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Fragen Sie nach Fritz Fragen Sie nach Fritz - eBook-Ausgabe

Husch Josten
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Geschichten

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Fragen Sie nach Fritz — Inhalt

„Zehn Geschichten, die doppelbödig schillern und funkeln“ Kölnische Rundschau

Ein Hypochonder beschließt, das Kind seiner Cousine großzuziehen, damit seine Kopfschmerzen endlich einen Grund haben. Eine junge Frau trifft, unerkannt, nach zwanzig Jahren Fritz wieder – den verehrten Vater ihrer Freundin aus Kindertagen. Und ein Antiquar wird von einem wildgewordenen Hippie überfallen, der von Truman Capote die Nase voll hat. Bunte Figuren sind in diesen lakonischen und von feiner Ironie gezeichneten Geschichten unterwegs. Husch Josten erzählt in gewohnt klarer und humorvoller Prosa, wie sie über kurz oder lang finden, was ihnen zu ihrem Glück fehlte.

€ 11,00 [D], € 11,40 [A]
Erschienen am 01.02.2021
128 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31336-0
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€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 01.02.2021
128 Seiten
EAN 978-3-492-97891-0
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Leseprobe zu „Fragen Sie nach Fritz“

Fragen Sie nach Fritz

P.S.: Ich habe Fritz getroffen. Ich muss es meinem Brief doch hinzufügen, Nicolas, weil es alles ändert, das ist mir jetzt klar. Der Tag war kalt. Nicht aufgrund seiner Temperatur, nur in sich. Es war im Januar, aber jeder hatte den Eindruck, schon wieder mitten im Jahr zu stecken, irgendwo zwischen Advent und Sommerferien; ein paar Grad plus, nasse Straßen, silberne Wolken. Mein Friseurtermin war um neun, sodass ich pünktlich um zehn Uhr im Büro sein würde. Wie jeden Tag seit ihr. Seit ihr, deiner Frau, bin ich immer pünktlich, [...]

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Fragen Sie nach Fritz

P.S.: Ich habe Fritz getroffen. Ich muss es meinem Brief doch hinzufügen, Nicolas, weil es alles ändert, das ist mir jetzt klar. Der Tag war kalt. Nicht aufgrund seiner Temperatur, nur in sich. Es war im Januar, aber jeder hatte den Eindruck, schon wieder mitten im Jahr zu stecken, irgendwo zwischen Advent und Sommerferien; ein paar Grad plus, nasse Straßen, silberne Wolken. Mein Friseurtermin war um neun, sodass ich pünktlich um zehn Uhr im Büro sein würde. Wie jeden Tag seit ihr. Seit ihr, deiner Frau, bin ich immer pünktlich, obwohl sie ja schon vor mir da war; trotzdem, jetzt bin ich froh, wenn ich aus der Wohnung raus bin. In Gemmas glitzerndem Salon spielten sie Musik aus den Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts, damit sich die Kunden jünger fühlen. Neben mir saß die Blondierte aus dem Schuhladen zwei Häuser weiter, blätterte in einem Magazin und heulte, ein Taschentuch wollte sie nicht, so tropften leise mitleidheischende Tränen auf das dünne Papier, was sollte man dazu sagen, schon der Anblick war ebenfalls zum Heulen. Gemma bediente drei Kundinnen gleichzeitig, sauste auf ihrem Kunstlederhocker von einer zur nächsten und konnte sich erstaunlicherweise merken, mit wem sie worüber gesprochen hatte, sodass sie das Gespräch mühelos wieder aufnahm, sobald sie anrollte.
Sie sagte, wieder bei mir angekommen, etwas von Altersheimen und Italien, wäre auch nicht schlecht für meine Mutter, als ich ihn sah.

Es war, als hielte alles an, als hinge die Gegenwart bewegungslos in der Luft – der Föhnwind, das Haarspray, die Zeit. Relax, sang Frankie goes to Hollywood dazu, ausgrechnet. Ich sah ihn über Kreuz durch drei Spiegel, sah in sein bulliges, rotes Gesicht, das ich vor zweiundzwanzig Jahren zuletzt gesehen habe, und nur langsam kamen die Dinge wieder in Bewegung, blies der Föhn, fielen Haare und rieselten Spraywolken auf Köpfe herab. Sein Doppelkinn lag penibel rasiert auf dem Synthetikumhang, er las in einem Taschenbuch, e-r-t-r-a-S, erkannte ich im Spiegel; der Zigarillo im Aschenbecher, Cohiba, mit Sicherheit, rauchte desinteressiert an den Luftströmen vorbei zur Decke. Dünn. Grau. Es war, als könnte ich quer durch den duftgetränkten Salon sein Parfum riechen. Ein Mann wie er wechselt nicht das Rasierwasser. Ich mochte seins. Schon als Kind. Er war so dick wie früher. Nein, wohlgenährt. Er hat sich stets mit dem kokettierenden Lächeln Fettleibiger als wohlgenährt bezeichnet, dabei ist doch alles an ihm einfach fett gewesen – sein Kühlschrank wie sein Portemonnaie, sein Weinkeller mit den Magnumflaschen und seine Uhr, seine Regale mit zu vielen Opernaufnahmen, als dass man ihm die Liebe zur Musik hatte abnehmen können. Ja, auch sein Bett für die vielen zierlichen Frauen, denen das ganze dicke Drumherum gefallen hatte. Nicht zuletzt die Badewanne, rund, feist, ein schokoladenbrauner Pool mitten in seinem Arbeitszimmer, daneben ein Richter – zu groß, als dass man ihm seine Leidenschaft für Kunst glaubte. Alles an ihm war dick gewesen, auch seine Kinder, die zu Diätspezialisten geschickt wurden. Bis auf Lea. Natürlich.

Er suchte im Spiegel nach dem Blick, der ihn beobachtete, und ich hatte das voyeuristische Verlangen, unsichtbar zu bleiben, nichts zu verpassen. Drei, vielleicht fünf beängstigende Sekunden lang schaute er mir in die Augen. Und dann entpuppte sich dieser Januartag als verheißungsvoll: Fritz erkannte mich nicht. Wie auch, begriff ich da, es war viel zu lange her; ich war dreizehn gewesen, hässlich vorwiegend, pubertierend unproportioniert, blond damals und ohne Bedeutung für ihn. Und so stand er fünf Minuten später neben mir. Ich hätte darauf gewettet, denn ich habe oft beobachtet, wie er sich Frauen nähert. Er ist inzwischen jenseits der sechzig, sogar zum Selbstmord hat ihm also der Mut gefehlt – er hatte nicht älter als fünfzig werden wollen.

An seiner linken Augenbraue ist noch die Narbe zu sehen: acht Stiche, er ist in der Bar eines Hotels im Schwarzwald fröhlich und betrunken von seinem Hocker und gegen den Pfennigabsatz seiner käuflichen Begleiterin gefallen. Vielleicht habe ich dir diese Episode erzählt, ich weiß es nicht mehr; sie war bezeichnend für seine Maßlosigkeit. „Ich habe das Gefühl“, sagte er und inzwischen hat viel Tabak seine Stimme gefärbt, er trug einen schwarzen Rollkragenpullover und schwarze Jeans, seine dünnen, braunen Haare lagen luftig um seinen runden Kopf. „Ich habe das Gefühl“, sagte er also und es überraschte mich nicht, dass er mit seinen Gefühlen begann, „dass wir uns kennen.“

Es war eine dieser Situationen, in denen man verschiedene Möglichkeiten hat, zu reagieren und sich nicht entscheiden kann, welchen Weg die Dinge nehmen sollen. Seine Nähe ging mir in ihrer Vertrautheit durchs Mark. „Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass wir uns kennen“, wiederholte er, selbst erstaunt darüber, und ich konnte zuschauen, wie er sein Gedächtnis durchsuchte. „Wahrscheinlich haben wir mal in einem Restaurant oder in der Métro einander gegenübergesessen“, bot ich ihm eine Alternative zu unserer Vergangenheit. Er nickte gedankenverloren, wandte sich zum Gehen, blieb aber doch stehen. „Wo gehen Sie denn essen?“ Gemma grinste. „Hier und da“, sagte ich, immer noch unschlüssig, was geschehen sollte, jetzt, wo ich ihn vor mir hatte, endlich, nach so vielen Jahren. Er nickte bedächtig, sein Doppelkinn schwoll an und ab. „Métro fahre ich nie. Aber ich kann das Colombier bei Notre Dame und das Hugo im Achten empfehlen. Kommen Sie mich besuchen. Fragen Sie nach Fritz. Es würde mich freuen.“ Und so ging er, zufrieden mit seiner Unmittelbarkeit, immer noch der elitäre Verweigerer öffentlicher Verkehrsmittel, immer noch in Restaurants zu Hause, per Du mit den Kellnern, die ihn seiner dicken Trinkgelder wegen lieben und verhätscheln; Fritz ging und drehte sich nicht mehr um, bei einem Fremden und unter anderen Umständen wäre ich, aus Prinzip vermutlich und früher auch deinetwegen, Nicolas, ja, deinetwegen, aufgesprungen und hätte ihn gefragt, wozu ich in ein Restaurant gehen und nach einem fetten Fritz fragen sollte. Warum sich Männer in ihrer Direktheit unwiderstehlich finden und unablässig für Frauen interessieren, andere Frauen, Menschen verraten, und da waren sie wieder, die Bilder von dir und ihr und den Kindern, die Bilder eures Idylls.

Also blieb ich sitzen, sah ihm nach, diesem dunklen Alpenmassiv mit dem flachen Hintern und dachte, dass das Leben nicht zweimal eine solche Chance bietet. Du wirst vielleicht verstehen, was in mir vorging. In den folgenden Tagen wurden die Erinnerungen immer unausweichlicher. Die Erinnerungen an dich, an sie, an Fritz, an Lea. Sie kamen nachts und tags, bei der Werbung und während des Hauptfilms, also habe ich mich fürs Hugo im Achten entschieden.

Früher, mit dreizehn, haben Lea und ich gelegentlich Verkleiden gespielt. Sie war die Prinzessin, ich ihr Hofnarr oder Galan, was symptomatisch für unsere Verbindung war, denn Lea war tatsächlich wie eine Königstochter. Ein Mädchen, das alles hatte, mit dem alle befreundet sein wollten, das schillerte und brillierte in allem, was es tat, während ich irgendein Mädchen war, eins von vielen, beängstigend unauffällig. Meine Eltern lebten ihr Leben, ein vermutlich interessantes und begehrenswertes, aber jeder für sich. Sie wahrten die Form, kommunizierten in Unverfänglichkeiten. „Welche Pläne hast du für heute?“ „Termine im Institut, Gespräche wegen der neuen Prüfungsordnung. Und du?“ „Probe in der Stadt. Ich gebe dir später die Liste der Konzerttermine, es ist noch eine Plattenaufnahme in London hinzugekommen.“ Nicken. „Und du, Felicitas? Was hast du heute vor?“

Die Stimme meiner Mutter war sehr weich, ich stellte mir oft vor, wie sie alle im Hörsaal zum Schweigen brachte, indem sie betonte, wie sie eben betonte. Ihre Stimme war eine Geschichte, erzählte, wie die Musik meines Vaters. An irgendeinem Punkt ihrer Ehe müssen sie das aus den Augen verloren haben. „Schule“, antwortete ich. „Tennis, später.“ „Könntest du nicht Ballett tanzen, Felicitas, Liebes? Ballett ist etwas für Mädchen“, sagte mein Vater. Wieder. An jenem Tag habe ich Fritz kennengelernt. Fritz und sein klotziges Haus mit den acht viktorianischen Säulen und Rosenbeeten davor; eine Zuckergussvilla im Hollywoodstil mit drei Videokameras am Tor, einer über der Haustür und noch einer an der Hausecke zum Garten hin. Einen Bau, über dessen Entstehung sich alle in der Gegend monatelang die Mäuler zerrissen, während die Kräne täglich mehr Geld aufeinanderschichteten. Fritz sprach mich am Getränkeautomaten des Tennisclubs an. Und hätte ich mich morgens nicht so sehr über meinen Vater geärgert, sein stoisches Desinteresse an meinen Interessen, hätte ich vielleicht nicht die Cola angenommen, die er mir anbot. Fritz also. Er wirkte nett. Weich und verlässlich wie ein Teddy. „Ich habe eine Tochter in Ihrem Alter“, sagte er, und ich war geschmeichelt, dass er mich siezte. „Möchten Sie sie kennenlernen? Wir sind gerade erst hierher gezogen.“ Also ging ich mit. Einfach so. Er hätte ein Verbrecher in blütenweißen Tennishosen sein können, ich ging mit, ich hatte auch das einkalkuliert.

Lea und ich wurden Freundinnen. Und Fritz vervollständigte uns, Fritz war unser Freund. Vernissagen, Restaurants, Konzerte, Bars. Er nahm uns überall mit hin. Mit Fritz war das Leben eine Aneinanderreihung aufregender Augenblicke, in denen wir ernst genommen wurden. Es gab, dachten wir, nichts, das er nicht mit Lea und mir besprach, in seiner souveränen, unkomplizierten Art und mit einem Blick, der nie herablassend war. Er stellte uns den Menschen in seiner Umgebung vor, so selbstverständlich, als gehörten wir dazu – zu dieser unerreichbar erwachsenen Schar von Kaufleuten, Anwälten, Filmschauspielern, Bankiers, Ärzten, Hoteliers, Intendanten. Fritz kannte jeden. Und jeder kannte Fritz. Er schob uns nie beiseite, sondern band uns ein. In sein Leben, so schien es, genauso wie in seichte Cocktail-Unterhaltungen über das Wetter und die Börsenkurse, Reisen und Scheidungen. Er stellte nie die Frage, ob wir um diese Zeit ins Bett gehörten oder ans Büfett – er belächelte in seinem Smoking missbilligende Blicke Fremder, reichte uns Zitronenlimonade in Champagnerschalen und Schokolade in Kaviarlöffeln; es machte ihn glücklich, die Dinge anders zu sehen, anders zu handhaben, anders zu sein. Fritz saß in Konzertsälen und las, während die Wiener Philharmoniker spielten. Die Menschen hielten sein Gehabe, solche Gesten, für flegelhaft. Er genoss in diesen Momenten, nein, überhaupt, sein Leben. Er saß da und las, freute sich an der Musik, einer Geschichte und unseren stolz glühenden Wangen. Er liebte es, uns zu verwöhnen, verreiste er mit uns, führte uns in luxuriöse Hotels, mietete uns Suiten mit seidenbezogenen Betten, während er, mit wechselnden Frauen, im anderen Flügel logierte – opulent, großartig, verschwenderisch. Mit Fritz war jeder Tag ein Ereignis. Ihn zum Vater zu haben, das stellte ich mir wunderbar vor. Und auch wieder nicht. Ich war dreizehn. Ich wäre gern erwachsen gewesen. Manchmal.
Er verschwand an einem drückend heißen, dumpfen Julitag. Ein Gewitter lag in der Luft. Lea trug ein fliederfarbenes Kleid mit Spaghettiträgern und Turnschuhe, sie hatte ihr Fahrrad gegen die Weinranken um unsere Haustür gelehnt und weinte. Ihre dunklen Locken klebten in ihrem Gesicht, die braunen Augen waren verquollen. „Er ist weg“, sagte sie. Ich machte ihr kalten Kakao und versuchte nicht, sie zu beruhigen. Wenn sie sagte, dass Fritz gegangen war, dann war er fort. Sie saß in unserer Küche, einen traurigen Milchbart an der Oberlippe, und ich wusste, dass meine Kindheit zu Ende war. Das Ausmaß der Katastrophe zeigte sich in den darauffolgenden Tagen – seine Beratungsfirma mit achtzig Mitarbeitern insolvent. Das Zuckergusshaus mit einer Hypothek belastet, die Konten geplündert. Er hatte sogar den Richter mitgenommen. „Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass mit diesem Mann etwas nicht stimmte“, sagte mein Vater später, „er war zu großkotzig, Felicitas.“ Die Gerüchte in unserem Viertel überschlugen sich. Mal war er wegen eines Steuerdelikts festgenommen worden, dann hatte er sich in die Schweiz abgesetzt, einer behauptete, er habe eine Insel vor Mexiko gekauft und würde ein Hotel eröffnen, ein anderer wusste von Kontakten zu kolumbianischen Drogenhändlern. Keiner fragte seine Frau, seine dicken Kinder oder Lea, die Königstochter. Es war klar, dass die vier bald gehen würden. Du kennst nur diesen Teil der Geschichte. Dass ich Lea verloren habe. Aber ich habe dir nie erzählt, was Fritz für mich war, weil ich deine Worte fürchtete. Du hättest ein Urteil gefällt, das ich nicht hören wollte, auch so viele Jahre später und trotz allem nicht. Nun weiß ich, warum.

Fritz saß im Hugo an einem Ecktisch, dem besten sicherlich, den das Restaurant zu bieten hat. Mit einer bulimiekranken Blonden mit langen Stiefeln. Er sah mich, als ich noch in der Tür stand, und während ich meinen Mantel ablegte und dem Kellner erklärte, zu wem ich wollte, schickte Fritz die Frau weg. Sie duftete nach Zedernholz und Bitterorangen; ich roch es, als sie an mir vorbeiging, in ihrem Blick keine Spur von Groll. Er trug einen steingrauen Anzug, ein weißes Hemd und eine kardinalrote Krawatte, die sich im Bogen seines Bauches wölbte. Er stand beschwingt auf, drückte mit seinen feisten Fingern meine Hand und hatte gewusst, dass ich kommen würde. Natürlich. Nach meinem Namen fragte er nicht. Er wusste, dass ich ihn belogen hätte.

Ich hatte mir vorgenommen, seine Version anzuhören. Und ihm zu sagen, wie unverzeihlich sein Handeln war. Doch bei Kerbelsuppe, Hummer und Rinderfilet mit Kartoffelparfait verkehrte Fritz meine Welt. Es war mir selbstverständlich erschienen, nicht erwähnenswert, dass jede Geschichte wenigstens zwei Seiten hat. Jetzt weiß ich, dass ich es nur dahergesagt habe. Ich habe geglaubt, dass ich die Sache mit den Seiten – natürlich – verstanden habe und in meinen Urteilen beherzige. Aber ich habe nie verinnerlicht, dass Wahrheit, vor allem die eigene, viel mehr ist als Betrachtung aus zwei Perspektiven, als die Kenntnis aller Fakten. Wahrheit bleibt unsichtbar. Immer.

Fritz erzählte. Von Reisen und Orten, an denen er gelebt hatte. Basel. Zürich. Rio, eine Weile. Buenos Aires, länger. Von Geschäften, Begegnungen, Erfahrungen. Von einem atemlosen Jagen; schillernd und gleichgültig. Ein paar Kapitel Leben, wohlbedacht, nicht einstudiert. Als er fertig war, später, hatte er mich so vernebelt mit seinem Erleben und seiner Gier, dass ich unsere gemeinsame Geschichte kaum mehr wahrhaben wollte.

„Eine lange, feige Flucht“, unterbrach er meine Gedanken daran. „Das denken Sie, nicht wahr? Und Sie fragen sich, wovor ich geflohen bin. Beruf, Zuhause, Frau und Kindern? Festlegung, Verantwortung, Einsamkeit?“ Er hielt inne.
„Ich will es Ihnen sagen. Ich laufe vor den Lügen davon. Meist gelingt es mir. Meist bin ich fort, bevor sie mich erreichen, aber dass sie kommen, daran besteht kein Zweifel. Ich habe ein paar Theorien dazu entwickelt; leider ist keine neu, keine befriedigend. Ich habe nach Ausnahmen gesucht, aber man muss nur eine Sekunde zu lang bleiben – schon kommt die Lüge ins Spiel. Es gibt keine menschliche Verbindung, in der nicht gelogen wird. Und ich schaffe es einfach nicht, davon nicht enttäuscht zu sein, verstehen Sie? Das ist mein Problem: Die Enttäuschung über die Selbstverständlichkeit der Lüge. Wenn sich die Menschen schon gegenseitig dauernd betrügen und belügen, müssen sie auch sich selbst belügen? Können sie nicht wenigstens an diesem einen Punkt Halt machen?“
„Vielleicht haben Sie eine unmenschliche Idealvorstellung von Wahrheit, wenn Sie die Menschen als derart unzulänglich empfinden“, warf ich ein.
„Ich habe meine Frau nur geliebt“, war seine Antwort, und ich dachte an das Haus im Rotbuchenweg, an Lea und den Tag seines Verschwindens. Mir fiel die Wohnung ein, die sie später genommen hatten, am anderen Ende der Stadt. Und ich hörte die Worte, die Lea und mir eines Tages gefehlt hatten.

„Meine Frau war plötzlich auf der Suche“, begann Fritz.
„War das schon alles, fragte sie sich, ist das der Rest meines Lebens? Dieser Mann, diese Kinder, dieses Haus? Ich kenne keinen, der sich diese Frage nicht irgendwann stellt. Egal, wie glücklich er ist.“ Da war sie wieder, die Frage, auf die ich bis zu diesem Abend keine Antwort gefunden hatte, die Frage, was du bei mir suchtest und an ihr nicht aufgeben konntest. „Ich habe akzeptiert, dass sie die Affäre begann“, fuhr Fritz fort, „ich glaube, dass wir alle ab und zu das Leben fühlen müssen; dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hat und trotzdem zueinander gehört. Und dann erwartete sie ein Kind von dem anderen. Sie wünschte sich, dass ich es als meins betrachten würde, weil das große Ganze zählte. Unsere Liebe füreinander. Unser Leben miteinander. So empfand ich es auch. Wir wollten unsere Familie nicht aufs Spiel setzen. Und doch wurde sie weit mehr erschüttert, als wir es wahrhaben wollten. Sie kam von dem anderen nicht los. Sie konnte und wollte nicht sehen, wer er war. Er holte sich das Geld bei mir. Drohte, unsere Familie zu zerstören, erpresste mich damit, dem Kind – unserer Jüngsten – alles Vertrauen in uns zu nehmen. Das wollte meine Frau nicht. Nicht die Wahrheit. Alles, nur nicht die hässliche Wahrheit… Es ging viele Jahre so. Bis ich nur noch die Chance sah, zu gehen und mein Geld mitzunehmen. Ihr zu nehmen, was der andere wollte, damit sie seine Beweggründe erkennt und zurückkommt.“ Er sah mich an. „Das ist über zwanzig Jahre her. Und natürlich kam es nicht so. Ich habe damals das Entscheidende übersehen.“
„Und das war?“
„Meine Wahrheit war nicht ihre.“

Wir hatten das Restaurant zu diesem Zeitpunkt verlassen und spazierten oben an der Seine, an den verborgenen Geschichten und Bildern der Bouquinisten entlang. Dunkelgrünen Kästen, von Vorhängeschlössern gesichert. Es war januarkalt, der Wind eisig und tröstlich. Wir blieben manchmal stehen und betrachteten den nachtschwarzen Fluss; irgendwann waren wir am Pont Neuf angelangt, keine Ahnung mehr, auf welchem Weg. Sie trägt inzwischen ihr cremefarbenes Festgewand, das Gerüst ist fort, das Mauerwerk rein vom Dreck des letzten Jahrhunderts. Schade, dass du am Tag des Gerüstabbaus nicht mehr hier warst. Hinter uns stand dunkel Notre Dame, von irgendwo hörten wir das Lachen einer Gruppe Jugendlicher. Paris wirkt, ich habe einmal versucht, dieses Gefühl für dich in Worte zu kleiden, Paris wirkt je nach Jahres- und Tageszeit sehr unterschiedlich. Friedlich, morgens um fünf, wenn Wasser durch die Rinnsteine fließt und die Straßen für den Tag herausputzt. Erdrückend, wenn ab zehn die Hölle der Touristenbusse losbricht. Hysterisch während der Schauen, wenn die Welt parfümgetränkt hereinplatzt. Verfälscht, wenn sich die Besucher an die Romantik klammern. Und Paris kann zuversichtlich sein. Wenn man im Winter nachts über den Pont Neuf geht, wenn die Boote längst nicht mehr fahren, die Autos über die Quais rasen, ihre Lichter wie Libellen übers Wasser tanzen. Als ich Fritz küsste, roch er so wunderbar wie damals und plötzlich wusste ich, dass du Recht hast. Wir haben uns viel vorgemacht. Es ist, tatsächlich, so einfach.


Zitrusfrische

Das Röcheln aus dem Zimmer seines Vaters klingt besorgniserregend, zumal er nicht zum Frühstück erschienen ist. Schwindel, hat er am Telefon gesagt, wieder dieser Schwindel. Folglich hat Gelon allein gefrühstückt, Croissant, drei Kaffee, viel Milch, und seinem Vater im himbeerroten Speisezimmer ein Brot geschmiert. Das Hotel an der Küste, das er ausgesucht hat, ist behaglich. Es riecht nach Seewind und bemoosten Steinen, ist die ehemalige Sommerresidenz einer Brüsseler Kaufmannsfamilie, ein Ziegelhaus mit Reetdach, weißen Sprossenfenstern, blaugestreiften Vorhängen und wärmenden Öfen gegen aufdringliche Böen. Die Balkendecken findet Gelon zu niedrig, und der Ausblick aufs Meer fehlt, das liegt drei Straßen und eine Düne weiter, aber er ist weg, das ist immerhin etwas, und sein Vater lebt, das ist natürlich auch etwas. Er sei dem Tod von der Schippe gesprungen, hatte seine Mutter den Arzt zitiert, worauf Gelon die Fahrkarte gekauft hatte, weil seine Mutter auch weinte und zum ersten Mal nicht bettelte, er möge endlich einmal kommen.

Am Bahnhof, beim Abholen, hatte sie überhaupt einen ganz neuen Eindruck gemacht, seine Mutter. Die dicken, amerikanischen Haare, sonst mit viel Spray aufgeplustert, mit einer Klammer hochgesteckt. Dunkelroter Lippenstift. Sie hatte, auch ungewöhnlich, lange nach dem Autoschlüssel in ihrer cremefarbenen Handtasche gesucht. „Er muss hier sein, Schatz.“ Und dann war bei der Suche ein blassblauer Umschlag aufgetaucht. Ihr Name, Jude, in dunkler Tinte und Männerschrift darauf. Sie hatte ihn schnell wieder vergraben.
„Wie war die Fahrt?“
„Okay.“
„Himmel, er kann nicht weg sein; ich habe ihn in die Tasche gesteckt. Und wie geht es in Nürnberg?“
Gelon hatte die Schultern gezuckt und festgestellt, dass da wieder oder noch eine Baustelle war, am Bahnhof, dass sich nichts änderte in dieser Stadt. Städte, hatte er gedacht, waren vollkommen in ihrer Gleichgültigkeit gegenüber Bewohnern und Besuchern.
„Gut. Wie immer“, hatte er also geantwortet, „viele Leute, die Wohnungen suchen. Wie geht es Vater?“
Seine Mutter hatte die Tasche wie eine afrikanische Kürbisrassel geschüttelt, worauf der Schlüssel dumpf zwischen Terminkalender, Zigaretten, Erfrischungstüchern und dem Brief geantwortet hatte. „Du solltest weniger arbeiten, Gelon. Und was alles passieren kann bei diesen Wohnungsbesichtigungen in irgendwelchen Hinterhöfen, nicht auszudenken! Warum suchst du dir nicht einen Bürojob, Schatz?“
Schatz. Seine Mutter hat viele Schätze. Kassiererinnen, den Friseur, ihre Zeitungskollegen. Es hatte nie zur deutschen Nüchternheit gepasst, bei keinem Kindergeburtstag, keinem Elternsprechtag. „Weil ich keinen solchen Job möchte und ohnehin genug im Büro sitze. Wie geht es Vater?“
„Nun, er freut sich auf die Tage mit dir allein am Meer.“
„Und wie geht es ihm?“
Seine Mutter hatte verunsichert aufgesehen. „Er fühlt sich wie neugeboren, sagt er.“

Es ist Nebensaison, die Zimmer kosten ein Drittel weniger als in den Sommermonaten. Seit fünf Tagen wohnen Gelon und sein Vater im Florentijn-Hotel. Laut Messingplakette am Eingang zählt es zu den romantischsten der Welt. Und jetzt diese Geräusche. Er weiß nicht, was er mit ihnen anfangen soll. Der Anruf seines Vaters liegt eine Dreiviertelstunde zurück. Er hat die deutsche Zeitung mitgenommen, ihm eine Scheibe Tilsiter aufs Brot gelegt, die bald an den Ecken schwitzen, wellig und zäh werden wird. Sein Vater atmet gepresst und unregelmäßig; das Ächzen erinnert an Asthma oder Lungenembolie, seine Arme haben am Tag zuvor auch bläulich geschimmert. Andererseits riecht der schummrige Flur durchdringend nach schlierenfreiem Zitronenputzmittel, was eine harmlose Erklärung für Atembeschwerden wäre. Und er hat ihn selten derart guter Dinge erlebt. Geschwächt, ja, aber nicht kränkelnd. Kein bisschen nachdenklich, jetzt, da Gelon sich wünscht, dass er es wäre. Das Zimmermädchen hat den Wagen mit Handtüchern, Duschgel und Toilettenpapier zwei Türen weiter geparkt. Gelon horcht, wo sie die Kissen aufschlägt und die Nachttischschubladen inspiziert; sie hat so etwas im Blick. Und er hat einen Blick für Menschen, die gern im Leben anderer stochern. Nummer acht. Der Klodeckel schlägt gegen die Fliesenwand, eine Bürste schrubbt Keramik.

Es ist lange her, dass Gelon mit ihm allein gewesen ist. Auf Korfu zuletzt, vor fünfzehn Jahren, da war er sechzehn und hatte sich geschworen, nie wieder mit seinem Vater zu verreisen. Jeden Abend dessen tigerhaftes Umkreisen der Beute auf Kreppsandalen, bis er nach der dritten Runde den Teller vom Büfett so voll hatte, als gäbe es nie wieder etwas zu essen. Und dann, beim Abendessen, die unermüdliche Beurteilung anderer. „Das Kleid kann die sich bei der Figur aber nicht leisten!“ „Können die ihre Kinder nicht im Zaum halten? Wir haben euch anders erzogen.“ „Die Männer da drüben, sieh dir das an, halten Händchen. Ich hab nichts dagegen, jeder, wie er mag, aber muss das so offensichtlich sein?“ Dabei war er wie alle Moralisten von seiner überdurchschnittlichen Toleranz überzeugt, schließlich hatte er eine Amerikanerin geheiratet „und die kulturellen Unterschiede sind nicht ohne, gar nicht ohne“, hatte er so oft beteuert, dass Gelon die Heimat seiner Mutter, Amerikas Ostküste, lange für ein hoffnungsloses Posemuckel gehalten hatte.

Jude kam aus Boston. Sie hatte seinen Vater kennengelernt, als sie für den Evening Globe eine Geschichte über deutsche Unternehmer recherchierte, die als Heranwachsende in den letzten Kriegsjahren für Schokolade oder neue Strümpfe mit den Amerikanern gearbeitet hatten. Sein Bruder Erwe und er hatten die Geschichte hundertmal gehört. So war das damals! Seht mal, Kinder, wie gut Ihr es habt, in welch sorgenfreien Zeiten Ihr aufwachst. Als hätten sie es sich ausgesucht. Als wären eine Mutter, die auf alles eine Antwort wusste, und ein Vater, der sich nie festlegen mochte, nicht Sorge genug. Zum Zeitpunkt von Judes Recherchen hatte Thomas Meller gerade die Druckerei seines Vaters und John F. Kennedy die Präsidentschaft übernommen. Tom gehörte nicht zu dessen Fans. Wegen Kennedys naiver Anerkennung für die Nazis in früheren Jahren, behauptete er. Wahrscheinlich war auch Neid im Spiel, immerhin war Kennedy jüngster Präsident der Geschichte und Gelons Vater soeben Mitglied des Pfarrgemeinderats geworden. Jedenfalls hatte Tom sein Missfallen über den mächtigen Mann im Gespräch mit der zarten Jude zum Ausdruck gebracht und sie damit genauso wie mit seinem stattlichen Äußeren für sich eingenommen. Die Mauer war eben errichtet worden, die Gemüter waren erhitzt angesichts zu vieler ungeklärter Fragen – vom Broterwerb bis hin zur Kubakrise, vom Feminismus bis hin zum Weltkommunismus –, sodass Jude und Tom wenigstens eine Frage klärten, die, ob sie bis zum Ende ihrer Tage zusammenbleiben wollten.

Gelon fragte sich oft, was sie verband außer der skurrilen Freude, ihre Söhne nach Autokennzeichen benannt zu haben. Nach einem beigen Opel aus Erlangen. ER-WE. Und nach einer weißen Ente aus Geldern. GEL-ON. Benannt nach einer Ente, denkt er – er hat sich damit abgefunden. Das Bild der intakten transatlantischen Beziehung wurde wie ein Statement der Nato durch seine Jugend transportiert. Nach innen war es mehr Eiserner Vorhang.
Respektvolles Belauern, taktisches Umschiffen bekannter Klippen. Seit fünf Jahren leitete sein Bruder Erwe die Druckerei. Er trug Turnschuhe, einen Schnauzbart, auberginefarbene Sakkos und nahm die Dinge, wie sie waren, weil sie immer schon so gewesen waren. Ob ihn seine Gedankenlosigkeit zu einem ausgeglicheneren Menschen als Gelon machte, wie er behauptete, vermochte er nicht zu beurteilen. Seine Zufriedenheit und sein blassblauer Cadillac, mit dem er durch die Provinz protzte, waren Gelon derart fremd, dass Süddeutschland die bessere Alternative gewesen war. Bisher jedenfalls. Es werden schlimmere Zeiten kommen, hat Dr. Liebstein gewarnt, Praxis Stöpselgasse, Ecke Burgstraße. Es kann viele Jahre gut gehen, aber Sie müssen Acht geben auf sich. Und die Tabletten nicht vergessen. Es sind fröhliche, rosafarbene Pillen. Sie sollten nicht allein sein, hatte Liebstein auch gemeint, worauf Gelon an Zuhause gedacht hatte und seither nicht mehr damit aufhören kann; er denkt an seine Mutter, im Arbeitszimmer, an den summenden Computer, wie sie Artikel für den Globe schreibt, liest, laut Musik hört, Chopin, weil es dort oben niemanden stört.

„Wir lieben unterschiedlich“, hatte sie einmal gesagt, dort, auf dem sonnengelben Sofa und dabei Gelons widerborstige Kinderhaare gestreichelt. „Trotzdem gehören wir zusammen, dein Vater und ich.“ Und Gelon hatte sich seinen Vater vorgestellt. Wie liebte man anders? Seinen Vater im blauen Sessel im Wohnzimmer, Dias sortierend. Auf der Terrasse, rosenschneidend. Seinen Vater, den mustergültigen Drucker von Kirchenzeitung und Beipackzetteln, von Supermarkt-Wurfzetteln und Heimatblättern. Seinen Vater, den Helden, der schon als Junge auf der richtigen Seite, der Seite der Befreier, gestanden hatte. „Sie sollten wenigstens darüber nachdenken, zurückzugehen“, war Dr. Liebsteins Rat gewesen, „die Familie reagiert oft positiver, als man es zunächst erwartet.“

Nun ist es still hinter der Tür. Da ist kein Laut. Alles friedlich. Gelon lauscht und kann nichts hören und weiß nicht, was er damit anfangen soll. Es ist zu viel. Alles. Manchmal macht sein Vater Pralinen. Nougatgefüllte Herzen für ihre Mutter; Autopralinen mit Rum und Marzipan für Erwe und Gelon. Sein Vater mag Pralinen, die belgischen besonders, er kennt jedes Rezept und jeden Trick fürs Tauchen, Abschieben, Kehren; jede Tüftelei, um aufwendige Schokoladenkunstwerke zu gestalten. Die Leidenschaft, mit der er sich Konfekt hingeben kann, hat Gelon nie verstanden. Die Produktion von Pralinen ist kein Geheimnis und ihr Verkaufserfolg allenfalls im Hinblick auf Cholesterin und Fett bemerkenswert. Aber es ist auch und immerhin, das erkennt er an, eine Leidenschaft, mit der er die Stille füllen kann, die das Wesentliche verursacht.

Das bizarre Röcheln hinter der Hotelzimmertür hebt plötzlich wieder an. Er ist erleichtert. Zugleich beunruhigt. Zögert, die Hand auf der Klinke. Gestern waren sie spazieren. Sein Vater kam mit diesem übermütigen Ausdruck um seine braunen Augen und den verwegen geblümten Gummistiefeln zu seinem dunkelgrauen Anzug und der grauen Seemannsmütze die Treppe herunter. Dabei ist er doch im Grunde seines Herzens ein Spießer, hatte Gelon gedacht, ein Spießer, der das Spießbürgertum so gern ablehnen würde. Und dann hatte er sich vorgenommen, mit ihm zu sprechen. Der späte Nachmittag war die schönste Zeit am Strand. Die meisten Menschen gingen heim, der Raum zwischen Erde und Wasser wurde weit, das Meer rauschte erhabener ohne das Geschrei seiner Gäste. Bei Ebbe waren es etwa zweihundert Meter Sand von der Promenade bis zum ersten Priel. Es war warm genug, um barfuss zu laufen, zu kalt, um zu baden, was hartgesottene Einheimische nicht davon abhielt, sich auf ihren Surfbrettern vom Wind jagen zu lassen. Die Belgier liefen in kurzen Hosen herum, wenn die Urlauber noch Schals und gefütterte Jacken trugen. Belgier, hatte Gelon festgestellt, erkannte man an blauroten Waden und kaltrosa Wangen.

Die Uferpromenade war gesäumt von hässlichen Zigarettenschachtelbauten der 1970er Jahre und Strandcafés mit gelben und roten Plastikstühlen. Er mochte das. Schönheit war ihm seit Liebstein schwer erträglich, diese Plattenbauten verfügten über das angemessene Maß an Hässlichkeit. An einer Laterne entdeckte er den Zettel: Aidstelefoon Vlaanderen 078–15 15 15. „Tania erwartet ein Kind“, hat sein Vater in diesem Moment gesagt, „im Herbst.“ Die Frau seines Bruders, eine Trachtenträgerin mit blondierten Haaren und dem Intelligenzquotienten einer Gartenschere, widmete ihr Dasein dem Anbau von Gemüse und der Anbetung von Erwe. Gelon fand Tania langweilig. Tania fand Gelon eigenartig. Dein Bruder beobachtet immer so komisch, hatte sie einmal zu Erwe gesagt, ganz am Anfang.

Er tut so, als sehe er mit seinen riesigen, dunklen Augen alles genauer, als lebe er intensiver, dabei kocht er auch nur mit Wasser. „Das Kind ist nicht von Erwe“, hatte sein Vater hinzugefügt, geschnauft und seine Mütze tiefer ins Gesicht gezogen, „es ist vom Postboten.“ Zu Gelons Überraschung hatte der Pralinentaucher mit ihm darüber laut und herlich gelacht. Vom Postboten. Per Nachnahme! Da war er langsamer gegangen, hatte auf die Schritte seines Vaters geachtet und seine angepasst, damit sein Vater wieder zu Atem kam. „Es ist wahr, Gelon“, fuhr er schließlich fort.
„Sie hatte was mit dem Paketboten, der Zubehör für den Fernsehapparat lieferte.“ Und Gelon war plötzlich die Postkarte mit dem Einstein-Spruch eingefallen, die Boris zum Abschied an den Badezimmerspiegel geklemmt hatte: Wer sich nicht mehr wundern kann, ist seelisch tot. Wahrscheinlich hatte er Recht gehabt. Gelon wunderte sich über nichts mehr, am wenigstens über den Paketboten. Er war tot.
„Und Erwe?“
Sein Vater hatte die Achseln gezuckt. „Möchte sich scheiden lassen.“
„Ist seine Ehre so angekratzt?“
„Er versteht nicht, dass zwischen Menschen nichts ist, was es zu sein scheint. Das ist das einzige Prinzip im Leben, an das man sich halten sollte, das wahre Prinzip der Toleranz.“
Und Gelon hatte gedacht, dass Boris auch nicht gewesen war, was er zu sein schien. „Ist mit Mama und dir alles in Ordnung?“, hatte er gefragt und an den Umschlag in ihrer Handtasche gedacht.
Sein Vater war stehen geblieben und hatte ihn angesehen. „Wir sind glücklich, Gelon, jeder von uns ist glücklich. Und wir sind dankbar für dieses Glück.“

Das Röcheln und Schnappen hinter der Tür wird auf einmal derart verzweifelt, dass Gelon endlich in eine Art von Panik gerät. Es ist nicht zu fassen, dass er nichts tut, er ist noch nicht so krank, noch nicht so unfähig und so bemitleidenswert; steht einfach in der Gegend herum, grübelnd wieder, betrachtet sein schmales, blasses Gesicht verzerrt im Messingschirm der Flurlampe, einmal mehr verloren in sinnlose Gedanken, endlose Verkettungen, mit diesem idiotischen Sandwich und der Zeitung in Händen, die sein Vater nie mehr lesen wird, wenn er nicht sofort etwas unternimmt; wie kann er Putzmittel verantwortlich machen, wie kann er nur immer die Augen verschließen und wegrennen? Entschlossen drückt er die Messingklinke herunter.

Das Bett ist gemacht, die Zeitung vom Vortag liegt zusammengefaltet auf dem Nachttisch. Alles ist adrett und zitronenfrisch. Sein Vater steht mit geschlossenen Augen am Fenster, das von blauweißen Stoffwolken umrahmt ist. Seine gestreifte Pyjamahose umschlabbert seine Knöchel, der Kofferboy kniet vor ihm auf dem hellen Teppich, die Hände fest auf dem nackten, weißen, alten Hintern seines Vaters. Die Tür klappt, wie durch einen zarten Windhauch, lässig gegen die Wand. „Gelon, Kind“, japst sein Vater und kippt vornüber in dem Bemühen, sich zu bedecken. „Papa!“ ruft er, als hätte er ihn nach Jahren zufällig wiedergefunden.

Vier Monate später, an seinem Grab, neben der dicken Tania und hinter dem stolzen Erwe und im Arm seiner weinenden Mutter, weiß Gelon, dass es genau das gewesen ist. Ein Wiederfinden. Und dass er die Karte von Boris wegwerfen und zurückgehen kann, nach Hause.

Sein Vater nestelt an der Hose herum, versucht sie hochzuziehen, während Gelons Blick auf seinem Geschlecht haftet, erstaunt fast, dass der Pralinentaucher eines hat. Der Kofferträger – es ist Pedro aus Spanien, eine Schönheit, er hat ein paar Tage zuvor ihre Taschen in die Zimmer manövriert und bringt gelegentlich Kaffee und Tee hinauf – wankt und wischt sich beschämt über den Mund. Sein Vater nestelt immer noch an seiner Hose und ruft wieder „Gelon“ und „Junge“, als würde das etwas ändern, während Gelon vergisst, das Zimmer zu verlassen, die Augen zu schließen oder sonst etwas zu unternehmen, das weniger peinlich wäre – zu beeindruckt ist er von der Ausrede seines Vaters fürs Frühstück. Pedro hastet an ihm vorbei, zieht den dunkelgrünen Arbeitskittel über seiner haarlosen Brust zusammen, packt im Herausgehen gewissenhaft Lappen und Putzmittel vom Tisch, auf der Flasche protzt ein kahlköpfiger Fleckenheld mit seinen Muskeln. Und Gelon muss lachen, er lacht seinen Vater an, bis dessen Hose wieder auf den Hüften sitzt. Schwindel, hat der alte Herr gesagt. Wieder dieser Schwindel.


30 Grad

Sie sitzt ihm gegenüber; die Hände um die Armlehnen gekrallt, ihre Fingerknöchel weiß, deswegen. Sie sieht aus dem Fenster, nachtblaue Pupillen überfliegen die Hochsommerlandschaft, verfolgen für Sekundenbruchteile Hügel, Strommasten, Hinweisschilder, zeichnen Häuserzeilen, Balkone, Plakattafeln nach. Sie atmet ruhig und wirkt in ihrer Erstarrtheit doch aufgeregt und plötzlich sagt sie, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden: „Es wird nichts mit Ihnen und ihr. Ihre Beziehung hat keine Zukunft.“ Er kommt nicht dazu anzunehmen, dass die Fremde in seinem Abteil nur laut denkt, aus Versehen, jedenfalls nicht mit ihm spricht, denn nun sieht sie ihn an, blickt im Rauschen eines Gegenzuges in seine Augen und wiederholt:
„Ihre Beziehung hat keine Zukunft“, und dabei neigt sie den Kopf zum Fenster, in die Richtung, wo vor zwanzig, dreißig Kilometern Miriam auf dem Bahnsteig stand und ihre Arme um ihn schlang und seinen Hals küsste (sie küsst immer seinen Hals und macht das wunderbar). „Ich komme bald“, hört er sie wieder sagen. „Wir beide, das ist eine gute Idee.“ Und dann lächelt sie, und er küsst ihre Lippen zum Abschied; sie schmecken nach Vanille und sind weich und plötzlich fort; Miriam bleibt nie zum Winken.

„Verzeihung“, entgegnet er. Die glatten, langen Haare der Mitreisenden glänzen sandig in der Mittagssonne. „Ich habe nicht recht verstanden?“
„Natürlich haben Sie mich verstanden. Es wird nicht halten.“ Und wie sie es sagt, erstickt sie möglichen Widerspruch, jede eventuelle Empörung. Natürlich hätte er ihr nicht widersprochen – wie käme er dazu, mit einer Fremden über seine Beziehung zu sprechen? Eine, im Übrigen, ideale Beziehung. Sein Privatleben geht diese Frau nichts an. Und Miriam gehört zu seinem Privatleben. Nein, Miriam ist sein Privatleben, sein neues Leben; über sie gab es mit Dritten nichts zu sprechen. Aber die Stimme der Frau irritiert ihn noch, der Tonfall ihrer ungebetenen Weissagung. Sie schweigen, umfangen von der Sicherheit wachsender Entfernungen, verklingender Worte und wechselnder Welten, dort draußen, vor dem Fenster mit den windgetrockneten, braunen Regentropfen. Ihre Hände liegen nun erleichtert auf den Armlehnen – verblichenen, roten Polstern, kratzig und altmodisch, wie früher, denkt er, als er in die Sommerferien zu Tante Gerta geschickt wurde, ausstaffiert wie Rotkäppchen mit Kuchen und einer Flasche Wein und karierten Stofftaschentüchern. „Sei lieb“, sagt seine Mutter, bevor er einsteigt. „Stell ja nichts an“, warnt Miriam bei seiner Abreise mit ihrem hinreißenden Lachen.

Die Frau in seinem Abteil ist zierlich und trägt ein weißes, knielanges Leinenkleid und schwarze Stoffsandalen. Mit ihrer stillen Gelassenheit nimmt sie mehr Raum ein, als ihm lieb ist. Er kann sich nicht erinnern, ob sie zusammen eingestiegen sind oder ob sie bei seiner Ankunft schon im Abteil gesessen hat, aber anstatt darüber nachzudenken, sollte er sein Buch aus der Aktentasche ziehen und lesen, denkt er. Er hat im Antiquariat einen Reiseführer gefunden – Paris für Fortgeschrittene –, der sich jenen Stätten und Sehenswürdigkeiten widmet, die nicht mehr zu besichtigen sind, weil sie planiert, abgerissen, umgebaut wurden. Häuser, Höfe, Plätze, Parkbänke, Tore, an denen täglich Tausende Menschen vorbeigingen, ohne zu ahnen, welche Bedeutung diese Flecken vor hundert oder zweihundert Jahren gehabt hatten. Er könnte lesen und Miriam später bei ausführlichen Spaziergängen zeigen, worüber er gelesen hatte. Aber da ist diese Frau. Sie lässt ihn nicht lesen.

Manchmal begegnen sich ihre Blicke, dann sieht er schnell weg, während sie nicht einmal die Lider senkt. Ihre Augen haben einen mattgoldenen Schimmer rund ums Blau; um ihren Mund liegt ein amüsierter Zug, der ihm vertraut scheint. Vermutlich ist sie einsam und will ihm ein Gespräch aufdrängen; sich interessant machen. Vielleicht ist sie eine Gaunerin, die ihn dazu verlocken will, sie für ein bisschen Geld in seiner Hand lesen zu lassen. Wie der Lehrer, dessen Grab auf dem Père Lachaise immer noch von Anhängern des Jenseits befeiert wurde, obwohl sich noch zu seinen Lebzeiten erwiesen hatte, dass er – natürlich – ein Betrüger gewesen war, der gelangweilte Snobs Ende des 19. Jahrhunderts mit Hellsehen, Tisch- und Gläserrücken unterhalten hatte. Aber so sieht sie nicht aus, denkt er, wobei ihm bewusst ist, dass er nicht weiß, wie eine Wahrsagerin überhaupt auszusehen hat. Jedenfalls braucht er keine Unterhaltung. Keine Scharlatanerie. Und keine Prophezeiung. Er nimmt sein Buch und schlägt es auf und freut sich, dass es auch ein Kapitel über den Friedhof gibt. Vielleicht aber, er muss es in Betracht ziehen, vielleicht aber weiß die Frau tatsächlich etwas über Miriam. Sie wirkt sympathisch. Nicht verzweifelt. Nicht durchgedreht. Andererseits, überlegt er dann, andererseits ist jeder Spinner einer dieser Nachbarn, von denen niemand Notiz genommen oder Ungewöhnliches erwartet hatte. Nein. Sie weiß nichts. Es ist ein dummer Gedanke, beschließt er, etwas anderes anzunehmen; sie wird ihn nicht einfangen mit ihrer Masche. Natürlich hat seine Beziehung zu Miriam Bestand. Natürlich wird sie bald bei ihm in Paris sein. Genau genommen wird sie in dieser Woche alle Vorkehrungen dafür treffen, weswegen er ihr auf dem Weg zum Bahnhof seine Schlüssel und alle notwendigen Papiere gegeben hat. Es gibt so vieles zu erledigen, zu besorgen, zu beenden. Wenn er auf ihre Andeutung nicht eingeht, wird die Frau so lautlos verschwinden, wie sie aufgetaucht ist. Im Nirgendwo. Sie wird in Charleroi, Mons oder Namur aussteigen, während er an der Gare du Nord auf den Bahnsteig springen und Paris einatmen und zwei Wochen später Miriam genau dort abholen wird, auf dem Bahnsteig unter der gläsernen Kuppel. Sie wird mit drei Koffern und zahllosen Taschen im Gewimmel von Geschäfts- und Wochenendreisenden stehen, sie wird herausstechen aus dieser Menge wie eine funkelnde Erkenntnis aus einer Masse von Mittelwerten, und sie wird ihm winken.

Dass seine Neugier Oberhand gewinnt, fühlt sich wie Verrat an.
„Wohin reisen Sie?“ Sie haben die Grenze nach Belgien überschritten.
„Nach Paris“, antwortet sie und wendet den Blick von der Scheibe.
„Leben Sie dort?“ Ihre Gesichtszüge sind elegant, sie ist eine jener Frauen, nach der sich Menschen beiderlei Geschlechts und jeglicher Herkunft umdrehen; sie hat es nicht nötig, durchfährt es ihn auf einmal, auf sich aufmerksam zu machen.
„Wo sollte man sonst leben auf der Welt?“, erwidert sie. „Es gibt keine schönere Stadt.“
„Ach“, entgegnet er abfällig, „es gibt durchaus noch ein paar interessante Städte auf dieser Welt.“
„Keine ist wie Paris.“ Wieder bestimmt ihr Tonfall, dass es dagegen nichts zu sagen gibt. „Ich behaupte nicht“, ergänzt sie höflicher, „dass es keine anderen beeindruckenden Städte auf der Welt gibt. Ich finde nur, dass keine schön wie Paris ist. Überall, meine ich, selbst in den schäbigsten Straßenzügen und Hinterhöfen.“
Er überdenkt ihre Worte. Sie ist schön. Unmöglich, das zu ignorieren. Und dann erinnert er sich seiner Spaziergänge und der Anzahl von Schuhsohlen, die er in Paris zerlaufen hat auf der vergeblichen Suche nach dem Fehler.
„Was machen Sie in Paris?“, verhört er sie weiter. Er hat jede Berechtigung dazu, vielleicht sind sie sich einmal begegnet, vielleicht kennt sie Miriam, hat eine Rechnung mit ihr offen; es muss einen Grund geben für ihre rätselhafte Einmischung.
„Ich bin Fotografin“, gibt sie bereitwillig Auskunft.
„Modefotos für die Miete. Stadtfotos für die Seele.“ Sie lächelt.
Und er weiß, dass er keine Fotografin kennt und dass Miriam nie von einer erzählt hat, und es verunsichert ihn, dass sie nicht eine Frage an ihn richtet, jetzt, wo er ihr eine Unterhaltung aufgezwungen und ihr gezeigt hat, dass er nicht eingeht auf ihr Spiel, das womöglich keines ist.

Ihr Gesicht kommt ihm nun, da sie ihn geradewegs ansieht, noch vertrauter vor, aber er kann den Zusammenhang nicht herstellen. Sie könnte, wie er, im Sportstudio an der Rue de Passy trainieren. Oder in der Praxis seines Zahnarztes arbeiten. Oder als Briefträgerin. Ohne Uniform und außerhalb der gewohnten Begegnungsstätte erkennt er Menschen nie, was peinlich, aber nicht zu ändern ist. Aber nein, dieses Gesicht hätte er sich gemerkt. Und warum sollte sie erzählen, sie sei Fotografin? Ihre Bemerkung lässt ihm keine Ruhe, aber er wird nicht danach fragen. Keinesfalls. Auch nicht, wenn er sich schon lange fragt, warum Miriam noch nie zu ihm nach Paris gekommen ist, nicht einmal für ein Besuchswochenende. Ihre Geschichte währt bereits vier Monate – sechzehn Wochenenden – und noch nie ist sie bei ihm gewesen. Und noch nie hat er gesehen, wie sie wohnt und lebt. Sie treffen sich in Cafés. Restaurants. Seiner Wohnung. Leise und regelmäßig klackern die eisernen Räder über die Gleise, leidenschaftslos gegenüber dem Gelände und allem Gerede, beneidenswert stabil. Die Schiebetür öffnet sich und ein dünner Mann in dunkelblauen Hosen und einem hellblauen Hemd bittet um die Fahrscheine. Seine Stirn glänzt, heiße Luft drängt aus dem schmalen Flur ins Abteil, erinnert an den Sommer draußen, 30 Grad, wolkenlos und hellblau. Er prüft das Ticket und die Reservierung und knipst ein Loch hinein. Dann ihr Ticket, länger, bis er auch dieses entwertet und sich umdreht. „Der Getränkewagen kommt gleich“, ruft er beim Herausgehen, obwohl keiner gefragt hat; seine Stimme singt, entlarvt den Rheinländer. Und dann sind es wieder nur sie beide. Er und sie im Abteil. Er, der eine Antwort will. Sie, die eine gegeben hat und zufrieden darüber ist, ihre Zufriedenheit beunruhigt ihn, während draußen Belgien vorüberzieht, braune Höfe, grüne Felder, getupfte Kühe und schwarze Reifenfetzen auf der Autobahn; der Zug hält nicht mehr in Charleroi, Mons oder Namur, es ist ein anderer Zug, ein neuer, er hatte es vergessen.

Später geht die Tür noch einmal auf, und es ist eine Nonne. Sie riecht nach Obst. Er mag keine Früchte. In der Rechten hält sie eine pinkfarbene Plastikdose mit geschälten Apfelscheiben, in der linken Hand eine Zeitschrift. „Ist hier noch Platz? Drüben spielen sie Poker, ich sitze im Weg.“ Sie lacht. Es ist die erste Nonne, die er sprechen hört. Sie hat flaschenbraune, ovale Augen, eine zarte Nase und farblose, breite Lippen; ihre Haare, meint er, müssen schwarz sein und gelockt. „Himmel!“ Sie sieht ihn besorgt an. „Sie sind ja ganz blass. Sie müssen etwas trinken! Bei diesem Wetter muss man viel trinken, sonst kriegt man einen Kollaps.“ Er ist durcheinander und nickt, obwohl er nichts trinken, sondern mit der Frau alleine bleiben möchte. Er hat keine Ahnung, wie man eine Nonne anspricht. Exzellenz, überlegt er, war für Bischöfe, Kardinäle. Draußen rollen Häuserzeilen, Parkplätze, Supermärkte, Gewerbegebiete zurück, auf einmal ist es, als würde er die Wirklichkeit abstreifen. Sagte man Schwester? Das erscheint ihm flapsig. Er schwitzt. Die Nonne setzt sich neben ihn, öffnet ihren schwarzen Rucksack, er fragt sich, ob das Gepäckstück zur Berufskleidung gehört; sie holt eine Flasche und Becher heraus, gießt Mineralwasser ein, während draußen Frankreich beginnt. Die Kilometer fressen Minuten, streichen vorbei, spielen keine Rolle, rattern durch die Ruhe; die Nonne spürt, dass die Frau und er nicht reden wollen. Sie holt ein Buch aus ihrem Rucksack und beginnt zu lesen. Und so sind es doch nur wieder sie beide, er und sie; sie schauen aus dem Fenster und beobachten das Leben anderer, weil das einfacher ist.

Nach einer ganzen Weile steht sie auf. Sie hängt die Handtasche über ihre Schulter und streckt sich nach dem Gepäcknetz. Seine Angst fühlt sich an wie ein Fausthieb. Welcher Halt kommt jetzt? Steigt sie aus? Hatte sie ihn belogen, lebte sie gar nicht in Paris, sondern hier, im Nirgendwo, allein, verrückt vor Einsamkeit? Natürlich. Das musste es sein. Sie kann nicht gehen. Nicht ohne Antwort. Er kann nicht fragen. Er muss fragen. Sie hievt ihre braune Reisetasche herunter. Er springt auf.
„Halt!“ Er packt ihre Schulter. „Warum haben Sie das eben gesagt?“
Ihre Augen sind jetzt noch größer. Sie ist ein wenig erschrocken; Augen so groß und dunkel wie die von Rotkäppchens Wolf. Einmal, denkt er, wird sie ihn fressen.
„Wer sind Sie?“ Er ist zornig über seine Ratlosigkeit.
Die Schwester steht ebenfalls auf und legt ihre Hand auf seine Schulter. „Junge“, flüstert sie, „was soll das werden?“
„Halten Sie sich raus“, befiehlt er.
Die Nonne legt den Kopf schräg, ihr Blick ist unerbittlich. „Sie werden diese junge Dame nicht belästigen!“
„Nein“, sagt die Frau zur Nonne und sieht nur ihn an, nachtblau und ohne Scheu, „er will mich nicht belästigen.“ Er hat nicht gefragt, Vier Stunden lang hat er nicht gefragt. Weil er anders ist. Einer, der die Wahrheit verdient.

„Wenn sie Ihnen versprochen hat, nach Paris zu kommen, dann wird sie es nicht halten“, sagt sie also, ihre Stimme ist sacht, „Miriam kann es nicht halten.“
Er kennt sie. Er weiß es. 30 Grad. Ihre Worte flirren durch die Hitze. Er kann nichts sagen.
„Welche Geschichte hat sie Ihnen erzählt?“, fragt sie und ihre Ähnlichkeit mit Miriam ist plötzlich unverkennbar, aber er versteht ihre Worte nicht. Miriam hat nie von einer Schwester gesprochen. „Die Geschichte der Studentin, die fürs Examen lernt und ein Zimmer in einer nicht vorzeigbaren Wohngemeinschaft gemietet hat? Oder die der Polizistin, die mit einer frisch geschiedenen Kollegin, die vorerst keinen Mann sehen will, eine Dienstwohnung bewohnt? Oder ist sie diesmal die Pflegerin der Witwe, die keinen Besuch duldet?“
Seine Fingerspitzen sind jetzt sehr kalt.
„Egal, es ist immer eine von diesen Geschichten. Glauben Sie mir, Ihre Beziehung wird nicht halten. Keine Beziehung von Miriam hält.“
„Warum nicht?“ Er fühlt sich klein.
„Weil sie keine eingehen kann.“
„Was heißt das? Ist sie verheiratet?“ Er findet seine Frage töricht.
„Ja. Aber das hat für sie keine Bedeutung.“
„Was hat eine Bedeutung für sie?“ Er sieht ihr Zögern, sieht, wie sie die Antwort erwägt, nicht gibt. Er setzt sich zurück auf seinen samtroten Sitz. Die Nonne nimmt neben ihm Platz und reicht ihm ein Stück Apfel: „So. Haben wir uns nun alle wieder beruhigt?“
„Ich habe Sie auf dem Bahnsteig beobachtet, Sie beide“, sagt die Frau. „Ich habe gesehen, dass es Ihnen ernst ist. Darum wollte ich Ihnen sagen, dass es ihr niemals ernst ist.“
Er ist erschöpft. „Vielleicht ist es diesmal anders.“
Der Apfel klebt in seinen Fingern, der entgegenkommende Zug nimmt ihm den Atem; er weiß, dass es diesmal nicht anders ist. Die Nonne berührt seinen Arm; ihre Hand ist kühl, und die Frau geht, während sich der Zug durch die Vororte von Paris schlängelt. Später erst, als knackende, rauschende Worte durch die Glaskuppel hallen, von Zeiten und Gleisen und der Stadt erzählen, sieht er die Karte auf ihrem Sitz. Ihre Visitenkarte. Sie hat eine schöne Schrift. Wie Miriam. Sogar bei den Zahlen ihrer Telefonnummer.

Husch Josten

Über Husch Josten

Biografie

Husch Josten, geboren 1969, studierte Geschichte und Staatsrecht in Köln und Paris. Sie volontierte und arbeitete als Journalistin in beiden Städten, bis sie Mitte der 2000er-Jahre nach London zog, wo sie als Autorin für Tageszeitungen und Magazine tätig war. 2011 debütierte sie mit dem Roman »In...

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