ihr seid doch alle verdorben.“
Sie wandte sich an ihre Tochter, die dem Streit kreidebleich gefolgt war und offenbar nicht wusste, was sie davon halten sollte. „Antke. Nun weißt du, was du für einen Vater hast!“ Talke riss sich los und stürzte aus der Küche. Kurz darauf fiel die Haustür hinter ihr zu.
Die Lesung wird in Kooperation mit den ortsansässigen Büchereien Uedemerbruch und Uedem[...]
Der 2.Teil der Milchhof Saga spielt während der Weimarer Republik und dem Beginn des NS-Regimes. Nachdem der 1.Weltkrieg beendet ist, spüren dennoch alle die Auswirkungen durch die Wirtschaftskrise und die Sanktionen, die Deutschland auferlegt wurden. Gemeinsam mit ihrer Tochter Alea kämpft Lina um das Überleben und Fortbestehen des Milchhofs und immer wieder steht sie neuen Herausforderungen gegenüber, denn es gibt immer noch Menschen, die auf Rache aus sind und nichts auslassen, um Lina zu schaden. Es hat Spaß gemacht, an die Friesische Wehde zurückzukehren, mitzuerleben, was sich alles verändert hat, wie weit die Fortschritte auf dem Milchhof sind und auch die Kinder der Hauptprotagonisten erwachsen werden und ebenfalls Kinder bekommen. So manche Entwicklung hat mich überrascht und leider gibt es auch hier einiges an Schicksalsschlägen. Für Lina gilt immer noch, dass aufgeben keine Option ist und ich fand es erstaunlich, wie diese tapfere Frau gegen all die Ungerechtigkeiten, die Bedrohungen und Niederlagen kämpft, immer wieder aufsteht und sich nicht unterkriegen lässt. Die bedrohliche Entwicklung des NS-Regimes hat die Autorin hier gut eingebunden, man spürt die Sorge und Bedenken aller, die Chancenlosigkeit, wenn Entscheidungen getroffen werden müssen, die einem das Herz zerreißen, während Menschen sich von dem verdrehten gefährlichen Gedankengut blenden lassen und zeigen, zu was sie fähig sind. Wenn Hass das Denken beeinflusst. Die Handlung ist in zwei Teile geteilt und es gibt ein paar Zeitsprünge. Obwohl man die Charaktere mittlerweile kennt, besonders mit dem typisch friesischen Dialekt und gebannt mitverfolgt, was aus ihnen wird, welche Entscheidungen sie treffen und welches Problem wieder gemeistert werden muss, fehlt mir dennoch zeitweise die Tiefe und der Zugang zu den Charakteren, es wirkt zeitweise etwas unpersönlich und trocken. Einiges kann man schon erahnen, dennoch steigt der Spannungsbogen gerade ab der zweiten Hälfte des Buches, die Ereignisse überschlagen sich förmlich und ruhige Zeiten liegen für den Milchhof weit entfernt. Jetzt bin ich auf das Finale gespannt, was während des 2.Weltkriegs alles passiert ist und wie sich das auf den Milchhof auswirkt. Eine interessante Reihe mit viel Dramatik, Schicksalsschlägen und mutigen Frauen, die tapfer und unermüdlich für das kämpfen, was ihnen am Herzen liegt – das Unternehmen und die Liebe.
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