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Die Saison Die Saison - eBook-Ausgabe

Helen Garner
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Ein halbes Jahr mit meinem Enkel

— Alt und jung gemeinsam
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€ 24,00 inkl. MwSt. Erscheint am: 04.07.2025 In den Warenkorb Im Buchshop Ihrer Wahl bestellen
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Die Saison — Inhalt

 

„Garner ist herausragend in der Genauigkeit ihrer Beobachtungen, der Intensität ihrer Leidenschaft, und ihrem unfehlbaren Humor.“ Washington Post

„Garner spielt in Die Saison mit dem Heldenepos, während sie vertraute Themen und Sorgen beschreibt: Männlichkeit und ihre Codes, die Freuden und Widersprüche sozialer Gruppen, was es bedeutet, Zeugnis abzulegen ... Garner war schon immer eine außergewöhnliche Stilistin, und in Die Saison schwingt und tanzt ihre Prosa, so athletisch wie diese jungen Fußballer.“ The Guardian

 

 

Ein wunderschöner Text darüber, wie die Generationen in einer Familie einander brauchen und unterstützen; so knapp und vollkommen unsentimental erzählt, dass einem dabei ganz warm ums Herz wird. Dieses unvergleichliche Memoir besingt das Leben, die Unausweichlichkeit des Alterns und die unbändige Freude an der Liebe und am Leben in einer Familie. Unbedingt lesen.

In Melbourne ist Footy-Saison und Helen Garner folgt der U16-Mannschaft ihres Enkels. Bei fast jedem Spiel, fast jedem Training steht sie bei Wind und Wetter fasziniert und oft schlotternd am Spielfeldrand. Ja, sie liebt das Drama des Australian-Football, auch wenn sie nicht alle Regeln versteht. Vor allem aber liebt sie das Glück, mit ihrem Enkel in Verbindung zu bleiben, ihm nahe zu sein, bevor er kopfüber in die Männlichkeit verschwindet. Mit Genauigkeit und ihrem warmen Humor berichtet Garner von diesem entscheidenden Moment – als Teil der Geschichte, aber auch als unbeteiligte Zeugin.

€ 24,00 [D], € 24,70 [A]
Erscheint am 04.07.2025
Übersetzt von: Helmut Krausser
224 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-8270-1526-6
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€ 19,99 [D], € 19,99 [A]
Erscheint am 04.07.2025
Übersetzt von: Helmut Krausser
208 Seiten
EAN 978-3-8270-8114-8
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Leseprobe zu „Die Saison“

Prolog

Ich parke am Straßenrand. Ich liebe diesen Park, in dem sie trainieren, bin bestimmt Hunderte Male hier gewesen, habe das Oval umrundet, schon am frühen Morgen, winters wie sommers, um für Dozer Bälle zu werfen, unseren Australischen Schäferhund. Jetzt ist er im Hinterhof begraben, unter der Kreppmyrte, nah beim Hühnerstall.

Der Junge springt mit seinem Ball aus dem Auto, schießt ihn fort und trabt hinterher. Junge? Schau ihn dir an. Seit er ein kleiner, pummeliger Achtjähriger war, spielt er in unserem Vorstadtverein; seiner sportlichen Laufbahn [...]

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Prolog

Ich parke am Straßenrand. Ich liebe diesen Park, in dem sie trainieren, bin bestimmt Hunderte Male hier gewesen, habe das Oval umrundet, schon am frühen Morgen, winters wie sommers, um für Dozer Bälle zu werfen, unseren Australischen Schäferhund. Jetzt ist er im Hinterhof begraben, unter der Kreppmyrte, nah beim Hühnerstall.

Der Junge springt mit seinem Ball aus dem Auto, schießt ihn fort und trabt hinterher. Junge? Schau ihn dir an. Seit er ein kleiner, pummeliger Achtjähriger war, spielt er in unserem Vorstadtverein; seiner sportlichen Laufbahn habe ich nie viel Aufmerksamkeit geschenkt. Aber dieses Jahr ist er in der U16. Was für Schultern! Er muss fast eins achtzig groß sein. Das jüngste meiner drei Enkelkinder. Auch das letzte, denn es wird keine weiteren geben.

Beim Frühstück hab ich ihn gefragt, ob ich ab jetzt mit zum Training kommen kann.

„Was? Warum?“

„Keine Ahnung. Ich hab nix zu tun. Bin ausgebrannt. Weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll. Brauch was, worüber ich schreiben kann.“

„Da fragst du besser den Trainer.“

„Wer ist der Trainer?“

„Wir haben einen neuen. Er heißt Archie.“

„Wie? Der Archie, den wir kennen? Der ist doch noch ein Kind! Wie alt ist er?“

„Ungefähr zwanzig“, sagt Ambys Mutter, die für Dinge von Bedeutung ein Gedächtnis hat.

Kann man Trainer sein, wenn man nur fünf Jahre älter ist als die Spieler?

Unter einem Sonnenschirm vor dem Café, groß und mager, weißes T-Shirt und Basecap: Ist er das? Ich trete von hinten an ihn heran, er dreht sich um. Blasse Haut, strahlend blaue Augen mit schwarzen Wimpern. Ein Grinsen, das sein Gesicht spaltet. Er kommt mir clever vor, witzig, aufgeschlossen, bereit, sich mit etwas auseinanderzusetzen.

„Australian Football“, sagt er, „ist ein grotesk unnatürlicher Sport. Rückwärts laufen! Sehr lustig!“ Er ist an der Uni. Er versteht gleich, worauf ich hinaus will.

„Muss ich beim Verein anfragen?“

„Ach was. Komm einfach vorbei.“

„Was ist mit den Spielern?“

„Helen! Die sind fünfzehn. Das sind Jungs. Es wird ihnen komplett egal sein. Fünf Minuten später werden sie vergessen haben, dass du überhaupt da warst. Es sind fünfzehnjährige Jungs, die versuchen, Männer zu sein.“

Er wirft den Kopf zurück und lacht.

Mein ganzes Leben lang habe ich gegen Männer rebelliert, unter deren Regime ich leben sollte, von ihrer Macht frustriert und kleingehalten. Dann, im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts, wurde ich Großmutter eines Mädchens und zweier Jungen, wurde zu einer zupackenden Granny, der es durch ein unvorstellbares Wunder möglich war, das Haus nebenan zu kaufen, den Zaun niederzureißen und Teil eines Familienlebens zu werden.

Das Mädchen und ich verstanden uns auf den ersten Blick. Aber weil ich nie einen Sohn großgezogen hatte, begann ich erst jetzt, Jungen und Männer aus einer neuen Perspektive zu betrachten, ihre Zartheit, ihre Zerbrechlichkeit, das, was sie sich antun müssen, um in dieser Welt zu leben, die Verhaltensregeln, die sie entwickeln müssen, um ihre Neigung zur Gewalt unter Kontrolle zu bringen.

Dann kam die Pandemie.

In Melbourne gab es mehr Lockdowns als in jeder anderen Stadt des Landes. Damals begann mich der Footy in seinen Bann zu ziehen. Dank ihm war ich glücklich, noch am Leben zu sein. In harten Zeiten gewinnt Fußball an Bedeutung. Ich erkannte, dass er eine Art von poetischer Sprache ist, ein uralter gemeinsamer Code zwischen Fremden, eine Galerie gemeinsamer Hoffnungen, Regeln und Tableaus. Geheimnisvolle Riten werden in regelmäßigen ­Abständen vor den Bürgern zelebriert. Footy belebt uns. Hält uns aufrecht. In Zeiten der Angst und der Unwissenheit bewahrt er uns vor dem Abgrund. Und ich begann zu ahnen, was an Männern großartig und edel sein kann, bewundernswert und anmutig.

Aber ich bin lieber still. Ich möchte nicht, dass die Leute denken, ich würde etwas romantisieren. Vielleicht wird man mir Vorhaltungen machen, weil ich nicht über Frauenfußball schreibe. Zugegeben, es geht hier vor allem um mich und meinen Enkel. Ich bin jetzt in dem Alter, in dem meine Mutter dement gestorben ist. Alles lässt nach, mein Gehör, mein Augenlicht, auch mein Gedächtnis. Ich brauche einen Grund, um während der letzten Jahre seiner Kindheit in der Nähe meines Enkels zu sein, möchte ihn, bevor es zu spät ist, besser kennenlernen, will erfahren, was in seinem Kopf vorgeht, was ihn antreibt, möchte sehen, wie er zurechtkommt, draußen in der Welt, getrennt von seiner Familie, zu der ich gehöre. Ich muss einen Weg finden, mich quasi unsichtbar zu machen, um als stiller Zeuge dabei zu sein.


FEBRUAR

Um fünf Uhr an einem Spätsommernachmittag fahre ich ihn zum ersten Pre-Season-Training des Jahres. Seine Oberschenkel sind so lang, dass seine Knie fast gegen das Handschuhfach drücken.

„Wirst du vor dem Training nervös?“

„Nein.“

„Und vor einem Spiel?“

„Ja. Vor einem Spiel bin ich tagelang nervös und am Morgen des Spiels, wenn ich aufwache. Aber sobald man auf dem Platz steht, ist alles vergessen. Weg. Gorn.“

In keinem anderen Zusammenhang spricht er gone so aus. Hat das was mit Fußball zu tun?

„Welche Position spielst du?“

„Meistens Mittelfeld.“

„Ich weiß nicht mal, was das bedeutet.“

„Es bedeutet, dass ich sehr oft am Ball bin. Viel zu tun bekomme. Außer, ich tagge jemanden.“

Was ist taggen? Ich möchte nicht zugeben, dass mir, obwohl ich die Western Bulldogs schon vor seiner Geburt mit Leidenschaft verfolgt habe, die Regeln noch immer kaum verständlich sind.

Staubtrockene Luft. Lastende Stille. Nach und nach versammeln sich die Jungs auf dem Oval. Ich lasse ihn zuerst aussteigen. Kein Junge kommt gerne mit seiner Oma zum Training. Er trabt los, wirft sich die Tasche über die Schulter.

Wo soll ich mich platzieren, mit meinem nagelneuen Notizbuch, versteckt in der Gesäßtasche meiner Latzhose? Es gibt keine Sitzgelegenheiten. Doch, da drüben, in der Nähe der Torpfosten und des Wasserspenders am westlichen Ende, steht eine große, altmodische Parkbank aus dicken Holzlatten. Wenn man normal darauf sitzt, schneidet einem leider das metallene Begrenzungsgeländer direkt durch die Sichtlinie. Also hieve ich mich auf die hohe, gebogene Rückenlehne der Bank und sehe mich um.

Westkurve, Spielfeldrand. Die Luft ist erfüllt von einem leisen metallischen Geräusch. Zwanzig Meter hinter mir rollen Skateboarder ihre steilen Betonkurven rauf und runter. Am südlichen Rand des Parks rattern Vorortzüge hin und her. Auf der anderen Seite der Hochbahntrasse liegt eine riesige Tunnelgrabungs- und Baustelle. Schwerfällig rollen riesige Erdbewegungsmaschinen. Männer mit Helmen und Warnwesten marschieren umher. Jenseits der Baustelle erheben sich die klotzigen Stapel vielfarbiger Container und der eine oder andere Kran. Vom Fluss her heult eine Krankenwagensirene. Was zum Teufel tue ich hier?

Archie, der Trainer, schlendert an mir vorbei und schenkt mir ein kurzes Lächeln. Ich bin überrascht, mich selbst „Hey, Boss“ sagen zu hören. Er beginnt, in der Nähe der Torpfosten eine Reihe von weißen Plastikkegeln aufzustellen. Ein Mann mit zwei angeleinten Hunden duckt sich unter dem Begrenzungszaun hindurch und stürmt direkt durch das sorgfältig angelegte Kegelfeld.

Die Jungs versammeln sich um den Trainer, und ein paar fallen mir auf: der mit den sehnigen Beinen eines Langstreckenläufers und einer Wolke aus lockigem, hellem Haar, so wie Cody Weightman von den Western Bulldogs, in unserem Haus eine Ikone; ein anderer blonder, schüchtern aussehender, dünner Junge, ein Kopf kleiner als die anderen, aber drahtig; ein asiatischer Junge, ruhig und aufmerksam, mit einem auffallend erwachsenen Gesicht und einem glatten schwarzen Pferdeschwanz.

Sie sind gerade damit beschäftigt, frisch eingetroffene gelbe Fußbälle auszuprobieren. Ich werde nie verstehen, wie sie das physikalisch hinbekommen: so zu rennen und zu prellen, den labilen eiförmigen Ball dazu zu bringen, ihnen zu gehorchen, ohne dass sie je stolpern oder den Lauf unterbrechen müssen.

Ein Spätankömmling im Bloods-T-Shirt lässt sich ins Gras fallen, liegt auf dem Rücken und macht ein Selfie; die tief stehende Sonne lässt einen fetten Pseudodiamanten in seinem Ohrläppchen blinken. Seine Teamkollegen ignorieren ihn, bilden zwei Kreise und beginnen eine hektische Handballübung, wobei sie sich gegenseitig bei ihren Namen rufen, in Tripletten und mit nasaler, brüchiger Stimme: „TommyTommyTommy. NedNedNed. XavierXavierXavier.“

Das dumpfe Dröhnen von der Baustelle verstummt. Eine leichte, warme Brise weht von Norden her. Eine Elster keckert. Eine Inderin in Sportkleidung geht an mir vorbei und murmelt ununterbrochen in ihr Handy. Ich könnte in eine sommerabendliche Trance abgleiten. Doch der Trainer ruft: „Jungs! Heute Vollkontakt! Wir spielen hart!“ Ich richte mich auf.

Einem Jungen misslingt ein Kick. Rohrkrepierer. „Hoffnungslos“, stöhnt er und beugt sich schamerfüllt vor.

„Macht’n Dollar“, kommentiert der Trainer.

Jetzt schnelles Spiel. Mich erreicht der Geruch von zertrampeltem Gras, ich bin hellwach. Ein Junge bekommt einen sauberen Fang hin, einen mark, und ich höre mich selbst zischen: „Jaaaa!“ Jemand spuckt aus. Die erste Mücke des Abends sticht mich in den Arm. Der Trainer mischt sich ins Spiel, wirbelt herum wie ein Tänzer, spielt den Ball mit der Hand hinter seinem Rücken. Mehr Körpergröße, mehr Können. Seine Kappe fliegt ihm halb vom Kopf; er schnappt sie sich und wirft sie mit der linken Hand über seine Schulter, während er mit der rechten wie nebenbei den Ball auffängt. Ein sprintender Junge bemerkt die Kappe auf dem Rasen, hält inne, sieht respektvoll nach unten: die Basecap des Trainers. Soll er sie aufheben? Nein. Er strafft sich, rennt weiter. Zwischen den Spielzügen wird der Ball von dem Spieler, der ihn gerade hält, von einer Hand in die andere geworfen und gedreht, bleibt immer in Bewegung.

Kreuz und quer fliegen gekickte Bälle durch die Gegend. Amby ist weit rechts von mir unterwegs, nahe der Südkurve. Ich sehe, wie er einen Mark schafft und sich nach zwei Arbeitern in Warnkleidung umdreht, die sich über den Zaun beugen und ihm etwas zurufen. Er wendet sich lachend von ihnen ab und tritt mit voller Kraft gegen den Ball.

Es ist heiß. Das Training dauert nur eine Stunde. Als wir vom Park wegfahren, mache ich eine verbotene Kehrtwende – und sehe ein Auto, das mir mit hoher Geschwindigkeit entgegenkommt. Muss auf den Standstreifen ausweichen, um einen Zusammenstoß zu vermeiden.

„Mist“, sage ich. „Wie blöd von mir.“

„Das war Archie im anderen Auto.“

„Oh nein. Hat er gesehen, dass ich es war?“

„Klar. Er hat mich angestarrt und gelacht.“

Noch vom Standstreifen aus sende ich Archie ein Scham-Emoji: „Normalerweise fahre ich nicht so.“

„Haha“, antwortet er. „Kein Ding, hab nichts gesehn.“

Zu Hause koche ich fürs Abendessen Thunfischreis, als Ambys älterer Bruder hereinschneit. Er kommt von seiner Schnupperwoche an der Universität, sieht cool aus in seinem schwarzen Unterhemd. Er sagt, er habe ein paar Leute kennengelernt, sie wollten in einen Club, aber die Wartezeit hätte vier Stunden betragen, da habe er beschlossen, heimzugehen.

„Ich bin erschöpft“, sagt er. „Nicht nur müde. Erschöpft.“

Er und Amby tauschen Erfahrungen aus über den feinen Unterschied dieser Zustände.

Am nächsten Morgen beim Frühstück klagt Amby gewaltig über Muskelschmerzen.

„Wusstest du, dass ich dich beobachtet habe?“

„Ja.“

„Wie, die ganze Zeit?“

„Ja.“

„Oh verdammt. Ich hatte gehofft, das würde nicht passieren.“

„Ich war nicht abgelenkt. Es hat mich zu coolen Dingen inspiriert, damit ich ins Buch komme.“

Das Hintergrundbild auf meinem Handy ist ein Pressefoto des Kapitäns der Western Bulldogs, Marcus Bontempelli, in einem Augenblick der Niederlage, als er Josh Bruce vom Boden aufhilft. Dessen bereits operiertes Knie hat endgültig nachgegeben. Bonts Arm umklammert den Teamkameraden, seine Wange drückt gegen die Schulter des stolpernden Mannes. Ihre beider riesige gespreizte Hände. Bruce’ zerzauster Dutt, aus dem Strähnen wehen. Sein Gesicht, voller Schmerz und Verzweiflung.

Einmal wurde ich von meinen drei Enkelkindern dafür gerügt, dass ich auf meinem Handy ein Foto von drei U10-Spielern hatte, die bei der Schlusssirene das Spielfeld verließen: Zwei von ihnen überragten den in der Mitte, einen sehr kleinen Jungen, dessen Mut ich sehr bewunderte. Meine Enkel schrien mich an: Es sei „verstörend“, sagten sie, dass ich dieses Foto eines Kindes mit mir rumtrage. WAS? Ich war wütend, argumentierte mit aller Kraft, aber sie trieben mich in die Enge, und ihre Eltern unterstützten sie: „Wie würdest du dich fühlen, Hel, wenn ein Fremder ein Foto von dir auf seinem Handy hätte?“ Im Herzen habe ich mich nie gebeugt, aber um den Frieden zu wahren, hab ich so getan. Jetzt zeige ich Amby das Foto von Bont und Bruce, diese homerische Szene brüderlicher Zärtlichkeit und Fürsorge, und sage in spöttischem Ton: „Ist es für dich ›verstörend‹, dass ich dieses Foto in meinem Handy habe?“

Er schaut es sich an und erkennt es. „Nein“, sagt er und beißt nicht an. „Ich liebe dieses Foto.“

„Ist Collingwood das einzige AFL-Team, das unter einem Fluch steht?“, fragt meine Freundin, eine ästhetisch anspruchsvolle Frau in meinem Alter. Sie interessiert sich nicht die Bohne für Footy, aber sie kennt die alten Mythen und deren Sinn. „Der Fluch der Arbeiterklasse? Brutale Kämpfer in vorderster Reihe. Die Bulldogs sind eben die Jungs aus Sparta: klein, schlanker, beherrschter – sie sind die zweite Reihe. Aber die Jungs aus Melbourne … vielleicht sind sie aufgrund ihrer pompösen Tradition verflucht?“

Von so was kann ich nicht genug kriegen.

„Footy ist ein Spiegel des Krieges“, sagt sie, „ein Spiegel, in den wir gefahrlos hineingucken können. Und der Grund, warum die Leute so verrückt nach diesem speziellen Spiegel sind, ist, dass man dem Krieg so nah sein kann, zugleich mitten im Leben und mitten im Tod. Da spielt sich eine Art kritischer menschlicher Zustand ab, auf unbewusster Ebene. Jetzt bin ich am Leben – und könnte in einer Stunde sterben.“

Ich schicke ihr ein Foto von Ed Richards von den Western Bulldogs und frage sie, wie man die Farbe seiner prächtigen roten Haare korrekt bezeichnet.

„Ich würde es Tizianrot nennen“, antwortet sie. „Einmal habe ich einen dreizehnjährigen Jungen auf der Straße in Gisborne angehalten, der diese Haarfarbe hatte. Er nannte sie ›Kastanie, nicht Mahagoni‹.“

Ed Richards, meint sie, sieht „lieb, bescheiden, edel“ aus. „In welcher Formation wäre er am besten aufgehoben?“

Ich gehe auf die Website der Bulldogs und schaue mir die Highlights von Ed Richards an, die zu einem Film zusammengeschnitten wurden. Sein dunkel glühendes Haar vor dem hellen Grün des Rasens. Seine Schnelligkeit und Anmut. Wie zum Teufel schafft man es, so lange zu rennen?

Zweites Pre-Season-Training, ein Montag. Die Jungs scheinen heute weiter weg, kleiner. Wind aus Südwest, anders als beim letzten Mal, unablässig und kühl. Ich habe eine Jacke an und bin dankbar dafür. Ich weiß grad nicht, worum es geht. Viel Handspiel. Die Züge übertönen die Stimme des Trainers, der Wind rauscht in meinen Hörgeräten. Angus, der große, schlanke Junge im Bloods-T-Shirt, hat seit dem letzten Mal einen Bürstenschnitt. Wo ist sein auffälliger Ohrklunker? Mit den kurzen Haaren sieht er jünger und blasser aus. Elstern picken auf dem Rasen. Stare zanken sich am Zaun. Meine Zähne würden vor Kälte klappern, wenn ich sie nicht zusammenbeißen würde. Ich bin konsterniert: Ist das gerade langweilig? Langweile ich mich? Ich langweile mich sehr selten. Bin nicht der Typ dafür. Mir fällt auf, dass dies ja die Essenz dieser Betrachtung ist: ständige Veränderungen von Stimmung und Zustand.

Amby ist auf der Heimfahrt missmutig. Er torkelt in die Küche, verschwitzt und wütend auf sich selbst, weil er auf dem Spielfeld keine gute Figur abgegeben hat. Er schaut sich ungestüm um und sagt: „Ich weiß, was ich will. Ich will SUPPE!“ Und natürlich habe ich keine parat. Beim nächsten Mal dann.

Eines Nachmittags nach der Schule stoße ich auf Amby, der auf dem Rücken auf der Terrasse liegt. „Denkst du an Liebeslieder?“

„Nein. Ich hab gerade einen traurigen Film gesehen. Na ja, er war nicht traurig, aber er hat mich an traurige Dinge denken lassen.“

„An was zum Beispiel?“

„Ich habe darüber nachgedacht, wie Menschen in Erinnerung bleiben wollen.“

Nur eine Stunde zuvor lag ich auf meinem Bett und las Madeline Millers Das Lied des Achill. Mir kamen die Tränen, weil die Meeresnymphe Thetis, Achilles’ kalte, zornige Mutter, verboten hatte, dass man auf den Grabstein ihres Sohnes den Namen von Patroklos, seinem gedemütigten und verbannten Geliebten, schrieb.

Ich erzähle Amby die Geschichte. Am Ende muss ich mir die Hand vors Gesicht halten und ins Haus laufen, obwohl Amby nicht der Typ Junge ist, der es bescheuert findet, bei einer Geschichte zu weinen: Erst vor ein paar Jahren hat er bei Red Dog geflennt, als der Kelpie des toten Mannes unermüdlich die Wüstenstraßen entlang trottete auf der Suche nach seinem Herrchen. Thetis gibt schließlich nach. „Zwei Schatten, die durch die hoffnungslos schwere Dämmerung greifen … Ihre Hände treffen sich und Licht ergießt sich in einer Flut, wie hundert goldene Urnen, aus denen Sonne strömt.“ Ich glaube, Amby würde es verstehen.

Helen Garner

Über Helen Garner

Biografie

Helen Garner wurde 1942 in Geelong, Victoria, geboren und ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen Australiens. Ihr erster großer literarischer Erfolg war 1977 der Roman „Monkey Grip“, der 1986 nach ihrem Drehbuch von Ken Cameron verfilmt und von Jane Campion fürs Fersehen adaptiert wurde. ...

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