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Persönliche Buchtipps unserer Kolleginnen und Kolleginnen aus dem Verlag

Mittwoch, 16. August 2023 von Piper Verlag


Buchtipps 2024

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Kann jemand, der sein Leben den Tieren und ihrem Verhalten verschrieben hat, den Menschen schlechter gesonnen sein? 

„Literatur gedeiht oft im Grenzland zwischen Abstand und Nähe. Genau dort hat Ilona Jerger ihren Roman „Lorenz“ angesiedelt. Es ist ein Buch, das nachwirkt – voll von Beobachtung und Lebensnähe, zugleich eindringlich in der Reflektion über die dunklen Seiten eines scheinbar hellen Charakters. Kann jemand, der sein Leben den Tieren und ihrem Verhalten verschrieben hat, den Menschen schlechter gesonnen sein? 

Es geht um Konrad Lorenz, den berühmten Verhaltensbiologen und populären Autor von Bestsellern wie „Das Jahr der Graugans“ oder „Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit“, der als früher Umweltschützer und „Einstein der Tierseele“ gefeiert und 1973 mit dem Medizin-Nobelpreis geehrt wurde. Aufgrund seiner Mitarbeit im Rassenpolitischen Amt der NSDAP und seiner der Eugenik nahestehenden Überzeugungen ist Lorenz mittlerweile umstritten, auch wenn viele seiner Forschungen für Zoologen grundlegend sind. Ilona Jerger war Wissenschaftsjournalistin, bevor sie sich mit ihrem überaus erfolgreichen Roman „Und Marx stand still in Darwins Garten“ als Schriftstellerin etablierte.

In „Lorenz“ erzählt sie aus der Perspektive einer jungen Biologin, die von Lorenz‘ Leben und seiner Art, sich Tieren und Menschen zu nähern, fasziniert ist – aber ihre eigene Haltung zunehmend hinterfragt. Es ist ein Roman, der mich gefesselt hat wie lange kein anderes Buch. Er erinnert daran, wie weit das gesellschaftliche Umweltbewusstsein schon einmal war, und eröffnet auf mitreißend kluge Weise das Panorama eines einzigartigen und exemplarischen Lebens, in dem sich Höhepunkte und Abgründe des zwanzigsten Jahrhunderts spiegeln." Felicitas von Lovenberg

Blick ins Buch
LorenzLorenz

Roman

Die einfühlsam erzählte Geschichte eines spannungsreichen Lebens: Konrad Lorenz begründete die Tierpsychologie, wurde als Verhaltensforscher berühmt und erhielt 1973 den Nobelpreis. Die Kontinuität seiner biologistischen Auffassungen trug ihm heftige Kritik ein. Ilona Jerger erfindet eine Erzählerin, die mit seinen Büchern aufgewachsen ist und Biologin wurde. Sie vertieft sich in sein Leben und Werk. Je mehr sie erfährt, desto größer wird ihre Faszination – und desto zahlreicher werden die Fragen. Sie erzählt ein Leben, in dem es um die Liebe zu den Tieren geht, von der Graugans Martina bis zu den Bibern. Um die Frage, wie der Krieg in die Welt kam und was ihn begründet. Und um Familie und Karriere und das Überleben, sowohl der Arten als auch der Menschheit. Ein großer Zeitroman, in dem die Errungenschaften und Abgründe des 20. Jahrhunderts aufscheinen.

Spannungsvoll, anrührend und lehrreich – ein fesselnder Roman!

„Ilona Jerger bewältigt nicht nur viel Ideengeschichte der beiden großen Denker des 19. Jahrhunderts, ihr Roman ist nebenbei auch kühn und souverän geschrieben – und gut zu lesen. NDR Kultur über den Bestseller „Und Marx stand still in Darwins Garten“

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Der Roman des Jahres 2022

„Wer „Eine Frage der Chemie“ liest, wird den Namen Elizabeth Zott nicht mehr vergessen, davon sind wir überzeugt. Sie ist Vorbild, Anregung und beste Freundin zugleich, vor allem aber ein Charakter, der aus den Buchseiten mitten in die Gegenwart zu springen scheint. Und ebenso merken wird man sich den Namen ihrer Schöpferin BONNIE GARMUS, einer in London lebenden Amerikanerin, die alle Tugenden, die angelsächsische Erzählkunst ausmachen – ein Zusammenspiel von Tiefgründig- und Zugänglichkeit, von Humor und Eleganz –, in ihrem ersten Roman auf einzigartige Weise entfaltet." Felicitas von Lovenberg

Blick ins Buch
Eine Frage der ChemieEine Frage der Chemie

Roman

„Jetzt wird es Zeit für ein enthusiastisches Lob: Dieser Debütroman vereinigt Tiefgang mit Witz! Ein großer, kluger literarischer Spaß – und ein anrührender Familienroman.“ Denis Scheck

„So einen unterhaltsamen und zugleich blitzgescheiten Roman habe ich schon lange nicht mehr gelesen!“ Kölner Stadt-Anzeiger 

„Klug, charmant und warmherzig. Eine wunderbare Protagonistin, das Thema Emanzipation und Selbstbestimmung, tragische Entwicklungen und ein wirklich mitreißender Plot.“ BuchMarkt Online

Elizabeth Zott ist eine Frau mit dem unverkennbaren Auftreten eines Menschen, der nicht durchschnittlich ist und es nie sein wird. Doch es ist 1961, und die Frauen tragen Hemdblusenkleider und treten Gartenvereinen bei. Niemand traut ihnen zu, Chemikerin zu werden. Außer Calvin Evans, dem einsamen, brillanten Nobelpreiskandidaten, der sich ausgerechnet in Elizabeths Verstand verliebt. Aber auch 1961 geht das Leben eigene Wege. Und so findet sich eine alleinerziehende Elizabeth Zott bald in der TV-Show „Essen um sechs“ wieder. Doch für sie ist Kochen Chemie. Und Chemie bedeutet Veränderung der Zustände ...

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, dem Übersetzerduo von Delia Owens' "Der Gesang der Flusskrebse"

„In Elizabeth Zott verliebt man sich total. Sie ist so toll und natürlich dargestellt, dass ich sie sogar gegoogelt habe: Die muss es doch wirklich geben, habe ich gedacht! Lange habe ich nicht ein so unterhaltendes, witziges und kluges Buch gelesen wie dieses.“ Elke Heidenreich

Kapitel 1

November 1961

Damals, im Jahr 1961, als Frauen Hemdblusenkleider trugen und Gartenvereinen beitraten und zahllose Kinder bedenkenlos in Autos ohne Sicherheitsgurte herumkutschierten; damals, bevor überhaupt jemand ahnte, dass es eine 68er-Bewegung geben würde, und erst recht nicht eine, von der ihre Teilnehmer die folgenden sechzig Jahre erzählen würden; damals, als die großen Kriege vorbei waren und die geheimen Kriege gerade begonnen hatten und die Menschen allmählich anfingen, neu zu denken und zu glauben, alles wäre möglich, stand die dreißigjährige Mutter von Madeline Zott jeden Morgen vor Tagesanbruch auf und war sich nur einer Sache ganz sicher: Ihr Leben war vorbei.

Trotz dieser Gewissheit begab sie sich ins Labor, um den Lunch für ihre Tochter einzupacken.

Kraftstoff fürs Gehirn schrieb Elizabeth Zott auf einen kleinen Zettel, den sie in die Lunchbox ihrer Tochter steckte. Dann hielt sie inne, den Stift in der Luft, als würde sie neu überlegen. Treib in der Pause Sport, aber lass die Jungs nicht automatisch gewinnen, schrieb sie auf einen anderen Zettel. Dann hielt sie erneut inne, klopfte nachdenklich mit dem Stift auf den Tisch. Du bildest dir das nicht nur ein, schrieb sie auf einen dritten. Die meisten Menschen sind einfach scheußlich. Die letzten beiden legte sie obenauf.

Die meisten kleinen Kinder können nicht lesen, und falls doch, sind es meist Wörter wie „Hund“ und „Maus“. Aber Madeline las bereits, seit sie drei war, und jetzt, als Fünfjährige, hatte sie schon fast den gesamten Dickens durch.

Madeline gehörte zu der Sorte Kind, die ein Bach-Konzert summen, aber sich nicht selbst die Schuhe zubinden konnte, die die Drehung der Erde erklären konnte, aber bei Tic-Tac-Toe versagte. Und das war das Problem. Denn während musikalische Wunderkinder stets bejubelt werden, ist das bei frühen Lesern nicht der Fall. Weil frühe Leser nämlich bloß in etwas gut sind, in dem andere irgendwann auch gut sein werden. Deshalb ist es nichts Besonderes, darin die Erste zu sein – es ist bloß nervig.

Madeline war sich dessen bewusst. Deshalb nahm sie unweigerlich jeden Morgen – wenn ihre Mutter das Haus verlassen hatte und ihre Nachbarsbabysitterin, Harriet, abgelenkt war – die Zettel aus der Lunchbox, las sie und legte sie dann zu all den anderen Zetteln, die sie in einem Schuhkarton ganz hinten in ihrem Schrank aufbewahrte. Sobald sie in der Schule war, tat sie so, als wäre sie wie alle anderen Kinder: praktisch des Lesens unkundig. Für Madeline war Dazugehören wichtiger als alles andere. Und ihr Beweis war unwiderlegbar: Ihre Mutter hatte nie irgendwo dazugehört, und schau, wie es ihr ergangen war.

 

So lag sie in der südkalifornischen Kleinstadt Commons, wo das Wetter meistens warm war, aber nicht zu warm, und der Himmel meistens blau, aber nicht zu blau, und die Luft sauber, weil die Luft das damals einfach war, in ihrem Bett, die Augen geschlossen, und wartete. Sie wusste, bald würde ihr ein sanfter Kuss auf die Stirn gedrückt, die Bettdecke fürsorglich über die Schultern hochgezogen, „Nutze den Tag“ ins Ohr gemurmelt. Kurz darauf würde sie einen Automotor anspringen hören, das Knirschen von Reifen, wenn der Plymouth rückwärts aus der Einfahrt setzte, ein geräuschvolles Umschalten vom Rückwärtsgang in den ersten. Und dann würde ihre dauerhaft depressive Mutter zu dem Fernsehstudio fahren, wo sie sich eine Schürze umbinden und ihr Set betreten würde.

Die Sendung hieß Essen um sechs, und Elizabeth Zott war ihr unangefochtener Star.


Kapitel 2

Pine

Die ehemalige Forschungschemikerin Elizabeth Zott war eine Frau mit makelloser Haut und dem unverkennbaren Auftreten eines Menschen, der nicht durchschnittlich war und es nie sein würde.

Sie war, wie alle guten Stars, entdeckt worden. Obwohl in Elizabeths Fall kein Eiscafé eine Rolle spielte, keine Parkbank, auf der sie zufällig gesichtet wurde, keine glückliche Fügung. Stattdessen führte Diebstahl – genauer gesagt Mundraub – zu ihrer Entdeckung.

Die Geschichte war einfach: Ein Mädchen namens Amanda Pine, die das Essen auf eine Weise genoss, die manche Therapeuten für bedenklich halten, aß Madelines Lunch. Und zwar, weil Madelines Lunch ungewöhnlich war. Während die anderen Kinder ihre Sandwiches mit Erdnussbutter und Marmelade mümmelten, öffnete Madeline ihre Lunchbox und fand darin eine dicke Scheibe Lasagne vom Vortag, eine Beilage aus butterigen Zucchini, eine exotische, in Viertel geschnittene Kiwi, fünf glänzende runde Kirschtomaten, einen winzigen Morton-Salzstreuer, zwei noch warme Kekse mit Schokostückchen und eine rot karierte Thermosflasche mit eiskalter Milch.

Dieser Inhalt war der Grund, warum alle es auf Madelines Lunch abgesehen hatten, Madeline eingeschlossen. Aber Madeline bot ihn Amanda an, weil Freundschaft Opfer erfordert, aber auch, weil Amanda die Einzige in der ganzen Schule war, die sich nicht über das seltsame Kind lustig machte, das Madeline war, wie sie selbst bereits wusste.

Erst als Elizabeth bemerkte, dass Madelines Kleidung anfing, an ihrem knochigen Körper herabzuhängen wie schlechte Vorhänge, wurde sie misstrauisch. Ihren Berechnungen nach entsprach Madelines tägliche Nahrungsaufnahme genau dem, was ihre Tochter für eine optimale Entwicklung benötigte, somit war Gewichtsverlust wissenschaftlich unerklärlich. Dann vielleicht ein Wachstumsschub? Nein. Wachstum hatte sie in ihre Berechnungen einkalkuliert. Frühzeitiges Auftreten einer Essstörung? Unwahrscheinlich. Beim Abendessen futterte Madeline wie ein Scheunendrescher. Leukämie? Bestimmt nicht. Elizabeth war keine Schwarzseherin – sie war nicht der Typ Mutter, der nachts wach lag und sich ausmalte, ihre Tochter litte an einer unheilbaren Krankheit. Als Wissenschaftlerin suchte sie stets nach einer vernünftigen Erklärung, und in dem Moment, als sie Amanda Pines tomatensoßenrot verfärbte Lippen sah, wusste sie, dass sie die Erklärung gefunden hatte.

 

„Mr Pine“, sagte Elizabeth, als sie an einem Mittwochnachmittag in das örtliche Fernsehstudio und an einer Sekretärin vorbeirauschte, „ich versuche seit drei Tagen, Sie telefonisch zu erreichen, und Sie bringen nicht mal die Höflichkeit auf, mich zurückzurufen. Mein Name ist Elizabeth Zott. Ich bin Madeline Zotts Mutter – unsere Kinder gehen gemeinsam auf die Woody Elementary –, und ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass Ihre Tochter meiner Tochter unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Freundschaft vorgaukelt.“ Und weil er verwirrt wirkte, schob sie nach: „Ihre Tochter isst den Lunch meiner Tochter.“

„L…Lunch?“, brachte Walter Pine heraus, während er die Frau betrachtete, die eindrucksvoll vor ihm stand und deren weißer Laborkittel eine Aura überirdischen Lichts verbreitete, bis auf eine Kleinigkeit: die aufgestickten roten Initialen „E. Z.“ direkt über der Tasche.

„Ihre Tochter Amanda“, klagte Elizabeth erneut an, „isst den Lunch meiner Tochter. Anscheinend geht das schon seit Monaten so.“

Walter konnte sie nur anstarren. Groß und schlank, die Haare in der Farbe von leicht angebranntem gebutterten Toast nach hinten gestrichen und mit einem Bleistift festgesteckt, stand sie da, Hände in den Hüften, der Mund selbstbewusst rot, die Haut leuchtend, die Nase gerade. Sie blickte zu ihm herab wie ein Sanitäter auf einem Schlachtfeld, als würde sie abschätzen, ob es sich lohnte, ihn zu retten.

„Und die Tatsache, dass sie vorgibt, Madelines Freundin zu sein, um an ihren Lunch zu kommen“, fuhr sie fort, „ist absolut verwerflich.“

„W…Wer sind Sie noch mal?“, stammelte Walter.

„Elizabeth Zott!“, blaffte sie zurück. „Madeline Zotts Mutter!“

Walter nickte, versuchte mitzukommen. Als langjähriger Produzent nachmittäglicher Fernsehsendungen war er vertraut mit dramatischen Szenen. Aber das hier? Er starrte sie weiter an. Sie war hinreißend. Er war tatsächlich hingerissen von ihr. Wollte sie für irgendwas vorsprechen?

„Tut mir leid“, sagte er schließlich. „Aber die Krankenschwesterrollen sind schon alle vergeben.“

„Wie bitte?“, fauchte sie.

Es entstand eine lange Pause.

„Amanda Pine“, wiederholte sie.

Er blinzelte. „Meine Tochter? Oh“, sagte er plötzlich nervös. „Was ist mit ihr? Sind Sie Ärztin? Sind Sie von Ihrer Schule?“ Er sprang auf.

„Du liebe Güte, nein“, antwortete Elizabeth. „Ich bin Chemikerin. Ich bin in meiner Mittagspause den ganzen Weg vom Hastings hergekommen, weil Sie mich nicht zurückgerufen haben.“ Und als er sie weiter ratlos ansah, stellte sie klar. „Forschungsinstitut Hastings? Wo sich bahnbrechende Forschung Bahn bricht?“ Der geistlose Slogan ließ sie einmal tief ausatmen. „Es geht darum, dass ich sehr viel Sorgfalt darauf verwende, Madeline einen nahrhaften Lunch zuzubereiten, etwas, worum Sie sich doch gewiss auch für Ihr Kind bemühen.“ Und als er sie weiter nur verständnislos anstarrte, schob sie nach: „Weil Ihnen Amandas kognitive und körperliche Entwicklung am Herzen liegt. Weil Sie wissen, dass diese Entwicklung davon abhängt, ihr ein ausgewogenes Gleichgewicht von Vitaminen und Mineralstoffen zu bieten.“

„Das Problem ist, dass Mrs Pine …“

„Ja, ich weiß. Sie steht nicht zur Verfügung. Ich habe versucht, sie zu erreichen, und man sagte mir, dass sie jetzt in New York lebt.“

„Wir sind geschieden.“

„Tut mir leid, das zu hören, aber Scheidung hat wenig mit Lunch zu tun.“

„Das könnte man meinen, aber …“

„Ein Mann kann seinem Kind Lunch machen, Mr Pine. Das ist keine biologische Unmöglichkeit.“

„Völlig richtig“, pflichtete er bei und schob einen Stuhl zurecht. „Bitte, Mrs Zott, bitte, nehmen Sie Platz.“

„Ich hab was im Zyklotron“, sagte sie gereizt mit Blick auf ihre Uhr. „Sind wir uns einig oder nicht?“

„Zyklo…“

„Subatomarer Teilchenbeschleuniger.“

Elizabeth ließ den Blick über die Wände gleiten. Sie waren mit gerahmten Plakaten tapeziert, die Werbung für melodramatische Seifenopern und reißerische Spielshows machten.

„Meine Arbeit“, sagte Walter, der sich plötzlich für die Geschmacklosigkeiten schämte. „Vielleicht haben Sie schon mal eine davon gesehen?“

Sie wandte sich wieder ihm zu. „Mr Pine“, sagte sie in versöhnlicherem Ton. „Ich bedauere, dass ich weder die Zeit noch die Mittel habe, für Ihre Tochter Lunch zu machen. Wir wissen beide, dass Nahrung der Katalysator ist, der unser Gehirn in Gang setzt, unsere Familien zusammenhält und unsere Zukunft bestimmt. Und dennoch …“ Sie verstummte, und ihre Augen verengten sich, als sie das Plakat für eine Seifenoper bemerkte, auf dem eine Krankenschwester einem Patienten eine ziemlich ungewöhnliche Pflege angedeihen ließ. „Wer hat denn schon die Zeit, der ganzen Nation beizubringen, wie man Mahlzeiten zubereitet, die wirklich Gehalt haben? Ich wünschte, ich hätte sie, aber ich habe sie nicht. Sie etwa?“

Als sie sich zur Tür wandte, sagte Pine, der sie nicht gehen lassen wollte und selbst nicht recht verstand, was da gerade in ihm vorging: „Warten Sie, bitte, Moment … bitte. Was … was haben Sie da gerade gesagt? Von wegen: der ganzen Nation beibringen, wie man Mahlzeiten zubereitet, die … die wirklich Gehalt haben?“

Essen um sechs ging vier Wochen später auf Sendung. Und obwohl Elizabeth die Idee nicht unbedingt begeisternd fand – sie war schließlich Forschungschemikerin –, nahm sie den Job aus den üblichen Gründen an: Er war besser bezahlt, und sie hatte ein Kind zu versorgen.

 

Vom ersten Tag an, als Elizabeth sich eine Schürze umband und das Set betrat, war offensichtlich, dass sie „es“ hatte, wobei „es“ diese schwer fassbare Qualität war, sehenswert zu sein. Aber sie war auch ein Mensch mit Substanz, so direkt, so nüchtern, dass die Menschen nicht wussten, was sie von ihr halten sollten. Während in anderen Kochsendungen gut gelaunte Köche fröhlich ihren Sherry in sich hineinkippten, war Elizabeth Zott ernst. Sie lächelte nie. Sie scherzte nie. Und ihre Gerichte waren ebenso ehrlich und bodenständig wie sie selbst.

Nach nur sechs Monaten war Elizabeths Sendung ein immer größerer Hit. Nach einem Jahr eine Institution. Und nach zwei Jahren war klar, dass sie die verblüffende Wirkung hatte, nicht nur Eltern mit ihren Kindern zu vereinen, sondern Bürger mit ihrem Land. Man kann ohne Übertreibung feststellen, dass die gesamte Nation am Esstisch Platz nahm, wenn Elizabeth Zott mit dem Kochen fertig war.

Selbst Vizepräsident Johnson verfolgte ihre Sendung. „Sie wollen wissen, was ich denke?“, sagte er, als er einen hartnäckigen Reporter loswerden wollte. „Ich denke, Sie sollten weniger schreiben und mehr fernsehen. Fangen Sie mit Essen um sechs an – diese Zott, das ist eine patente Frau.“

Und das stimmte. Niemals hätte Elizabeth Zott erklärt, wie man winzige Gurkensandwiches oder fluffige Soufflés machte. Ihre Rezepte waren herzhaft: Eintöpfe, Aufläufe, Gerichte, die in großen Metallpfannen zubereitet wurden. Sie legte Wert auf die vier Lebensmittelgruppen. Sie glaubte an anständige Portionen. Und sie betonte, dass jedes Gericht, das die Mühe wert war, weniger als eine Stunde Mühe erfordern sollte. Sie beendete jede Sendung mit ihrem Standardspruch: „Kinder, deckt den Tisch. Eure Mutter braucht einen Moment für sich.“

Doch dann schrieb ein prominenter Reporter einen Artikel mit dem Titel: „Warum wir alles essen, was sie uns auftischt“, und bezeichnete sie beiläufig als „Leckere Lizzie“, ein Spitzname, der sowohl zutreffend als auch alliterativ war und deshalb ebenso schnell an ihr haften blieb wie an dem Papier, auf dem er gedruckt war. Von diesem Tag an nannten Fremde sie Leckere Lizzie, aber ihre Tochter Madeline nannte sie Mom, und obwohl Madeline noch ein Kind war, begriff sie, dass der Spitzname die Fähigkeiten ihrer Mutter schmälerte. Sie war Chemikerin, keine Fernsehköchin. Und Elizabeth, ihrem einzigen Kind gegenüber befangen, schämte sich.

Manchmal lag Elizabeth nachts im Bett und dachte darüber nach, wie ihr Leben diesen Verlauf hatte nehmen können. Doch das Nachdenken währte nie lange, denn in Wahrheit wusste sie es.

Sein Name war Calvin Evans.


Kapitel 3

Forschungsinstitut Hastings
Zehn Jahre zuvor, Januar 1952

Calvin Evans war ebenfalls am Forschungsinstitut Hastings angestellt, doch im Unterschied zu Elizabeth, die in beengten Verhältnissen arbeitete, hatte er ein großes Labor ganz für sich allein.

Aufgrund seiner Erfolgsbilanz stand ihm das vielleicht auch zu. Mit neunzehn hatte er bereits bedeutsame Forschungsarbeit geleistet, die dazu beitrug, dass der berühmte britische Chemiker Frederick Sanger den Nobelpreis bekam. Mit zweiundzwanzig entdeckte er ein schnelleres Verfahren, um einfache Proteine zu synthetisieren. Mit vierundzwanzig brachte ihn sein Durchbruch in Sachen Reaktivität von Dibenzoselenophen auf das Titelblatt von Chemistry Today. Außerdem hatte er sechzehn wissenschaftliche Aufsätze verfasst, Einladungen zu zehn internationalen Tagungen erhalten und eine Professur in Harvard angeboten bekommen. Die er ablehnte. Zweimal. Zum einen, weil Harvard Jahre zuvor seinen Antrag auf einen Studienplatz abschlägig beschieden hatte, und zum anderen, weil – tja, eigentlich gab es keinen anderen Grund. Calvin war ein Genie, aber wenn er einen Fehler hatte, dann war das seine Neigung, nachtragend zu sein.

Obendrein war er berüchtigt für seine Ungeduld. Wie so viele geniale Menschen konnte Calvin einfach nicht begreifen, warum niemand sonst es kapierte. Er war außerdem introvertiert, was durchaus kein Fehler ist, sich aber häufig als Unnahbarkeit manifestiert. Erschwerend hinzu kam, dass er Ruderer war.

Wie viele Nicht-Ruderer Ihnen versichern werden, sind Ruderer nicht besonders lustig. Das liegt daran, dass Ruderer immer nur übers Rudern reden wollen. Sobald zwei oder mehr Ruderer im selben Raum sind, schweift das Gespräch unweigerlich von so herkömmlichen Themen wie Arbeit oder Wetter ab und kreist nur noch um Boote, Blasen, Riemen, Griffe, Ergos, Blattabdrehen, Training, Setzen, Ausheben, Freilauf, Splits, Sitze, Schläge, Rollschienen, Starts, Schlagzahlen, Sprints und ob das Wasser wirklich „glatt“ war oder nicht. Dann geht es meistens damit weiter, was bei der letzten Fahrt falschgelaufen ist und was bei der nächsten falschlaufen könnte und wer daran Schuld hatte beziehungsweise haben wird. Irgendwann strecken die Ruderer ihre Hände aus und machen einen Schwielenvergleich. Und wenn man so richtig Pech hat, schließen sich etliche Minuten andächtiger Ehrfurcht an, in denen einer von ihnen das perfekte Rudererlebnis schildert, bei dem sich alles leicht anfühlte.

 

Neben der Chemie war Rudern das Einzige, wofür Calvin echte Leidenschaft empfand. Ja, Rudern war der Grund, warum sich Calvin in Harvard überhaupt beworben hatte: Für Harvard rudern hieß 1945, für die Besten rudern. Oder eigentlich die Zweitbesten. Die University of Washington war die beste, aber die University of Washington lag in Seattle, und Seattle war für seinen Regen berüchtigt. Calvin hasste Regen. Deshalb richtete er seinen Blick in die Ferne – auf das andere Cambridge, das in England – und widerlegte damit einen der größten Mythen über Wissenschaftler: dass sie gut recherchieren können.

Als Calvin das erste Mal auf dem Cam ruderte, regnete es. Am zweiten Tag regnete es. Am dritten Tag ebenso. „Regnet’s hier andauernd so?“, maulte Calvin, als er und seine Teamkameraden sich das schwere Holzboot auf die Schultern hievten und hinaus zum Steg schleppten. „Nein, nein, praktisch nie“, beruhigten sie ihn. „Cambridge ist normalerweise ziemlich sonnig.“ Und dann sahen sie einander an, als wollten sie sich gegenseitig etwas bestätigen, was sie schon lange vermutet hatten: Amerikaner waren dämlich.

 

Leider erstreckte sich Calvins Dämlichkeit auch auf seine Kontakte zur Damenwelt – ein großes Problem, weil er sich sehr gern verlieben wollte. In den ganzen sechs einsamen Jahren, die er in Cambridge verbrachte, schaffte er es, sich mit fünf Frauen zu verabreden, von diesen fünf war nur eine zu einem zweiten Rendezvous bereit, und das auch nur, weil sie jemand anders erwartet hatte, als sie ans Telefon ging. Das Hauptproblem war seine Unerfahrenheit. Er war wie ein Hund, der nach jahrelangen vergeblichen Versuchen endlich ein Eichhörnchen erwischt und dann keine Ahnung hat, was er damit anstellen soll.

„Hallo … äh“, hatte er gesagt, mit klopfendem Herzen und feuchten Händen und einem schlagartig leeren Kopf, als die junge Frau die Tür öffnete. „Debbie?“

„Ich heiße Deirdre“, seufzte sie und warf einen ersten Blick auf ihre Uhr, dem noch viele folgen sollten.

Beim Abendessen zog sich die Unterhaltung vom molekularen Abbau aromatischer Säuren (Calvin) hin zu den neusten Filmen (Deirdre), zu der Synthese nicht reaktiver Proteine (Calvin), zu der Frage, ob er gern tanzte oder nicht (Deirdre), zu einem Blick auf die Uhr, es war schon halb neun, und er musste am Morgen rudern, deshalb würde er sie gleich nach Hause bringen (Calvin).

Es versteht sich von selbst, dass es nach diesen Rendezvous zu sehr wenig Sex kam. Genauer gesagt, zu gar keinem.

 

„Ich versteh gar nicht, dass du da Schwierigkeiten hast“, sagten seine Kameraden im Ruderteam öfter zu ihm. „Mädchen lieben Ruderer.“ Was nicht stimmte. „Und du bist zwar Amerikaner, aber du siehst nicht schlecht aus.“ Was ebenfalls nicht stimmte.

Ein Teil des Problems war Calvins Körperhaltung. Er war gut einen Meter neunzig groß, schlaksig und hager, und er ließ sich etwas nach rechts hängen – wahrscheinlich, weil er immer auf der Backbordseite ruderte. Aber noch problematischer war sein Gesicht. Er hatte einen verlorenen Ausdruck an sich, wie ein Kind, das sich allein durchschlagen musste, mit großen grauen Augen und zotteligem blonden Haar und leicht violetten Lippen, die fast immer geschwollen waren, weil er die Neigung hatte, auf ihnen zu kauen. Es war die Art von Gesicht, die manche als leicht zu vergessen beschreiben würden, eine unterdurchschnittliche Komposition, die nichts von der dahinterliegenden Sehnsucht oder Intelligenz erahnen ließ, bis auf ein entscheidendes Kriterium – seine Zähne, die gerade und weiß waren und seine gesamte Gesichtslandschaft rehabilitierten, sobald er lächelte. Zum Glück und vor allem, nachdem er sich in Elizabeth Zott verliebt hatte, lächelte Calvin ständig.

 

Sie begegneten sich – oder besser gesagt, wechselten die ersten Worte – an einem Dienstagmorgen im Forschungsinstitut Hastings, dem privaten Forschungslabor im sonnigen Südkalifornien, in dem Calvin, nachdem er in Cambridge in Rekordzeit promoviert und dreiundvierzig Stellenangebote abgewogen hatte, eine Position teils wegen des guten Rufs, aber hauptsächlich wegen des Niederschlags annahm. In Commons regnete es selten. Elizabeth dagegen nahm das Angebot vom Hastings an, weil sie keine anderen bekommen hatte.

Als sie vor Calvin Evans’ Labor stand, bemerkte sie einige große Warnschilder:

NICHT EINTRETEN

LAUFENDES EXPERIMENT

KEIN EINLASS

DRAUSSEN BLEIBEN

 

Dann öffnete sie die Tür.

„Hallo“, rief sie über Frank Sinatra hinweg, der aus einer Stereoanlage dröhnte, die seltsamerweise mitten im Raum stand. „Ich muss mit jemandem sprechen, der hier die Verantwortung hat.“

Calvin, überrascht, eine Stimme zu hören, reckte den Kopf über eine große Zentrifuge.

„Entschuldigen Sie, Miss“, sagte er laut und gereizt, auf der Nase eine große Schutzbrille, die seine Augen vor etwas schützten, das rechts von ihm brodelte, „aber Unbefugte haben hier keinen Zutritt. Haben Sie die Hinweisschilder nicht gesehen?“

„Doch“, rief sie zurück, ohne auf seinen Ton zu achten, während sie durch das Labor marschierte, um die Musik auszumachen. „So. Jetzt können wir uns gegenseitig besser hören.“

Calvin kaute auf seinen Lippen und zeigte zur Tür. „Sie dürfen nicht hier sein“, sagte er. „Die Hinweisschilder.“

„Also, mir wurde gesagt, Sie haben in Ihrem Labor einen Überschuss an Bechergläsern, und wir haben unten zu wenig. Steht alles hier drauf“, sagte sie und hielt ihm ein Blatt Papier hin. „Ist von der Materialverwaltung genehmigt.“

„Darüber bin ich nicht informiert worden“, sagte Calvin, der das Blatt überflog. „Aber es tut mir leid, nein. Ich brauche jedes Becherglas. Vielleicht sollte ich lieber mit einem Chemiker unten sprechen. Sagen Sie Ihrem Chef, er soll mich anrufen.“ Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu und schaltete im Vorbeigehen die Stereoanlage an.

Elizabeth rührte sich nicht. „Sie wollen mit einem Chemiker sprechen? Mit jemand anderem als MIR?“, rief sie über Frank hinweg.

„Ja“, antwortete er. Und dann wurde er etwas freundlicher. „Hören Sie, ich weiß, es ist nicht Ihre Schuld, aber die sollten keine Sekretärin hier raufschicken, um ihnen die lästige Arbeit abzunehmen. Also, ich weiß, das ist für Sie vielleicht schwer zu verstehen, aber ich bin gerade mit etwas Wichtigem beschäftigt. Bitte. Sagen Sie Ihrem Chef einfach, er soll mich anrufen.“

Elizabeths Augen verengten sich. Sie konnte Leute nicht ausstehen, die aufgrund von ihrer Meinung nach längst überholten optischen Eindrücken voreilige Schlüsse zogen, und selbst wenn sie eine Sekretärin gewesen wäre, so konnte sie ebenso wenig Männer ausstehen, die glaubten, dass eine Sekretärin nicht in der Lage war, Wörter zu verstehen, die über „Tippen Sie das in dreifacher Ausfertigung“ hinausgingen.

„So ein Zufall“, schrie sie, steuerte geradewegs auf ein Regal zu und nahm sich einen großen Karton Bechergläser. „Ich bin auch beschäftigt.“ Dann marschierte sie hinaus.


Lernen Sie die Schönwalds kennen

"Wenn es darum geht, eine komplexe Geschichte mit stilistischem Anspruch und zugleich psychologisch fesselnd zu erzählen, gelten amerikanische Autorinnen und Autoren als ziemlich unschlagbar und die Great American Novel daher weit über die USA hinaus als Maß aller Dinge. 

Womöglich ist die Begeisterung für Donna Tartt, Hanya Yanagihara oder Elizabeth Strout, für Jonathan Franzen, Richard Russo oder Richard Ford auchdarum so ausgeprägt, weil das episch pointierte Erzählen in der deutschsprachigen Literatur weniger verbreitet ist. 

Dementsprechend von den Socken waren wir im Lektorat bei der Lektüre eines Manuskripts, das die Tugenden amerikanischer Erzählkunst mit einem so heutigen wie hiesigen Stoff verbindet: „Schönwald“ von Philipp Oehmke ist großer Familienroman und Gesellschaftsporträt in einem, souverän, klug und mitreißend. Im Zentrum des Romans stehen Ruth und Hans-Harald Schönwald, ein wohlsituiertes Ehepaar aus dem Rheinland, und ihre drei mittlerweile erwachsenen Kinder.

Auf unterschiedliche Weise erleben Eltern wie Kinder die schleichende Erosion ihrer Gewissheiten und ihrer Lebenssituation. Vor allem aber hat Philipp Oehmke grandiose Charaktere erschaffen, so unvergesslich wie unwiderstehlich, und die Zumutungen, die ihnen begegnen, halten uns und unserer Gegenwart den Spiegel vor." Felicitas von Lovenberg

Blick ins Buch
SchönwaldSchönwald

Roman

Eine deutsche Familie, ein großer Roman

Anders als Harry findet Ruth Schönwald nicht, dass jedes Gefühl artikuliert, jedes Problem thematisiert werden muss. Sie hätte Karriere machen können, verzichtete aber wegen der Kinder und zugunsten von Harry. Was sie an jenem Abend auf einem Ball ineinander gesehen haben, ist in den kommenden Jahrzehnten nicht immer beiden klar. Inzwischen sind ihre drei Kinder Chris, Karolin und Benni erwachsen. Als Karolin einen queeren Buchladen eröffnet, kommen alle in Berlin zusammen, selbst Chris, der Professor in New York ist und damit das, was Ruth sich immer erträumte. Dort bricht der alte Konflikt endgültig auf.

„Schönwald“ ist der mitreißende Roman einer Familie und zweier Generationen, die nie gelernt haben, miteinander zu reden – und die ein großes Geheimnis miteinander verbindet.

„›Schönwald‹ ist ein entlarvender, preisverdächtiger Roman, vielleicht sogar ein Buch des Jahres.“ ― WDR 5 „Bücher“ 

LESEPROBE

Ruths Qualen

Wenn Ruth im Hotel am Gendarmenmarkt aus dem Fenster blickte, kam ihr der Verdacht, dass das Hotel am Gendarmenmarkt möglicherweise gar nicht am Gendarmenmarkt lag. Jedenfalls vermochte sie nicht zu sagen, in welcher Richtung der Platz sein könnte – geschweige denn, dass sie ihn sähe. Sie hatte versucht, das Fenster zu öffnen, um ihren Kopf mal hinausstrecken zu können, vielleicht waren links und rechts ein paar Hinweise auf die Existenz des Platzes auszumachen, ja womöglich wären gar seine Ränder und Ausläufer in ihr Blickfeld geraten. Die Kuppeln des Deutschen und Französischen Doms zum Beispiel, oder, wenn es die nicht gab, wenigstens sekundäre Hinweise, wie zum Beispiel Fahrradrikschas oder Souvenirläden. Sogar nach einem verstärkten Taubenaufkommen hatte sie Ausschau gehalten.

Doch die Fenstergriffe waren irgendwie blockiert, jedenfalls ließen sie sich nicht drehen. Unten am Hebel hatte Ruth eine kleine Schraube entdeckt, in deren Gewinde sie nun mit ihrer Nagelfeile herumstocherte. Wenn nur ein paar Anzeichen des versprochenen Gendarmenmarkts zu sehen wären, dann würde sie ihren Frieden machen können. Würde eine Großbaustelle auch als Indikator für die Nähe einer der prächtigsten Plätze der Stadt durchgehen? Natürlich kann ein Platz wie der Gendarmenmarkt nach gerade mal dreißig Jahren seit der Wiedervereinigung noch nicht komplett fertig sein, an seine Peripherie würde stets weiter angebaut werden, auch weil der Gendarmenmarkt wegen seiner Nähe zum ehemaligen Todesstreifen immer noch von viel freier Fläche umgeben war.

Deswegen ergab es für Ruth durchaus Sinn, dass alles, was sie aus ihrem Fenster sah, eine Großbaustelle war, die morgens ab zehn nach sieben von einem Treck aus fiependen Kipplastern und Betonmischern angefahren wurde und sie weckte.

Trotzdem hatten Hans-Harald und sie in dem Hotel verlängert. Hans-Harald hatte das übernommen. Seit ihrer Ankunft versuchte er unablässig, mit den wechselnden fremdsprachigen Männern und Frauen an der Rezeption Beziehungen aufzubauen, um sich mit ihnen über regionale Spezialitäten, interessante Umgebungsspaziergänge, die Chance auf Karten für Deutsche Oper und Philharmoniker sowie die Verkehrspolitik des rot-rot-grünen Senats austauschen zu können. Für ihren Mann gehörte diese soziale Anbindung zu der Hotelerfahrung dazu, und auch sie konnte sich an eine Zeit erinnern, in der das mal so war.

Sie hatten ihren Aufenthalt verlängert, weil Karolin, wie sie glaubten, nach dem Angriff auf ihren Buchladen eine schwere Zeit durchmachte, da hatten sie für ihre Tochter da sein wollen. Doch nachdem sie gleich am Sonntagmorgen unangemeldet bei ihr zu Hause aufgetaucht waren, waren sie ihr, abgesehen von zwei kursorischen Treffen, kaum noch begegnet.

Sie hatten überlegt, raus in die Uckermark zu fahren, um wenigstens Benni und die Enkelkinder noch einmal zu sehen, doch es regnete seit Tagen, und die hatten ja auch ihr eigenes Leben dort draußen, plus die komplizierte Emilia. Auch Christopher schien jetzt hier in Berlin sehr beschäftigt. Er meldete sich zwar täglich telefonisch und stellte alle möglichen Szenarien der Wiederbegegnung in Aussicht („Heute Abend lade ich euch ins Grill Royal ein“, ein Lokal, das nach allem, was Ruth am Rande aus Gesprächen zwischen Christopher und Karolin aufgeschnappt hatte, ganz fürchterlich klang, auf das Hans-Harald aber ganz erpicht war, weil er es aus der Süddeutschen kannte).

In Wirklichkeit freuten sie sich nur noch auf Bennis Grillparty. Das war eine handfeste Veranstaltung, bei der alle noch einmal zusammenkämen. Ihr reichte das, und anschließend würden Hans-Harald und sie auch froh sein, in den Zug nach Köln steigen zu können und wieder in ihr wahres Leben entlassen zu werden. Doch Benni machte sich Sorgen über das Wetter, dass es regnen könnte. Ständig rief er an und wollte das Fest absagen. Wegen ein bisschen Regen, das passte eigentlich gar nicht zum verbindlichen Benni.

Papperlapapp, hatte sie ihm am Telefon gesagt und ihn so beruhigen können – wie oft hatten Hans-Harald und sie Gartenfeste veranstaltet, die mehr und minder komplett in der Garage hatten stattfinden müssen, weil es so geregnet hatte (einmal war sogar die Feuerwehr angerückt, weil es so aus der Garage gequalmt hatte), aber das seien doch die Feste, an die man sich heute noch erinnerte.

Bis zur Gartenparty am Mittwoch galt es immer noch, zwei weitere Tage „ihrer schönen Berlin-Woche“, wie es schon bald in Köln heißen würde, rumzukriegen. Um halb neun hatten sie Zeitung (Hans-Harald) und Reiseführer (Ruth) lesend das „reichhaltige“ Frühstück mit Filterkaffee, Aufback-Croissants, Verpackungswurst sowie Industriequark genossen. Damit hatten sie eine Dreiviertelstunde totschlagen können, nun war es Viertel nach neun, und Hans-Harald lag wieder auf dem Bett und guckte, wie die Tage zuvor auch, mehr oder minder durchgängig auf Eurosport Zusammenfassungen, Liveübertragungen, Vorberichte und Analysen der Vorrundenspiele der US Open, bei denen Spielerinnen und Spieler gegeneinander antraten, von denen selbst Hans-Harald noch nie gehört zu haben schien. Wenn Ruth ihn, leicht angesäuert, fragte, wer denn spiele, merkte sie, wie er selbst erst auf der Bildschirmeinblendung die fremdartigen chinesischen oder osteuropäischen Namen lesen musste und sich dann mühte, sie fachmännisch oder zumindest auf den ersten Blick sinnvoll auszusprechen.

Weil Ruth das Liegen auf einem Bett nur in der festgelegten Zeit der Mittagsruhe zwischen 13 und 15 Uhr für disziplinarisch vertretbar hielt, hatte sie es sich auf einem Holzstuhl mit fröhlich gesprenkelten Stoffpolstern bequem gemacht, der zwischen Bett und Fenster stand und aus dem Fundus einer aufgelösten DB-Lounge stammen könnte. Obwohl es erst zehn Uhr am Morgen war, hatte sie das Deckenlicht im Zimmer anknipsen müssen, um das neue Rätsel im ZEIT-Magazin zu beginnen, dessen um die Ecke zu denkende Mechanik sie vor Jahrzehnten durchschaut hatte und das sie in immer kürzerer Zeit löste und damit nicht nur Hans-Harald, sondern auch ihre Kinder beeindruckte, die meist nicht einmal auf eine einzige Antwort kamen.

Später hatten sie ausgestattet mit zwei Regenschirmen, die Hans-Harald dank seiner Kontakte zu den Hotelangestellten nach langem Hin und Her an der Rezeption hatte organisieren können, das Hotel verlassen, um das „fußläufig erreichbare“, wie es im Hotelprospekt hieß, Holocaust-Mahnmal anzusteuern. Das Mahnmal war nicht überdacht, und der Regen störte die Kontemplation. Trotzdem musste Ruth an das angebliche Nazigeld denken, das von der Wolfsschanze gewissermaßen durch ihre Familie bis in die Gentrifizierung Kreuzbergs geflossen sein soll. Beeindruckend, wie Chris die Kritik zum Verstummen gebracht hatte, wenngleich auch richtig war, dass sie ihren Sohn bei der Instagram-Diskussion eigentlich nicht wiedererkannt hatte, na ja, der Zweck heiligte die Mittel.

Sie liefen weiter nach Süden zur „Topografie des Terrors“ – wenn schon, denn schon, hatte Hans-Harald gesagt –, auch dort befanden sich Teile der Ausstellungsfläche im Freien, zum Glück aber auch einige in geschlossenen Räumen. Die Ausstellung brachte nichts Neues, wie auch, Ruth hatte Neuere Geschichte studiert und Hans-Harald jedes Buch von Sebastian Haffner über das Dritte Reich gelesen, dessen große Hitler-Biografie sogar mehrmals, „ein ganz kluger Mann“, sagte Hans-Harald immer über ihn, genauso wie über Peter Scholl-Latour, zwei Leuchttürme der bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung. Ruth erschienen die Texte der beiden immer zu populistisch, Werk und Auftreten zu selbstverliebt. Sie hatte lieber Golo Mann gelesen, das drittälteste Kind des großen Thomas, dessen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ihr präziser und unprätentiöser erschien als die Werke der von Hans-Harald geschätzten TV-Stars.

Ruth grub ihr Telefon aus ihrer Handtasche aus und rief bei Karolin an. Es war immerhin schon zwölf Uhr, sie hatten sich jetzt den gesamten Vormittag selbst beschäftigt, vielleicht wäre es in Ordnung, jetzt mal anzurufen. Karolin ging nicht ran. Dafür kam wenig später eine Textnachricht von Christopher – Vielleicht Kaffee heute Nachmittag? –, und Ruth schrieb sofort Gern! zurück und fügte das Emoji einer dampfenden Kaffeetasse hinzu sowie das eines Stück Kuchens. Die Bildchen kamen ihr selbst verblödet vor, doch sie simulierten Lockerheit. Sie wusste, dass Christopher es gut meinte; dass ihr ältester Sohn sich auf eine fast zwanghafte Weise immer verpflichtet zu fühlen schien und deswegen Ankündigungen machte, denen er meist nichts folgen ließ, so wie sicherlich auch an diesem Nachmittag. Ruth hatte Verständnis, er hatte doch immer so viel zu tun als Literaturwissenschaftsprofessor … obwohl: obwohl sie in letzter Zeit ein paarmal darauf angesprochen worden war, ob Christopher eine neue Stelle hätte, vor allem von Margot Schuler, die ja immer glaubte, besonders gut über die Kultur- und Geisteswelt informiert zu sein, Margot jedenfalls meinte, im Internet etwas dazu gelesen zu haben, das sei aber auf Englisch und ihr deswegen nur in groben Zügen verständlich gewesen. Ruth hatte mit einiger Mühe der Versuchung widerstanden, selbst Christophers Namen bei Google einzugeben. Er hätte bestimmt etwas gesagt, wenn er glaubte, es gäbe etwas, wovon Hans-Harald und sie Kenntnis haben sollten. Solange das nicht der Fall war, wollte sie lieber keine Details wissen. Hans-Harald hatte sie das Gerücht, mehr war es ja nicht, bewusst verschwiegen, weil er ganz sicher sofort das Internet durchkämmt hätte. Wobei, hatte er ihr nicht stolz erzählt, er wolle für alle drei Kinder einen Alarm bei Google einrichten, sodass fortan nichts mehr verpasst würde, was das Internet über die drei Kinder zu berichten wusste? Dann müsste er eigentlich von den Gerüchten gehört haben, und hätte seinerseits ihr nichts von ihnen berichtet – warum, das würde sie noch herausfinden müssen (wahrscheinlicher war allerdings, dass es ihm gar nicht erst gelungen war, den Alarm einzurichten).

Jetzt, auf jeden Fall, waren in New York Semesterferien und es schien nicht ungewöhnlich, dass Christopher mehr als eine Woche in Berlin verbringen konnte.

Wenn das heute Nachmittag, wie sie vermutete, nicht klappte mit dem Kaffeetrinken, wenn er sich da wieder zu viel vorgenommen hatte, würde sie nicht traurig sein. Man säße ja doch nur wieder in einem von Christopher ausgewählten, zu lauten Café, wo sie ihren Cappuccino auf Englisch würde bestellen müssen. Hans-Harald und sie – zwei um die Achtzigjährige in bunten Joggingschuhen mit Umhängetasche und Regenschirm des „Hotels am Gendarmenmarkt“ – wären dort unter den aus Dublin, Toronto und Stuttgart zugezogenen Millennials so fehl am Platz, wie sie steif auf unbequemen Hockern sitzend, ihren Kaffee genössen, während sie immer noch wütend wäre über die vier Euro fünfzig, die der Cappuccino dort kostete, plus fünfzehn Prozent Trinkgeld, das man gezwungen war zu entrichten, sofern man nicht auf dem zum Bezahlen vorgehaltenen iPad explizit das Tastenfeld „No Tip“ wählte, was Hans-Harald in dem hektischen Bezahlvorgang wahrscheinlich nicht gelungen wäre.

Da sich wegen der unsicheren Christopher-Verabredung nun erneut ein unüberschaubares Feld an freier Zeit vor ihnen auftat, hatte Ruth auf ihrem Telefon eine Route ausgeklügelt, die sie von der Topografie des Terrors zum Potsdamer Platz führte, wo sie die U2 zum Bahnhof Zoo nehmen konnten, um von dort den Diener Tattersall fußläufig anzusteuern, ein Restaurant, von dem Hans-Harald behauptete, es während seiner Studienzeit oft besucht zu haben, was Ruth bezweifelte: „Hans-Harald, das ist und war immer ein teures Prominentenlokal“ – für Ruth die größtmögliche Herabwürdigung –, „ich kann mir nicht vorstellen, dass du dir das als fünfundzwanzigjähriger Jurastudent in der Nachkriegszeit hast leisten können.“

„Es waren die Sechziger“, hatte Hans-Harald entgegnet, „die Sixties, Ruth. Nicht die Nachkriegszeit. Ich hatte sogar einen Mercedes. Im Gegensatz zu dir, die angeblich in Armut aufgewachsen ist, bevor wie uns kannten, hatte ich eine komfortable Jugend und konnte mir leisten, in eine schummrige Berliner Pinte zu gehen, die damals sicherlich kein Prominentenlokal gewesen ist.“

Mit großer Geste hatte er sich beim Diener dann Soleier, Buletten und Kartoffelsalat bestellt, dazu ein Berliner Kindl, und endlich traf er auf jene Art redselige Berliner Servicekräfte, die er im Hotel all die Tage vergeblich gesucht hatte. Ruth hatte einen Salat gegessen und ein kleines Sprudelwasser bestellt („Ruth, hier bestellt man doch keinen Salat!“), und als sie damit fertig waren, war es fünf nach zwei.

Es war schön, in Berlin zu sein, die Idee war gut, ein Geschenk, dass zwei der Kinder hier, oder, in Bennis Fall, in der Umgebung lebten, die Enkel hier waren und sich somit auch Ruths und Hans-Haralds Leben ein bisschen in die Hauptstadt verlagerte. Ruth wusste, dass das nicht allen ihrer Freunde im Rheinland gefiel. In ihrem Freundeskreis, in dem das Aufkommen pensionierter Bundesbeamter, Ministerialdirektoren, Kanzleramts-Referenten relativ hoch war, gab es immer noch einige – wie hatte Christopher sie neulich auf seine unnachahmliche Art genannt? – „Never-Berliner“, die sich bis heute weigerten, jene Stadt zu bereisen, die ihnen 1992 nach heftigen Debatten im Bundestag den Hauptstadttitel weggenommen hatte.

Ruth konnte sich genau vorstellen, wie hinter ihrem Rücken geredet wurde.

„Wo sind denn die Schönwalds? Ach, wieder in Berlin? Was die da immer wollen, ist doch so schäbig da.“

„Ja, als ich anrief, war die S-Bahn gerade ausgefallen, und sie saßen im Schienenersatzverkehr-Bus, der aber natürlich auch nicht losfuhr, und keiner wusste, wann und warum.“

„Da haben sie ja noch Glück, wenn der Bus nicht mit Böllern beschossen wurde.“

„Benni und Karolin, das waren doch eigentlich ganz vernünftige Kinder, warum mussten die denn ausgerechnet nach Berlin? Wenn sie schon wegwollten, hätten sie doch nach Frankfurt oder Düsseldorf gekonnt. Da ist auch kunstmäßig viel los, da muss man nicht nach Berlin für. Die Karolin ist doch so ’ne Kunstinteressierte.“

„Ja, aber die ist ja wohl auch ein bisschen schwierig, da ist ja doch so ein Thema mit Sexualität. Die ist ja mit ’ner Frau zusammen, ne, so was geht natürlich in Berlin besser.“

„Und der Benni, der hat doch einfach reich geheiratet, da in Brandenburg, oder wo das ist? Wohnt da fett auf dem Land.“

„Aber wir waren doch als junge Leute auch in Berlin gewesen! Ich bin da dem Sarg von Benno Ohnesorg hinterhergelaufen!“

„Ach, komm!“

„Natürlich!“

„Ja, Westberlin. Das kannste nicht vergleichen.“

„Die Ossis, puh! Bis heute nichts besser geworden. Deswegen funktioniert da in der Verwaltung ja auch nichts. Das ist immer noch DDR.“

„In den Supermärkten in Berlin gibt es bis heute ja auch keine frische Fleischtheke, weil die Ossis das nicht kennen. Dafür musste ich in Berlin in einen Feinkostladen!“

„Der einzig erfolgreiche der Schönwald-Kinder ist doch der Professor, der Christopher, oder?“

„Ja, aber der ist in New York! Da hast du auch nichts von den Enkeln.“

„Gut, der scheint da auch nicht zu Potte zu kommen, was die Enkelproduktion betrifft. Und der muss doch auch bald fünfzig sein!“

„Wir werden alle nicht jünger. Noch eine Runde Kölsch?“

So oder so ähnlich stellte Ruth sich vor, dass geredet würde, manchmal nachts, wenn sie nicht schlafen konnte und sie in Berlin waren.

Früher hatte Karolin ihnen auch mal ein Airbnb in Kreuzberg gebucht, aber das war für Ruth überhaupt nichts gewesen, sich in den zugerümpelten und allenfalls oberflächlich gereinigten Wohnungen anderer Leute aufhalten zu müssen. Es hatte sich angefühlt, als sei sie aus ihrem Leben geschmissen worden und müsse nun in der Kulisse anderer Leute wohnen. Hans-Harald hingegen hatte es gut gefallen. Er mochte es, in den fremden Regalen herumzustöbern, hier eine mit einem handbeschriebenen Pflaster („Privat!“) beklebte Schublade aufzumachen, dort eine Fotografie umzudrehen, ein Buch durchzublättern und nach Notizen zu durchkämmen, und so gewissermaßen Schritt für Schritt zu ermitteln, was die Leute dort für ein Leben führten. Er wusste aus jahrzehntelanger Arbeit, wie schwierig, beinahe unmöglich es war, Orte von den Spuren ihrer Bewohner zu befreien. Fast alles kann ein Hinweis sein, man muss ihn nur sehen. Und verknüpfen mit anderen Zeichen, die vorerst nicht zusammenzupassen schienen. So entstehe Wahrheit. „Eigentlich skandalös“, sagte er zu Ruth, „was die Menschen einem zumuten zu wissen.“

Von ihr könnten sie ruhig alles wissen, sagte Ruth. Was gäbe es denn bei ihr, und ehrlich gesagt auch bei Hans-Harald und überhaupt bei den meisten Leuten herauszufinden? Wer die Spuren aus ihrem Leben zusammenzusetzen versuchte, würde vor lauter Langeweile sterben. Der Hype um die Privatsphäre und den Datenschutz sei immer schon übertrieben gewesen, die Leute überschätzten die Interessantheit ihres eigenen Lebens. Das meiste, was Menschen hervorbringen, sei eben banal. Der große Erfolg des Reality-Fernsehens, später der sozialen Medien, sei daher eins der unerklärlichen Phänomene unserer Zeit. Insofern, hatte sie Hans Harald gesagt, frage ich mich, was dich an diesen Täterprofilen, die du da erstellst, so interessiert. Andererseits hatte Hans-Harald schon in den unschuldigen Jahren vor dem Internet seine Kinder beim Abendessen nach ihren Freunden befragt und nach deren Eltern, was die so machten, wo sie wohnten. Es ging da nicht um Status, dafür hatte Hans-Harald keinen Sinn. Es war auch keine Neugier, es war echtes Interesse. Wenn es keine Antworten gab zu Adresse oder Beruf der jeweiligen Eltern, war Hans-Harald aufgestanden vom Esstisch, was nur in Ausnahmefällen erlaubt war, und hatte aus dem untersten Bücherregal im Wohnzimmer das damals gelbe Telefonbuch geholt und beinahe genüsslich mit den Worten: „Wollen wir doch mal sehen“, aufgeschlagen und mit einem leicht mit Spucke benetzten Zeigefinger in den dünnen Seiten des Telefonbuchs geblättert.

Während Ruth die Anonymität des Hotels am Gendarmenmarkt gern noch verstärken würde (und, ja, es kam ihr entgegen, dass die meisten Rezeptionsmitarbeiter kein belastbares Deutsch sprachen), arbeitete Hans-Harald unermüdlich gegen sie an. Er wollte, wenn es ginge, gern alles wissen über die Leute hinter dem Tresen der Rezeption und über ihre Ansichten zur Welt, zum Wetter, zum Verkehrschaos in Berlin.

Hans-Harald hatte auch vorgeschlagen, jetzt, wo sie so viel Zeit in Berlin hatten, vielleicht Rainer zu besuchen, immerhin ihr Schwiegersohn. Karolin hatte erzählt, dass das Schönwald’s inzwischen einen Michelin-Stern besaß und man seinen Tisch mindestens zwei Monate im Voraus buchen musste.

„Na ja, für uns wird er ja wohl was haben“, hatte Hans-Harald gesagt. „Das will ich doch schon meinen. Trägt immerhin meinen Namen, das Restaurant.“

„Hans-Harald, da wäre ich mir nicht so sicher. Wir haben uns doch über zehn Jahre nicht gesehen. Und das ist ja auch nicht im Allerbesten auseinandergegangen.“

„Warum ist es eigentlich auseinandergegangen?“

„Ach, lass das doch jetzt. Das spielt doch überhaupt keine Rolle mehr. Ich bin mir jedenfalls sicher, wir sind bestimmt die Letzten, die Rainer in seinem schicken Laden sehen will. Wir sind Ballast aus der Vergangenheit.“

„Aber Ruth, wir sind doch kein Ballast! Im Gegenteil, ich würde sogar erwarten, dass er uns dort mal einlädt. Wie gesagt, das ist immerhin mein Name und der meiner Familie. Wir gehen da jetzt hin, wollen wir doch mal sehen.“

Zum Glück machte das Schönwald’s erst um 19 Uhr auf, sodass Ruth noch ein wenig Zeit blieb, ihrem Mann die Idee, das Restaurant ihres ehemaligen Schwiegersohns zu besuchen, wieder auszureden. Vorher wollte er noch in eine Ausstellung, von der Christopher ihm erzählt hatte, eine Retrospektive der Performancekünstlerin Marina Abramović in der Neuen Nationalgalerie. Christopher kannte die Künstlerin und ihre so gewagten wie oft schmerzhaften Arbeiten aus New York und hatte die Ausstellung sehr empfohlen, sei „mal was anderes“, so hatte Hans-Harald die Worte des Sohnes wiedergegeben. Doch Ruth fühlte sich ob des Dauerregens klamm, die Füße feucht in den Joggingschuhen, sie wollte in die S-Bahn zum Hotel steigen, anstatt in überfüllten und dampfenden Bussen zur Nationalgalerie zu gondeln. Von Hans-Harald, wusste Ruth, war kein großer Widerstand zu erwarten, wenn sie sich sperrte. Außerdem war er – natürlich – müde von all den Buletten und dem Bier, zudem ebenfalls nass. Er sagte, er würde sich auf eine lange heiße Dusche im Hotel freuen sowie anschließend auf ein Tennismatch bei Eurosport. Danach, hatte er angekündigt, würde er wieder fit sein, um Rainers Sternerestaurant einen Besuch abzustatten, was Ruth immer noch für keine gute Idee hielt. Doch Hans-Harald hatte bereits seine Freunde an der Rezeption beauftragt, ihn dort anzukündigen, und zwar bei Rainer Schönwald persönlich, dass ein „gewisser Harry Schönwald“ sich spontan entschieden habe, das Lokal an diesem Abend zu beehren, und das auch zur Not allein, wie er mit einem Seitenblick auf Ruth noch hinzufügte.

Was überhaupt nicht zu Hans-Harald passte und Ruth seit Jahrzehnten irritierte, waren seine ausgedehnten Duschgänge. Früher hatte er gesagt, er könne dort am besten nachdenken, viele seiner Plädoyers hatte er angeblich unter einer heißen Dusche konzipiert.

Ruth hatte entgegen ihren eigenen Regeln die Zeit genutzt, um sich, solange Hans-Harald im Badezimmer sein würde, auf dem Bett kurz auszustrecken. Eurosport lief ohne Ton, anhand von eingeblendeten Statistiken wurden ihr offenbar die Kontrahenten der kommenden Begegnung vorgestellt, das hätte Hans-Harald sicherlich interessiert. Sie drückte auf der abgegriffenen Hotel-Fernbedienung die Lautstärke vorsichtig hoch und lauschte. Wenn Hans-Harald gleich frisch geduscht aus dem Badezimmer käme, würde sie ihm die Erkenntnisse über die Spieler zusammenfassen können. Das würde ihn freuen.

Christopher hatte angeboten, ihnen in seinem Hotel am Zoo auch die Friends & Family-Rate zu besorgen, doch die Zimmer dort verfügten offenbar, wenn sie Christopher richtig verstanden hatte, über keine Badezimmer. Stattdessen stünden da riesige Duschen mitten im Raum. Das war ihr nach mehr als fünfzig Ehejahren doch zu wenig Privatsphäre.

So hörte sie das Prasseln des Duschwassers nur entfernt aus dem Badezimmer, der Geruch von parfümiertem Hotelduschgel kroch durch die Türschlitze, die Schlieren draußen an der Fensterscheibe brachen das gelbe Blinklicht, das von der Baustelle kam; sie hörte gedämpft die Stimmen der Bauarbeiter, die dem Regen trotzend zusammenpackten und nach und nach ihre Lkws starteten. Ruth hatte ihre feuchten Strümpfe ausgezogen sowie die Jeans und beides auf die kalten Heizkörper gelegt; der starke Spätsommerregen verdunkelte die Welt da draußen, hier drinnen hatte Ruth ihre blaue Bluse über die grelle Energiesparbirne der Nachttischlampe gehängt. Angesichts dieses Zusammenspiels aus Duschgeplätscher, Fernsehton, gedämpftem Baustellenlärm, dazu die bunten Lichtbrechungen in der Scheibe, der Wolkenfinsternis da draußen und dem gedimmten Schein der Nachttischlampe musste Ruth sich eingestehen:

Es war gemütlich.

Es war friedlich.

Es war der erste durch und durch angenehme Moment dieser Reise. Sie inspizierte die Minibar, auch hier gab es Berliner Kindl. Behutsam nahm sie eine der beschlagenen Flaschen heraus, während sie darauf achtete, keinen der anderen Gegenstände in dem Kühlschrank auch nur zu berühren, um sie nicht bezahlen zu müssen. Jede Flasche wurde, einmal der Minibar entnommen, sofort aufs Zimmer gebucht, hatte sie in einem ihrer Verbrauchermagazine gelesen, dementsprechend umsichtig musste sie vorgehen.

Sie öffnete das Bier, goss es in eins der beiden über dem Kühlschrank stehenden Gläser und stellte es auf Hans-Haralds Nachttisch. Vielleicht würde Hans-Harald sich zu ihr legen, wenn er geduscht aus dem Bad kam, und sie würden zusammen den ersten Satz schauen; vielleicht würde auch er es gemütlich finden.

Sie überlegte. Dann stakste sie zurück zur Minibar, zögerte noch einmal kurz – alles, was entnommen wird, muss bezahlt werden –, öffnete die Tür und zog, erneut vorsichtig, eine kleine Flasche österreichischen Riesling heraus. Ruth wog die Flasche in ihrer Hand. Drehverschluss.

In dem Moment störte eine Rockmusikmelodie die Harmonie. Es war der Anfang von „Smoke on the Water“, sie kannte es von WDR2. Neben dem Bierglas blinkte es. Es war Hans-Haralds Handy, und Hans Haralds Handy war ebenfalls die Quelle der Rockmelodie. Ruth erinnerte sich, ein Tennisfreund hatte sie ihm als Klingelton eingestellt, und dann hatte Hans-Harald nicht gewusst, wie man das wieder rückgängig machte. Aber eigentlich störte es auch nicht, da Hans-Haralds Telefon so gut wie nie klingelte. Außer ihr und den Kindern hatte, soweit Ruth wusste, niemand die Nummer, und die Kinder riefen nie an, sie hatten sich angewöhnt, es lieber sofort bei Ruth zu versuchen, die wusste, in welche Richtung man den Balken wischen musste, um ranzugehen.

Ruth lief misstrauisch einmal um das Bett herum, von ihrer Seite auf Hans-Haralds, schob sich zwischen Bett und Minibarschrank hindurch und erreichte Hans-Haralds Nachttisch. Unterwegs hatte sie schnell einen Blick auf ihr eigenes Telefon geworfen, sicherlich hatte Christopher, Karolin oder Benni es erst vergeblich bei ihr versucht. Doch sie hatte keinen verpassten Anruf. Und auf dem Display von Hans-Haralds immer noch das Riff von „Smoke on the Water“ spielendem Handy stand weder Chris (wie Hans-Harald seinen Sohn sicherlich eingespeichert hatte) geschrieben noch Karolin (die Hans-Harald eigentlich nie anrief, sondern immer nur Ruth) oder Benni (der noch die naheliegendste Lösung gewesen wäre) – ja gewesen muss es heißen, denn auf dem Display stand keiner dieser Namen, sondern der Name HAUSBRUCH, eingespeichert in Versalien, ob versehentlich oder aus Akzentuierungsgründen.

Hausbruch war nun der Nachname von Martin. Ihrem Doktorvater und Mentor und einiges mehr aus Hamburg, der Professor Hausbruch oder HAUSBRUCH. Dass der Hans-Harald anrief war … sie wollte bedenklich sagen, aber was auf Hans-Haralds Handy zu sehen war, war nicht bedenklich, sondern absolut gefährlich.

Es war potenziell existenzvernichtend.

Ihre Gedanken beschleunigten sich, es wurde auch Zeit, eine Entscheidung musste getroffen werden innerhalb der nächsten Sekunden. Also, noch mal: Martin rief Hans-Harald an, der Ex-Liebhaber den Ehemann, das bedeutete, die beiden kannten sich, sie waren in Kontakt, wie konnten die sich kennen? Und wenn die sich kannten, dann doch sicherlich, weil Martin Hans-Harald alles erzählt hatte, ihr Mann also schon wer weiß wie lange alles wusste, aber nie etwas gesagt hatte. Rangehen, ja oder nein, gleich würde „Smoke on the Water“ verebben, und es wäre zu spät, dann lieber schnell abheben, Martin anschreien, ob er von Sinnen sei, ihren Mann anzurufen, das war gegen die Abmachung, das hatten sie sich immer versprochen. Martin verbieten, je wieder anzurufen, den Anruf aus dem Telefonspeicher löschen, so tun, alles wäre er nie erfolgt, und hoffen, dass alles so bleiben würde, wie es war. Wenn Hans-Harald es wusste und vielleicht auch schon lange wusste, aber bisher nichts daraus hatte folgen lassen, dann würde vielleicht wirklich nichts passieren, die Oberflächen-Realität sich nicht ändern.

Dann hatte die Melodie aufgehört. Es war still geworden. Die Baustelle draußen verstummt; das Duschwasser verebbt; der Regen nachgelassen. Sie musste jetzt schnell sein. Hans-Harald würde gleich mit einem Hotel-am-Gendarmenmarkt-Handtuch umwickelt aus dem Bad kommen, um im auf dem Laminatboden aufgeklappten Koffer nach seiner Unterwäsche zu suchen. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Zum Glück war sie mit diesen Samsung-Geräten inzwischen so gewandt. Sie tippte auf den Hinweis Verpasster Anruf, dann auf den Namen HAUSBRUCH, öffnete den Telefonbucheintrag, notierte die Nummer auf dem Hotel-Notizblock (sie selbst hatte die Nummer vor Jahrzehnten weggeschmissen), riss den Zettel ab, faltete ihn und legte ihn in ihr Reisenecessaire. Dann löschte sie den verpassten Anruf aus dem Telefonspeicher und hatte nur noch eine Entscheidung zu treffen: Sollte sie besser die ganze Nummer aus Hans-Haralds Telefon entfernen? Er würde bemerken, dass der Kontakt verschwunden war, aber er würde es auf seine eigene technische Inkompetenz zurückführen. Das wäre die kurzfristig sicherste Variante. Andererseits würde jede Veränderung, wie das plötzliche Verschwinden einer Telefonnummer, automatisch Dynamik in die Sache bringen, Hans-Harald würde vielleicht versuchen, sich die Nummer neu zu besorgen, würde, wo immer er sie herhatte, andere Leute um sie bitten. Sie hörte Gepolter aus dem Badezimmer und legte das Handy schnell hin.

„Oh, gibt es was zu feiern?“, fragte Hans-Harald mit Blick auf das eingegossene Bier und die halb geöffnete Rieslingflasche, die einsam auf dem Sideboard neben der Minibar stand.

„Nein, ich dachte nur, du freust dich (wahrscheinlich dachte er jetzt: ›Das machst du doch sonst nie. Das hast du doch sicher nur für deinen Professor gemacht, Bier im Bett und so.‹)“

„Ja, danke!“ (Komischerweise schien er sich ehrlich zu freuen.)

„Du willst ja dein Spiel gucken, oder? Kommst du eine Stunde ohne mich zurecht? Ich gehe kurz ins Fitnesscenter und mache meine Übungen“, sagte sie und stürzte vor lauter Scham aus der Tür.

„Willst du nicht dein Sportzeug anziehen?“

„Ziehe mich unten um“, rief sie durch die zufallende Tür von Zimmer 217. Sie hatte gar keine Sportsachen dabei, hoffentlich würde das Hans-Harald nicht auffallen. Sie hatte sofort rausgemusst, unmöglich, jetzt in Hans-Haralds Gegenwart zu existieren. Sie musste nachdenken. Was genau wusste Hans-Harald, wussten die Kinder etwas? Warum merkte sie Hans-Harald nichts an? Normalerweise konnte sie alles aus seinem Gesicht lesen, es gab kaum jemanden, der seine Stimmungen schlechter maskieren konnte als ihr Mann. Fand er es vielleicht nicht schlimm? Hatte er gar Verständnis für sie? Sowohl für die Tat an sich, wie auch für das jahrzehntelange Lügen? Ersteres vielleicht, Letzteres ausgeschlossen.

Im Fitnessraum war niemand um diese Uhrzeit. Ruth setzte sich in ihrer Straßenkleidung auf ein Peloton Bike. Hi, bist du bereit für deinen Challenge?, fragte der augenblicklich zum Leben erwachte Monitor. „Danke, ich bearbeite gerade schon genügend Challenges“, murmelte Ruth und war sogleich erschreckt über sich selbst. Hatte sie gerade mit einem Fitnessbike gesprochen?

Sie spürte keine Schuld. Sie hatte das Richtige getan, sie hatte ihr Leben in Sicherheit gebracht mit der Beziehung zu Martin. Und damit ihre Ehe und die mentale Gesundheit ihrer Kinder. Es war doch an den Kindern ihrer Freunde abzulesen gewesen, wie schwer sie die Trennung der Eltern getroffen und aus der Bahn geworfen hatte. Christopher war in den gefährlichsten Jahren Mitte der Achtziger, als sie aus Hamburg nach Köln zurückkehrte, gerade in die Pubertät gekommen. Eine Trennung, was die Alternative zu der Beziehung mit Martin gewesen wäre, und Christopher hätte sicherlich begonnen, Haschisch zu rauchen wie Sven, der Sohn von Helmut und Christa König, er wäre in der Schule abgerutscht, hätte das Gymnasium mehrfach gewechselt, immer mehr Joints geraucht, sich schwarz angezogen und mit seinen neuen Freunden von der Realschule rauchend am Busbahnhof herumgestanden. Er wäre in die Kneipen in der Nähe des Bahnhofs gegangen, von denen sich einige gezielt an schwänzende und abrutschende Oberstufenschüler richteten, mit Happy Hours um 16:30 Uhr und auf Schüler spezialisierten Haschischdealern, die in den engen Gängen zu den Toiletten standen.

Diese oder ähnliche Szenarien hatten in den Achtzigern alle Eltern Westdeutschlands vor Augen. Sie alle hatten Wir Kinder vom Bahnhof Zoo gelesen und waren beeindruckt von der Gefahr, die offenbar ihren Kindern drohte – die wiederum ein paar Jahre später das Buch im Wohnzimmerregal entdeckten und von der Lektüre nicht abgeschreckt, sondern geradezu animiert sein würden.

Christopher hätte vielleicht noch mit Ach und Krach das Abitur geschafft (aber auch nur, weil es zu jener Zeit nahezu unmöglich war, in Nordrhein-Westfalen durchs Abitur zu fallen), mit dem gerade noch genügenden Dreisechser-Schnitt, nur erreicht durch Fächer wie Sport und Kunst, die mit in die Wertung flossen. Eine unmittelbare Aufnahme des Studiums wäre in den Neunzigerjahren angesichts der überfüllten Universitäten und dementsprechend hohen Numeri clausi nicht möglich gewesen, weswegen Christopher nach halb garer Wehrdienstverweigerung und einem schluffigen Zivildienst erst mal angefangen hätte, bei WOM hinterm Bahnhof zu jobben. Mit dem dort erstmals selbst verdienten Geld hätte er bei seinem Stammdealer größere Mengen Haschisch erwerben und alles, was seinen eigenen Konsum überstieg, an die Kollegen bei WOM weiterverkaufen können. Weil inzwischen Deutschland vom Technoboom erfasst worden war, hätte es bei Christophers Dealer auch Ecstasy und Speed gegeben, was er ebenfalls an die WOM-Leute „weitervertickt“ hätte, wie er es später vor Gericht nennen würde. Die Menge, mit der Christopher dann eines Morgens vor der Arbeit erwischt worden wäre, hätte nur durch Zufall die Schwelle zur Vorstrafe gerade noch unterschritten. Doch die Erfahrung hätte eine ohnehin latent schlummernde Depression in ihm zu voller Entfaltung gebracht. Nachdem WOM ihm gekündigt hätte, wäre seine mentale Verfassung zu schlecht gewesen, um das lang geplante Studium noch aufzunehmen, die letzte Hoffnung seiner geschiedenen Eltern, die mit ihrem „jeweils neuen Partner“ den Problemfall Christopher besprachen, woraufhin es die jeweils neuen Partner nur gut meinten und Christopher zu „einer Flasche Bier“ (Ruths neuer Partner) oder zu „einem Milchkaffee“ (Hans-Haralds neue Partnerin) einluden, was bei Christopher krasse Ablehnung beider jeweils neuer Partner hervorrief (vor allem gegenüber Ruths neuem Partner, denn sie war ja schuld, sie hatte ja die Familie verlassen für diesen Professor in Hamburg). Natürlich belastete Christophers Ablehnung die neuen Beziehungen und führte letztlich dazu, dass sie in die Brüche gingen. Mit Anfang dreißig würde es Christopher schließlich gelingen, seine psychische Abhängigkeit vom THC zu überwinden, und er lernte eine Frau kennen, die als Beamtin auf unterer Besoldungsstufe in einem Ministerium arbeitete. Sie zogen in eine Wohnung am nördlichen Stadtrand, wo Ruth und Hans-Harald ihn bis an ihr Lebensende manchmal getrennt besuchten und ihm dabei ein bisschen Geld zusteckten.

Das alles (oder so Ähnliches) hatte Ruth verhindert.

Christopher war ein weltbekannter Professor heute. Er hatte keine Schäden aus der Kindheit davongetragen, und deshalb würde Ruth sich auch nicht schlecht fühlen. Sie hatte eine pragmatische Lösung im Sinne der Familie gewählt, niemand war verletzt worden.

Allenfalls Karolin hatte vielleicht ein bisschen etwas abbekommen, vielleicht war sie lesbisch geworden, weil sie über Jahre beobachtet hatte, wie ein Mann, ohne es zu wollen, das Leben ihrer Mutter wenn nicht zerstört, so doch verhindert hatte. Sie hätte Karolin nicht mitnehmen dürfen damals nach Hamburg, andererseits ist in jenen Monaten die einzige echte Bindung zu einem ihrer Kinder entstanden. Sie hatte nach der Rückkehr nicht den Eindruck gehabt, dass Karolin von dieser angeblichen Missbrauchsgeschichte mit dieser Sekretärin großen Schaden davongetragen hatte, wie alle befürchtet hatten, vor allem Martin und seine anstrengende Frau.

Martin hatte in den Wochen nach ihrer Rückkehr noch einige Male angerufen, um sich zu erkundigen, wie Karolins „Rekonvaleszenz“ – ganz klar ein Begriff aus dem Psychosprech seiner Frau – vonstattenginge, und Ruth hatte ihn jedes Mal abwimmeln müssen (unvorstellbar, die Zeit vor Rufnummererkennung und Mailbox, als Menschen mit freudiger Stimme fragend ihre Namen in den Hörer riefen und die Annahme von Telefongesprächen noch für wahre Überraschungen sorgen konnte). Sie sei auf dem Sprung gerade, sie riefe zurück, hatte Ruth über Martins „Ich will doch nur kurz …“ hinweggesagt, aufgelegt und nicht zurückgerufen. Nach ein paar weiteren Versuchen und sogar einem von Elenore hatte Martin endlich aufgegeben. Auf eine Art war er auf vergleichbare Weise naiv wie Hans-Harald: alles immer gut gemeint, nur schlecht durchdacht. Es war doch schon in Hamburg offensichtlich gewesen, dass sie unterschiedliche Ansätze verfolgten, wie mit dem Missbrauchsverdacht umzugehen sei; sie wollte sich zu keiner Hysterie drängen lassen, erst recht nicht von einer Anthroposophin wie Elenore, deren pädagogische Leitsätze sicherlich nicht auf rationalen, wissenschaftlichen Erkenntnissen fußten.

Die Wiedervereinigung mit Hans-Harald war einfacher gewesen, als sie vermutet hatte. Er gab sich sichtbar Mühe, nicht verärgert zu sein, sondern liebevoll und gelassen. Vielleicht hatte ihn die plötzliche Härte und Konsequenz ihrer Handlungen erschreckt und eine Art Demut in ihm ausgelöst. Insofern hatte es zunächst so ausgesehen, als wären die Folgen ihres Ausbruchsversuchs überschaubar geblieben. Doch ihre innere Verfassung war von bleierner Woche zu bleierner Woche immer schlechter geworden. Aus Erleichterung und Dankbarkeit, dass Hans-Harald sie nicht verstoßen hatte (was sie an seiner Stelle getan hätte), hatte sie am zweiten Tag nach ihrer Rückkehr auf sein Drängen mit ihm geschlafen. Sie hatte nicht geglaubt, dass sie noch einmal schwanger werden könnte.

Und während Hans-Harald sich freute und glaubte, das dritte Kind symbolisiere einen Neustart ihrer Beziehung, eine Adrenalininjektion für ihre Gefühle, wusste Ruth, dass dies der Untergang war.

Sie konnte vor ihrem inneren Auge kein Baby erkennen, bloß einen langen dunklen Tunnel aus fünfzehn, sechzehn, siebzehn, achtzehn Jahren, bis das bisher noch ungeborene Kind selbstständig sein würde. Das wäre dann weit nach der Jahrtausendwende, sie wäre über fünfzig. Christopher wurde schon elf, Karolin acht, bald schon hätte sie halbtags arbeiten können; klar, die Professorenkarriere bei Martin war abgehakt, aber wenigstens Dozentin in Köln, ein Proseminar, ein- oder zweimal die Woche – was sie vor Kurzem noch empört abgelehnt hätte. Nun mit dem Fötus im Bauch würde sie alles dafür geben. Doch jetzt fühlte sie sich behindert, die Schwangerschaft kam ihr vor, als säße sie im Rollstuhl, sie empfand sich selbst als unmodern, eine Fünfzigerjahrefrau, die nicht aufpassen konnte und sich stumpf hatte schwängern lassen. Sie versuchte, sich an das Gefühl zu erinnern, das sie hatte, als sie mit Christopher und Karolin schwanger war, wie sie trotz des zusätzlichen Gewichts durch die Welt geschwebt war und sich alles richtig angefühlt hatte. Diesmal fühlte sich nichts mehr richtig an. Jeden Morgen und jeden Abend musste sie ihren Blutdruck messen, beobachtete mit bangen Augen das Ziffernblatt des Messgeräts. Ab 100 wurde sie nervös, allmählich müsste der Zeiger sich verlangsamen, ab 120 wurden ihre Hände feucht, jetzt muss er stoppen; wenn er über die 140 ging, würde eine zweite Messung nötig und dann eine halbe Stunde später eine dritte, dabei hoffen, dass der verdammte Zeiger wieder fiel; ab 160 musste sie ins Krankenhaus zur Beobachtung, und wenn der systolische Wert auch dort nicht zu senken war, würde eine Frühgeburt eingeleitet werden müssen.

Dann wäre es wenigstens vorbei. Präeklampsie hieß diese Krankheit, früher hatte man sie Schwangerschaftsvergiftung genannt, passend, fand Ruth, denn so fühlte sie sich, vergiftet.

Sie wollte dieses Kind nicht haben, denn es würde immer das Stigma ihres Scheiterns tragen. Der Sargnagel ihrer beruflichen Ambitionen. Sie würde es anschauen und denken, du stehst so tief in meiner Schuld, es gibt nichts, womit du das überhaupt gutmachen könntest. Das Kind konnte nichts dafür, sie wünschte, sie könnte es lieben wie Christopher und Karolin. Als Vater kam zum Glück eigentlich nur Hans-Harald infrage. Sie hatte mit Hans-Harald über einen Abbruch geredet, obwohl sie wusste, dass sie das nie tun würde. Aber sie wollte Hans-Harald Angst machen, damit er den Ernst ihrer Situation begriff.

Eltern würden ihr Leben geben für ihre Kinder, sagt man. Ja, natürlich, das wusste sie, das Gefühl kannte sie, und sie hoffte, dass sie es auch bei diesem Baby noch spüren könnte. Aber sie war schon seit mehr als elf Jahren Mutter, sie dachte, sie sei langsam auf dem Weg Richtung Ausfahrt, in zwei Jahren würde Karolin aufs Gymnasium gehen. Und jetzt zwang dieses Kind sie wieder in die Knie, zurück an den Anfang, alles von vorn, sie war eine Intellektuelle, Herrgott, nicht die Mutter der Nation.

Sie quälte Hans-Harald. Es war seine Schuld. Es konnte nicht die Schuld des armen Kindes sein. Nach der Geburt hatte Hans-Harald sie gefragt, wie der Junge heißen sollte. Es sei ihr egal, hatte Ruth gesagt. Hans-Harald solle einen möglichst lieblichen Namen aussuchen, vielleicht falle es ihr dann einfacher, das Kind zu mögen. Benjamin, hatte Hans-Harald gesagt, wir nennen ihn Benjamin, der kleine Sohn.

Sie konnte Benjamin nur schwerlich stillen, sofort nach der Geburt hatten sich ihre Brustwarzen entzündet. Das Kind hatte nicht nur ihre Lebensplanung zerstört, jetzt fügte es ihr noch körperliche Schmerzen zu. Sie wurde wütend, sie wollte das Kind schütteln, obwohl ihr wie allen Müttern im Krankenhaus gesagt wurde, Schütteln sei das Einzige, was eine Mutter mit einem Neugeborenen nicht tun durfte. Ich bin schon zweifache Mutter, hatte Ruth die Schwester angeraunzt. Jetzt bin ich dreifache! Aber danke für den Tipp.

Karolin wurde ihr verlängerter Arm. Sie delegierte so viele Aufgaben wie möglich an das achtjährige Kind, das seiner Ersatzmutterrolle gern nachkam.

Seit der Hamburg-Zeit war Karolin wie ausgewechselt. Sie war jetzt vorlaut und altklug. Wohlwollender formuliert könnte man sagen, sie war selbstbewusst. Ruth wusste nicht, ob das nun ein Zeichen der von Elenore und Martin heraufbeschworenen Traumatisierung war oder schlicht Ausdruck der gesunden Entwicklung eines jungen Menschen, der in einer Ausnahmesituation eine Art Selbstermächtigung erfahren hatte. Baby Benjamin nahm die Minimutter jedenfalls dankbar an, und Karolin genoss es sichtlich, ein hartes Regiment mit ihm zu führen. „Benjamin! Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst die Milch nicht auf deinen Strampelanzug spucken! Den muss ich dann wieder waschen“ (was nicht stimmte). Manchmal meinte Ruth eine sadistische Ader im Verhalten Karolins gegenüber dem Baby zu entdecken. Aber war das nicht normal für größere Geschwister oder doch Ausdruck dessen, was sie in Hamburg erlebt hatte?

Ein paar Monate nach der Geburt meldete sich Martin, um zu gratulieren. Sie hatte ihm eine Geburtsanzeige geschickt, wahrscheinlich damit er wusste, dass nun endgültig alles vorbei war. Mit ihrer akademischen Laufbahn, wie auch mit jedweder romantischen Erregung, die womöglich mal zwischen ihnen existiert hatte. Sie war gerade allein mit Benjamin, hielt ihm missmutig die Flasche hin, die das Baby aber inzwischen lieber von Karolin empfing. Es war ein grauer Vormittag in Köln. Die Kinder waren in der Schule, Hans-Harald im Dienst. Diesmal wimmelte sie Martin nicht ab.

Ihr war langweilig, nicht aus Beschäftigungsmangel, mit dem Baby gab es genügend zu tun, aber im Kopf. Es war genügend Zeit vergangen, mehr als ein Jahr, seit dem überstürzten Abschied in Hamburg. Sie freute sich, Martins ruhige, immer leicht ironisch gefärbte Stimme zu hören, ein Poststrukturalist der ersten Stunde mit großer Skepsis gegenüber allem Absoluten und Eigentlichen. Er fragte nicht mehr nach Karolin, wahrscheinlich hatte er es vergessen, und Elenore hatte längst das nächste vermeintliche Opfer ausgemacht, das ihrer Hilfe bedurfte, und war längst weitergezogen mit ihrem kleinen psychotherapeutischen Bauchladen. Mit der Karolin-Angelegenheit aus dem Weg und ohne den Druck, doch noch bei Martin reüssieren zu müssen, fühlte Ruth sich mit einem Mal wie befreit. Und hatte Lust, mit Martin zu sprechen, wollte die neusten Gerüchte, Skandale und Skandälchen aus der Universität hören, wer sich mit welchen Veröffentlichungen blamiert hatte und wann die alten Germanisten der Nachkriegszeit mit ihren metaphysischen Interpretationsmethoden endlich abträten. „Du hättest sie ablösen können, Ruth, vor dir haben sie gezittert, aber jetzt bleiben sie alle.“ Und darüber konnte Ruth sogar lachen.

Martin erzählte ihr unterhaltsames Zeugs aus der akademischen Welt, die ihr immer dröge vorgekommen war. Doch jetzt, mit dem nach seinem Fläschchen eingeschlafenem Kind in ihrem Arm, begann diese Welt in ihrer Vorstellung zu funkeln.

„Nun wo du dich nicht mehr bei mir habilitieren wirst, werden wir uns trotzdem noch einmal sehen – oder endet unser Weg hier?“

„Im Gegenteil“, sagte Ruth und fühlte sich zum ersten Mal seit Hamburg wieder beschwingt, „jetzt wo wir die beruflichen Abhängigkeiten aus dem Weg geschafft haben, kann unsere Freundschaft doch richtig beginnen.“

„Du meinst, das hat sie noch nicht?“

„Wie heißt es bei Thomas Mann? ›Das Glück kommt zu denen, die es erwarten. Nur müssen sie die Türen auch offen halten‹.“

„Wir haben sie offen gehalten“, sagte Martin.

Ein Fenster in die Welt hatte sich geöffnet. Plötzlich schien das Leben wieder erträglicher. Da war eine Existenz jenseits der drei Kinder und der merkwürdigen Parallelexistenz, die sie mit ihrem Mann aufrechterhielt. Sie erzählte Martin von der fürchterlichen Schwangerschaft, ihrer Unzufriedenheit mit der Mutterschaft, ja dem Unglück ihres Lebens. Sie tat dies zum ersten Mal überhaupt. Sie brach kurzfristig mit den Grundsätzen, die ihr Vater ihr als Kind beigebracht hatte und an denen sie auch als erwachsene Frau noch festhielt: Never complain, never explain. Sich niemals beklagen, sich niemals erklären.

Sie erinnerte sich, wie ihr Vater ihr diesen Leitsatz das erste Mal erklärt hatte. Sie musste zwölf gewesen sein oder dreizehn. Er war von einer Dienstreise zurückgekommen, „von den Amerikanern“, wie er mit stolzem Timbre sagte. Das Pentagon wollte damals, Ende der Fünfzigerjahre, die Bundeswehr im Rahmen der NATO mit den Vorläufern der Pershing-Raketen ausstatten, und Rupert Wartenburg, der sich nach dem Krieg mithilfe des in Westdeutschland stationierten US-Militärs Englisch selbst beigebracht hatte, war Teil einer deutschen Delegation gewesen. Sie sollten sich im Pentagon und an anderen Militärstützpunkten innerhalb der USA um Vorbereitung und Logistik der Lieferungen kümmern. Es war eine lange Reise gewesen, und Ruth hatte ihren Vater vermisst. Die frühabendlichen Schachpartien, die Algebra-Hausaufgaben, die ihr Vater, der Mathematik studiert hatte, in seiner Mittagspause, in der er oft zu einem Essen und kurzem Schlaf nach Hause kam, absichtlich, aber anspruchsvoll falsch löste. Manchmal brauchte Ruth Stunden, um den Fehler, den ihr Vater in die Gleichung eingebaut hatte, zu finden. Die Hausaufgaben zogen sich so über halbe Nachmittage, doch wenn Rupert Wartenburg abends wieder nach Hause kam, präsentierte Ruth ihrem Vater mit leiser Freude seinen Fehler. Das alles fiel aus, wenn er auf einer seiner vielen Reisen war.

Als er an einem Sonntagmorgen endlich zurückkam und seine Tochter ihm erklärte, es sei ganz doof gewesen ohne ihn, nahm sein Gesicht strenge Züge an. Die Mathematikrätsel hätten ihr gefehlt, hatte Ruth geklagt. Ohne sie seien die Hausaufgaben langweilig, und sie habe deswegen nicht alle erledigt. Er müsse verstehen, ohne ihn sei das nichts. Es sollte nett gemeint sein, sie hatte ihn vermisst. Doch sie hatte es wohl mit ihren Klagen über seine Abwesenheit übertrieben und war erschrocken über das, was er dann sagte: „Ruth, hör auf dich zu beklagen! Ich muss das alles nicht wissen. Und erkläre mir nicht, warum du nicht geschafft hast, was du zu erledigen hattest. Ich musste weg. Punkt. Erkläre mir nicht, was das für dich bedeutet. Es interessiert nicht. Ich sage dir etwas, merke es dir für dein Leben. Die Engländer haben einen guten Leitsatz: Never complain. Never explain. Weißt du, was das bedeutet?“

Ruth, die bisher erst Latein lernte, schüttelte den Kopf.

„Es heißt: Beklage dich niemals, und erkläre niemals dein Verhalten. Zwei simple Regeln, mit denen du, wenn du sie befolgst, weit durchs Leben kommen wirst.“

„Kommen sie aus Amerika? Hast du sie von dort mitgebracht?“

„Nein, sie kommen aus England. Ich kenne sie schon lange. Ungefähr, seit ich in deinem Alter war. Ich kenne sie von meinem Vater. Wir wollen uns an sie halten.“

An diesem Tag hatte Ruth sich zum letzten Mal beklagt. Und sie hörte an diesem Tag auch auf, ihr Verhalten zu erklären, ihre Fehler zu erläutern. Hans-Harald hatte immer wieder im Laufe der Ehe – erstmals in den Flitterwochen am Strand von Sorrent, später als sie mit Christopher schwanger war und zuletzt gar nicht lange, bevor sie nach Hamburg floh – versucht, das Innenleben seiner Ehefrau zu ergründen. Nein, sie hatte sich nie beklagt. Trotzdem, oder deswegen, hatte man ihr natürlich angemerkt, wenn es ihr nicht gut ging. Kein einziges Mal hatte Hans-Harald eine ernst zu nehmende Erklärung zu ihrem seelischen Zustand gehört. Lässt sich all das auf die zwei Sätze Rupert Wartenburgs zurückführen, viele Jahrzehnte zuvor, als der große Weltkrieg noch keine fünfzehn Jahre vorüber war? Wahrscheinlich nicht. Vielleicht doch.

Sie sprach mit Martin am Telefon anderthalb Stunden lang. Erst vorsichtig, schließlich immer vehementer beklagte sie sich. Es fühlte sich gut an, sich zu beklagen. Ein einziges Mal, sagte sie sich. Ein einziges Mal würde sie lockerlassen dürfen, gegenüber diesem Mann, den sie so lange kannte, dem sie sich so verbunden fühlte und der doch, zum Glück, so weit weg war. Martin hörte zu, manchmal stellte er eine gezielte Frage, brummte durch die Leitung, hörte wieder zu und brummte noch mal. Und Ruth erklärte sich. Warum sie nicht in Hamburg hatte bleiben können; warum sie Hans-Harald nichts gesagt hatte; dass sie glaubte, nur in Hamburg bei ihm, Martin, arbeiten zu können, und erzählte von ihren Problemen mit dem Baby Benjamin, deren Dringlichkeit Martin als meist abwesender Vater zweier Teenager-Töchter nicht verstand.

Martin war kein Pragmatiker wie Hans-Harald. Er war ein von Derrida bis Luhmann und Lacan geschulter Denker, der es gewohnt war, die zunächst vermeintlich augenfällige Lösung infrage zu stellen. Sein Denken war nicht der Praxis verpflichtet, sondern der Originalität. Mit Martin zu sprechen fühlte sich an, als wäre ihr Kopf in Urlaub gefahren und würde nun durch neue Landschaften ziehen, unbekannte Felder und Wiesen, in denen es sich atmen ließ. Urlaub von ihrem Gewissen. Niemand, der wegen ihrer vernachlässigten Mutterschaft über sie richtete; keiner, der auf durchgelatschten Moralpfaden daherlief. Wenn sie nur noch Martin zuhören würde, wäre das Leben wieder erträglich. Er war noch komplizierter als sie. Er war, da war sie sich sicher, ein grauenvoller Ehemann, als Ehepartner bestimmt noch schlechter als sie. Das zog sie zu ihm hin. In seiner Gegenwart musste sie sich nicht schlecht fühlen. Sie hatte das Licht gesehen. Als Baby Benjamin aus seinem Babyschlaf hochschreckte, wachte auch sie auf, zurück in dem Unglück, das ihr Leben war.

Der Kongress der Internationalen Germanistenvereinigung fand 1987 in Göttingen statt. Martin rief an (wie immer am Spätvormittag, wenn er davon ausgehen konnte, dass Ruth mit Baby Benjamin allein war) und sagte, er sei der Hauptredner am ersten Abend. Er wisse, das Kapitel Literaturwissenschaft sei für Ruth endgültig abgeschlossen, aber mal für drei Tage raus aus der Babyhölle (das sagte er wörtlich so), sei doch vielleicht nicht schlecht, sie wisse doch, das akademische Leben könne man besonders dann genießen, wenn man selbst nicht mehr mittendrin stecke, und Göttingen sei doch keine drei Stunden von Köln. Er könne sie anmelden als außerfakultätischen Gast.

Hans-Harald war begeistert von der Idee, dass Ruth sich zweieinhalb Tage für sich nehmen wollte. Er würde am Freitag schon am frühen Nachmittag aus der Behörde kommen, dann könne sie sofort los und noch zur Abendveranstaltung in Göttingen sein, Sonntagabend dann zurück. Er schien geradezu erlöst von der Aussicht, nach diesem Wochenende eine vielleicht etwas weniger missmutige Frau wiederzubekommen. Ruth hatte inzwischen zu Hause die Sichtweise zementiert, dass Hans-Harald ein wunderbares Leben führen durfte, mit seiner Arbeit, seinem Erfolg, seiner Beliebtheit bei den Kindern, es aber selbstverständlich nicht seine Schuld war, dass es ihm so gut ging. Natürlich hätte er seinen beruflichen Erfolg nicht gefährden können, nur damit sich seine Frau besser fühlte. Er zerschlug schließlich bundesweit operierende Betrugsringe, während sie nur Streulicht auf die Frage warf, inwiefern die frühen Texte von Thomas Mann von seiner Sexualität informiert waren – wer war sie, da Ansprüche zu stellen, formulierte sie süffisant gegenüber Hans-Harald und beobachtete, wie das Hirn ihres Staatsanwaltsgatten zu ermitteln versuchte, ob diese Aussagen als glaubwürdig oder sarkastisch einzuordnen waren.

Er bemühte sich, früher nach Hause zu kommen, obwohl er vorher mit 17:00 Uhr schon zu einer Zeit gekommen war, von der andere in vergleichbaren Positionen nur träumen konnten. Er begann, einen Tag in der Woche ganz zu Hause zu bleiben, was die Sache aber nicht besser machte, weil es ihm, der sonst zufrieden seiner Berufung nachging, nur noch mehr ermöglichte, ehrlich gut gelaunt den Supervater zu geben. Wenn Hans-Harald, nunmehr oft gegen 15:30 Uhr, in der Tür stand, ließ sie ihn beinahe immer sofort Zeuge eines sich entfaltenden Dramas werden. Wenn nicht ohnehin schon eins im Gange war, konnte es passieren, dass Ruth, vielleicht nicht absichtlich, aber doch unbewusst, eins entzündete, damit er sehen konnte, was hier los war den ganzen Tag. Ihr rutschte dann versehentlich Benjamins Flasche aus der Hand, sodass das bekleckerte Baby zu schreien begann, oder sie tat sich selbst weh, verhob sich am Babystuhl, verbrannte sich am heißen Wasser für die Flasche; oder sie ermahnte Karolin lautstark, sich endlich Hausschuhe anzuziehen oder Christopher, die Toilette ordentlich zu hinterlassen. Ruth wusste, dass Hans-Harald in solchen Situationen nicht besonders stressresistent war, und so gelang es ihr oft, den Nervenzustand ihres Mannes innerhalb weniger Minuten auf ihr Niveau runterzuziehen.

 

Schon Wochen vor dem Germanistentag freute sie sich. Nach allem, was in Hamburg schon vorgefallen war, wusste sie, es war gefährlich, gleichzeitig fragte sie sich, was schon passieren könnte. Verschlimmern konnte sich ihr Zustand nicht. Sie wollte sich nicht beklagen, klar, aber mit niemandem sprechen zu können, forderte doch seinen Tribut. Mit Martin würde sie reden können, vorsichtig natürlich, sie durfte ihn nicht langweilen mit ihrem häuslichen Lamento, es musste interessant und dramatisch sein. Am besten würde sie es in einen gesellschaftspolitischen Zusammenhang betten, damit es Martin interessierte: Sie würde es mit einer Kritik an der zu naiven zweiten Welle des Feminismus verknüpfen, hatte sie sich überlegt, jenem Siebzigerjahre-Feminismus der wuchernden Schamhaare und weggeschmissenen BHs, den Martin wegen Elenore (die natürlich eine große Verfechterin war) und einiger nerviger Doktorandinnen ebenfalls ablehnte. Aber sie würde, welche Heilung sie auch immer von Martin bekommen könnte, nichts umsonst erhalten. Sie hoffte (zumindest sagte sie sich, dass sie das hoffte), dass der Preis nur in geistreicher intellektueller Begleitung bestand, war jedoch, wie gesagt, nach den Vorkommnissen in Hamburg nicht mehr so sicher. Doch wenn sie ihr Leben retten wollte, hatte sie keine Wahl.

Göttingen wurde ein voller Erfolg, wenn man so wollte. Von der Eröffnungsrede durch Richard von Weizsäcker (seit Theodor Heuß hatte kein amtierender Bundespräsident mehr auf dem Germanistenkongress gesprochen) über die Wahl eines Japaners (sic) als neuen Vorsitzenden der Internationalen Germanistikvereinigung (Martin hatte erklärt, warum das taktisch klug sei, doch sie hatte nicht zugehört, bei aller Liebe) bis hin zu „ihrem Italiener“, den sie am ersten Abend gefunden hatten, als sie sich, wie zwei Schüler, während der Weizsäcker-Rede nach der Hälfte fortgestohlen hatten (Ruth hatte sich selbst nicht erkannt, hätte Hans-Harald so etwas vorgeschlagen, hätte sie es als kindisch abgelehnt) und in der Nähe der Stadthalle in einer Einkaufspassage in der Pizzeria Valtellina Zuflucht gefunden hatten, fernab vom Trubel und den prätentiös daherredenden Kollegen. Sie hatten dieses Ritual dann jeden der drei Abende wiederholt, es waren ihre drei Stunden (abgesehen von denen im Hotel), in denen Ruth über ihr Leid hätte sprechen können, aber es doch nicht tat, weil sie es in den Momenten mit Martin nicht spüren konnte.

Wenn sie das, wusste Ruth nun, einmal im Monat vielleicht haben könnte, drei Tage eines Parallellebens, einer alternate history, drei Tage nur, Tage wie diese, es wären nur ein paar vom Schicksal (oder Martin) hingeworfene Körner. Doch sie würden womöglich fürs Erste reichen, sie nicht sterben zu lassen an Lebensskorbut.

Doch warum sollte Martin das tun, er war verheiratet mit einer herausfordernden, aber sicherlich interessanten Frau, hatte zwei Kinder an der Schwelle zum Erwachsenwerden, war einer der wichtigsten deutschen Literaturwissenschaftler und hatte als solcher längst sicherlich neue Ruths aufgetan, hübsche vielversprechende Doktorandinnen und/oder junge brillante Frauen, die sich bei ihm habilitierten. Für ihn waren die Kongresstage in Göttingen ein gut gemeintes, partiell aus Mitleid hingeworfenes Abschiedsgeschenk für seine einst wichtigste Mitarbeiterin. Ein würdiger Abschluss, denn Martin hatte immer Stil gehabt.

Zu ihrer Verblüffung rief er gleich in der übernächsten Woche wieder an, wie immer zur gleichen Zeit am Mittag, wenn er glaubte, dass Baby Benjamin schlief und Ruth Zeit hatte. Er sagte, er würde gern mit ihr noch einmal zum Kongress der Internationalen Germanistenvereinigung fahren (Ruth schöpfte Hoffnung), doch leider, leider (Ruths Mut sank, aber er hatte ja recht), leider fände der Kongress der Internationale Germanistenvereinigung nur alle fünf Jahre statt. Aber er habe seine studentische Hilfskraft mal andere, kleinere Tagungen der kommenden Monate raussuchen lassen, manche an gar nicht so unreizvollen Orten: Literatur und Psychoanalyse in Freiburg, Alfred Döblins Poetik des Wissens im Kontext der Moderne in Bielefeld, Zur Literatur und Literaturwissenschaft der DDR in Ostberlin, Deutsche Literatur nach zwei Weltkriegen in München, unter anderem.

Und wenn das nicht genug sei, um ihren Hunger nach Fortbildung (und Zusammensein) zu stillen, dann würden sie auf die Teilgebiete ausweichen, sagte Martin, Linguistik, die Ruth mit ihrem mathematischen Gehirn sicherlich liegen würde, ihn jedoch langweilte; Logik, wo die Kollegen der Philosophie Literaturwissenschaft spielten und die großen poststrukturalistischen Schlachten geschlagen wurden, und zur Not, wenn der Ort stimmte, könnte sie auch mal bei den Mediävisten vorbeischauen. Jenseits dieser wissenschaftlichen Treffen von maximal drei Tagen am Stück würden sie sich nicht sehen. Dann würde diese Angelegenheit, wie Martin sagte, auch niemals außer Kontrolle geraten.

Und daran hielten sie sich für die nächsten dreizehn Jahre, nur manchmal kam, wenn die Abstände zu lang wurden, ein Brief hinzu. Martin ließ sie mit gedruckten Adressaufklebern in den Umschlägen der Universität aussehen wie offizielle Post; sie schrieb ihm ans Institut. In Hans-Haralds Augen hatte seine Frau beruflich zwar zurückgesteckt, besuchte jedoch regelmäßig Kongresse und Tagungen, wo sie mit Kolleginnen in Kontakt blieb und selber manchmal einen Vortrag hielt (das hatte Ruth nie behauptet, allenfalls suggeriert, wenn sie sich an den Abenden vor einer Tagung an ihren Schreibtisch zurückzog und sich „einlas“). Sie hatte Hans-Harald in all den Jahren nie aktiv belogen, das war ihr wichtig. Das hätte sie auch nicht geschafft, bildete sie sich ein, denn sie war keine Lügnerin. Sie hatte Dinge weggelassen, das ja. Doch das war etwas fundamental anderes. Informationsmanagement war ihrer Ansicht nach Teil einer vernunftbegabten Zivilisation. Wenn jeder Mensch alles, was er dachte, alles, was er erlebte, mit jenen teilte, die ihm oder ihr am wichtigsten waren (und das waren Hans-Harald, Christopher, Karolin und Benjamin), wären Schmerz und Leid allerorten. Ständig wäre man nicht nachvollziehbaren oder verletzenden Aktionen anderer ausgesetzt, und umgekehrt. Nicht alle der eigenen Handlungen waren anderen erklärbar. Dafür war der Mensch in all seinen externen Verstrickungen zu komplex.

Sie hatte nie erfahren, ob die Verbindung auch zu Martins Leben etwas Unverzichtbares hinzufügte oder ihm nur zur Unterhaltung und Zerstreuung diente. Es spielte jedoch auch keine Rolle für sie. Ruth hatte die Verbindung über mindestens zehn andernfalls gefühlt tödliche Jahre hinweggeholfen. Als Mitte der Neunzigerjahre zuerst Christopher, dann Karolin auszogen und nur noch Benni blieb, löste sich der Druck. Sie war stolz auf ihre beiden inzwischen erwachsenen Kinder, stolzer vielleicht als auf alle akademischen Meriten, die sie hätte verdienen können. Schon ein paar Jahre zuvor hatte sie, nach viel gutem Zureden von Hans-Harald und gegen, interessanterweise, starken Widerstand von Martin („Entweder ganz oder gar nicht, Ruth, aber dafür bist du zu gut“) eine Teilzeitstelle als Privatdozentin an der Universität Koblenz angenommen. Martin hatte recht, es war nicht gerade Cambridge, aber der pädagogische Wert, die Arbeit mit (noch) motivierten Erst- und Zweitsemesterstudenten, die Möglichkeit, ihnen ein Instrumentarium zu vermitteln, mit denen Texte besser zu verstehen waren, bereiteten ihr, wenn sie ehrlich war, mehr Freude als die hochabstrakten Operationen, fernab von jedem Leser, die Martin immer noch vollführte.

Benni hatte sich entgegen allen Vorzeichen zu einem freundlichen und offenbar auch hochintelligenten Jungen entwickelt und schien sich an Ruths einstige Ablehnung nicht zu erinnern. Bis heute ist er der einzige Mensch, den sie mit Kosenamen ruft. Sie hatte Hans-Harald das Harry verwehrt und Christopher das Chris (früher hatte er sich darüber manchmal beschwert, doch das verstand er nicht). Ruth war so erleichtert, schrieb es aber auch ihrer Disziplin zu, dass Hans-Harald nie etwas von den Wochenenden mit Martin gemerkt hatte. Bei aller Vorsicht hatte all die Jahre natürlich immer die Gefahr der Aufdeckung über ihr geschwebt, ein blöder Zufall hätte doch gereicht, und eigentlich kommen ab einer bestimmten Dauer solche Dinge immer heraus. Sie wusste, dass sie sich mit ihrer komplizierten Konstruktion, wonach Verschweigen kein Lügen und damit kein Betrug sei, in der Außenwelt (sprich gegenüber ihren Familienmitgliedern) vermutlich schwergetan hätte. Dass es nicht doch herausgekommen war, führte Ruth auf Hans-Haralds Urvertrauen zurück. Ein weniger selbstbewusster, in sich ruhender Mann hätte vielleicht doch mal gefragt, mit wem sie denn auf all diesen Kongressen so zusammenkäme. Dass Hans-Harald das nicht getan hatte, erfüllte sie nicht nur mit Dankbarkeit, sondern regelrecht mit Bewunderung. Ruth war kein Mensch, der sich Bewunderung anmerken ließ, normalerweise bewunderte sie schlicht auch niemanden. Aber auch Hans-Harald schien zu bemerken, dass die zehn Jahre finsterster Düsternis vorbei waren; dass seine Frau nicht nur zugewandter und fröhlicher war, sondern ihn sogar gut zu finden schien, ein Gefühl, das er völlig vergessen hatte. Manchmal hatte sie sogar Lust, mit ihm ins Kino zu gehen oder in eine Weinstube. Unausgesprochen schienen beide Ehepartner das Gefühl zu teilen, es geschafft zu haben. Ruth wusste warum; Hans-Harald mochte seine Theorien dazu haben, aber sie waren falsch, weil ihm, wie gesagt, ein paar Informationen fehlten.

Der neuerliche eheliche Aufschwung bestätigte Ruth natürlich in ihrem Handeln. Sie war klüger als andere, sie dachte das nicht explizit, aber das Gefühl war da. Ihrer umsichtigen, ja schon realpolitischen Strategie mit Martin war es zu verdanken, dass die Familie noch bestand und Hans-Harald und sie nun noch zwanzig, dreißig schöne Jahre mit den Kindern vor sich hatten sowie mit deren irgendwann zu gründenden eigenen Familien, den Schwiegertöchtern und dem Schwiegersohn samt zahlreicher Enkelkinder.

Aber da war noch etwas, das Ruth Ende der Neunzigerjahre bewogen hatte, die Treffen mit Martin besser auslaufen zu lassen. Martin hatte Elenore verlassen. Eigentlich hätte sie dem vorherigen Satz ein „endlich“ hinzugefügt, doch durch die Trennung war Martin zu einer loose cannon geworden, völlig unberechenbar. Seit er wieder dauerhaft in seiner Junggesellenwohnung am Rotherbaum wohnte, jener grauenvollen Bude, in der sie seinerzeit die unglücklichen Wochen mit Karolin verbracht hatte, kam es ihr so vor, als würde er häufigere, längere und gewagtere Treffen vorschlagen. Die Tektonik ihres Arrangements drohte dadurch ins Wanken zu geraten, und Ruth wusste, dass damit die Sache tot war. Wenn eine Seite unberechenbar wurde, ging es nicht mehr.

Sie konnte mit Martin nicht Schluss machen, wenn man das überhaupt so nennen konnte. Sie mussten im Guten auseinandergehen, nur, wie sollte das funktionieren, nach all den Jahren? Ruth stellte fest, dass eine Affäre zu haben deutlich einfacher war, als sie nicht mehr zu haben. Sie musste Martin verhungern lassen, ohne dass er es so richtig merkte, bis der Preis für seinen Stolz zu hoch sein würde. Nicht schön aus heutiger Sicht, aber damals musste es so sein.

Und Martin hatte begriffen, ohne dass ein weiteres Wort gewechselt wurde, seine Anrufe wurden seltener, die Briefe blieben irgendwann aus.

Ruth hätte es nicht mehr für möglich gehalten, dass sie viele Jahre später in Straßenkleidung auf einem Peloton-Rad in einem fensterlosen Fitnessraum sitzen würde, und irgendwas doch noch grandios schiefgegangen war.

„Ein praller, fast ein Jahrhundert umspannender Debütroman voller starker Frauen. Fesselnd!“ Hörzu

„'Porträt auf grüner Wandfarbe'  ist ein Roman, in den man eintauchen kann, ein Roman, der so mitreißend wie klug davon erzählt, wie wichtig es sein kann, liebgewonnene Vorstellungen loszulassen, um das große Ganze zu erkennen, ein Roman, der vom weiblichen Streben nach Unabhängigkeit handelt und von der Kraft der Versöhnung. Und der die großen und die kleinen Opfer, die das Leben seinen Charakteren abverlangt, mit unbezwingbarer Leichtigkeit heraufbeschwört.

Wann immer ich 'Porträt auf grüner Wandfarbe' aufschlage, ist es sofort wieder da, dieses Lesegefühl, das ich schon bei der ersten Lektüre so stark empfunden habe: das Erlebnis, sich zu verlieren in der Welt dieses Romans, die mit ihren Menschen, Häusern und Landstrichen so lebendig wird, dass die eigene Gegenwart für die Dauer der Lektüre tatsächlich verblasst." Felicitas von Lovenberg

Blick ins Buch
Porträt auf grüner WandfarbePorträt auf grüner Wandfarbe

Roman

Porträt auf grüner Wandfarbe | bewegender Generationenroman

Elisabeth Sandmanns großartiges Romandebüt über eine außergewöhnliche Familie im 20. Jahrhundert

„Ein spannender Familienroman über starke Frauen, ihre Leidenschaften und den Wunsch nach Selbstbestimmung. Durch die genaue, liebevolle Zeichnung sind mir die Figuren sehr nahe gekommen und haben mich ein Stück mitgenommen in ihrem Leben.“ SENTA BERGER

1918 trifft die bodenständige Ella im oberbayerischen Schloss Elmau auf die glamouröse Ilsabé. Es entsteht eine ebenso unzerbrechliche wie komplizierte Freundschaft, die Kriege übersteht, Jahrzehnte überdauert und dramatische Geheimnisse bewahrt.

Schon als Mädchen träumt Ella Blau aus Bad Tölz von eigenen Schuhen aus Leder, die ihr den Weg in ein unabhängiges Leben ermöglichen sollen. Jahrzehnte später liest die junge Londoner Übersetzerin Gwen die roten Hefte, die Ella bis 1938 mit ihren Erinnerungen gefüllt hat. Ellas Aufzeichnungen führen Gwen in das legendäre Hotel Schloss Elmau, zu einem Gutshof bei Köslin und in das Berlin der 1920er-Jahre. Ellas Schicksalsfreundin Ilsabé, Gwens inzwischen 94-jährige und reichlich kapriziöse Großmutter, scheint ihr Wichtiges aus der Vergangenheit zu verschweigen. Geht es nur um verlorene Bilder oder doch um viel größere Verluste? Auf ihrer Reise in die aufwühlende Geschichte ihrer Familie versucht Gwen, das Geheimnis zu entschlüsseln.

Wer Susanne Abels Gretchen-Romane oder Alena Schröders „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ mochte, wird Elisabeth Sandmanns wunderbares Jahrhundertporträt und seine einzigartigen Heldinnen lieben.

Für „Porträt auf grüner Wandfarbe“ hat Elisabeth Sandmann sich von zahllosen Büchern, Briefen, Postkarten und Reiseführern aus der Vergangenheit inspirieren lassen. So ist ein hinreißender Roman entstanden, der Orte, Schicksale und Begebenheiten zu einer faszinierenden und vielschichtigen Geschichte verwebt, die man nicht mehr aus der Hand legen kann.

Das perfekte Geschenk für die beste Freundin, packende Urlaubslektüre, kluge Unterhaltung, spannend erzählte Zeitgeschichte.

Elisabeth Sandmann, Verlagsbuchhändlerin, Autorin und Verlegerin, hat in ihrem Roman „Porträt auf grüner Wandfarbe“ Figuren erschaffen, die einen weit über die Lektüre hinaus begleiten und die man für immer im Herzen behält.

Der Anruf London, 1992


Die Schuhe waren völlig durchnässt. Gwen zog sie vor der Haustür aus und hörte schon den Kater miauen. Sie hatte vergessen, sein Näpfchen zu füllen, und nun war er in seiner Ungeduld nicht mehr zu bremsen. Er würde dennoch warten müssen, sie wollte erst duschen, denn ihr war kalt vom Joggen durch den lausigen Regen. Da klingelte das Telefon, und Gwen sah auf die Uhr. Es war halb neun, der Verlag konnte es nicht sein. Als es hartnäckig weiterläutete, nahm sie etwas genervt den Hörer ab.

„Hallo, Gwenny Love, hier ist Lily. Störe ich dich? Aber du bist ja sicher noch nicht am Schreibtisch.“ Noch bevor Gwen antworten konnte, redete ihre Tante weiter.

„Hör zu, Gwenny, ich möchte zu Lotte nach Berlin, dort ein paar Tage bleiben und dann gemeinsam mit ihr weiter in die DDR, also das, was davon übrig geblieben ist, und dann nach Polen. Man kann jetzt überallhin reisen. Du weißt ja. Man kann sich ein Auto leihen und dann einfach losfahren, habe ich gehört.“

„Lily, ich muss unter die Dusche, ich bin pitschnass.“

„Entschuldige, ja, aber in zwei Wochen möchte ich fahren – und zwar mit dir. Allein kann ich das nicht mehr, und Lotte ist so alt wie ich. Du hast doch Zeit? Sag Ja!“

Gwen hatte sich nach dem grauen Winter in London auf zwei Wochen im Süden Italiens gefreut und war wenig begeistert von der Idee, mit ihrer alten Tante und deren kommunistischer Freundin in die ehemalige DDR und weiter nach Polen zu reisen. Sie stellte sich vor, wie sie bei schlechtem Wetter auf misstrauische Menschen traf, die mehr oder weniger berechtigt Angst davor hatten, die ehemaligen Besitzer wollten nun ihre heruntergekommenen Gutshöfe zurückhaben.

„Lily, ich überlege es mir, ich rufe dich wieder an.“

„Ruf mich heute Abend zurück, ich bin vorher unterwegs. Bitte lass uns diese Reise zusammen machen. Heute kann ich das noch, morgen womöglich schon nicht mehr“, meinte Lily bestimmt. Und Gwen wusste genau, was jetzt kam, weil sie das immer sagte. „Gwenny, du weißt: Der Regen kehrt nicht mehr nach oben zurück.“

Lily hatte ihr Vorhaben mit solchem Nachdruck vorgebracht, dass Gwen geneigt war, über eine Reise, zu der sie gerade überhaupt keine Lust verspürte, nachzudenken. Sie füllte das Näpfchen von Sloppy und ging unter die heiße Dusche.

Der Urlaub mit Laura nach Italien war längst geplant. Sie wollten nach Neapel fliegen und von dort aus mit dem Schiff nach Ischia und an der Amalfiküste entlang zurück. Laura war ihre beste Freundin, sie hatten sich während des Studiums kennengelernt. Als Musikwissenschaftlerin hatte Laura über einen Komponisten aus dem 17. Jahrhundert promoviert. Sie hatte seine italienischen und lateinischen Texte transkribiert, war zu Forschungszwecken immer wieder in Italien gewesen und sprach die Landessprache fließend. Außerdem verstanden sie sich ausgezeichnet auf gemeinsamen Reisen, hatten die gleichen Interessen an Kunst und Kirchen, aber auch immer große Lust auf analytische Tauchgänge in die Untiefen der Psyche ebenso wie auf etwas Tratsch über Familienmitglieder und Ex-Freunde, am liebsten bei einem kleinen Aperitivo.

Die Liebe zu Italien hatte Gwen von ihrer Mutter geerbt. Häufig waren sie in den Ferien in die Toskana gereist, und von jeder dieser Reisen brachte ihre Mutter Oliven- oder Zitronenbäumchen mit, die sie dann auf ihrer Terrasse in Terrakottakübel einpflanzte. Auch hatte sie die Kochbücher von Elizabeth David verschlungen, die in den Fünfzigerjahren versucht hatte, den Engländern mediterrane Genüsse näherzubringen.

Gwen fragte sich, wie sie Laura erklären sollte, dass sie jetzt mit ihrer betagten Tante und deren Freundin in die ehemalige DDR und nach Polen reisen würde, wo es weder guten Wein noch Bruschetta oder Sardellen in Olivenöl gäbe.

Die Sache ließ sie dennoch nicht los, und so suchte sie im Regal nach den alten Baedekern, die ihr Großvater gesammelt hatte, und wurde fündig. Wo genau war dieser Gutshof überhaupt? Sie erinnerte sich, dass er sich in der Nähe von Köslin befand, dem heutigen Koszalin.

Ihr Großvater Jakob, der als Kaufmann zu Wohlstand gekommen war, hatte das Anwesen einst in Pommern an der Ostsee erworben. Gwen hatte ihn nicht mehr kennengelernt, er war in der Emigration gestorben. Sie kannte zwar einige Geschichten vor und nach seiner Flucht, aber immer hatte sie den Eindruck gehabt, als würde eine hermetische Kruste der Verdrängung auf allen Erinnerungen liegen. Auf den ohnehin spärlichen Familientreffen war selten von früher die Rede gewesen, und auf Beerdigungen beließ man es dabei, sich etwas oberflächlich über den Ehrgeiz des Alltags auszutauschen.

Sie hatte Köslin auf der Karte gefunden. Die Karten waren aus hauchdünnem Papier, das mehrfach zusammengefaltet war und in ausgeklapptem Zustand eine präzise Orientierung vermittelte. Der Baedeker beschrieb, wie man 1920 von Berlin mit der Eisenbahn an die Ostsee reisen konnte, wie lange die Fahrt dauerte und was die Fahrkarte kostete. Wie zivilisiert das alles klang und wie unkompliziert.

Gwen machte sich einen starken schwarzen Tee, für den sie vorher die Kanne mit heißem Wasser ausgespült hatte. Das Silber speicherte die Wärme, so wie die Morgensonne ihren Backsteinboden im Wintergarten noch wärmte, nachdem der Schatten die Luft bereits merklich abgekühlt hatte. Der Tee musste eine ganz bestimmte Temperatur haben, wenn sie nachher einen Schuss kalte Milch in ihren Becher gab, damit Tee und Milch sich vermischten wie die Farbreste von Pinseln, die man in einem Glas Wasser auswusch.

Sie nahm ihren Earl Grey mit zum Schreibtisch und wollte an einer Übersetzung weiterarbeiten, von der sie froh war, wenn sie abgeschlossen sein würde. Es war ein schwieriger Text, den sie aus dem Deutschen ins Englische übertragen sollte. Sie war fast fertig, und die Arbeit an diesem Buch hatte ihr keine große Freude bereitet. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren – ihre Gedanken wanderten unfreiwillig immer wieder zu Lilys Vorschlag zurück.

In gewisser Weise hatte ihre Tante recht, sie jetzt mit Nachdruck auf die Fährte ihrer Vorfahren zu schicken. Sie suchte das Fotoalbum, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte: ein schmales Büchlein mit kleinen Schwarz-Weiß-Aufnahmen, von denen manche gestochen scharf waren und andere stark verblichen. Irgendjemand hatte das Album begonnen und weitergeführt, aber nicht, bis kein Blatt mehr frei gewesen wäre, sondern die Bilderseiten hörten plötzlich auf. Auf den frühen Fotografien, die wohl um 1900 entstanden sein mochten, gruppierten sich fein gekleidete Damen und Herren vor einem Gebäude, das die Engländer untertrieben als Country House bezeichnen würden. Auf einem Foto, das Gwen schon immer sehr imponiert hatte, sah man eine schöne Frau im Damensitz auf einem prächtigen schwarzen Pferd. Es war Ruth, die erste Frau ihres Großvaters Jakob, die nach der Geburt ihres jüngsten Kindes, Gwens Tante Lily, an einer Streptokokkeninfektion gestorben war. Von Penizillin wusste man damals noch nichts.

Weitere Bilder zeigten Ruth und ihre Freundinnen, oder waren es Cousinen, in mädchenhaften dünnen Musselinkleidern mit Spitzenkragen und weiten Ärmeln. Ruth trug einen großen Hut, unter dem die Haare hochgesteckt und doch locker fallend reizvoll und anmutig zugleich wirkten. Auf einer weiteren Aufnahme blickte Jakobs stattlicher Vater selbstbewusst in die Kamera. Er trug einen Sommerhut zu einem hellen Leinenanzug und hielt die Gerte in der Hand, wahrscheinlich kam er von einem Reitausflug und würde sich im nächsten Moment in einen der geflochtenen Korbsessel fallen lassen, die man im Garten kunstvoll verstreut platziert hatte.

Pferde zu haben, war ein Statussymbol, das bald schon von Automobilen abgelöst wurde, und so sah man denn auch die Familie auf späteren Aufnahmen um eine geräumige Limousine gruppiert. Jakobs zweite Frau Ilsabé, Gwens Großmutter, galt als verwegene Autofahrerin, die, wenn sie Lust darauf hatte, einfach losfuhr, um dann von Berlin, Prag oder Paris ein Telegramm zu schicken, dass sie gut angekommen war.

Auf einem Bild, es war das letzte in dem kleinen Album, war Ella zu sehen. Ach, Ella. An Ella hatte Gwen immer wieder gedacht, und jeder Gedanke an sie hatte ihr einen kleinen Stich versetzt. Für Marga war Ella die „Ellamammi“ gewesen, im Unterschied zu ihrer leiblichen Mutter Ilsabé, die sie stets nur mit Vornamen erwähnt hatte. Die Fotografie zeigte Ella zusammen mit einem kleinen Mädchen, das in ein Handtuch gewickelt war und sich ausschüttete vor Lachen. Ein Schnappschuss, den jemand während der Sommermonate an einem See oder Badestrand aufgenommen haben musste. Es gab keine Ortsangabe, nur die Jahreszahl 1938. Das kleine Mädchen war Marga.

Gwen konnte sich nicht erinnern, ihre Mutter so fröhlich erlebt zu haben, nicht einmal mit Robert, Gwens Vater. Ihre Eltern hatten sich bei ihrem Onkel Theo kennengelernt, das wusste sie aus Erzählungen. Theo war in den Zwanzigerjahren zum Studium der Altphilologie nach Oxford gegangen und dort geblieben. Nach dem Krieg hatte er bemerkt, wie unglücklich seine jüngere Halbschwester Marga in Deutschland war, und sie zu sich nach England eingeladen. In seinem viktorianischen Reihenhaus trafen sich regelmäßig Studenten, darunter Robert. Hin und wieder aber waren auch Damen eingeladen, und dann durfte Marga dabei sein, die mit Theos Hilfe in der Bodleian Library eine Aushilfsanstellung gefunden hatte.

Robert zählte zu jenen Studenten, die mit besonders vielen Begabungen gesegnet waren und in die man sich einfach verlieben musste. Er konnte Dramentexte von Shakespeare bis Oscar Wilde deklamieren, war ein blitzgescheiter und witziger Diskussionspartner, und er gehörte auch noch dem Team von acht Ruderern an, die ausgewählt worden waren, um im Wettkampf gegen Cambridge den Pokal zu holen. Aber Roberts Stimmungen konnten schnell wechseln, und so zeigte er an manchen Tagen eine nicht zu bremsende Energie und lag an anderen Tagen im verdunkelten Zimmer. Damals sprach man nur selten von Depressionen, man wusste einfach zu wenig.

Gwen sah auf die Uhr. Kurz nach zehn. Jetzt würde er bereits gefrühstückt haben. Sie wählte seine Nummer, und Roberts Lebensgefährtin Sue nahm ab. Nach einem freundlich-oberflächlichen Wortwechsel gab Sue den Hörer weiter.

„Gwen, Darling, wie schön, dass du dich meldest. Wie geht es dir?“, fragte ihr Vater, hörbar erfreut.

Etwas umständlich erzählte Gwen von ihrer Arbeit und der mühevollen Übersetzung, um schließlich zum Punkt zu kommen.

„Lily hat mich angerufen, sie möchte, dass ich mit ihr nach Deutschland und weiter nach Polen reise. Sie will unbedingt, dass ich mitfahre. Sie hat sich mit Lotte in Berlin verabredet.“

„Mit der Kommunistin?“

„Ja, genau die. Sie ist doch Lilys beste Freundin.“

„Da kommen ja zwei zusammen. Wenn ich nicht so alt wäre, käme ich sofort mit. Das klingt nach einer vergnüglichen Landpartie. Aber wahrscheinlich wird das Essen miserabel sein, und guten Wein gibt es ohnehin nicht. Andererseits machen die Polen prima Schnäpse.“

„Sehr witzig.“

Wie immer schaffte es ihr Vater, seine Alkoholsucht in seinem eigenen Charme buchstäblich zu ertränken.

„Ich habe mir das kleine Album noch einmal angesehen und mich gefragt, ob du noch irgendwelche Fotos, Briefe oder Aufzeichnungen von Mum hast. Lily hat mit ihrem Anruf etwas in mir ausgelöst, und vielleicht ist es jetzt tatsächlich die letzte Gelegenheit, um mit ihr nach Pommern zu reisen.“

Gwen sprach mit ihrem Vater Englisch, aber „Pommern“ hatte sie nicht übersetzt. Es gab Wörter, die in ihrer Familie immer auf Deutsch ausgesprochen wurden. Und auch ihr englischer Vater hielt sich an dieses ungeschriebene Gesetz.

„Deine Mutter hat sich ja irgendwann nicht mehr mit der Vergangenheit beschäftigen wollen, was ihr nicht wirklich gelungen ist, aber ich erinnere mich, dass Ella ihr einiges überlassen hat.“

„Was denn zum Beispiel?“

„Na ja, ich weiß nichts Genaues, aber Marga hat einmal erzählt, wie überladen das Auto war, als sie von der Ostsee nach Oberbayern fuhren.“

„Die Geschichte kenne ich gar nicht, aber schau doch mal nach, was du so findest, dann komme ich am Wochenende zum Tee, wenn es dir passt.“

„Darling, das wäre schön. Du kannst natürlich auch Theo anrufen, er weiß sicher mehr. Und bring doch eine Flasche von dem alten College-Port mit, wenn du noch eine hast.“

Als Gwen auflegte, dachte sie, dass es tatsächlich eine gute Gelegenheit wäre, sich wieder einmal bei ihrem alten Onkel Theo zu melden. Als emeritierter Professor lebte er noch immer in seinem schönen Haus in Oxford. Es war in den letzten Jahren schwierig geworden, mit ihm in Verbindung zu bleiben. Er telefonierte nicht gerne und freute sich über wenig Besuch, anders als andere Menschen in seinem Alter. Immerhin aber beantwortete er in seiner kalligrafisch anmutenden Handschrift jeden Brief sofort. Sie beschloss, ihm im Laufe der Woche ein Lebenszeichen zu schicken. Vorher aber wollte sie Laura anrufen und heraushören, ob sie sehr enttäuscht wegen der Italienreise wäre.

Sie verbrachte den Nachmittag mit der mühseligen Übersetzung. Als es anfing zu dämmern, fand sie, dass sie eine Tasse Tee verdient habe und auch ein Stückchen des köstlichen Sponge Cake, den ihre Nachbarin mit der extra feinen Himbeermarmelade gebacken hatte. Sie ließ Sloppy in den Garten, obwohl es geregnet hatte und er vorwurfsvoll miaute, weil er seine sanften Pfoten nicht in den nassen Rasen setzen wollte.

Laura war sofort am Telefon. Sie hatte die glockenhelle Stimme eines jungen Mädchens, dabei war auch sie schon Mitte dreißig. Sie arbeitete für ein internationales musikwissenschaftliches Journal, und gerade quälte sie sich mit einem mittelmäßigen Essay, den ein hochrenommierter Professor aus den USA verfasst hatte, der es nicht ertrug, von einer Frau korrigiert zu werden.

„Laura, ich muss dir etwas sagen – Lily hat mich gefragt, ob ich sie auf eine Reise nach Berlin und weiter nach Polen begleiten würde. Sie möchte den Gutshof noch einmal sehen, wo sie aufgewachsen ist. Oder was davon übrig ist. Sie will mir unbedingt alles zeigen. Jetzt, wo die Grenzen offen sind. Sie klang so bestimmt, du kennst sie ja. Es scheint ihr sehr viel zu bedeuten.“ Gwen machte eine kurze Pause, um Laura Gelegenheit zu geben, diese Neuigkeiten zu verarbeiten, doch Laura reagierte prompt.

„Na ja, sie ist in einem Alter, in dem man solche Reisen nicht jedes Jahr wiederholen kann. Und jetzt, wo es möglich ist – Berlin nach dem Mauerfall, das würde mich selbst interessieren.“

„Dann komm doch mit!“, rief Gwen euphorisch.

„Ja, warum nicht, nach Italien können wir auch noch im September. Ich schau mir alles mal auf der Karte an. Ich kenne einen Bach-Forscher, den ich gerne treffen würde und mit dem ich mir seit Jahren schreibe. Vielleicht könnte ich von Berlin aus einen Abstecher nach Leipzig unternehmen. Und dir wird die Reise sicher guttun. Wir haben in den letzten Jahren so oft über deine Mutter gesprochen. Das ist doch eine gute Gelegenheit, mehr zu erfahren.“

Gwen war geradezu beglückt darüber, dass Laura mit von der Partie sein würde. Sie könnten sich nicht nur auf den langen Strecken im Auto ablösen, es würden sich gewiss auch manche Schrulligkeiten der alten Damen besser ertragen lassen.

Jetzt musste sie nur noch Lily erreichen, die immer und besonders für ihr Alter sehr beschäftigt war. Ihre Tante besuchte fast jede Aufführung der Royal Shakespeare Company, die sie für das beste Ensemble der Welt hielt; sie verpasste kaum eine Ausstellungseröffnung, zu der sie eingeladen wurde; sie leistete sich Mitgliedschaften in diversen Freundeskreisen namhafter Museen und immer wieder eine der sündhaft teuren Karten für Opernabende in Covent Garden.

„Lily, ich bin’s, Gwen. Also, ich komme mit. In drei bis vier Wochen kann ich los, bis dahin bin ich mit meiner Übersetzung fertig und Laura mit ihren Aufträgen“, brachte Gwen entschieden hervor, als ihre Tante endlich ans Telefon ging.

„Wie schön, Gwenny Darling, aber was hat Laura denn damit zu tun?“, fragte Lily etwas argwöhnisch.

„Laura fährt mit.“ Und als würde sie die Gedanken ihrer Tante ahnen, fügte sie hinzu: „Wir werden trotzdem genug Zeit für uns haben. Du weißt ja, wie einfühlsam sie ist. Für mich ist es viel angenehmer, wenn mich jemand begleitet, der mir beim Kartenlesen helfen kann und immer guter Laune ist. Außerdem kennt sie ja die ganze Familiengeschichte.“

„Na ja, die ganze Familiengeschichte kennst ja noch nicht einmal du, aber deshalb fahren wir ja zusammen hin“, bemerkte ihre Tante spitz. „Ich mag Laura. Sie hat diesen trockenen Humor, und sie ist doch so sprachbegabt, kann sie denn Deutsch?“

„Motetten-Deutsch!“

„Was ist das denn?“

„Sie kennt die Texte von Bachs Motetten und vom Weihnachtsoratorium.“

„Na, das wird lustig, wenn die eine Bach-Kantaten summt und die andere Marx zitiert.“

„Das meinte Robert auch. Ich fahre nächstes Wochenende übrigens nach Suffolk. Ich war lange nicht da. Ich habe ihn auch gefragt, ob er noch etwas von Mummy hat, und er meinte, dass das gut möglich wäre, es gäbe noch irgendeine Kiste mit Erinnerungskram, wie er es nannte.“

„Aha“, sagte Lily nur, und beim Verabschieden klang ihre Stimme ungewohnt angespannt. Warum, konnte sich Gwen nicht erklären, aber sie schob den Gedanken schnell beiseite.

 

Bis zur Abreise war nun einiges zu tun. Sie musste die Übersetzung abschließen und vorzeitig dem Verlag schicken, denn sie wollte sichergehen, dass es keine Rückfragen gab. Vielleicht würde sie auch noch bei Marks & Spencer ein paar leichte Schuhe und eine dünne Jacke für die Reise kaufen. Für schlechtes Wetter waren sie ja hier auf der Insel bestens ausgerüstet. Außerdem wollte sie Tee mitnehmen, Earl Grey und English Breakfast erwiesen sich immer als beliebte Mitbringsel. Sie würde einige Stunden ihres Italienischkurses ausfallen lassen müssen, was ihr leidtat, denn Theresa, ihre römische Lehrerin, hatte ein mitreißendes Temperament.

Plötzlich erschienen ihr die verbleibenden Wochen bis zur Abreise als sehr kurzer Zeitraum, zumal sie ja auch noch den Sonntagsausflug zu ihrem Vater geplant hatte. Und Theo wollte sie unbedingt noch schreiben, er würde es ihnen übel nehmen, wenn er hinterher erfuhr, dass Lily und seine Nichte in seiner alten Heimat gewesen waren. Das würde sie am besten gleich erledigen, bevor sie es vergaß.

Gwen suchte in ihrer kleinen Sammlung eine Kunstpostkarte mit einem seltenen Motiv. Sie wusste, dass ihr Onkel solche Gesten schätzte. Sie fand ein Porträt, das Franz von Stuck von seiner schönen Tochter im Jahr 1915 gemalt hatte. Es fiel ihr ein bisschen schwer, sich von der Postkarte zu trennen, die sie vermutlich einmal in München in der Villa Stuck gekauft hatte, aber Theo würde sich freuen. In wenigen Sätzen teilte sie ihm mit, dass sie mit Lily nach Polen reisen und den Gutshof aufsuchen würde und ihn gerne vorher kurz gesprochen hätte.


Besuch in Ipswich

Gwen nahm den Zug bis Ipswich, wo ihr Vater sie abholen wollte. Sie freute sich darauf, die Fahrt allein mit ihm zu verbringen. Umso enttäuschter und zugleich auch besorgter war sie, als nicht Robert, sondern Sue am Bahnsteig stand.

Robert sei seit zwei Tagen in einer sehr trüben Stimmung und könne sich nicht aufraffen aufzustehen, erklärte Sue die Situation. Hoffentlich wäre es am Nachmittag schon besser. Gwen müsste also doch übernachten, was sie nur im Notfall vorgehabt hatte. Sue, die sonst nicht durch analytische Beobachtungen hervorstach, war sich sicher, dass Roberts innere Unruhe mit Gwens Reiseplänen zu tun haben musste. Die verdrängte Erinnerung an Marga sei mit voller Wucht aufgebrochen. Er habe viel getrunken und dann alle Schubladen durchsucht und ausgeleert, um ihre Briefe zu finden.

„Er hat eine Schachtel gefunden“, schloss Sue ihre etwas vorwurfsvoll klingenden Ausführungen. „Er hat sie dir in dein Zimmer gestellt. Dein Vater muss seinen Rausch ausschlafen, und wenn er hört, dass du da bist, geht es ihm hoffentlich besser. Ich habe nicht gedacht, dass es ihn so mitnehmen würde.“

„Danke, Sue, auch fürs Abholen. Ich kann mir vorstellen, dass das alles nicht immer leicht für dich ist“, bemühte sich Gwen einfühlsam hervorzubringen.

„Ich habe gewusst, auf was ich mich einlasse“, meinte Sue trocken, „und Robert ist trotz allem das Beste, was mir passieren konnte. Ich muss mit den grauen Wölfen leben, die ihn immer wieder aufsuchen und bedrängen.“

Sue war klein, drahtig und patent und hatte stets alles im Griff. Sie wusste, was am besten gegen Schnecken im Garten half und wann man bestimmte Zwiebeln setzen musste, sie organisierte den Gemeindechor und kümmerte sich um die alten Damen im Dorf, vor allen Dingen aber bewahrte sie in der Regel ihren Vater vor größeren Abstürzen.

Das Cottage, in dem die beiden lebten, war dreihundert Jahre alt. Sie hatten es gemeinsam liebevoll renoviert, die Balken freigelegt, die alten Holzböden abgeschliffen, die Wände vom Putz der Jahrhunderte befreit und jedes Zimmer in einer anderen, pudrigen Farbe gestrichen. Der große Kamin im Wohnzimmer konnte wieder benutzt werden, und eine Heizung wärmte zusätzlich, die allerdings nur waschechte Engländer als ausreichend empfinden konnten. Das alte Haus war schön und romantisch, aber zugig und kalt, und man war gut beraten, mit einer Wärmflasche und einer dicken Jacke anzureisen. Ein mit Weidezäunen eingefasster Garten säumte das Anwesen, in dem schon bald prachtvolle Rosen und Klematis blühen würden. Keiner, der das Cottage zum ersten Mal sah, hätte sich gewundert, wenn Jane Austen persönlich aus der Tür getreten wäre und zum Tee eingeladen hätte.

Sue hatte einen kleinen Blumenstrauß in Gwens Zimmer gestellt und frische Handtücher auf ihr Bett gelegt. Sie war eine sehr gute Gastgeberin, musste Gwen unumwunden zugeben. Auf dem alten Waschtisch stand tatsächlich die erwähnte Kiste, die noch zugeklebt war. Ihr Name war groß und deutlich in der Handschrift ihrer Mutter zu lesen. Sie fand es seltsam, dass ihr Vater all die Jahre nach Margas Tod nicht mehr an diese Schachtel gedacht hatte. Sie musste ihm doch spätestens beim Umzug aus dem alten Haus in die Hände gefallen sein. Aber ebenso merkwürdig fand sie es, dass ihre Mutter zwar ihren Namen auf die Schachtel geschrieben, sie ihr aber nie persönlich überreicht hatte. Vielleicht hatte sie vorgehabt, zu einem späteren Zeitpunkt mit ihr über den Inhalt zu sprechen, war aber nicht mehr dazu gekommen.

Gwen war aufgeregt und löste vorsichtig die Klebstreifen, die so getrocknet waren, dass sie wie von selbst abfielen. Auf den ersten Blick waren es Fotografien, Briefe, einige offizielle Dokumente, dann aber entdeckte sie einen Stapel identisch aussehender Schreibhefte, die mit einer roten Schleife zusammengebunden waren. Sie waren beschriftet mit Jahreszahlen und Ortsangaben. Auf dem Etikett des ersten Heftes war zu lesen „Bad Tölz und München 1911–1918“, auf dem nächsten „Schloss Elmau 1918–1919“, dann „Köslin und Florenz 1923–1925“ und so weiter. Die Hefte hatten einen festen roten Einband mit einem ebenfalls roten Farbschnitt. Zuoberst lag ein bereits geöffneter Umschlag. Gwen zog den Brief darin vorsichtig heraus und erkannte Ellas Handschrift. Sie las:

 

5. September 1948

Meine liebe Marga,

ich hoffe, es geht Dir gut in Oxford bei Theo. Du schreibst, dass Du in einer Bibliothek arbeitest. Weißt Du, dass ich noch nie in einer öffentlichen Bibliothek war? Was genau musst Du denn dort machen, und bereitet Dir die Tätigkeit Freude? Hast Du schon Freundinnen gefunden?

Es ist für uns alle eine schwierige Zeit, die Währungsreform hat hier allerdings überall die Versorgung verbessert. Es waren so viele Städter noch bis vor Kurzem hier draußen, die tauschen oder hamstern wollten. Das hat sich jetzt fast über Nacht gelegt. Ich glaube, es gibt keinen Bauern hier im Tölzer Land, der jetzt nicht ein Geschirr mit Goldrand oder alten Familienschmuck hat.

Ich wollte Dir schreiben, dass Du bitte nicht so sehr mit Deiner Mutter ins Gericht gehen darfst. Ich kenne Ilsa nun schon so lange und weiß, wie schwer sie es selbst hatte. Wir werden alle in eine bestimmte Zeit hineingeboren, und Deine Mutter hat in schlimmen Zeiten gegeben, was sie geben konnte. Sie wusste, dass sie nicht zu mehr fähig war, und darum hat sie Dich auch später in meine Obhut gebracht. Das hat sie nicht aus Verantwortungslosigkeit getan, sondern, im Gegenteil, weil sie Dich liebt. Nicht jede Frau ist eine geborene Mutter. Das Schicksal wollte es, dass ich keine Kinder habe, aber gerne welche bekommen hätte, und Deine Mutter hat mir Dich als kleines Mädchen in den Arm gedrückt und mir damit ein Lebensglück beschert. Das wollte ich Dir sagen. Außerdem hast Du mich gebeten, dass ich Dir ein bisschen von meinem Leben erzählen solle, weil du so wenig wüsstest über meine frühen Tölzer Jahre.

Nun, ich habe die letzten Monate damit verbracht, meine Tagebuchaufzeichnungen zu sichten und aufzuschreiben, was in den vergangenen fünfzig Jahren geschehen ist.

Es war eine gleichermaßen schmerzvolle und beglückende Reise in die Vergangenheit, meine liebe Marga. Ich habe viel Schönes erlebt, ebenso wie Verluste und enttäuschte Hoffnungen.

Ich habe auch ein paar alte Fotografien in das Buch hineingeklebt. Sie sind nicht besonders gut, aber man erkennt doch die Menschen und die Umgebung. Ich hoffe, es freut Dich, und Du kannst dann, wenn Du dies alles gelesen hast, auch unsere Zeit, in der wir aufgewachsen sind, besser verstehen.

Unsere Generation hat viel erlebt, und am wenigsten selbstverständlich war, dass wir überlebt haben. Besonders wir Frauen hatten es schwer, und dabei spielte es oft keine Rolle, ob man arm oder reich war.

Schick mir doch bitte ein Foto von Dir, und erzähl mir, was es bei Theo zu essen gibt. Ihr habt ja sogar eine Köchin.

Vielen Dank auch für den guten Tee, der hier eingetroffen ist wie ein Wunder, und auch für die schöne Dose, in der er verpackt war. Das sind hier Kostbarkeiten.

Ich soll Dich von allen grüßen. Anton vermisst Dich und fragt jeden Tag nach Dir. Er ist gewachsen und eine Freude. Stell Dir vor, Nücki hat geschrieben, sie hat sich zusammen mit Knüvel in den Westen retten können. Das Haus duftet gerade nach Jolas Apfelstrudel.

Bitte schreib bald, und grüß Theo recht herzlich.

Sei Du fest umarmt, von allen hier im Gästehaus,

Deine Ellamammi

 

 

Was für ein unglaublicher Schatz lag in ihren Händen. Ella hatte sich die Mühe gemacht, für Marga, ihre geliebte Ziehtochter, ihr eigenes Leben aufzuschreiben. Und Marga hatte diesen Schatz wiederum für ihre Tochter aufgehoben, damit sie, Gwen, einmal in den Besitz dieser Erinnerungen kommen würde. Marga schien aus Sprachlosigkeit, Trauer und heftigen Selbstzweifeln nie herausgefunden zu haben, und dann war sie auch noch so unerwartet früh gestorben.

Gwen öffnete behutsam das erste Heft. Ellas Handschrift war klein und dennoch gut lesbar. Die Seiten waren eng beschrieben, und Gwen glaubte zu erkennen, wann sie eine Pause eingelegt und den Füllfederhalter neu befüllt hatte, denn die blauschwarze Tinte hatte dann eine andere Färbung und der Schriftzug eine sich verändernde Stärke. Immer wieder gab es Seiten, auf denen Ella Fotografien, Eintrittskarten oder Postkarten eingeklebt hatte. Das Datum auf dem ersten Heft reichte in Ellas Kindheit zurück. Gwen rechnete nach, 1911, da musste Ella dreizehn Jahre alt gewesen sein. Das war nun über achtzig Jahre her.

„Ein literarisches Meisterwerk.“ ttt

„Die Postkarte ist der Roman des Lebens von Anne Berest. Sie beschreibt darin nicht nur mitreißend die Geschichte ihrer Familie in der Shoah, sondern auch, was es heißt, als schöne, kluge, tatkräftige Frau in unserer Zeit mit diesem Erbe zu leben. 

Dieser autofiktionale Roman ist trotz seiner großen Themen ein echter Pageturner. Anne Berest löst wie in einem Detektivroman das Geheimnis einer höchst beunruhigenden Postkarte, die ihre Mutter vor 20 Jahren mit den Neujahrswünschen erhielt. Wir verfolgen dabei den Weg ihrer Familie von Russland über Litauen, 
Palästina und Frankreich bis in die Vernichtung. Wir erfahren, wie es nur Anne Berests Großmutter gelang, als Teil der Résistance zu überleben.

Lassen Sie sich von Der Postkarte erzählen, was es heißt als nicht-fromme Jüdin regelmäßig zwischen allen Stühlen zu sitzen und warum die Umwelt jemanden auch im säkularsten Leben manchmal zwingt, doch Position zu beziehen. 

Uns hat dieser Roman nicht nur begeistert und zu Tränen gerührt, wir sind darüber hinaus überzeugt, dass sich in ihm alles vereint, was gute Literatur ausmacht: Wahrhaftigkeit, Leidenschaft, eine fast unglaubliche Geschichte und die Kunst, sie einzigartig erzählen zu können." Felicitas von Lovenberg

Blick ins Buch
Die PostkarteDie Postkarte

Roman

„Eine Suche, in der sich Thriller und Requiem vereinen.“ Le Point
Im Januar 2003 fand Anne Berests Mutter unter den Neujahrswünschen eine verstörende Postkarte mit nichts als den Namen ihrer vier Angehörigen, die in Auschwitz ermordet wurden; ohne Absender, ohne Unterschrift. Anne fragt nach und die Mutter erzählt ihr die tragische Geschichte der Familie Rabinovitch. Aber erst als ihre  kleine Tochter in der Schule Antisemitismus erfährt, beschließt Anne, der Sache wirklich auf den Grund zu gehen. Mithilfe eines Privatdetektivs und eines Kriminologen recherchiert sie in alle erdenklichen Richtungen. Das Ergebnis ist dieser Ausnahmeroman. Er zeichnet nicht nur den ungewöhnlichen Weg der Familie nach, sondern fragt auch, ob es gelingen kann, in unserer Zeit als Jüdin ein „ganz normales“ Leben zu führen.

„Ein großer Roman, der Fragen aufwirft.“ Le Figaro 

Anne Berest geht dem Schicksal ihrer eigenen Familie nach – und landete damit einen preisgekrönten literarischen Coup, der seit Erscheinen im Herbst 2021 auf der französischen Bestellerliste steht.

Meine Mutter hat sich die erste Zigarette des Tages angezündet, ihre liebste, die einem beim Aufwachen die Lunge verbrennt. Dann ist sie vors Haus gegangen, um die weiße Pracht zu bewundern, die das ganze Viertel bedeckte. In der Nacht waren mindestens zehn Zentimeter Schnee gefallen.

Sie blieb trotz der Kälte lange draußen stehen, rauchend und die unwirkliche Stimmung genießend, die sich über ihren Garten gelegt hatte. Sie fand es schön, all dieses Nichts, diese Auslöschung der Farbe und der Linien.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch, das durch den Schnee gedämpft wurde. Der Briefträger hatte gerade die Post auf den Boden fallen lassen, unter den Briefkasten. Meine Mutter ging hin, um sie aufzuheben, und sah sich vor, wo sie mit den Hausschuhen hintrat, damit sie nicht ausrutschte.

Die Zigarette noch im Mundwinkel, dicke Rauchwolken in die eisige Luft schickend, beeilte sie sich, wieder ins Haus zu kommen, um ihre kältetauben Finger aufzuwärmen.

Sie warf einen schnellen Blick auf die verschiedenen Umschläge: traditionelle Grußkarten, die meisten von ihren Studenten, eine Gasrechnung, etwas Werbung. Aber auch Briefe an meinen Vater – die Kollegen vom CNRS und seine Doktoranden wünschten ihm alle ein frohes neues Jahr.

Und da lag sie, in dieser vollkommen gewöhnlichen Januarpost. Die Postkarte. Sie hatte sich ganz unscheinbar zwischen die Umschläge gemogelt, so als hätte sie sich versteckt, um nicht aufzufallen.

Was meine Mutter sofort stutzig machte, war die Schrift: seltsam, unbeholfen, eine Handschrift, die sie noch nie gesehen hatte. Dann las sie die vier Vornamen, die untereinanderstanden, wie eine Liste.

  • Ephraïm
  • Emma
  • Noémie
  • Jacques

Es waren die Vornamen ihrer Großeltern mütterlicherseits, ihrer Tante und ihres Onkels. Alle vier waren zwei Jahre vor der Geburt meiner Mutter deportiert worden. Sie waren 1942 in Auschwitz gestorben. Und einundsechzig Jahre später tauchten sie in unserem Briefkasten wieder auf. An diesem Montag, dem 6. Januar 2003.

Wer schickt mir denn so eine schreckliche Karte, fragte sich Lélia.

Meine Mutter bekam furchtbare Angst, als bedrohte sie jemand, lauernd im Dunkel der Zeit. Ihre Hände begannen zu zittern.

„Schau mal, Pierre, was ich in der Post gefunden habe!“

Mein Vater nahm die Karte und inspizierte sie eingehend, aber es gab keine Unterschrift, keine Erklärung.

Nichts. Nur diese Vornamen.

 

In meinem Elternhaus wurde die Post damals vom Boden aufgesammelt, wie man Fallobst aufliest – denn unser Briefkasten war so alt geworden, dass er mit der Zeit nichts mehr hielt, ein richtiges Sieb, aber wir liebten ihn so, wie er war. Ihn zu ersetzen kam niemandem in den Sinn. In unserer Familie wurden Probleme nicht auf diese Weise gelöst, wir lebten mit den Dingen, als verdienten sie die gleiche Rücksicht wie Menschen.

An Regentagen wurden die Briefe nass. Die Tinte zerfloss, und die Worte wurden für immer unlesbar. Am schlimmsten erwischte es die Postkarten, unbekleidet wie junge Mädchen, im Winter mit bloßen Armen ohne Mantel.

Hätte der Verfasser dieser Postkarte einen Füllfederhalter benutzt, um uns zu schreiben, wäre seine Botschaft dem Vergessen anheimgefallen. Wusste er das? Die Karte war mit schwarzem Kugelschreiber verfasst worden.

 

Am nächsten Sonntag rief Lélia die ganze Familie zusammen, das heißt meinen Vater, meine Schwestern und mich. Als wir um den Esstisch versammelt waren, ging die Karte von Hand zu Hand. Wir schwiegen eine ganze Weile – was bei uns nicht üblich ist, vor allem nicht sonntags beim Mittagessen. In unserer Familie gibt es normalerweise immer jemanden, der etwas zu sagen hat und sofort damit herausrücken möchte. Diesmal wusste niemand, was er von dieser aus dem Nichts kommenden Nachricht halten sollte.

Die Postkarte war sehr banal, eine typische Ansichtskarte mit einer Fotografie der Opéra Garnier, wie sie zu Hunderten auf den Eisenständern in den Tabacs in ganz Paris zu finden sind.

„Warum die Opéra Garnier?“, fragte meine Mutter.

Niemand wusste eine Antwort darauf.

„Das ist der Poststempel des Louvre.“

„Meinst du, wir können dort mal nachfragen?“

„Es ist riesig, das größte Postamt von Paris. Was sollen sie dir da sagen können …?“

„Du meinst, es war Absicht?“

„Ja, die meisten anonymen Briefe werden vom Postamt Louvre aus verschickt.“

„Die Karte ist nicht mehr neu, sie ist mindestens zehn Jahre alt“, bemerkte ich.

Mein Vater hielt sie ins Licht. Er betrachtete sie aufmerksam und kam zu dem Schluss, dass die Fotografie aus den Neunzigerjahren stammen musste. Die Farbgebung des Abzugs mit seinen satten Magentatönen sowie das Fehlen von Werbeplakaten rund um die Opéra Garnier bestätigten meine Vermutung.

„Ich würde sogar sagen, aus den frühen Neunzigerjahren“, präzisierte mein Vater.

„Wie kommst du darauf?“, fragte meine Mutter.

„Weil 1996 die grün-weißen SC10-Busse mit offener Heckplattform, von denen ihr einen im Hintergrund seht, durch die RP312 ersetzt wurden.“

Niemand wunderte sich, dass mein Vater sich mit der Geschichte der Pariser Busse auskannte. Er hat zwar nie ein Auto gefahren – geschweige denn einen Bus –, aber er war Forscher, und sein Beruf brachte es mit sich, dass er aus vielerlei Bereichen, die ebenso verschieden wie hoch spezialisiert waren, eine Unmenge von Details kannte. Mein Vater hat ein Gerät erfunden, das den Einfluss des Mondes auf die irdischen Gezeiten berechnet, und meine Mutter für Chomskys Abhandlungen zur generativen Grammatik übersetzt. Die beiden zusammen wissen also eine unvorstellbare Menge an Dingen, von denen die meisten im konkreten Leben gänzlich nutzlos sind. Außer manchmal, wie an jenem Tag.

„Warum eine Karte schreiben und dann zehn Jahre warten, bis man sie abschickt?“

Meine Eltern stellten sich weiter Fragen. Mir selbst war die Postkarte völlig egal. Die Liste der Namen dagegen ließ mich aufhorchen. Diese Menschen waren meine Vorfahren, und ich wusste nichts über sie. Ich wusste nicht, welche Länder sie bereist, welche Berufe sie ausgeübt hatten, wie alt sie waren, als sie ermordet wurden. Hätte man mir ihre Porträts gezeigt, hätte ich sie unter Fremden nicht wiedererkannt. Dafür schämte ich mich.

Als das Mittagessen beendet war, verwahrten meine Eltern die Postkarte in einer Schublade, und wir sprachen nie wieder darüber. Ich war vierundzwanzig Jahre alt, und mich beschäftigten im Moment vor allem mein Leben und die Geschichten, die ich schreiben wollte. Ich löschte die Erinnerung an die Postkarte aus meinem Gedächtnis, nicht aber den Vorsatz, meine Mutter eines Tages zu unserer Familiengeschichte zu befragen. Doch die Jahre vergingen, und ich nahm mir nie die Zeit dazu.

Bis ich zehn Jahre später kurz vor der Entbindung stand.

Der Muttermund hatte sich schon etwas geöffnet. Ich musste liegen, damit das Baby nicht zu früh kam. Meine Eltern hatten angeboten, mich ein paar Tage bei sich aufzunehmen, da bräuchte ich nichts zu tun. Während ich auf die Geburt wartete, dachte ich an meine Mutter, an meine Großmutter, an die Reihe der Frauen, die vor mir ein Kind bekommen hatten. Und plötzlich wollte ich unbedingt die Geschichte meiner Vorfahren hören.

 

Lélia führte mich in das Büro, in dem sie den größten Teil ihrer Zeit verbringt, dieses Büro, das mich immer an einen Bauch erinnert hat, tapeziert mit Büchern und Aktenordnern, getaucht in das winterliche Licht der Pariser Banlieue, die Luft stickig von Zigarettenrauch. Ich legte mich unter das Bücherregal mit seinen alterslosen Gegenständen, den Erinnerungsstücken, bedeckt von einer zarten Schicht Asche und Staub. Meine Mutter griff nach einer grün-schwarz gesprenkelten Schachtel, einer von zwanzig Archivschachteln, die alle gleich aussahen. Als Jugendliche wusste ich, dass diese in den Regalen aufgereihten Schachteln Spuren der dunklen Geschichten aus der Vergangenheit unserer Familie enthielten. Sie erinnerten mich an kleine Särge.

Meine Mutter nahm ein Blatt Papier und einen Stift zur Hand – wie alle pensionierten Lehrer blieb sie in jeder Lebenslage Lehrerin, es betraf selbst ihre Art, Mutter zu sein. Lélia war bei ihren Studenten an der Universität von Saint-Denis sehr beliebt. In den gesegneten Zeiten, als sie im Hörsaal rauchen und zugleich Linguistik unterrichten konnte, tat sie etwas, das ihre Studenten faszinierte: Außerordentlich geschickt vermochte sie die Zigarette vollständig abbrennen zu lassen, ohne dass die Asche, die zwischen ihren Fingerspitzen einen grauen Zylinder bildete, jemals zu Boden fiel. Einen Aschenbecher brauchte sie nicht, sie stellte die heruntergebrannte Zigarette auf ihren Schreibtisch und zündete sich die nächste an. Dieses Kunststück flößte ihnen Respekt ein.

„Nur dass du es weißt“, sagte meine Mutter, „was du gleich hören wirst, ist eine zweischneidige Geschichte. Einige Fakten werden als gesichert dargestellt, aber du kannst dir selbst denken, wie viel davon auf persönlichen Hypothesen beruht, die am Ende zu dieser Rekonstruktion geführt haben – außerdem könnten neue Dokumente meine Annahmen natürlich substanziell ergänzen oder ändern.“

„Maman“, sagte ich zu ihr, „ich glaube, der Zigarettenrauch kann das Gehirn des Babys schädigen.“

„Ach was. Ich habe in meinen drei Schwangerschaften eine Schachtel pro Tag geraucht und nicht den Eindruck, am Ende drei Schwachköpfe produziert zu haben.“

Ihre Antwort brachte mich zum Lachen. Lélia nutzte die Gelegenheit, sich eine Zigarette anzustecken, und fing an, aus dem Leben von Ephraïm, Emma, Noémie und Jacques zu erzählen – den vier Vornamen auf der Postkarte.


BUCH I

Gelobte Länder


Kapitel 1

„Wie in russischen Romanen“, sagte meine Mutter, „beginnt alles mit einer unglücklichen Liebesgeschichte. Ephraïm Rabinovitch liebte Anna Gavronsky, deren Mutter Liba Gavronsky, geborene Yankelevitch, eine Cousine ersten Grades der Familie war. Doch diese Leidenschaft stieß bei den Gavronskys nicht auf Wohlgefallen …“

Lélia sah mich an und merkte, dass ich nichts begriff. Sie klemmte sich die Zigarette in den Mundwinkel und begann, die Augen wegen des Rauchs halb zusammengekniffen, in ihrem Archiv zu stöbern.

„Hier, ich werde dir diesen Brief vorlesen, dann wirst du es besser verstehen … Er stammt von Ephraïms älterer Schwester, sie schrieb ihn 1918 in Moskau:“


Liebe Vera,

meine Eltern haben nichts als Ärger. Hast du von dieser Geschichte zwischen Ephraïm und unserer Cousine Aniouta gehört? Wenn nicht, kann ich sie dir nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertrauen, obwohl offenbar viele von uns längst Bescheid wissen. Kurz gesagt: An und unser Fédia (der vor zwei Tagen vierundzwanzig wurde) haben sich verliebt. Meine Familie hat sehr darunter gelitten, es hat sie schier verrückt gemacht. Tante weiß nichts davon, es wäre eine Katastrophe, sollte sie es erfahren. Sie begegnen ihr ständig und sorgen sich sehr. Unser Ephraïm liebt Aniouta sehr. Aber ich muss gestehen, dass ich ihre Gefühle für nicht ganz aufrichtig halte. Das sind bei uns die Neuigkeiten. Manchmal habe ich wirklich die Nase voll von dieser Geschichte. So, mein Schatz, ich muss jetzt Schluss machen. Ich werde meinen Brief selbst einwerfen, um sicher zu sein, dass er auch wirklich abgeschickt wird …

Mit herzlichem Gruß, Sara

 

„Wenn ich das richtig verstehe, wurde Ephraïm gezwungen, auf seine erste Liebe zu verzichten?“

„Genau deswegen sucht man ihm schnell eine andere Verlobte, und das ist Emma Wolf.“

„Der zweite Vorname auf der Postkarte?“

„Ganz recht.“

„Gehörte sie auch zur Verwandtschaft?“

„Nein, ganz und gar nicht. Emma kam aus Łódź. Sie war die Tochter eines Großindustriellen, der mehrere Textilfabriken besaß, Maurice Wolf, und ihre Mutter hieß Rebecca Trotski. Aber sie hatte nichts mit dem Revolutionär zu tun.“

„Sag mal, wie haben Ephraïm und Emma sich überhaupt kennengelernt? Łódź ist doch mindestens tausend Kilometer von Moskau entfernt.“

„Weit über tausend Kilometer! Entweder haben sich die Familien an die schadkhanit der Synagoge gewandt, also an die Heiratsvermittlerin. Oder Ephraïms Familie waren Emmas kesteltern.“

„Emmas was?“

„Die Kesteltern. Das ist jiddisch. Wie soll ich dir das erklären … Erinnerst du dich an die Sprache der Inuit?“

Als ich ein Kind war, hatte Lélia mir beigebracht, dass es bei den Inuit zweiundfünfzig Wörter für Schnee gibt. Man sagt zum Beispiel qanik für den Schnee, wenn er fällt, aputi für den bereits gefallenen Schnee und aniu für den Schnee, aus dem man Wasser macht …

„Im Jiddischen“, fuhr meine Mutter fort, „gibt es verschiedene Begriffe für die Familie. Ein Wort bezeichnet die eigentliche Familie, ein anderes die Schwiegerfamilie und ein weiteres diejenigen, die man zur Familie dazuzählt, auch wenn keine verwandtschaftlichen Beziehungen bestehen. Und dann gibt es noch einen Begriff, die kesteltern, was man als Gastfamilie übersetzen könnte, denn es war Tradition, dass Eltern, die ein Kind zum Studium in die Ferne schickten, ihm eine Familie suchten, die ihm Unterkunft und Verpflegung bot.“

„Die Familie Rabinovitch waren also Emmas Kesteltern.“

„Genau … Aber hör es dir in Ruhe an, keine Sorge, du wirst dich irgendwann zurechtfinden …“

 

Ephraïm Rabinovitch bricht recht früh mit der Religion seiner Eltern. Als Teenager wird er Mitglied der Partei der Sozialrevolutionäre und erklärt seinen Eltern, dass er nicht an Gott glaubt. Aus Provokation tut er alles, was Juden an Jom Kippur verboten ist: Er raucht, rasiert sich, trinkt und isst.

1919 ist Ephraïm fünfundzwanzig Jahre alt. Er ist ein moderner, schlanker junger Mann mit feinen Gesichtszügen. Wäre seine Haut nicht so braun und sein Schnurrbart nicht so schwarz, könnte man ihn für einen echten Russen halten. Dieser brillante Ingenieur kommt frisch von der Universität, da er dem Numerus clausus entgangen ist, der den zulässigen Anteil der Juden auf drei Prozent beschränkte. Er will am großen Abenteuer des Fortschritts teilhaben und hat ehrgeizige Ziele für sein Land und sein Volk, das russische, dessen Revolution auch die seine ist.

Jude zu sein, hat für Ephraïm keine Bedeutung. Er sieht sich in erster Linie als Sozialist. Im Übrigen lebt er in Moskau auf Moskauer Art. Er stimmt der Heirat in der Synagoge nur zu, weil sie seiner zukünftigen Frau etwas bedeutet. Aber er warnt Emma:

„Wir werden unser Leben nicht an religiösen Vorschriften ausrichten.“

Die Tradition verlangt, dass der Bräutigam bei seiner Hochzeit am Ende der Zeremonie mit dem rechten Fuß ein Glas zertritt. Die Geste erinnert an die Zerstörung des Jerusalemer Tempels. Danach kann der Bräutigam einen Vorsatz fassen. Ephraïm gelobt sich, die Erinnerung an seine Cousine Aniouta für immer auszulöschen. Doch als er auf die am Boden verstreuten Glasscherben blickt, ist ihm, als läge dort sein Herz in tausend Scherben.


Kapitel 2

An jenem Freitag, dem 18. April 1919, reist das Brautpaar aus Moskau zur Datscha von Nachman und Esther Rabinovitch, Ephraïms Eltern, fünfzig Kilometer außerhalb der Hauptstadt. Ephraïm hat sich nur deshalb bereit erklärt, Pessach, das jüdische Osterfest, zu feiern, weil sein Vater in einem ungewöhnlichen Tonfall darauf bestanden hat und seine Frau schwanger ist. Er will die Gelegenheit nutzen, seinen Brüdern und Schwestern die gute Nachricht zu verkünden.

 

„Emma ist mit Myriam schwanger?“

„Ganz genau, mit deiner Großmutter …“

 

Unterwegs vertraut Ephraïm seiner Frau an, dass er Pessach immer besonders gemocht hat. Als Kind liebte er die geheimnisvollen Rituale dieses Festes, die bitteren Kräuter, das Salzwasser und die Äpfel mit Honig, die auf einem großen Teller in die Mitte des Tisches gestellt wurden. Er liebte es, wenn sein Vater ihm erklärte, dass die Süße der Äpfel die Juden daran erinnern sollte, wie sehr man sich vor Bequemlichkeit hüten muss.

„In Ägypten“, so betonte Nachman, „waren die Juden Sklaven, das heißt: Sie erhielten Unterkunft und Verpflegung. Sie hatten ein Dach über dem Kopf und Essen in der Hand. Verstehst du? Die Freiheit hingegen ist ungewiss. Zur Freiheit gelangt man unter Schmerzen. Das Salzwasser, das wir am Pessach-Abend auf den Tisch stellen, symbolisiert die Tränen derer, die ihre Ketten abwerfen. Und diese bitteren Kräuter erinnern uns daran, dass es grundsätzlich beschwerlich ist, als freier Mensch zu leben. Hör mir gut zu, mein Sohn, sobald du den Honig auf deinen Lippen spürst, frage dich: Von was oder wem bin ich der Sklave?“

Ephraïm weiß, dass seine revolutionäre Seele dort geformt wurde, durch die Erzählungen seines Vaters.

 

Als er an jenem Abend zu seinen Eltern nach Hause kommt, eilt er in die Küche, um den eigenartigen faden Geruch der Matzen zu riechen, der ungesäuerten Brotfladen, die Katerina, die alte Köchin, zubereitet hat. Ergriffen nimmt er ihre runzlige Hand, um sie auf den Bauch seiner jungen Frau zu legen.

„Schau ihn dir an“, sagt Nachman zu Esther, die die Szene beobachtet. „Unser Sohn ist stolz wie ein Kastanienbaum, der den Spaziergängern all seine Früchte zeigt.“

 

Die Eltern haben alle Rabinovitch-Cousins der Nachman-Linie und alle Frant-Cousins der Esther-Linie eingeladen. Warum so viele Leute, fragt sich Ephraïm und wiegt ein silbernes Messer in der Hand, das so glänzt, weil es sorgfältig mit Kaminasche poliert wurde.

„Haben sie die Gavronskis auch eingeladen?“, fragt er besorgt seine jüngere Schwester Bella.

„Nein“, antwortet sie, ohne zu verraten, dass die beiden Familien sich darauf geeinigt haben, eine Begegnung zwischen Cousine Aniouta und Emma zu vermeiden.

„Aber warum haben sie dieses Jahr so viele Cousins versammelt …? Haben sie uns etwas mitzuteilen?“, bohrt Ephraïm weiter und zündet sich eine Zigarette an, um seine Verwirrung zu verbergen.

„Ja, aber frag mich bitte nichts weiter. Ich darf vor dem Abendessen nicht darüber sprechen.“

 

Am Pessach-Abend ist es Tradition, dass der Patriarch die Haggada vorliest, also die Erzählung über den Auszug des hebräischen Volkes aus Ägypten unter der Führung von Moses. Nach den Gebeten erhebt sich Nachman und schlägt mit der flachen Seite des Messers an sein Glas.

„Wenn ich heute Abend diese letzten Worte des Buches so sehr betone“, sagt er, an den ganzen Tisch gewandt, „baue Jerusalem, die Stadt, schnell in unseren Tagen und lass uns hinaufsteigen, dann deshalb, weil ich als Familienoberhaupt die Aufgabe habe, euch zu unterrichten und es euch zu verkünden.“

„Uns was zu verkünden, Papa?“

„Dass es Zeit ist zu gehen. Wir müssen alle das Land verlassen. So schnell wie möglich.“

„Das Land verlassen?“, fragen seine Söhne.

Nachman schließt die Augen. Wie soll er seine Kinder überzeugen? Wie die richtigen Worte finden? Es ist, als hinge ein beißender Geruch in der Luft, gleich einem kalten Wind, der baldigen Frost ankündigt, es ist unsichtbar, fast nichts, und doch ist es da, zuerst ist es in seine Albträume zurückgekehrt, Albträume, die von Erinnerungen an seine Jugend durchwoben waren, als man ihn in manchen Weihnachtsnächten mit den anderen Kindern hinterm Haus versteckte, weil betrunkene Männer kamen, um das Volk zu bestrafen, das Christus getötet hatte. Sie brachen in die Häuser ein, um die Frauen zu vergewaltigen und die Männer zu töten.

Diese Gewalt zügelte Zar Alexander III., als er den staatlichen Antisemitismus mit den Maigesetzen verschärfte, welche die meisten Freiheiten der Juden einschränkten. Nachman war noch ein junger Mann, als ihnen mit einem Mal alles verboten war. Sie durften die Universität nicht besuchen, nicht von einer Gegend in die andere reisen, ihren Kindern keine christlichen Vornamen geben und nicht ins Theater gehen. Da das Volk mit diesen erniedrigenden Maßnahmen zufrieden war, wurde etwa dreißig Jahre lang weniger Blut vergossen. Nachmans Kinder kannten also nicht die Angst vor dem 24. Dezember, wenn sich die Meute mit Mordlust vom Tisch erhebt.

Doch seit einigen Jahren hatte Nachman wieder den Geruch von Schwefel und Fäulnis in der Nase. Die Schwarzhunderter, eine rechtsradikale monarchistische Gruppe, angeführt von Vladimir Pourishkévitsh, machte sich im Hintergrund bereit. Dieser ehemalige Höfling des Zaren gründete seine Thesen auf der Idee einer jüdischen Verschwörung. Er wartete auf seine Stunde der Rückkehr. Und Nachman glaubte nicht daran, dass diese brandneue Revolution, angeführt von ihren Kindern, den alten Hass vertreiben würde.

„Ja. Fortgehen. Meine Kinder, hört mir gut zu“, sagt Nachman ruhig: „S’shtinkt shlekht drek – es stinkt nach Scheiße.“

Bei diesen Worten verstummen die auf den Tellern klappernden Gabeln. Die Kinder hören auf, durcheinanderzureden, es wird still. Nachman kann endlich sprechen.

„Ihr seid fast alle frisch verheiratet. Ephraïm, du wirst bald zum ersten Mal Vater. Ihr habt Schwung, ihr habt Mut – das ganze Leben liegt noch vor euch. Jetzt ist es an der Zeit, die Koffer zu packen.“

Nachman dreht sich zu seiner Frau um und drückt ihre Hand: „Esther und ich haben beschlossen, nach Palästina zu gehen. Wir haben ein Stück Land in der Nähe von Haifa gekauft. Dort werden wir Orangen anbauen. Kommt mit uns. Dann werde ich dort Grund und Boden für euch kaufen.“

„Aber Nachman, willst du dich wirklich im Lande Israel niederlassen?“

Niemals hätten sich die Rabinovitch-Kinder so etwas vorstellen können. Vor der Revolution gehörte ihr Vater der Ersten Kaufmannsgilde an, das heißt, er war einer der wenigen Juden, die sich frei im Land bewegen durften. Es war ein unerhörtes Privileg, dass Nachman in Russland wie ein Russe leben konnte. Er hat sich einen guten Platz in der Gesellschaft erarbeitet, den er nun aufgeben will, um ans andere Ende der Welt zu emigrieren, in ein Wüstenland mit unwirtlichem Klima, um dort Orangen anzubauen? Was für eine seltsame Idee! Wo er doch nicht mal eine Birne schälen kann ohne die Hilfe der Köchin!

Nachman nimmt einen kleinen Bleistift und feuchtet ihn mit spitzen Lippen an. Er lässt den Blick über seine Nachkommenschaft schweifen und setzt hinzu:

„Also gut. Ich werde um den Tisch die Runde machen. Und aufgepasst, ich verlange, dass jeder Einzelne von euch mir ein Ziel nennt. Ich werde für jeden eine Schiffspassage kaufen. Ihr verlasst das Land innerhalb der nächsten drei Monate, ist das klar? Bella, ich fange bei dir an, das ist einfach, du kommst mit uns. Ich notiere also: Bella, Haifa, Palästina. Ephraïm?“

„Ich warte, bis meine Brüder sich geäußert haben“, antwortet Ephraïm.

„Ich würde gern nach Paris gehen“, sagt Emmanuel, der Jüngste unter den Geschwistern, und wippt lässig mit seinem Stuhl.

„Paris, Berlin und Prag meidet ihr besser“, antwortet Ephraïm ernst. „In diesen Städten sind die guten Plätze seit Generationen besetzt. Ihr werdet dort nicht Fuß fassen können. Man wird euch entweder für zu brillant oder für nicht brillant genug halten.“

„Da mache ich mir keine Sorgen, ich habe dort schon eine Verlobte, die auf mich wartet“, antwortet Emmanuel, um den ganzen Tisch zum Lachen zu bringen.

„Mein armer Sohn“, ereifert sich Nachman, „du wirst ein Leben wie ein Schwein führen. Dumm und kurz.“

„Ich sterbe lieber in Paris als am Arsch der Welt, Papa!“

„Ohhhhh“, antwortet Nachman und wedelt drohend mit der Hand vor seinem Gesicht. „Yeder nar iz klug un komish far zikh: Jeder Dummkopf hält sich für lustig und schlau. Ich meine es wirklich ernst. Los, weiter. Wenn ihr nicht mit mir kommen wollt, versucht euer Glück in Amerika, das dürfte auch gut funktionieren“, fügt er seufzend hinzu.

Cowboys und Indianer. Amerika. Nein danke, denken die Rabinovitch-Kinder. Die Landschaften sind zu verschwommen. Bei Palästina wissen wir wenigstens, wie es aussieht, denn es steht in der Bibel: ein Haufen Steine.

„Schau dir das an“, sagt Nachman zu seiner Frau. „Eine Bande Koteletts mit Augen, könnte man meinen! Denkt mal ein bisschen nach! In Europa werdet ihr nichts finden. Nichts. Nichts Gutes jedenfalls. Während ihr in Amerika, in Palästina, leicht Arbeit bekommen werdet!“

„Papa, du sorgst dich immer wegen nichts. Das Schlimmste, was dir hier passieren kann, ist, dass dein Schneider Sozialist wird!“

Und tatsächlich, wenn man Nachman und Esther da nebeneinandersitzen sieht wie zwei kleine Kuchen in der Vitrine eines Konditors, fällt es schwer, sie sich als Farmer einer neuen Welt vorzustellen. Sie halten sich gerade, sind tadellos zurechtgemacht. Esther achtet trotz ihrer weißen, zu einem niedrigen Dutt gesteckten Haare immer noch sehr auf ihr Äußeres. Sie verschmäht weder Perlenreihen noch Kameen. Nachman trägt stets seine berühmten Dreiteiler, die er sich bei den besten französischen Couturiers von Moskau machen lässt. Sein Bart ist weiß wie Watte, und sein besonderer Geschmack zeigt sich in den gepunkteten Krawatten, die er passend zu seinen Taschentüchern wählt.

Verärgert über seine Kinder, steht Nachman vom Tisch auf. Die Ader an seinem Hals ist so stark geschwollen, dass sie droht, Esthers schöne Tischdecke vollzuspritzen. Er muss sich hinlegen, um sein rasendes Herz zu beruhigen. Bevor Nachman das Esszimmer verlässt, bittet er alle, gut nachzudenken, und schließt mit den Worten:

„Ihr müsst eines begreifen: Irgendwann werden sie alle wollen, dass wir verschwinden.“

Nach diesem theatralischen Abgang geht es am Tisch mit fröhlichen Gesprächen bis spät in die Nacht weiter. Emma setzt sich ans Klavier und rückt wegen ihres Bauches den Hocker ein wenig ab. Die junge Frau ist Absolventin des renommierten Nationalen Musikkonservatoriums. Dabei wäre sie gerne Physikerin geworden. Wegen des Numerus clausus war ihr das jedoch nicht vergönnt. Sie hofft von ganzem Herzen, dass das Kind, das in ihr heranwächst, in einer Welt leben wird, in der es sein Studium frei wählen kann.

Zum sanften Klang der Musikstücke, die seine Frau im Wohnzimmer spielt, unterhält sich Ephraïm mit seinen Brüdern und Schwestern am Kaminfeuer über Politik. Dieser Abend ist so angenehm, die Geschwister sind sich einig und machen sich dabei auf nette Art über den Patriarchen lustig. Die Rabinovitchs ahnen nicht, dass dies die letzten Stunden sein sollen, in denen sie alle zusammen sind

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