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Romane, in denen Bücher die Hauptrolle spielen

Bücher über Bücher

Bücher über Bücher - in diesen Romanen spielen Bücher, Buchhandlungen und Schriftsteller die Hauptrolle. Es sind Buchgeschichten, die in die magische Welt der Literatur entführen.

Blick ins Buch
Ein Garten voller BücherEin Garten voller Bücher

Mein toskanisches Märchen

"Das Cottage hat zwölf Quadratmeter und ein Fenster, das auf den Prato Fiorito hinausgeht. Auf der Fensterbank, auf einem kleinen schmiedeeisernen Pult, liegen immer abwechselnd drei Bücher: Der Garten der Virginia Woolf, Emily Dickinsons Herbarium und Alice im Wunderland, die Ausgabe mit den Illustrationen von John Tenniel. Es ist ein Damenfenster, und wer hereinkommt, fotografiert es."

Januar

20. Januar

Jedes kleine Mädchen ist auf seine Weise unglücklich, und ich war es sehr. Vielleicht lag es an der Heirat meines Bruders, die mich im Alter von sechs Jahren völlig aus der Bahn warf, oder an meiner ziemlich archaischen Mutter, vielleicht auch ein bisschen an provinziellem Mobbing von der Sorte „Heute darfst du mitspielen, morgen nicht“.

Seit ich die Buchhandlung eröffnet habe, hat es kein Interview gegeben ohne die Frage: „Wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine Buchhandlung in einem gottverlassenen Nest mit hundertachtzig Einwohnern aufzumachen?“

Heute habe ich viele Päckchen gepackt. Eine Frau aus Salerno begeht den Valentinstag so: Der einen Tochter schenkt sie eine Ausgabe der Gedichte Emily Dickinsons, den Emily-Dickinson-Kalender und „Emily“, ein Parfum auf der Basis von Osmanthus Absolue, der anderen Tochter ebenfalls einen Band von Emily Dickinson, den Emily-Kalender und ein handgemachtes Armband aus Rosenblüten und Gipskraut. Damit nicht genug, möchte die Signora für sich selbst das Herbarium der allzeit geliebten Emily sowie den Kalender.

Wie bin ich auf diesen Einfall gekommen? Die Dinge fallen einem nicht plötzlich ein, sie reifen, sie gären, beschäftigen uns im Schlaf. Die Dinge haben Beine und begeben sich auf eine parallele Wanderschaft in einem Bereich, von dem wir nicht mal annähernd wissen, wo er sich befindet, und irgendwann klopfen sie an: Hallo, hier sind wir, deine Ideen, hör uns zu. Die Idee mit der Buchhandlung schlummerte bei mir sicher schon in den Winkeln dieses ebenso düsteren wie fröhlichen Bereichs, den wir Kindheit nennen.

So wurde sie vielleicht vom Fall Lavorini angeregt, dem ersten Mord an einem Kind, an den ich mich erinnere, ein Junge, gefunden in den Dünen von Viareggio. Nachmittags hörte ich oft eine Hörspielversion des Dramas bei meinem Großvater, der einen Kassettenrekorder besaß. Nicht, dass Nonno Tullio so fortschrittlich gewesen wäre, aber meine Tanten waren es, modern und ausschweifend (so hieß es im Dorf). Zwar war mir ihre Fortschrittlichkeit auch ein bisschen peinlich, aber ich himmelte sie an.

In der anderen Waagschale, was die Tanten betraf, gab es Zia Polda, die Schwester meiner Mutter, Bäuerin von Beruf, eine herzensgute Frau, die nie geheiratet hatte und stolz darauf war. Ich verbrachte Stunden damit, ihre Strickjacke auf- und wieder zuzuknöpfen, ein Vorwand, um auf ihrem Schoß sitzen bleiben und ihren Geschichten zuhören zu können. Dann war da noch Zia Feny, mit vollem Namen Fenysia, Haushälterin bei fremden Leuten, zierlich und stark, schüchtern und klug, die mir ihre von der Herrschaft geschenkten Bücher mitbrachte und mich in die Lektüre von Romanen einführte.

Ihr zu Ehren habe ich die Schreibschule benannt, die ich vor ein paar Jahren zusammen mit meinem Partner Pierpaolo gegründet habe – Fenysia. Bildung und Talent zu pflegen schien mir genauso notwendig zu sein, wie eine gute Minestrone nach ihrer Art kochen zu können.

Die Geschichten dagegen, die meine Mutter erzählte, hätten sogar einen Dinosaurier aus dem Pleistozän umgehauen. Eine ihrer Lieblingsstorys handelte von einem Mädchen, das unter einem Baum einschlief, während seine Mutter auf dem Feld arbeitete. Da kam eine große Schlange und kroch der Kleinen in den Hals … An dieser Stelle verzeichnet mein Gedächtnis einen gesunden Blackout, der wohl retten sollte, was zu retten war und was lange Zeit später Doktor Lucia während einer zehnjährigen Psychoanalyse bearbeiten sollte.

Das Dorf war klein, und ich liebte es. Ich malte den Berg vor unserem Haus im Frühling, Sommer, Herbst und Winter, als wäre es der Kilimandscharo. Das Anderswo, würde ein Philosoph sagen, ist dort, wo du noch nie gewesen bist. Und ich bin bis heute nicht auf dem Berg gegenüber gewesen. Ich liebte den Reif auf den Feldern, er schien mir aus Kristall zu sein wie das Schloss von Dornröschen. Außerdem liebte ich die Ameisen, wie mühselig sie ihr Leben fristeten. Tja, wenn man in einem Haus ohne Heizung und ohne Bad wohnt und einem die Augen, die Hände und sogar die Ohren vor Kälte kribbeln, ist es irgendwann normal, dass man auf seltsame Gedanken kommt.

In diesem einleitenden Familienbild fehlt der Vater. Er fehlte mir tatsächlich sehr, und wenn er sich an mein Bett setzte, das sich oft wie mein Krankenlager anfühlte, hörten meine Augen, meine Hände und die Ohren auf zu kribbeln, und die Welt wurde wieder anschaubar.

 

Dieses Tagebuch beginne ich zufällig am 20. Januar, dem Datum, an dem Büchners Lenz einsetzt und das Paul Celan, der am 22. Oktober 1960 mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wurde (neun Jahre, fünf Monate und neunundzwanzig Tage, bevor er sich vom Pont Mirabeau in die Seine stürzte), bei der Verleihung in den Mittelpunkt seiner Dankesrede stellte.

Denn Daten sind wichtig, und jeder von uns hat seinen 20. Januar, an dem Lenz alles zurücklässt und aufbricht. Am 20. Januar 1943 brach auch der erste Mann meiner Mutter auf. Er hatte zusammen mit den anderen überlebenden Alpenjägern den Befehl bekommen, die Stellungen am Don aufzugeben und sich zurückzuziehen. Der Epilog des Russlandkriegs, der allein in jenen Tagen 51 000 Soldaten das Leben kostete, Tote und Vermisste zusammengerechnet. Es waren 40 Grad unter null, und viele hatten noch nicht einmal mehr Schuhe. Meine Mutter war vierundzwanzig Jahre alt, ihr Mann achtundzwanzig, mein Bruder sechs Monate. Die Familie, die es nie richtig gegeben hatte, zerbrach in der Nähe von Woronesch, wo der Dichter Ossip Mandelstam in der Verbannung lebte, bevor er in ein sibirisches Lager gebracht wurde und dort starb.

 

Du lass mich frei, Woronesch, gib mich wieder –

Lässt du mich los oder verpasst mich lieber,

Du lässt mich fallen, nicht? Du Rabennest,

Woronesch – Netz, Woronesch – wahre Pest!

 

Meine Mutter wartete und wartete, aber es kam keine Nachricht von ihrem Mann, als hätte ihn die Steppe verschluckt. Stattdessen gab es eine Kriegshinterbliebenenrente für die Ehefrauen von Vermissten.

Mandelstam hatte mich in die Steppe mitgenommen, noch bevor ich wusste, dass es dieselbe Steppe war, wegen der meine Mutter geweint hatte. Die offiziellen Verlautbarungen über die Gefallenenlisten endeten am 23. Januar 1943, danach nichts mehr.

Derweil habe auch ich alles zurückgelassen, eine der schönsten Städte der Welt, eine beneidenswerte Arbeit, eine tolle Wohnung nahe der Biblioteca Nazionale, und bin in mein Heimatdorf aufgebrochen, um nachzusehen, ob die Schlange verschwunden ist und ob das Mädchen unter dem Baum nicht zufällig die gerade eingeschlafene Alice im Wunderland ist.

Bestellungen heute: Der Widersacher von Emmanuel Carrère, Kleine Aussichten. Ein Roman von Mädchen und Frauen von Alice Munro, City Boy von Edmund White, Ein Start ins Leben von Anita Brookner, Zwischen den Akten von Virginia Woolf, Miss Island von Auður Ava Ólafsdóttir.

 

21. Januar

Die Idee mit der Buchhandlung hat, schon voll ausgereift, eines Nachts an meine Tür geklopft. Es war der 30. März 2019. Ich besaß ein abschüssiges Stück Land vor unserem Haus, auf dem meine Mutter Salat zog und ich an einem zwischen zwei altersschwachen Pfählen befestigten Draht die Wäsche aufhängte. Geld hatte ich wenig, ich musste mir etwas einfallen lassen.

Als Kind hatte ich einen riesigen Dachboden für mich allein. Das Haus spiegelte meine Familie wider, halb heimelig und halb im Chaos versunken. Wenn man hineinkam, war da die Küche und rechts davon ein großes Zimmer, das meine Mutter mithilfe eines grünen Vorhangs mit großen rosa Schleifen (zu der Seite hin, die, je nach Tagesform, mein Zimmer oder mein Krankenlager war) zweigeteilt hatte. Auf der linken Seite außerdem ein kleines Wohnzimmer, originalgetreu im Stil der Siebzigerjahre eingerichtet, mit Tisch, Stühlen und Kommode aus Spanplatten und dermaßen blitzsauber, dass es noch künstlicher wirkte, als es war. Es gab noch zwei Türen: Die eine führte in den Keller, einen Ort, der meine Analyse bei Doktor Lucia um mindestens zwei Jahre verlängert hat und wo vermutlich sämtliche seit grauer Vorzeit existierenden Horrormärchen geschrieben worden waren. Die andere ging auf den Dachboden.

Dabei gab es eine Besonderheit. Der erste Treppenabschnitt bestand aus unverputzten Lochziegeln, eine Arbeit, die mein Vater kurz nach unserem Einzug in das Haus begonnen hatte, doch nach der Kehre war Schluss damit, und es ging über eine jahrhundertealte Holztreppe weiter nach oben. Die väterliche Liebe war abgebrochen. Jedes Mal, wenn ich dort hinaufstieg, betete ich, dass die Stufen halten und ich nicht in den Abgrund stürzen möge, in das Nichts, wo mich gewiss die ewige Schlange erwartete.

Diese zweigeteilte Treppe, Zeichen einer angefangenen und dann aufgegebenen Arbeit, war die Startrampe für meine Träume. Wenn ich um die Ecke gebogen war und diese verdammten fünf baufälligen Stufen hinter mir hatte, befand ich mich in Sicherheit. Ich hatte es geschafft. Ich war in meinem Reich. Dort oben unterrichtete ich eine imaginäre Schulklasse, jedes Kind mit einem Heft vor sich, und korrigierte als Lehrerin meine eigenen Hausaufgaben von vor ein, zwei Jahren. Oder ich las in meiner persönlichen Bibel, dem Wissenslexikon Conoscere aus dem Fabbri-Verlag, zwölf Bände plus vier Anhänge. Von dem ist sogar mein Modegeschmack bis heute geprägt. Es gab allein drei der römischen Fußbekleidung gewidmete Seiten, von denen ich regelrecht besessen war – ich kaufte mir zwei Paar Römersandalen mit bis zum Knie geschnürten Riemen, eines in Gold und eines in Schneeweiß. Ich war ungefähr zwölf, in Lolitas Alter. Ansonsten wurden in der Enzyklopädie sehr ernste Themen behandelt:

 

Die Carbonari-Bewegung

Der heilige Franziskus von Assisi

Vom Holz zum Papier

Rom erobert Tarent

Giuseppe Mazzini

Reformation und Gegenreformation

Die Rachenmandeln

Leonardos Genie

Dante

Die fünf Tage von Mailand

Textilpflanzen

Japan

 

Allein zu erfahren, dass die Frauen bei den Carbonari „Base Gärtnerin“ genannt wurden, bereitete mir ungeheures Vergnügen. Es war, als hätte ich eine Zeitmaschine, ich schlug eine Seite auf, drückte den Knopf, und weg war ich, anderswo, an meinem Lieblingsort. „Wir fragen sie nicht ab, sie macht uns Angst“, sagten die Lehrerinnen in der Grundschule zu meiner Mutter, die mittlerweile die Geschichte mit dem eingeschlafenen Mädchen und der Schlange durch Bannflüche aller Art ersetzt hatte. Denn mein Vater hatte sich davongemacht.

Jetzt packe ich die Päckchen für die Frau aus Salerno und ihre beiden Töchter fertig. Deshalb bin ich auf den Einfall gekommen, eine Buchhandlung in einem Dörfchen in der nördlichen Toskana aufzumachen, inmitten der Berge, zwischen dem Prato Fiorito und den Apuanischen Alpen: damit eine Mutter aus Salerno ihren beiden Töchtern zwei bunte Schachteln voll Emily Dickinson schenken kann.

Bestellungen heute: Petite von Edward Carey, Unsere Seelen bei Nacht von Kent Haruf, Im Hause Longbourn von Jo Baker, All Things Cease to Appear von Elizabeth Brundage, Die Mitford Sisters von Karlheinz Schädlich.

 

22. Januar

Einer der Vorteile meines neuen Lebens ist es, den Regen aufs Dach trommeln hören zu können. In der Stadt muss man aus dem Bett aufstehen und die Vorhänge aufziehen, um zu sehen, wie das Wetter ist. Hier dagegen sagt es einem der Körper. Das sanfte Geräusch des Regens, wie Diana Athill es in einer ihrer Kurzgeschichten nennt, gleicht in meinem Dorf einer Stimme, mal sanfter, mal kräftiger, die mir etwas zuflüstert. Heute Morgen jedoch hat das Festnetztelefon geklingelt, und eine andere, vollkommen ausdruckslose Stimme hat uns eine Unwetterwarnung mitgeteilt, mit Gefahr von Überflutungen und Erdrutschen. Das ist ein Problem für die Buchhandlung, denn bei schlechtem Wetter haben die Leute keine Lust, sich eine schmale Bergstraße hinaufzuwagen.

Lucignana liegt 500 Meter über dem Meeresspiegel, eine ideale Lage, weil es nie zu kalt oder zu heiß wird. Es wurde um das Jahr 1000 herum gegründet, ist ganz aus Naturstein gebaut und hatte einst eine Wehranlage mit einer Mauer und einer Burg, die wohl eher ein größeres Haus war. Nach dieser Burg heißt ein Teil des Dorfs heute noch Castello.

In Lucignana geht man entweder nach Castello oder auf die Penna, nach Scimone, nach Varicocchi, auf die Piazza, auf den Piazzolo oder nach Sarrocchino, Verschleifungen inklusive. Scimone war ursprünglich San Simone, Sarrocchino San Rocchino.

Heute wohnt Mike in Castello, ein supersympathischer Engländer, Soldat im Ruhestand, der Afghanistan und wer weiß was sonst noch durchgemacht haben muss. Er bringt mich zum Lachen, weil er sich einen Pool im Garten gebaut hat und im Sommer dort rumläuft, wie Gott ihn geschaffen hat, zum Entsetzen der Dorfbewohner. Wenn ich ihn besuche, knotet er sich, bevor er vor einem der schönsten Ausblicke der Welt einen Spritz nach Art des Hauses zubereitet – das heißt Aperol mit jeder Menge Schweppes –, hastig ein Handtuch um und läuft unter lauter „Sorrys“ ins Haus, um sich ein Paar Shorts überzuziehen.

Sein Haus hat wirklich den schönsten Blick von allen, direkt auf die Apuanischen Alpen mit ihren feuerroten Sonnenuntergängen, die den Eindruck vermitteln, dass die gerade hinter der Panie-Gruppe versunkene Sonne nun langsam in die Wasser der Versilia-Küste eintaucht.

An diesem Ort wollte ich vor einigen Jahren mal ein Haus für Schriftstellerinnen und Übersetzer aufmachen. Zusammen mit meiner Freundin Isabella, wie ich eine hart arbeitende Frau in der Verlagswelt, fantasierte ich monatelang davon, doch schlussendlich wurde nichts daraus. Das Haus, das einmal Leo und Evelina Menchelli und ihren Kindern Antonio und Roberta gehörte, ging in die Gemeinde der Engländer über. Ich mag die Engländer in der Toskana sehr, um das klarzustellen, denn sie kaufen, restaurieren behutsam und verbessern folglich dort, wo wir in der Vergangenheit nur verschlechtert haben. Mike hat im oberen Stockwerk jede Menge wunderbarer Bücher in englischer Sprache und mir ein paar von Dorothy Parker und Silvia Plath geschenkt.

Das Haus hat er bereits von anderen Engländern übernommen, er hatte es eigentlich für seine Frau gekauft, die jedoch kurz danach starb. Sie war es, die gesagt hatte: „We didn’t buy a house, but a view.“ Eines schönen Tages kam Mike in die Buchhandlung, setzte sich hinten im Garten in einen der himmelblauen Adirondack-Stühle und fing an, Jedermann von Philip Roth zu lesen. Er zog das Buch aus seinem Rucksack, zusammen mit einem Aperitifglas, in das er aus einer Thermosflasche seinen Aperol Spritz mit viel Schweppes goss. Eine Art Mary-Poppins-Rucksack mit allem, was man braucht.

Bestellungen heute: Die Früchte der Gelassenheit: Was ein Garten lehren kann von Pia Pera, Miss Austen von Gill Hornby, alle Holt-Romane von Kent Haruf und Diario delle solitudini von Fausta Garavini.

 

23. Januar

Die Vorhersage des Zivilschutzes hat sich bestätigt, es hat den ganzen Tag geregnet und gestürmt. Soll heißen, der Regen ist nicht senkrecht vom Himmel auf die Erde gefallen, sondern kübelweise gegen die Fenster geplatscht und häufig auch eingedrungen. Zuerst hatte ich Giovanni die Schuld gegeben, dem Schreiner, der die Fensterläden und -rahmen erneuert hat, aber wie es scheint, kann man gegen Starkregen mit Sturm nichts machen. Ich muss pausenlos an mein kleines Cottage voller Bücher denken. Ich weiß, dass sie unter Kälte und Feuchtigkeit leiden, sie frösteln, und manchmal wellen sich die Umschläge, ein deutliches Zeichen ihres Unwohlseins, ihrer Angst, verlassen zu werden. An sonnigen Tagen dagegen, wenn wir sogar die Tür offen lassen können, sehe ich sie lächeln und mir danken.

Mich um sie zu kümmern ist mein neuer Job. Ich habe rund fünfundzwanzig Jahre in der Buchbranche gearbeitet und mich um viele Autorinnen und Autoren gekümmert, aber das war etwas anderes, sie wurden mir vom Verlag anvertraut, ich suchte sie mir nicht selbst aus. Ich las sozusagen im Auftrag. Tatsächlich hatte ich eine gewisse Karriere gemacht, gekrönt von dem Angebot, die Presseabteilung eines großen Verlagshauses in Mailand zu leiten. Doch das Angebot kam zu spät. Meine Tochter Laura war noch klein, und mir graute davor, in Mailand zu leben. Ich lehnte ab. Der helle Wahnsinn. Dann wurde das Angebot dahingehend geändert, dass ich außerhalb des Verlagshauses arbeiten konnte, und das gefiel mir. Stempeluhren und feste Arbeitszeiten waren nichts für mich, die Anarchistin in mir wollte unregelmäßig leben. Von da an betreute ich die verschiedensten Schriftsteller und fühlte mich vom Glück verwöhnt, unter anderen lernte ich Daša Drndić, Edward Carey und Michael Cunningham kennen.

Michael ist ein unheimlich gut aussehender Mann. Einmal übernachtete er während des Literaturfestivals von Mantua in einem fürstlichen Zimmer direkt an der Piazza delle Erbe. Ich sollte mich mit ihm an einem Morgen für ein längeres Fernsehinterview treffen, doch er erschien nicht. Mithilfe der Putzfrauen gelang es mir, in den Palazzo hineinzukommen. Wir versammelten uns vor seinem Zimmer, doch es war nichts zu hören, vollkommene Stille dort drin. Nach einigem Beratschlagen klingelten wir. Wir warteten, klingelten noch mal, es regte sich noch immer nichts. Selbst ich, die ich immer positiv denke, befürchtete langsam das Schlimmste. Nach weiteren Beratungen beschlossen wir hineinzugehen. Was ich sah, werde ich nie vergessen. Durch das halb offene Fenster fiel ein Sonnenstrahl herein, der Michaels Körper streichelte. Er schlief selig und nackt unter einem weißen Laken in einem, gelinde gesagt, prunkvollen Bett. Ich musste an Giovan Battista Marino denken, an seine Venus, die zum ersten Mal den schlafenden Adonis sieht und sich in ihn verliebt.

 

Rosa, riso d’amor, del ciel fattura

Rose, Liebeslächeln, Geschöpf des Himmels

 

Einmal, es muss im Juni 2014 gewesen sein, war Cunningham im Valdarno bei Baronessa Beatrice zu Gast, der Witwe des österreichischen Schriftstellers Gregor von Rezzori. Wir feierten die aktuelle Vergabe des nach von Rezzori benannten Literaturpreises in ihrem schönen Garten mit den weißen Rosenbäumen. Auch meine Tochter Laura und ihre Freundin Matilde waren dabei.

„Komm mit, ich zeig dir den schönsten Schriftsteller der Welt“, sagte Laura.

„Okay, aber macht euch keine Illusionen, ich sag euch gleich, dass er schwul ist!“, rief ich ihnen nach.

Wenn zwei dreizehnjährige Mädchen unbedingt dem schönsten Schriftsteller der Welt begegnen wollen, obwohl der ungefähr vierzig Jahre älter ist als sie, gehört das meiner Meinung nach zu den gelungensten Wundern der Literatur.

In der Buchhandlung habe ich immer eine Ausgabe von Die Stunden, Ein Zuhause am Ende der Welt, Helle Tage und Fleisch und Blut vorrätig. Und in diesem Moment, bei diesem Regen, hoffe ich, dass auch diese Bücher wie Adonis und wie Michael in Mantua selig schlafen, in Erwartung der Sonne, des Frühlings und der Rosen.

Heute wurden bestellt: Tagebuch eines Buchhändlers von Shaun Bythell und Die Weisheit meines Gartens: Wie die Natur mich lehrte, worauf es am Ende ankommt im Leben von Pia Pera.

Blick ins Buch
Der betrunkene BergDer betrunkene Berg

Roman

Eine kluge Buchhändlerin und ihr rätselhafter Gast
Ohne sie wäre er gestorben, dünn bekleidet, im Eis der Alpen. Das war wohl auch sein Plan, aber Katharina rettet ihn, bietet ihm Unterschlupf. Auf 1765 Metern Höhe betreibt sie eine Buchhandlung, die nun, im November, geschlossen bleibt. Sie behält den Fremden ohne Namen und Gedächtnis bei sich, vorübergehend. Die beiden lesen zusammen, er kocht für sie, und Stück für Stück beginnt er sich zu erinnern. 

Heinrich Steinfest ergründet die Wege, die uns Zufall und Schicksal einschlagen lassen. Und stellt die Frage, was mit uns geschieht, wenn eine böse Tat das Leben in eine andere Richtung lenkt.

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Blick ins Buch
Der BuchspaziererDer Buchspazierer

Roman

„Das geschriebene Wort wird immer bleiben, weil es Dinge gibt, die auf keine Art besser ausgedrückt werden können.“
Mit „Der Buchspazierer“ präsentiert der renommierte Autor Carsten Henn eine gefühlvolle Geschichte darüber, was Menschen verbindet und Bücher so wunderbar macht.   

Es sind besondere Kunden, denen der Buchhändler Carl Christian Kollhoff ihre bestellten Bücher nach Hause bringt, abends nach Geschäftsschluss, auf seinem Spaziergang durch die pittoresken Gassen der Stadt. Denn diese Menschen sind für ihn fast wie Freunde, und er ist ihre wichtigste Verbindung zur Welt. Als Kollhoff überraschend seine Anstellung verliert, bedarf es der Macht der Bücher und eines neunjährigen Mädchens, damit sie alle, auch Kollhoff selbst, den Mut finden, aufeinander zuzugehen …  

„Ein Buch zum Einkuscheln, ein Buch das wärmt und Zuversicht spendet. Genau das Richtige für alle, die wissen, wie wichtig ein gutes Buch sein kann.“ BRIGITTE 

Kapitel 1

Sein eigener Herr

Es heißt, Bücher finden ihre Leser – aber manchmal brauchen sie jemanden, der ihnen den Weg weist. So war es auch an diesem Spätsommertag in der Buchhandlung, die sich Am Stadttor nannte, obwohl das Stadttor oder besser dessen Überreste, die die meisten Bürger für ein gewagtes Kunstwerk hielten, gute drei Kreuzungen entfernt lag.

Die Buchhandlung war sehr alt und über mehrere Epochen errichtet und erweitert worden. Mauerwerk mit Schnörkeln und Gipsstuck fand sich neben schmucklosen rechten Winkeln. Ein Nebeneinander von Alt und Neu, von verspielt und nüchtern bestimmte das Äußere des Gebäudes, fand sich aber auch im Inneren wieder. Rote Plastikständer mit DVDs und CDs standen neben mattierten Metallregalen mit Mangas, diese wiederum neben polierten Glasvitrinen, in denen Globen standen, oder eleganten Holzregalen mit Büchern. Angeboten wurden auch Gesellschaftsspiele, Papeterie, Tee und neuerdings sogar Schokolade. Den verwinkelten Raum beherrschte ein schwerer, dunkler Tresen, den die Mitarbeiter nur den Altar nannten. Er sah aus, als stammte er aus der Barockzeit. Mit Schnitzereien an der Front, die eine ländliche Szene darstellten, bei der eine Jagdgesellschaft auf prachtvollen Rössern, begleitet von einer Meute drahtiger Hunde, hinter einer Rotte Wildschweine herpreschte.

In dieser Buchhandlung wurde nun die Frage gestellt, für die Buchhandlungen existierten: „Können Sie mir ein gutes Buch empfehlen?“ Die Fragestellerin, Ursel Schäfer, wusste genau, was ein gutes Buch ausmachte. Erstens unterhielt sie ein gutes Buch so sehr, dass sie im Bett so lange las, bis ihr die Augen zufielen. Zweitens ließ es sie an mindestens drei, besser vier Stellen weinen. Drittens hatte es nicht weniger als dreihundert Seiten, aber niemals mehr als dreihundertachtzig, und viertens war der Umschlag nicht grün. Büchern mit grünen Umschlägen war nicht zu trauen. Eine bittere Erfahrung, die sie mehrmals hatte machen müssen.

„Sehr gern“, antwortete Sabine Gruber, die seit drei Jahren die Buchhandlung am Stadttor leitete. „Was lesen Sie denn gern?“

Ursel Schäfer wollte das nicht sagen, sie wollte, dass Sabine Gruber es wusste, weil sie eine Buchhändlerin war und dadurch von Natur aus mit einer gewissen Portion an hellseherischen Fähigkeiten ausgestattet sein musste.

„Nennen Sie mir drei Begriffe, dann suche ich das Passende für Sie heraus. Liebe? Südengland? Ein richtiger Schmöker? Ja?“

„Ist Herr Kollhoff vielleicht da?“, fragte Ursel Schäfer, ihre Stimme leicht unruhig. „Er weiß immer, was mir gefällt. Er weiß immer, was allen gefällt.“

„Nein, er ist heute leider nicht da. Herr Kollhoff arbeitet nur noch ab und an für uns.“

„Wie schade.“

„So, da hätte ich etwas für Sie. Ein Familienroman, der in Cornwall spielt. Sehen Sie hier, auf dem Cover sind das bezaubernde Anwesen der Familie zu sehen und der große umliegende Park.“

„Es ist grün“, sagte Ursel Schäfer und blickte Sabine Gruber vorwurfsvoll an. „Sattgrün!“

„Weil das Buch größtenteils in dem wundervollen Park des Earl of Durnborough spielt. Die Bewertungen sind alle sehr gut!“

Die schwergängige Eingangstür öffnete sich, und das kleine kupferne Glöckchen darüber klingelte hell. Carl Kollhoff klappte seinen Regenschirm zusammen, schüttelte ihn routiniert aus und stellte ihn in den Ständer. Sein Blick glitt durch die Buchhandlung, die er seine Heimat nannte. Er hielt Ausschau nach frisch eingetroffenen Büchern, die zu seinen Kunden wollten. Er kam sich dabei vor wie ein Muschelsammler am Strand. Und er sah auf den ersten Blick etliche Funde, die nur darauf warteten, aufgehoben und vom körnigen Sand befreit zu werden. Aber als er Ursel Schäfer erblickte, waren sie mit einem Mal ganz unwichtig. Sie warf ihm ein warmherziges Lächeln zu, als wäre er ein Amalgam aus all den reizenden Männern, in die sie sich beim Lesen der Bücher verliebt hatte, die Carl ihr über die Jahre empfohlen hatte. Dabei glich Carl keinem von ihnen. Früher hatte Carl mal einen kleinen Bauch gehabt, aber der war mit den Jahren genauso geschwunden wie die Haare auf seinem Kopf, so, als hätten sie vereinbart, ihn gemeinsam zu verlassen. Heute, mit zweiundsiebzig Jahren, war er mager, trug aber immer noch seine viel zu große alte Kleidung. Sein ehemaliger Chef sagte, er sehe mittlerweile aus, als würde er sich nur noch von den Wörtern in seinen Büchern ernähren, und die hätten wenige Kohlenhydrate. Aber viel Substanz, erwiderte Carl daraufhin stets.

An den Füßen trug Carl immer klobige, schwere Schuhe. Mit so dickem schwarzem Leder und so festen Sohlen, dass sie für ein ganzes Menschenleben reichten. Und gute Socken, die waren wichtig. Darüber eine olivgrüne Latzhose und in derselben Farbe eine Jacke mit Kragen.

Immer trug er einen Schlapphut, eine Fischermütze mit schmaler Krempe, sodass die Augen vor Regen und grellen Sonnenstrahlen geschützt wurden. Auch in Innenräumen zog er ihn nicht ab, nur zum Schlafen. Ohne fühlte er sich nicht komplett bekleidet. Ebenso wenig sah man ihn ohne seine Brille, deren Gestell er vor Jahrzehnten in einem Antiquitätenladen gekauft hatte. Dahinter lagen Carls kluge Augen, die immer aussahen, als hätte er zu lange bei schlechtem Licht gelesen.

„Frau Schäfer, wie schön, Sie zu sehen“, sagte er und trat zu Ursel Schäfer, die ihrerseits zu ihm trat und damit fort von Sabine Gruber. „Darf ich Ihnen vielleicht ein Buch empfehlen, das sich wunderbar auf Ihrem Nachttisch machen würde?“

„Das letzte hat mir sehr gut gefallen, vor allem, dass sie sich zum Schluss in die Augen gesehen haben. Ein Kuss wäre noch schöner gewesen, um die Sache zu besiegeln. Aber in dem Fall gebe ich mich auch mit einem Blick zufrieden.“

„Er war ja fast noch intensiver als ein Kuss. Manche Blicke können das sein.“

„Nicht, wenn ich küsse!“, sagte Ursel Schäfer und kam sich in diesem Moment wunderbar verrucht vor, was ihr nur noch sehr selten passierte.

„Dieses Buch“, Carl griff eines aus dem Stapel neben der Kasse, „wartet, seit es ausgepackt wurde, auf Sie. Es spielt in der Provence, und jedes Wort duftet nach Lavendel.“

„Bordeauxrote Bücher sind die besten! Endet es mit einem Kuss?“

„Habe ich das je verraten?“

„Nein!“ Sie sah ihn vorwurfsvoll an, nahm ihm aber das Buch aus der Hand.

Natürlich hätte Carl ihr nie einen Roman ohne Happy End empfohlen. Aber den kleinen Nervenkitzel, ob es diesmal anders wäre, wollte er Ursel Schäfer auf keinen Fall rauben.

„Ich bin so froh, dass es Bücher gibt“, sagte sie. „Hoffentlich ändert sich das nie! Es ändert sich ja so viel und so schnell. Alle zahlen jetzt nur noch mit Plastikgeld. Wenn ich an der Kasse die Münzen passend heraussuche, werde ich schon komisch angeguckt!“

„Das geschriebene Wort wird immer bleiben, Frau Schäfer. Weil es Dinge gibt, die auf keine Art besser ausgedrückt werden können. Und der Buchdruck ist die beste Konservierungsmethode für Gedanken und Geschichten. Darin können sie Jahrhunderte überdauern.“

Mit einem warmen Lächeln verabschiedete sich Carl Kollhoff von ihr und ging durch eine mit Werbeplakaten beklebte Tür in den Raum, der Lager und Büro der Buchhandlung in einem war. Der Schreibtisch war voller gestapelter Bücher, der Rand des alten Computerbildschirms voller gelber Zettel und der große Jahresplaner an der Wand voller Einträge in Rot.

Seine Bücher lagen wie immer in einer schwarzen Plastikkiste, die in der dunkelsten Ecke stand. Früher war ihr Platz auf dem Schreibtisch gewesen, doch seit Sabine die Buchhandlung von ihrem Vater übernommen hatte, war die Kiste jeden Tag ein wenig mehr in die am schwersten zugängliche Ecke gewandert. Parallel hatte die Kiste immer mehr an Inhalt verloren. Es gab nicht mehr viele Menschen, denen er Bücher bringen sollte. Jedes Jahr verschwanden mehr von ihnen.

„Moin, Herr Kollhoff! Und, was sagen Sie zu dem Spiel? Das war doch niemals ein Elfer! Ich ärgere mich immer noch über diesen Schiri.“

Leon, der neue Schülerpraktikant, war aus der kleinen Mitarbeitertoilette getreten – und mit ihm Zigarettenrauch. Jeder andere hätte gewusst, dass es völlig sinnlos war, Carl solch eine Frage zu stellen. Denn Carl sah keine Nachrichten, hörte kein Radio, las keine Zeitung. Er war der Welt, wie er sich manchmal eingestand, ein wenig abhandengekommen. Es war eine bewusste Entscheidung gewesen, als ihn all die Berichte über unfähige Staatenlenker, das Schmelzen der Polkappen und das Leid der Vertriebenen trauriger gemacht hatten als das tragischste Familiendrama in Buchform. Es war Selbstschutz gewesen, auch wenn seine Welt seitdem viel kleiner geworden war. Sie maß nur noch gut zwei mal zwei Kilometer, und er schritt an jedem Tag ihre Grenzen ab.

„Kennen Sie das wundervolle Fußballbuch von J. L. Carr?“, fragte Carl, statt sich in der Schiedsrichterfrage auf die Seite des Praktikanten zu stellen.

„Geht es da um unseren Club?“

„Nein, um die Steeple Sinderby Wanderers.“

„Kenn ich nicht. Aber ich lese sowieso keine Bücher. Nur wenn ich muss. Also in der Schule. Und selbst dann versuche ich lieber, nur den Film dazu zu gucken.“ Er grinste, als würde er dadurch geschickt die Lehrer austricksen statt sich selbst.

„Warum absolvierst du dein Praktikum dann hier?“

„Hat meine Schwester vor drei Jahren auch gemacht, wir wohnen direkt um die Ecke, der Weg ist kurz.“ Er verschwieg, dass alle, die keine Praktikumsstelle fanden, zwei Wochen in der Hausmeisterei aushelfen mussten. Der Hausmeister nutzte diese Zeit, um sich bei den Praktikanten – stellvertretend für die gesamte Schülerschaft – mittels demütigender Arbeiten für all die vollgekritzelten Wände, alten Kaugummis unter Tischplatten und Butterbrotreste in den Rabatten zu rächen.

„Liest deine Schwester denn?“

„Nachdem sie hier war, schon – aber das wird mir nicht passieren!“

Carl lächelte, denn er wusste, warum Leons Schwester angefangen hatte zu lesen. Sein ehemaliger Chef, Gustav Gruber, der nun in der Seniorenresidenz Münsterblick lebte, hatte genau gewusst, wie man mit solch leseunwilligen Fällen wie Leon und seiner Schwester umzugehen hatte. Er ließ sie die in die Plastik eingepackten Glückwunschkarten abwischen, jede einzeln. Dabei wurde es den Praktikanten so langweilig, dass sie aus lauter Verzweiflung zu einem Buch griffen, welches er strategisch klug in ihrer Nähe deponiert hatte. Gustav Gruber hatte sie alle bekehrt. Auch mit Kindern war Gustav Gruber klargekommen, Carl dagegen erschienen sie wie fremde Wesen. Das war schon so gewesen, als er selbst ein Kind gewesen war. Und je größer der Abstand zur Kindheit wurde, desto fremder und eigenartiger erschienen sie ihm.

Leons Schwester hatte der alte Gruber damals mit einem Roman gelockt, in dem sich ein junges Mädchen in einen Vampir verliebte. Leon, in dem augenscheinlich gerade die Pubertät wütete, hätte er ein Buch hingelegt, auf dessen Umschlag ein hübscher weiblicher Teenager abgebildet gewesen wäre – und bei dem die Seiten nicht zu dicht bedruckt waren. Der alte Gruber sagte immer: Es ist nicht wichtig, was man liest, sondern dass man liest. Carl konnte das nicht für alle Druckerzeugnisse unterschreiben, denn manche Gedanken, die sich zwischen Buchdeckeln fanden, waren wie Gift – aber viel häufiger steckte Heilung im Papier. Manchmal sogar für Dinge, bei denen man gar nicht gewusst hatte, dass sie der Heilung bedurften.

Vorsichtig nahm Carl die schwarze Plastikkiste aus der Ecke. Heute waren es nur drei Bücher, sie lagen ganz verloren darin. Dann suchte er braunes Packpapier und Kordel, um jedes einzeln einzupacken, als wäre es ein Geschenk. Sabine Gruber hatte ihm mehrfach gesagt, er solle das lassen und die Kosten einsparen, doch Carl bestand darauf, denn das würden seine Kunden erwarten. Carl merkte es nicht, aber er strich über jedes Buch, bevor er es in das dicke Papier einschlug.

Schließlich holte er seinen olivgrünen Bundeswehrrucksack, der von den Jahren gezeichnet war, doch dank Carls Sorgsamkeit und Liebe in sehr guter Verfassung. Noch war er leer, aber sein Faltenwurf zeigte, dass dies nicht seine natürliche Form war. Sanft ließ Carl die Bücher in den schweren Stoff des Rucksacks sinken, den er mit einer weichen Wolldecke ausgelegt hatte. So, als wären es kleine Hundewelpen, die er zu ihren neuen Besitzern tragen würde. Er ordnete die drei Bücher so in dem Rucksack an, dass sich das größte später nahe an seinem Rücken befinden würde und das kleinste am weitesten entfernt, weil es dort durch die Rundung des Rucksacks nicht beeinträchtigt werden würde.

Beim Herausgehen überlegte er kurz und wandte sich dann an Leon. „Wisch doch bitte die Grußkarten ab, das wird Frau Gruber sehr freuen. Am besten holst du sie rein, dann hast du hier deine Ruhe dabei. Ich habe es immer hier am Schreibtisch gemacht.“ Schnell legte er Nick Hornbys Fever Pitch auf den Tisch, das er gerade in einem Regal erspäht hatte. Das Fußballfeld darauf sah verführerisch grün aus – weswegen Ursel Schäfer es sicher keines Blickes würdigen würde.

 

Carl nannte es seine Runde, dabei glich es einem Vieleck durch die Innenstadt, ohne rechten Winkel, ohne Symmetrie. Dort, wo die Reste der Stadtmauer verliefen wie die Zahnruinen eines Greises, endete seine Welt. Seit vierunddreißig Jahren hatte er sie nicht verlassen, denn in ihr befand sich alles, was er zum Leben brauchte.

Carl Kollhoff ging viel zu Fuß, und er dachte genauso viel, wie er ging. Manchmal kam es ihm vor, als könnte er nur richtig denken, wenn er ging. Als würden die Schritte auf dem Kopfsteinpflaster seine Gedanken erst in Bewegung bringen.

Wenn man durch die Stadt ging, fiel es einem nicht unbedingt auf, doch jede Ringeltaube und jeder Sperling wusste, dass die Stadt rund war. Alle alten Häuser und Gassen waren auf das Münster ausgerichtet, das sich imposant in der Mitte erhob. Wäre die Stadt Teil einer Modelleisenbahnstrecke, hätte man vermutet, dass das Münster im falschen Maßstab gebaut worden sei. Es stammte aus der kurzen Zeitspanne, als die Stadt sehr reich gewesen war. Doch bevor es vollendet werden konnte, hatte diese schon geendet, weswegen ein Turm nie fertiggestellt worden war.

Die Häuser standen ehrfurchtsvoll um das Münster. Einige der besonders alten neigten sogar leicht ihre Häupter. Vor dem Hauptportal hielten sie am meisten Abstand, wodurch hier der größte und schönste Platz der Stadt, der Münsterplatz, entstanden war.

Carl betrat ihn, und sofort war da wieder dieses Gefühl, beobachtet zu werden, wie ein Reh auf einer Lichtung, den Blicken und Gewehrläufen eines Jägers hilflos ausgeliefert – worüber Carl lächeln musste, weil er sich sonst nie wie ein Reh vorkam. Am Münsterplatz war der Geruch der Stadt am intensivsten. Im 17. Jahrhundert war sie belagert worden, und ein Bäcker hatte der Legende nach das Gepuderte Rad erfunden, ein Fettgebäck in Radform mit Speichen, gefüllt mit Schokoladencreme und bestreut mit Puderzucker. Er brachte es den Belagerern, um ihnen auf diese Weise den Wunsch der Stadtbevölkerung mitzuteilen, dass sie abreisen sollten. In Wirklichkeit war das hochkalorische Gebäck erst zweihundert Jahre später erfunden worden, was auch urkundlich belegt war, doch man verbreitete weiter die alte Geschichte, und die Besucher der Stadt glaubten sie gern.

Carls Schritte führten stets über dieselben Pflastersteine des Münsterplatzes, langsam und gleichmäßig. Stand jemand im Weg, wartete Carl und beschleunigte danach seinen Schritt, um die verlorene Zeit wiedergutzumachen. Die Strecke über den Platz war so von ihm angelegt, dass sie auch am Markttag ohne Hindernisse zurückgelegt werden konnte. Zudem führte sie möglichst weit an den vier Bäckereien des Platzes mit Gepuderten Rädern vorbei, denn er ertrug den Geruch des fettig-heißen Gebäcks nicht mehr.

Carl bog in die Beethovenstraße ein, die mehr eine Gasse war und dem großen Komponisten nicht gerecht wurde. Ein Mitarbeiter des Planungsamts hatte sich verwirklicht, indem er einen ganzen Straßenzug nach berühmten Komponisten benannt hatte. Seinem persönlichen Liebling Schubert hatte er die größte Straße gewidmet.

Carl Kollhoff wusste es nicht, doch er befand sich in diesem Moment genau im Mittelpunkt seiner Welt. An zwei Seiten wurde sie von Straßenbahnlinien, der 18 und der 57, begrenzt (obwohl die Stadt nur sieben Straßenbahnlinien besaß, aber so fühlte sie sich verkehrstechnisch wie eine Metropole), an einer Seite von der Schnellstraße in den Norden und an der vierten vom Fluss, der sich die meiste Zeit des Jahres damit begnügte, pittoresk zu plätschern, und nur an wenigen Tagen im Frühling auf ein wenig Hochwasser bestand. Wie ein junger Löwe, der ab und an brüllte, obwohl seine Stimmbänder es nicht hergaben.

Sein erster Abstecher führte ihn heute in die Saliergasse zu Christian von Hohenesch. Dessen aus dunklen Steinen errichtete Villa stand leicht nach hinten versetzt, sodass dem flüchtigen Passanten nicht auffiel, wie herrschaftlich sie war. Sie kauerte sich wie ein geduckter schwarzer Schwan, der nur darauf wartete, die prachtvollen Schwingen auszubreiten. Hinter ihr lag ein rechteckiger Park, gesäumt von riesigen Eichen. In diesem standen drei Bänke, die es Christian von Hohenesch ermöglichten, zu jeder Tageszeit Sonnenstrahlen auf die Seiten eines Buchs fallen zu lassen.

Carl wusste, dass Hohenesch großen Reichtum besaß, aber nicht, dass er der reichste Bürger der Stadt war. Niemand wusste es, selbst Hohenesch nicht, da er sich nicht mit anderen verglich. Seine Familie hatte vor Generationen mit dem Gerberhandwerk am Fluss ihr Vermögen gemacht und es geschafft, dieses in der Industrialisierung nicht zu verlieren. Christian von Hohenesch musste deshalb nicht arbeiten, er ließ arbeiten. Seine Aktien und Depots taten es für ihn. Er verwaltete nur die Verwalter seines Vermögens. Einmal am Tag kam eine Haushälterin, die kochte und die wenigen bewohnten Räume putzte, einmal in der Woche ein Gärtner, damit das Sonnenlicht auch weiterhin einen Weg zu den Buchseiten fand, und einmal im Monat ein Hausmeisterservice. Und von Montag bis Freitag kam Carl mit einem neuen Buch, das Christian von Hohenesch meist bis zum nächsten Tag gelesen hatte. Soweit Carl wusste, hatte Hohenesch die Grenzen seines Reichs seit Ewigkeiten nicht verlassen.

Carl läutete, indem er an einem kupfernen Stab zog, worauf eine tiefe Glocke im Inneren der Villa erklang. Wie immer dauerte es eine Zeit, bis der Hausbesitzer durch den langen, dunklen Flur kam, um die schwere, knarzende Holztür zu öffnen, aber nur einen Spaltbreit. Nie trat Christian von Hohenesch hinaus. Er war ein schöner dunkelhaariger Mann, groß gewachsen, edle Wangenknochen, markantes Kinn – und eine Traurigkeit, die über allem lag wie grauer Puder. Er trug wie stets einen dunkelblauen Zweireiher mit einer frischen weiße Orchideenblüte am Revers, und seine schwarzen Lederschuhe glänzten, als ginge er zu einem Opernball. Hohenesch war viel jünger, als seine Kleidung vermuten ließ. Gerade einmal siebenunddreißig Jahre alt. Doch seit frühester Jugend trug er Anzüge, sie fühlten sich für ihn so natürlich an wie Jeansstoff für andere.

„Herr Kollhoff, Sie sind zu spät. Wir hatten Viertel nach sieben vereinbart“, sagte Hohenesch zur Begrüßung.

Carl neigte wie selbstverständlich den Kopf. Dann zog er vorsichtig das bestellte Buch aus seinem Rucksack. „Hier, Ihr neuer Roman.“ Er zog die Schleife der Kordel gerade, da sie beim Transport leicht verrückt war.

„Sie haben es mir empfohlen. Ich hoffe, zu Recht.“ Hohenesch nahm das Buch, packte es aber nicht aus. Es war ein Roman über die Ausbildung Alexanders des Großen bei Aristoteles. Hohenesch las nur Philosophisches.

Er reichte Carl das Trinkgeld, welches an das Gewicht der Bücher angepasst war. Er hatte dieses zuvor recherchiert. „Beim nächsten Mal wieder pünktlich. Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige.“

„Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend. Auf Wiedersehen.“

„Ja, ich Ihnen selbstverständlich auch.“

Christian von Hohenesch schloss die schwere Tür. Und die Villa sah im selben Augenblick wie unbelebt aus.

Der Hausherr hätte gerne viele Worte über Bücher und Autoren mit Carl gewechselt, den er als gebildeten Mann mit guten Manieren kannte, als einen verwandten Geist. Aber ihm waren mit der Zeit die Worte für Einladungen abhandengekommen. Er musste sie irgendwo in den vielen Zimmern seiner großen Villa verloren haben.

 

Carl verließ Christian von Hohenesch – doch eigentlich verließ er jemand anderen. Denn Carl sah die Spiegelungen von Romanen in unserer realen Welt. Für ihn war die Stadt bevölkert von Personen aus Büchern, obwohl diese in ganz anderen Zeiten oder in fernen Ländern lebten. Christian von Hohenesch war für ihn seit dem Moment, als dieser erstmals die schwere Tür der Villa geöffnet hatte, dem großartigen Roman Stolz und Vorurteil von Jane Austen entsprungen. Carl hatte gerade die Villa Pemberley im Derbyshire des 18. Jahrhunderts verlassen und dessen Bewohner Fitzwilliam Darcy, einen reichen, intelligenten Gentleman, der trotz eigentlich tadelloser Manieren häufig ein wenig arrogant und harsch wirkte.

Der Grund für diese Eigenart von Carl lag darin, dass er sich nie gut hatte Namen merken können, es sei denn, sie gehörten Figuren in Romanen. Schon in der Schule war das so gewesen, als viele Lehrer Spitznamen erhalten hatten, meist wenig schmeichelhafte: Klobürste, Prinz Morphium, Spucki. Carl aber hatte ihnen andere verliehen: Odysseus, Tristan oder Gulliver. Nach dem Abitur hatte er im Gegensatz zu seinen Mitschülern nicht mit den Spitznamen aufgehört. So wurde der junge Punker mit der abgewetzten Uniform, dem er während seiner Ausbildung immer auf dem Weg zur Buchhandlung begegnete, zum braven Soldaten Schwejk. Die Obsthändlerin, bei der er seine Äpfel kaufte, zur Königin aus Schneewittchen – erfreulicherweise sah sie davon ab, ihr Obst zu vergiften. Irgendwann fiel Carl auf, dass seine Stadt voller literarischer Figuren war, ja dass sich für jeden Bewohner eine literarische Entsprechung finden ließ. In den nächsten Jahren durfte er Sherlock Holmes kennenlernen, der bei der städtischen Polizei das Morddezernat leitete, und sogar Lady Chatterley, die oft in einem dünnen Kimono die Tür öffnete und in die er sich als junger Mann ein wenig verguckte. Allerdings verließ sie dann mit Adson von Melk die Stadt. Kapitän Ahab war von einem riesigen Maulwurf in seinem Garten besessen, den er nicht zur Strecke bringen konnte. Walter Faber, einem schwer kranken Ingenieur, brachte Carl bis zu seinem Tod Bücher über Südamerika. Und der Graf von Monte Christo hatte in einem Haus mit vergitterten Fenstern gelebt, das früher ein Gefängnis gewesen war und seinen neuen Besitzer auf eine merkwürdige Art in den eigenen Mauern festgehalten hatte.

Fast immer fiel ihm ein passender literarischer Name ein, bevor es ihm gelang, sich den realen einzuprägen. So, als wollte sein Gedächtnis ihn davor schützen, sich mit Profanem zu belasten. Und ab dem Moment, in dem er einen Namen ausgewählt hatte, las er die realen gar nicht mehr. Auf dem Weg von der Netzhaut zu seinem Gehirn verwandelten sich zum Beispiel die Buchstaben eines Christian von Hohenesch wie durch ein Wunder in Mister Darcy, ohne dass es Carl auffiel. Nur in besonderen Situationen erbarmte sich sein Kopf dazu, einen weltlichen Namen herauszurücken.

Viele musste sein Gehirn sich ohnehin nicht mehr merken.

Carls Weg durch die verwinkelten Gassen führte ihn nun zu einer literarischen Figur, deren Schicksal weitaus düsterer war als das des schlussendlich glücklich verheirateten britischen Gentleman.

Seine Kundin wartete hinter der Tür und sah durch den Spion hinaus auf die Gasse, auf die wenigen Menschen, die vorbeigingen. Niemand flanierte hier, niemand bewunderte die Gebäude, denn die schönen lagen mehrere Querstraßen entfernt. In diesem Teil der Altstadt gingen die Menschen schnell, da sie die bedrückende Enge nicht ertragen konnten und es ihnen vorkam, als würden sich die Giebel der Häuser über ihnen schließen, um kein Tageslicht mehr einzulassen.

Die zierliche junge Frau hinter dem Spion wusste, in welchem Zeitraum Carl Kollhoff bei ihr eintreffen würde. Sie wusste zwar auch, dass es albern war, lange Minuten durch den Spion zu blicken, statt im Wohnzimmer auf das Klingeln zu warten, doch sie konnte nicht anders. Andrea Cremmen strich eine blonde Haarsträhne hinter ihr Ohr und zog ihr Kleid gerade. Vom Kindergarten an war sie immer die Schönste gewesen, was ihr Zuneigung, aber auch viel Neid eingebracht hatte. Und eine frühe Ehe mit einem erfolgreichen Mann aus der Versicherungsbranche namens Matthias, der auch abends und am Wochenende lange arbeitete, damit es ihnen gut ging. Andrea selbst war gelernte Krankenschwester, arbeitete jetzt aber halbtags als Sprechstundenhilfe in einer kleinen Hausarztpraxis, wo man sie an den Empfang gesetzt hatte, weil ihr Anblick die Patienten erfreute und beruhigte. Keiner hatte Andrea jemals sagen müssen, dass sie lächeln sollte, Andrea tat es einfach, es gehörte zum Hübschsein dazu. Wer hübsch ist und nicht lächelt, gilt als arrogant. Also lächelte sie den ganzen Tag.

Sie hatte sich niemals getraut, nicht perfekt auszusehen, denn was würde dann passieren? Was würden die anderen Menschen in ihr sehen, was wäre da überhaupt? Carl Kollhoff wirkte wie ein Mann, dem man sich ohne Lächeln zeigen konnte. Denn er würde die richtigen Worte wählen, um das zu beschreiben, was dann zutage trat. Andrea schien es, als wählte er seine Worte so genau aus wie ein Parfümeur die Ingredienzien für ein teures Parfüm. Sie hörte auf zu lächeln und holte die Strähne wieder zurück, erlaubte sich diese paar Haare Unordentlichkeit.

Doch als sie Carl Kollhoff in der Gasse entdeckte, strich sie diese schnell abermals hinter das Ohr.

Carl klingelte und wartete. Andrea Cremmen brauchte immer etwas Zeit, um zur Tür zu kommen, und war stets ein wenig atemlos. Trotzdem lächelte sie ihn jedes Mal freudig an.

Carl hörte, wie hektisch ein Schlüssel im Schloss umgedreht wurde, dann öffnete sich die Haustür.

„Herr Kollhoff, Sie sind aber früh heute! Ich hatte Sie noch gar nicht erwartet. Ich sehe sicher unmöglich aus.“ Sie fuhr sich durch ihre wunderschön glänzende Frisur, die perfekt zu ihrem eleganten Kleid mit den roten Rosen passte.

Carl fand sie bezaubernd, und doch ließ ihn Andreas Anblick auch immer ein wenig traurig werden. Denn unter all der Schönheit lag etwas, das er nicht fassen konnte – und es hatte mit dem zu tun, was er jetzt aus seinem Rucksack holte. Eines der Bücher, die Andrea Cremmen so liebte. Mit dem Gewicht des Buchs war alles in Ordnung (Carl mochte es, wenn Bücher das richtige Gewicht hatten: nicht so leicht wie eine Tafel Schokolade, nicht so schwer wie ein Liter Milch), es war das Gewicht des Inhalts, das Carl besorgte.

„Ist es gut?“, fragte Andrea Cremmen ihn und zog die Schleife am Packpapier zurecht.

„Soweit ich gehört habe, steht Die Schattenrose den anderen Werken der Autorin in nichts nach.“

„Richtig schön dramatisch?“

Jetzt war es an Carl zu lächeln. Es gab ein stilles Einverständnis zwischen ihnen. Wenn er ihr ein Buch brachte, war es immer dramatisch und endete tragisch. In der Vergangenheit hatte er ihr manchmal auch Bücher mit Happy End empfohlen, aber die hatten ihr nie gefallen. Sie fand sie zu realitätsfern. Andrea Cremmen liebte Romane, in denen die weibliche Hauptperson litt und am Ende starb oder unglücklich und allein zurückblieb. Offene Enden waren nur dann in Ordnung, wenn sie entweder das eine oder das andere davon zuließen.

„Ich werde wie immer schweigen“, sagte Carl. „Wie hat Ihnen denn der letzte Roman gefallen?“

Andrea Cremmen atmete schwer ein und schüttelte dann den Kopf. „Der war so traurig! Sie ist zum Schluss ins Wasser gegangen … Warum haben Sie mich nicht gewarnt?“ Sie zog spielerisch eine kleine Schnute.

„Das darf ich doch nicht.“

Früher hatte er ihre Bücher immer in buntes, fröhliches Geschenkpapier eingepackt. Aber es war ihm verlogen vorgekommen.

„Bringen Sie mir nächste Woche wieder eins? Ich habe von einem Roman gehört, die ganze Zeit ist darin Nacht, weil er während des Winters in Grönland spielt. Und die Hauptperson hat gerade ihr Kind verloren. Kennen Sie das? Ich fand, das klang richtig gut.“

Carl kannte das Buch. Er hatte gehofft, Andrea Cremmen würde nichts davon mitbekommen.

„Bringe ich Ihnen mit.“ Carl sagte nicht, dass er es gerne mitbringe, denn das würde er nicht.

„Können Sie mir noch etwas ans Herz legen?“

„Es gibt jetzt ganz neu einen Kriminalroman, der in unserer Stadt spielt. Ich habe ihn noch nicht gelesen, aber er soll recht lustig sein.“

Andrea Cremmen winkte ab. „Meinen Sie, das Buch würde mir gefallen?“

Carl hatte es sich zur Aufgabe gemacht, nicht zu lügen. Wenn man einmal eine Lüge in die Welt setzte, bekam man sie nicht wieder eingefangen. „Nein.“

„Geht mir genauso.“

„Aber es könnte Sie zum Lachen bringen. Und Sie haben, ich hoffe, damit trete ich Ihnen nicht zu nahe, ein wirklich schönes Lachen. Sie wissen sicher, dass Charlie Chaplin gesagt hat: Jeder Tag ohne Lachen ist ein verlorener Tag. Und wir haben ohnehin zu wenige Tage auf dieser Welt, als dass wir einen verlieren dürften.“ So etwas hatte er ihr noch nie gesagt. Vielleicht war die Traurigkeit in ihr an diesem Tag größer als sonst, und er hatte es gespürt? Carl wusste es nicht. Manchmal sagte sein Mund Dinge, die nicht mit seinem Kopf abgesprochen waren.

Andrea Cremmen lächelte nicht mehr, stattdessen zitterte ihre Unterlippe leicht. „Sie haben mir gerade den Tag gerettet. Danke dafür!“ Und dann schloss sie rasch die Tür.

Für Carl hatte nicht Andrea Cremmen die Tür geschlossen, für ihn hatte es die traurige, viel zu jung verheiratete Effi Briest getan, deren Schicksal genauso tragisch war wie das der vielen Frauen, über die Andrea Cremmen las. Carl hätte so gern mehr für sie getan, als Bücher zu bringen, die bewiesen, dass auch andere litten, aber nicht erklärten, wie das Leiden zu beenden war.

Hinter der Tür unterdrückte Andrea Cremmen ihre Tränen. Sie hätte ihm gerne gesagt, was heute passiert war. Aber dafür hätte sie es sich noch einmal vor Augen führen müssen, und das wollte sie nicht. Mit zitternden Händen packte sie das Paket aus und fing noch im Flur an zu lesen.

Gleich auf Seite Eins nahm sich jemand das Leben.

 

Wenige Schritte, nachdem Carl weitergegangen war, hörte er ein leises Maunzen neben sich. Als er hinunterschaute, blickte eine magere dreibeinige Katze hoch. Das Fell struppig, die Ohren durch allerlei Kämpfe ausgefranst. Carl wusste nicht, ob es ein Kater oder eine Katze war, auch wusste er nicht, wo das Tier sein Zuhause hatte, wenn es ein solches überhaupt gab. Aber er wusste, dass sie gute Freunde waren. Andere hatten ein Haustier, er hatte ein Spaziertier.

„Hallo, Hund“, sagte er und lächelte. Den Namen hatte er der Katze gegeben, weil sie sich wie einer benahm. Sie ging bei Fuß, schnüffelte an allem und markierte ihr Revier. Hund maunzte nicht, Hund brummte. Wenn Carl bei seiner Kundschaft war, setzte sich Hund nie hin, Hund lag. Er konnte immer und überall liegen, auf dem schmalsten Treppengeländer.

Hund drückte sich gegen Carls Hosenbein, dann rannte er voraus und blickte ungeduldig zu ihm zurück. Das kluge Tier schien zu wissen, dass es beim dritten Buch, das er heute auslieferte, etwas zu essen geben würde. Vier Kreuzungen entfernt am Elisenbrunnen lebte eine alte Dame, die das genaue Gegenteil von Effi Briest war, geradezu aufgedreht fröhlich und stets bunt gekleidet. Oft trug sie zwei unterschiedliche Socken oder Schuhe, oder ein Träger ihrer Latzhose hing halb über die Schulter. In ihrer Wohnung stapelte sich alles in Bergen, zwischen denen enge Täler und Schluchten verliefen. Die alte Frau erinnerte Carl an eine Figur aus einem Kinderbuch, ein verrücktes junges Mädchen, das sich die Welt so machte, wie sie ihr gefiel. Nur in diese Welt trat das alte Mädchen niemals hinein, denn der offene Himmel machte ihr Angst.

Es war vor etwas über sieben Jahren gewesen, ein wunderschöner Sommertag, den sie mit ihrem Mann im Garten verbracht hatte, im Schatten des Walnussbaums. Dann kam ein Gewitter, es kam mit Regen und Sturm und vor allem mit brachialer Kraft. Sie waren schon im Haus, als ihnen auffiel, dass sie vor lauter Müßiggang die Mülltonnen auf der Straße hatten stehen lassen – worüber die Nachbarn sich gern beschwerten. Also ging ihr Mann hinaus in den Sturm, obwohl sie versuchte, ihn davon abzuhalten. Geht ganz schnell, sagte er, bin doch gleich wieder da. Und: Was soll schon passieren? Der Ziegel hatte sich von ihrem eigenen Dach gelöst und der Wind ihn zu einem Geschoss gemacht, dem sein Kopf nichts entgegenzusetzen hatte.

Seitdem war es ihr völlig egal, was die Nachbarn dachten. Und seitdem war sie nie mehr unter freien Himmel getreten.

Beim Öffnen der Tür sagte sie nie „Guten Tag, Herr Kollhoff“, „Hallo“ oder „Schön, Sie zu sehen“. Sie sagte „Wollmundig“, „Er handelte mit gerauchten Autos“ oder „Viezeihung“. Als er heute klingelte, warf sie ihm breit grinsend „Selbst-Erfroschung“ entgegen.

Jetzt war es an Carl, aus dem Stegreif eine glaubwürdige Definition dafür zu finden.

„Selbst-Erfroschung bezeichnet den Weg zu der Erkenntnis darüber, was den innersten Kern eines Selbst ausmacht. Der Begriff nimmt Bezug auf das Märchen ›Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich‹, das sich in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm an erster Stelle findet. Hinter dem Konzept der Selbst-Erfroschung steht die Hypothese, dass jeder in seinem Inneren einen Frosch hat, den er durch Liebe – im Märchen einen Kuss – in einen strahlenden Prinzen verwandeln muss. Erstmals in der Literatur tauchte der Begriff 1923 in Sigmund Freuds Werk Das Ich und das Es und der Frosch auf.“

Frau Langstrumpf reichte ihm ein Kirschbonbon als Belohnung. War seine Erklärung einmal nicht so passend, erhielt er ein Zitronenbonbon. Im Gegenzug übergab er ihr das bestellte Buch. Auf ihr Packpapier malte er immer eine große rote Blume. Frau Langstrumpf las alles, von klassischen Abenteuerromanen über Science-Fiction bis zu Humoristischem. Allerdings nur leichte Kost, nichts, was sie auf den Boden der Tatsachen holen konnte.

„Übermorgen habe ich wieder ein Wort für Sie“, sagte sie vor dem Schließen der Tür. „Eine ganz besonders harte Nuss.“ Dann beugte sie sich zu Hund und gab ihm aus ihrer Hosentasche etwas, das dieser mit einem Bissen verschlang.

Obwohl Carls Rucksack leer war, galt es, noch einen Kunden aufzusuchen. Jeder Besuch bei ihm war ein Vergnügen, denn er besaß den wärmsten Bariton, den Carl je gehört hatte. Würde man ein Sofa mit dem Klang einer Stimme beziehen, dürfte man nur die dieses Mannes dafür nehmen. Für Carl Kollhoff war er Der Vorleser, nach Bernhard Schlinks Roman über den Jugendlichen Michael Berg, der sich in eine über zwanzig Jahre ältere Frau verliebte und ihr vorlas. Carls Kunde trug allerdings in einer Zigarrenfabrik den Arbeiterinnen vor. Sie war erst vor wenigen Jahren gegründet worden und die einzige im Land. Man leistete sich einen Vorleser, der die ganze Arbeitszeit über aus Büchern vortrug, genau wie es in Kuba üblich war. Das Ganze war vor allem ein Marketinggag, weshalb der Vorleser nicht viel verdiente, doch er liebte seine Arbeit so sehr, dass er ständig einen Schal um seinen Hals trug, um die Stimmbänder zu wärmen. Außerhalb der Zigarrenmanufaktur sprach er zudem kaum, um seine Stimme zu schonen. Deshalb war es einer kleinen Sensation gleichgekommen, dass er bei Carl privat angerufen hatte, um ihn zu bitten, ihm Halspastillen mitzubringen, die es nur in der Apotheke neben der Buchhandlung gab. Der Vorleser selbst wollte nicht auf die Straße, da gerade eine Grippewelle durch die Stadt schwappte. Wohl aus diesem Grund öffnete er seine Tür heute nur einen Spalt. Nachdem er die Packung mit den Pastillen entgegengenommen und Carl dafür ein dankbares Lächeln und die Münzen samt großzügigem Trinkgeld gegeben hatte (das Carl gar nicht annehmen wollte, da er wusste, wie wenig der Vorleser besaß), holte er direkt eine Pastille aus der Dose, bevor er die Tür seiner Mietwohnung unter dem Dach des schmucklosen Mehrfamilienhauses wieder schloss. Bei dessen Bau war an allem gespart worden, was einem Gebäude ein wenig Schönheit oder Liebe verliehen hätte. Es war ein Nutzbau, wie die Käfige, in denen Hühner gehalten wurden.

 

Carl war immer traurig, wenn sein Rucksack leer war, denn dann musste er zurück nach Hause. Nicht, dass er sein Zuhause nicht mochte, doch Hund folgte ihm nie bis dorthin, und hinter der Tür seiner Wohnung wartete niemand, der ihn mit der Flanke anstieß und erwartungsvoll ansah, wenn er gestreichelt werden wollte. Der letzte Abschnitt führte ihn immer über den städtischen Zentralfriedhof. Das beruhigte Carl. Zu wissen, wo sein Weg irgendwann ein Ende finden würde, nahm Letzterem ein wenig den Schrecken. Was auch daran lag, wie schön der Friedhof war. Über zweihundert Jahre alt, und die in der Mitte stehende große Statue des Sensenmanns mit knochigem Schädel schien wissend zu lächeln.

Auf Carls Klingelschild stand E. T. A. Kollhoff. Das war eine Lüge, aber nur eine halbe, denn der Nachname stimmte. Schon immer hatte Carl den Schriftsteller E. T. A. Hoffmann bewundert – wegen seiner Initialen. Denn wer besaß schon drei? J. R. R. Tolkien, in der Musik C. P. E. Bach. Drei Initialen hatten etwas ganz Besonderes, zwischen ihnen konnte sich vieles verstecken. Es war, als läge ein Geheimnis in ihnen verborgen – und die Antwort auf die Frage, warum der Besitzer keinen der Vornamen ausschrieb.

Manchmal gingen Briefe zurück, weil ein neuer Postbote nicht wusste, dass Carl sich hinter den Buchstaben verbarg. Aber er änderte das Namensschildchen trotzdem nicht mehr, er war jetzt zweiundsiebzig Jahre und bekam ohnehin nicht mehr viel Post. Und wenn, war sie nie ein Grund zur Freude, da konnte sie ruhig eine Extrarunde im Zustellzentrum drehen.

Carls Wohnung hatte zu viele Zimmer. Es waren vier, dazu eine kleine Küche, ein fensterloses Bad, eine fensterlose Toilette. Manchmal kamen sie ihm vor wie Beete, in denen nie etwas gewachsen war. Denn zwei der Zimmer waren für seine Kinder gedacht gewesen. Das eine hatte das Zimmer für das Mädchen sein sollen, mit einem Fenster zum grünen Innenhof, und ein anderes für seinen Sohn, zur Straße hin, auf der man Autos beim Vorbeifahren beobachten konnte. Doch er hatte nie eine Frau gefunden, mit der er Kinder haben konnte. Die Wohnung hatte er trotzdem behalten. Die Miete war in all den Jahrzehnten nie erhöht worden, da sie wohl vergessen worden war.

Hier lebte er mit seiner Familie aus Papier, die er in Vitrinen mit Milchglasscheiben vor Licht und Staub schützte. Die Bücher wollten immer wieder von ihm gelesen werden. So, wie Perlen getragen werden mochten, weil sie dann schöner wurden, und, mehr noch, wie Tiere gestreichelt werden wollten, um sich geliebt zu fühlen. Manchmal kam es Carl vor, als beständen all die Worte in ihnen aus seinen Zellen, dabei wusste Carl, dass er sie mit den Jahren einfach nur in sich hineingelesen hatte.

Carl verstand Menschen, die Bücher sammelten wie andere Briefmarken. Die ihre Augen gerne über die Buchrücken streifen ließen, weil in den Büchern Menschen lebten, denen sie sich verbunden fühlen, weil sich dort Schicksale ereigneten, die sie teilten. Oder gerne teilen würden. Die ihre Bücher um sich versammelten, als wären sie eine Wohngemeinschaft aus guten Freunden.

Carl hängte seine grüne Jacke an den Haken hinter der Tür, seinen Rucksack daneben und zog beides gerade. Dann ging er in die kleine Küche, um sich am Resopaltisch ein Schwarzbrot mit Butter und Salz zu schmieren, dazu trank er ein Glas Sauerkrautsaft, und danach gab es einen grünen Apfel, geviertelt.

Die Wohnung war damals „mit Balkon“ inseriert worden. Doch dieser bestand nur aus einer gusseisernen Balustrade vor der bodentiefen zweiflügeligen Glastür, neben der sein alter Ohrensessel stand. Darauf ein Buch, in dem als Lesezeichen ein Kassenbon lag. Von diesem Platz aus konnte er in die Altstadt blicken, was er auch jetzt wieder tat. Um zu sehen, ob einer seiner Kunden unterwegs war oder ob Hund über die Dächer sprang, was er nie tat. Carl las immer bis Punkt zehn, dann wusch er sich und ging schlafen. Wenn er die Bettdecke über sich zog, tat er es in dem Bewusstsein, dass er am nächsten Tag wieder ein paar ganz besondere Bücher zu seinen ganz besonderen Kunden bringen durfte.

Balzac und die kleine chinesische SchneiderinBalzac und die kleine chinesische Schneiderin

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Zwei pfiffige chinesische Studenten, die zur „kulturellen Umerziehung“ in ein abgelegenes Bergdorf ans Ende der Welt verschickt wurden, merken bald, dass sie nur eine einzige Möglichkeit haben zu überleben: Sie müssen in den Besitz jenes wunderbaren Lederkoffers gelangen, der die – verbotenen – Meisterwerke der westlichen Weltliteratur enthält. Denn nur mit ihnen können sie den Widrigkeiten ihres Daseins entkommen – und vielleicht am Ende das Herz der Kleinen Schneiderin gewinnen.

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Rendezvous für einsame HerzenRendezvous für einsame Herzen

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Bonjour, mon amour!
Ein französisches Dorf, eine kleine Buchhandlung und ganz viel Liebe ... 

Buchhändlerin Sarah hat schon viele Liebesgeschichten gelesen, aber noch keine selbst erlebt. Ihr Herz gehört gebrauchten Büchern, denen sie in ihrem liebevoll dekorierten Buchladen mit Lese-Café eine zweite Chance gibt. Doch nach einem Wasserschaden steht Sarahs Herzensprojekt vor dem Aus. Zum Glück hat sie im Dorf gute Freunde. Hilfe bekommt sie auch vom draufgängerischen Schauspieler Maxime, der Sozialstunden in seinem ungeliebten Heimatort leisten muss. Trotz aller Gegensätze kommen die beiden sich näher, und Sarah erkennt, dass es Happy Ends nicht nur in Büchern gibt.

Eine wunderschöne Liebesgeschichte mit viel französischem Flair von einer der erfolgreichsten Romance-Autorinnen Frankreichs ... für alle Fans der Romane von Julie Caplin und der Filme „Chocolat“ und „Die fabelhafte Welt der Amélie“.

1 – Ich rutschte tiefer …
Maxime 

Ich rutschte tiefer in das schwarze Samtpolster der Couch und breitete die Arme auf der Rückenlehne aus. Über das Geländer hinweg betrachtete ich die dichte Menschenmenge, die im Stockwerk unter mir zu lauter Musik die Hüften schwang. Die dunklen Wände und glitzernden Böden vibrierten unter wummernden Bässen, farbige Spots ließen abwechselnd nackte Beine, Dekolletés und schweißglänzende Gesichter aufblitzen. Die Tänzer streiften einander, berührten sich gelegentlich, trugen ein laszives Lächeln zur Schau. Im Vorübergehen zwinkerten mir ein oder zwei Mädels zu, während sie sich in einer aufreizend engen Umarmung mit einem Typen befanden.
Ich mochte diese Atmosphäre, in der es nach berauschenden Parfüms und den Ausdünstungen von Sex und Alkohol roch. Was diesen Club von allen anderen unterschied, war die Tatsache, dass zusätzlich der dezente, aber nachhaltige Duft von Geld in der Luft hing. Dieser Ort war Lichtjahre von der Diskothek entfernt, in der ich erstmals eine ganze Nacht verbracht hatte – ein provinzieller, altmodischer Laden, in dem es nach billigem Bier roch. In meiner Gegend war das damals die einzige Möglichkeit, sich die Zeit zu vertreiben, und die Disko war genauso trostlos wie der Rest meines früheren Lebens.
In jenem anderen Leben beschränkten sich meine Berufsaussichten auf eine Stelle als Lagerist in einem Großmarkt in der Charente. Von Dienstag bis Samstag schleppte ich Holzkisten durch die Gegend, acht Stunden täglich. Ich leerte sie aus, stellte sie aufeinander, schlug sie in Stücke oder trug sie in Fünferstapeln von einem Ort zum anderen. Jede Woche zog ich mir zehn Holzsplitter ein, meine Hände bluteten, und der Lohn war so karg, dass er innerhalb von zehn Tagen aufgebraucht war. Ich übte zwar einen anderen Beruf aus als mein Vater, lebte im Endeffekt aber das gleiche Leben wie er, und das machte mich wütend. Ich fürchtete mich davor, so zu enden wie er: krumm vor Erschöpfung, gelähmt vor Schmerzen. Ich hasste mein Leben. Ich hasste es so sehr, dass ich es systematisch verpfuschte. Ich stritt mich mit meinen Eltern, prügelte mich so oft wie möglich, beleidigte all die Menschen, die mich missachteten, und ertränkte das Ganze in Alkohol.
Jeden Morgen betrachtete ich mein Spiegelbild im Badezimmer meiner Eltern. Eine Narbe über der rechten Braue, ein angeschlagener Zahn und dunkle Augen, die aber glasig vor Müdigkeit waren, ein muskulöser Körper – das einzig Positive an meinem Job – und ein Tattoo in Form einer Dornenranke, die sich um meinen linken Bizeps wand … Kein Wunder, dass die meisten Leute ziemlich Schiss vor mir hatten.
Ich gebe es gern zu: Ich habe Glück gehabt. Ein so großes Glück, dass mir mein neues Leben wie ein riesiger Schwindel vorkam. Ich war ein potenzieller Betrüger, ein Hochstapler. Berühmt und reich, okay, aber trotzdem ein Betrüger.
Als mich diese Castingfrau damals entdeckt hat, war ich gerade dabei, eine Palette abzuladen. Nach zweimaligem Vorsprechen und überzeugenden Probeaufnahmen in Paris wurde ich erstmals in Dreharbeiten für einen Spielfilm und in ein Leben katapultiert, in dem ich mir beim Arbeiten nicht mehr die Hände ruinieren musste. Das war das Beste daran: Ich wurde bezahlt, um zornige Typen zu spielen, durfte kämpfen und Mädels küssen, die mich normalerweise nicht einmal angesehen hätten. Ein herrlicher Schwindel.
Ich hatte mich von meinen altmodischen, provinziellen Gewohnheiten verabschiedet, von den billigen Klamotten, dem abgestandenen Bier und den jämmerlichen Freunden. Ich hatte einen Haken unter die Vergangenheit gesetzt und nicht die geringste Absicht, jemals nach Hause zurückzukehren. Inzwischen hatte ich die Geringschätzung in den Blicken der anderen beinahe vergessen. Für all diese Leute, für jeden, der mich beim Kistenschleppen gesehen hatte, war ich ein Niemand.
Beinahe. Denn jetzt war ich derjenige, der das Sagen hatte. In jeder Beziehung.
Mit einem Glas Cognac in der Hand kostete ich mein neues Leben aus. Ich hatte Geld, wurde bewundert, genoss Anerkennung. Ich zog von Bars zu Clubs, von Dreharbeiten zu Interviews, von Fashionshows zu schicken Partys. Ehrlich gesagt, hatte ich seit fast anderthalb Jahren keinen Supermarkt mehr von innen gesehen. Nervtötende Besorgungen hatte ich an eine Haushälterin, eine Assistentin und meine Agentin delegiert. Mein Kühlschrank war voll, meine Bar gut bestückt, und die Panoramafenster meiner Wohnung, die auf den Parc Monceau hinausgingen, waren spiegelblank geputzt.
Ich hatte alles, was ich wollte, und mein früheres Leben fehlte mir nicht im Geringsten. Dennoch brodelte dicht unter der Oberfläche die Wut in mir, bereit, sich am kleinsten Funken zu entzünden. Mein überwältigender Erfolg hatte sie nicht besänftigen können; die vielen Jahre des Grübelns über mein erbärmliches Leben hatten ihre Spuren hinterlassen. Manchmal vermisste ich das Adrenalin, und ich prügelte mich immer noch gern, selbst wenn keine Kamera in der Nähe war. Nach zwei von der Presse breitgetretenen Skandalen hatte meine Agentin rasch das passende Gegenmittel gefunden: eine private Boxhalle, in der ich zweimal wöchentlich für vier Stunden meine destruktive Energie abreagieren und gleichzeitig in Form bleiben konnte.
Wenn sich die Presse nicht gerade auf meine Skandale stürzte, bestaunte sie meine Entschlossenheit, meine offensichtliche Lust am Erfolg und mein angeborenes Talent. Mag sein, dass ich all das besaß. Tatsächlich aber wollte ich in diesem Augenblick nur in diesem Club sein, die Welt von oben betrachten, die Massen beherrschen und mir eine der Frauen aussuchen, die sich mir förmlich an den Hals warfen. Hier auf dem Samtsofa, in Designerjeans und mit einer sündhaft teuren Uhr am Handgelenk, war ich fest entschlossen, meinen Platz keinem anderen zu überlassen.
„Auf welche hast du’s abgesehen?“
Ich drehte mich in die Richtung, aus der Simons Stimme kam. Ohne meine Antwort abzuwarten, lehnte er sich an das Geländer und ließ den Blick über die Menge schweifen. Ein Raubtierlächeln umspielte seinen Mund, und er nahm einen Schluck von diesem widerwärtigen, völlig unerschwinglichen Whisky, den er so gern mochte.
„Die Blondine mit der Jeansshorts?“, fragte er.
„Nee. Brünett. Goldenes Minikleid.“
Er kniff die Augen zusammen und versuchte das Objekt meiner Begierde im blendenden Spotlicht zu erkennen.
„Das Mädel, das da vorn mit dem Typen tanzt?“
Er drehte sich zu mir, und ich nickte. Simon, Schauspieler und in meinem letzten Film für eine Nebenrolle besetzt, unterdrückte nur mit Mühe ein Lachen. Er leerte sein Glas in einem Zug und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund.
„Mit einem Typen, der garantiert nicht ihr Bruder ist“, fügte er hinzu.
„Eine kleine Herausforderung hat noch keinem geschadet“, sagte ich.
„Du suchst keine Herausforderung, du hast einfach Lust auf eine Schlägerei.“
„Ist schon lange her, dass ich jemandem eine Tracht Prügel verpasst habe.“
Simon deutete ein Lächeln an, als ich mit der rechten Faust in meine linke Handfläche schlug. Beim letzten Mal hatte die Presse die Gelegenheit genutzt, um meine Zukunft im Filmgeschäft grundsätzlich infrage zu stellen – ich sei zu labil, zu schwierig, zu gestört. Mir war aufgefallen, dass ich komischerweise, sowohl in meinem jetzigen als auch in meinem früheren Leben, ständig unter die Lupe genommen und beurteilt wurde. Ob Dorfbewohner oder Paparazzi, im Grunde unterschieden sie sich nicht sonderlich voneinander.
Ich trank ein weiteres randvolles Glas Cognac aus, während ich mit geistesabwesender Miene eine ausgesprochen hübsche Bedienung musterte. Auch um diese Frau hätte ich mich liebend gern geprügelt, denn nach dem anstrengenden Dreh hatte ich das Bedürfnis, Dampf abzulassen. Seit fast einem Monat hatte ich nicht mehr geboxt, und ich war angespannt; mein ganzer Körper stand unter Druck, ich war quasi kurz vorm Implodieren. Ich ballte die Fäuste und atmete tief durch.
„Das wird eines Tages böse für dich enden. Warum machst du so was?“
„Um mich abzureagieren. Ich prügele mich gern. Und inzwischen mache ich es ganz unauffällig.“
„Hm. Normale Menschen nehmen einfach mal Urlaub. Du könntest … einen Abstecher nach Kanada machen oder auf Weltreise gehen.“
„Ich denk drüber nach“, log ich und unterdrückte den Drang zu lachen.
Hätte ich dem Filmgeschäft in diesem Moment den Rücken gekehrt, wäre meine Karriere zu Ende gewesen. Die Welt der Kunst verabscheut die Leere, und wer nicht an einem Projekt arbeitet, existiert praktisch nicht mehr. Urlaub zu nehmen kam also überhaupt nicht infrage. Ich gab der Bedienung ein Zeichen und ließ ihr im Tausch gegen zwei neue Gläser ein großzügiges Trinkgeld zukommen. Sie schenkte mir ein kesses Lächeln, wobei sie mich neugierig musterte.
Mit etwas Geduld hätte ich die Tusse klarmachen können, und ich hätte sie nicht mal mit nach Hause nehmen müssen. Mein Auto, eine Seitenstraße oder die Toilette des Clubs, und die Sache wäre gebongt. Aber Simon hatte recht, mir war tatsächlich nach einer saftigen Prügelei zumute.
„Hast du demnächst einen Dreh?“, fragte ich ihn in der vagen Hoffnung, mich doch noch zu beruhigen.
„In zwei Monaten, in Griechenland. Emma kommt mit.“
Ich verzog das Gesicht. Ich verstand nicht, warum Simon so vernarrt war in dieses leicht dümmliche Mädchen, das wie eine Klette an ihm hing und ernsthaft von den Leuten erwartete, dass sie zur Begrüßung einen Knicks vor ihr machten. Unerträglich … und noch dazu war sie hochnäsig. Sie wusste genau, wo ich herkam, und es machte ihr offenbar irre viel Spaß, mich bei jeder Gelegenheit daran zu erinnern.
„Aber du wirst doch nicht um ihre Hand anhalten, oder?“, fragte ich beunruhigt.
Der Boden unter meinen Füßen vibrierte jetzt noch stärker, und die Menschenmenge tobte unter den Spotlights. Die Temperatur war um mehrere Grad gestiegen, die Luft wurde allmählich stickig. Ich schaute Simon an, er trank aber erst mal in aller Ruhe einen Schluck, bevor er antwortete.
„Auf keinen Fall“, sagte er. „Und du, was steht bei dir so an?“
„Zwei Drehs, einer davon in Südafrika. Der Regisseur ist ein irrer Typ, das wird bestimmt lustig. Wir haben Cannes ins Auge gefasst.“
Simon zog eine Augenbraue hoch. Er wirkte eher skeptisch als verwundert. Mein erster Film hatte mir eine Menge Türen geöffnet, und ich erhielt jede Woche ein neues Drehbuch. Ich entschied mich immer für die härtesten Rollen, ich mochte schwierige Charaktere und abgefahrene Plots, denn in gefährlichen Drehbüchern erkannte ich mich selbst wieder.
Simon hingegen spielte abwechselnd in Komödien und Dramen mit. Er schauspielerte schon, seit er fünf Jahre alt war, und verkörperte inzwischen den Typus des idealen Schwiegersohns, weil er wie ein netter Junge aussah und vertrauenerweckend wirkte.
„Cannes? Echt jetzt?“
„Ja, Cannes. Ich wollte schon immer mal bei einer dieser unanständigen Partys im Hôtel Martinez aufkreuzen und eine Massenschlägerei auslösen.“
„Du willst doch nur, dass man über dich redet.“
„Na und? Hast du was dagegen?“
Simon war einer von den ganz Vorsichtigen. Der Typ, der alten Frauen über die Straße hilft, sich von Bioprodukten ernährt und möglichst keine Welle macht. Ordentlich, glatt und zuvorkommend. Genau wie das Filmgeschäft und die Presse es liebten, so kam es mir zumindest vor. Wie wir uns hatten anfreunden können, war mir ein Rätsel, aber nach einigen gemeinsam verbrachten Abenden war eine echte Verbindung zwischen uns entstanden. Er ließ mich von seiner Erfahrung profitieren, und ich holte ihn aus der Komfortzone, indem ich ihn regelmäßig herausforderte.
Eines Tages war es mir sogar gelungen, ihn in die Boxhalle mitzunehmen, wo ich ihm eine Abreibung verpasste, die er so schnell nicht vergessen würde. Zum ersten Mal in seiner Karriere hatte Simon einen kompletten Drehtrupp für eine Woche arbeitslos gemacht, so lange hatte es gedauert, bis seine Nase wieder auf ihre normale Größe geschrumpft war. Anfangs hatte er mir das übel genommen, aber nach ein paar Bieren haben wir darüber gelacht.
„Du weißt genau, was ich davon halte“, erwiderte Simon.
„Ja, du glaubst, dass ich es eines Tages bitter bereuen werde. Fühlst du dich etwa verpflichtet, mir eine Moralpredigt zu halten?“
„Ich habe Leute schon alles verlieren sehen, das ist wie auf der Achterbahn: Du rast so schnell bergab, dass du den Ausgangspunkt hoch oben nicht mal mehr erkennen kannst. Du bist ein gefährlicher Typ, Max, an der Grenze zur Gewissenlosigkeit.“
„Und du bist ein ätzender Typ, Simon, an der Grenze zum Friedhof. Amüsier dich lieber ein bisschen, und hör auf, den netten Jungen zu spielen.“
„Die Leute mögen nette Jungs.“
„Und du würdest alles tun, damit sie dich auch weiterhin mögen. Vielleicht solltest du das mal mit einem Therapeuten besprechen“, sagte ich lächelnd und stand von der Couch auf. „Ich hau ab, ich hab eine gesehen, die ich abschleppen will.“
Simons Blick wanderte zu dem goldenen Minikleid. Ich näherte mich dem Geländer und stellte fest, dass sie eng umschlungen mit ihrem Freund tanzte, während sie sich ununterbrochen in die Augen sahen. Diese Herausforderung wurde immer interessanter.
„Könnte schwierig werden, sie nach ihrem Vornamen zu fragen“, sagte Simon spöttisch.
„Das trifft sich gut. Wie sie heißt, ist mir nämlich völlig egal.“ Ich hob das Glas zum Zeichen, dass die Diskussion zu Ende war. Ich wollte dieses Mädchen, und ihr Freund würde mich bestimmt nicht daran hindern, meinen Plan in die Tat umzusetzen. Ich griff nach meiner Lederjacke und lief rasch die Stufen ins Parterre hinunter. Die Musik war ohrenbetäubend, die Tanzfläche so voll, dass ich mich nicht zur Bar durchkämpfen konnte. Ich blickte zur Empore hinauf. Simon hob sein Glas, dann deutete er mit dem Zeigefinger auf eine Stelle rechts von mir.
Ich nickte und schob mich durch die Menge hindurch auf meine Beute zu. Die schlanke, brünette junge Frau wiegte sich noch immer hin und her, verlor sich im Klang der Bässe. Mir lachte das Glück: Ihr Freund war nicht mehr in der Nähe; wahrscheinlich versuchte er beim Barista zwei Drinks zu bestellen. Ich schob mich immer näher an sie heran, bis ich ihr gegenüberstand. Als unsere Blicke sich trafen, hielt sie einen Moment inne und blinzelte mehrmals.
„Maxime“, stellte ich mich vor, indem ich meinen Mund ihrem Ohr näherte.
Ihre Lippen verzogen sich zu einem angedeuteten Lächeln. Ich blieb auf Tuchfühlung, und sie setzte sich wieder in Bewegung, wiegte lasziv das Becken. Sie drängte sich an mich, während meine Hände ihre Hüften umfassten. Der Typ von vorhin schien nicht weiter wichtig zu sein, denn sie stieß mich nicht weg, sondern schlang mir im Gegenteil die Arme um den Hals.
Meine Filmkarriere hatte mir Arbeit und Geld gebracht und erleichterte es mir außerdem, Beziehungen zu knüpfen. Die meisten Menschen verhielten sich mir gegenüber geradezu enthemmt: keinerlei Misstrauen, keine Zurückhaltung. Meine Berühmtheit schien sie grundlegende soziale Regeln vergessen zu lassen. Darum hatte ich mir diese Art zu funktionieren angewöhnt, bei der ich auf den Vornamen, den Charakter, ja, sogar auf das Leben der Mädels pfiff, die ich bumste.
„Bist du allein hier?“, fragte ich, um ins Gespräch zu kommen.
Sie schüttelte den Kopf, dann zeigte sie auf ihren Kerl, der noch immer an der Bar stand und sich über das Gezappel und Gedränge dort ärgerte.
„Ich weiß, wer du bist“, flüsterte sie an meinem Mund.
Sie löste die Hände von meinem Nacken und ließ sie über meinen Oberkörper hinabgleiten. Auf einmal wirkte ihr Blick wie verschleiert; ich drückte sie an mich und bewegte die Hüften im langsamen Rhythmus der Musik. Mit ihren langen Beinen und den üppigen Lippen sah diese Frau absolut erotisch aus. Ich war beinahe enttäuscht, dass sie sich wegen des Mannes, mit dem sie hergekommen war, kaum Sorgen zu machen schien. Ich hatte mir ein bisschen Gegenwehr erhofft, eine Art Spielchen, ja vielleicht sogar den Beginn einer Auseinandersetzung, aber diese Frau war offenbar bereit, sich mir widerstandslos hinzugeben.
„Wollen wir rausgehen?“, schlug ich vor, schon jetzt gelangweilt von der Mühelosigkeit, mit der ich sie erobert hatte.
Erneut wiegte sie sich in den Hüften und rieb sich aufreizend an mir. Ich ließ sie gewähren, ragte mit meinen eins achtzig über ihr auf, bis sie wieder hochkam, mich mit glühendem Blick betrachtete und sich dabei sinnlich auf die Unterlippe biss. Allmählich verging mir die Lust auf eine Prügelei, sie wurde durch Erregung und Verlangen ersetzt, und ich begann ernsthaft darüber nachzudenken, ob ich ihr befehlen sollte, für den Rest der Nacht die High Heels anzubehalten.
Ich drehte den Kopf zur Bar und bemerkte, dass ihr Freund seinen Posten verlassen hatte. Einige Sekunden lang suchte ich den Raum nach ihm ab und ballte die Faust, bereit zum Kampf. Mit etwas Glück würden mein Körperbau und ein zorniger Blick ausreichen, um den Typen zu vertreiben und mich selbst vor einem weiteren Skandal zu bewahren.
„Gehen wir vor die Tür“, sagte das goldene Minikleid.
Ich packte sie am Handgelenk und steuerte auf einen der Notausgänge zu. Angesichts der Entschlossenheit, mit der ich aus dem Club drängte, wichen die Leute vor mir zurück. Hinter mir klickten die Absätze des Mädchens über den Glasboden. Ich spürte Hände, die nach mir griffen, und hörte Leute meinen Namen flüstern wie ein schändliches Geheimnis. Ich überhörte das missbilligende Gemurmel und stieß die schwere Tür nach draußen auf.
Im ersten Moment überraschte mich die frische Nachtluft, sodass die Wirkung des Alkohols ein wenig gemildert wurde. Ich ging einige Schritte, und schon befand ich mich in einer dunklen Sackgasse.
„Hier?“, erklang die Stimme des Mädels.
„Ja, hier.“
Ich drückte sie an die Hauswand aus Beton und ließ die Hände über ihren Körper wandern. Das Dröhnen der Bässe war noch immer zu spüren. Zischend sog sie die Luft ein und wollte anfangen, sich über die Kälte zu beschweren. Ich drückte ihr die Lippen auf den Hals und spürte ihren leichten Schweißfilm, der sich mit ihrem teuren Parfüm vermischt hatte. Ihr Ärger verwandelte sich in Erregung, ein lustvolles Stöhnen entschlüpfte ihrem Mund. Ich ließ die Hände an ihrer Taille hinabgleiten und landete auf ihren Pobacken. Sie rieb sich an mir, bewusst obszön. Ich berührte ihre nackten Schenkel und schob ihr die Hände unter das knappe Kleid.
Die Schnalle wölbte den Rücken, presste ihr Becken an meines und überließ sich meiner Begierde. Ihre Gefühle waren mir scheißegal, ich wollte nur ihren Körper, und mit dem würde ich tun, wozu ich Lust hatte. Ich berührte sie flüchtig im Schritt, während sich meine Lippen einen Weg zu ihren eher kleinen Brüsten bahnten. Mit den Zähnen packte ich den Stoff ihres Bustiers und zog heftig daran, ihr Kleid erinnerte inzwischen eher an einen breiten goldenen Gürtel. Überrascht stieß sie einen leisen Schrei aus, während ich bereits ihre Brustwarzen bewunderte, die sich durch eine Mischung aus Kälte und Erregung aufgerichtet hatten.
Mit der Zunge reizte ich ihre Brüste, während ich ihr Geschlecht durch den Slip streichelte. Wie eine abgestellte Puppe lehnte sie mit ausgebreiteten Armen an der Wand, ohne mich zu berühren oder irgendeine Form von Initiative zu ergreifen.
„Hey!“, rief eine männliche Stimme in der Nähe.
„Mist!“, stieß sie erschrocken hervor.
Sie schubste mich weg und zog hastig ihr Kleid runter. Außer Atem und ziemlich sauer wegen der Unterbrechung drehte ich mich zu dem ungebetenen Gast um. Meine Erregung fiel blitzschnell in sich zusammen: Es war ihr Freund. Natürlich.
Das verlieh der Situation deutlich mehr Würze.
„Was geht hier vor?“
Kopfschüttelnd musterte er seine Freundin; sein Gesichtsausdruck verriet eine Mischung aus Ekel und Verständnislosigkeit. Rasch zog er sein Hemd aus und reichte es ihr.
„Um Himmels willen, zieh dir was über! Wir fahren nach Hause.“
Er machte einen Schritt auf mich zu. Seine Augen funkelten vor Wut, die Schultern waren angespannt, sein Kiefer mahlte. Die Wut schien in immer stärkeren Wellen von ihm auszugehen. Ich baute mich vor ihm auf und musterte ihn. Normalerweise beruhigten sich die Typen, wenn ich sie nur ansah.
„Der Schauspieler, stimmt’s?“, fragte er.
„Stimmt. Und ich finde deine Freundin ziemlich niedlich“, sagte ich in provozierendem Ton.
Das arme Mädel stand hinter ihm und streifte sich sein Hemd über. Ihr Blick war auf den Boden geheftet, und sie schwitzte vor Demütigung, so, wie ihr Typ vor Wut schwitzte. Wäre sie mir nicht völlig egal gewesen, hätte sie mir leidtun können. Sobald sie mich weggestoßen hatte, hatte ich das Interesse an ihr verloren. Ehrlich gesagt, reizte mich die Aussicht auf eine Prügelei mit ihrem Typen inzwischen mehr als eine schnelle Nummer mit ihr.
„Nenn mir einen guten Grund, warum ich dir nicht aufs Maul hauen sollte“, sagte der Typ.
„Das werde ich auf keinen Fall tun“, zischte ich ihn an.
Im nächsten Augenblick schmetterte er mir die Faust gegen die Schläfe. Erstaunt von der Wucht des Aufpralls, geriet ich ins Stolpern und taumelte einige Schritte zurück. Als er zum zweiten Schlag ansetzte, gelang es mir, seinen Arm zu blockieren und ihm die Faust in den Magen zu rammen. Er stieß ein gequältes Gurgeln aus, beugte sich vor und rang nach Luft. Er richtete sich wieder auf, und erneut landete ein Fausthieb auf meinem Kiefer, dann einer auf der Wange. Er drückte mich an die Wand, und seine Hand schloss sich um meinen Hals, sodass ich keine Luft mehr bekam. Mein Schädel schlug gegen den Beton; es fühlte sich an, als hallte der Aufprall in meinem ganzen Körper wider.
Es gelang ihm, meinen Schlägen auszuweichen, aber als mein Knie in seinem Schritt landete, grunzte er vor Schmerz.
Ich hatte wahnsinnige Kopfschmerzen und taumelte weiter in die Sackgasse hinein, um auf Sicherheitsabstand zu gehen. Ich fuhr mir mit den Fingern über den Mund, der vertraute metallische Geschmack von Blut ließ meinen Zorn wieder aufleben und verlieh mir neue Energie. Ich raste auf ihn zu, entschlossen, meine Wut an ihm auszutoben. In seinem Blick flackerte Angst auf. Jetzt bereute er die Feindseligkeit, mit der er auf mich losgegangen war. Bereit, die Flucht anzutreten, wich er zurück, stolperte aber und landete mit dem Hintern auf dem schmutzigen Boden.
Ich ließ Faustschläge auf ihn niederregnen, obwohl er sich schützend die Arme vors Gesicht hielt. Mein Atem ging schwer, mir dröhnte der Kopf, aber ich schlug unaufhörlich auf ihn ein. Er würde bezahlen. Er würde bezahlen für all diejenigen, die mich ihre Herablassung hatten spüren lassen. Er würde bezahlen, weil er es von Anfang an leichter gehabt hat als ich, er bezahlte für sein perfektes Leben. Und endlich war ich besänftigt – für eine Weile. Ich hatte meine Revanche bekommen.
Das Mädchen schrie, sie flehte mich an, aufzuhören, drohte mir schließlich, die Polizei zu rufen. Als ich wieder hochkam, rang ich nach Luft, und mein Hemd war blutbefleckt. Die Haut meiner Fingerknöchel war abgeschürft, aber ich war erleichtert. Der Druck, der mich im Club überwältigt hatte, ließ endlich nach.
Der Typ lag wimmernd am Boden, sein Seufzen und Stöhnen hallte in der kleinen Sackgasse wider. Ich starrte ihn noch immer an, während seine Freundin sich über ihn beugte und heiße Tränen vergoss. Ich spuckte auf den Boden und begutachtete den Schaden: Mein Hemd befand sich in einem erbärmlichen Zustand, und in wenigen Stunden würde ich einen Bluterguss von der Größe Australiens im Gesicht haben.
„Ich prügle mich halt gern“, sagte ich schließlich. „Wenn du unbedingt einen Grund hören willst …“
„Verpiss dich“, knurrte er.
„Würde ich ja gern, aber deine Freundin scheint damit nicht einverstanden zu sein.“
Blaue und rote Lichter zuckten über die Backsteinmauer und ließen mein Siegerlächeln verblassen. Dass die Polizei auftauchte, gehörte nicht zu meinem Plan. Die würde keine fünf Sekunden brauchen, um zu kapieren, was hier vor sich ging. Ich sah bereits die Probleme vor mir, mit denen ich mich würde herumschlagen müssen: strafrechtliche Verfolgung, weil ich diesen Typen zusammengeschlagen und einen zu hohen Alkoholspiegel im Blut hatte, ein hübscher Skandal für die Presse, die Verschiebung der nächsten Dreharbeiten, meine stinkwütende Agentin, die scheinheiligen Blicke der Kollegen aus dem Filmgeschäft. Das würde ein paar Tage so gehen, dann wäre die Sache wieder vergessen.
Dies war einer der Vorteile meines Berufs: Man konnte unausstehlich sein, sämtliche Grenzen missachten, einen Unschuldigen in einer dunklen Ecke windelweich prügeln – jedes Fehlverhalten wurde einfach hingenommen und als „Entgleisung“ bezeichnet. Nach ein paar Entschuldigungen mit zerknirschter Miene war alles wieder in Ordnung, die Zeche war bezahlt.
Mithilfe seiner Freundin stand der Typ auf und stolperte auf die Mauer zu, um sich daran abzustützen. Ich wog meine Chancen ab: Blieb mir noch genug Zeit, um die Flucht zu ergreifen? Ich befand mich in einer Sackgasse. In jeder Hinsicht. Selbst wenn ich es zurück in den Club schaffte, würden sie mich in Anbetracht meines Zustands schnell aufspüren. Das Blut auf meinen Händen und Lippen trocknete bereits. Ich ging tiefer in die Sackgasse hinein, überzeugt, der Polizei ausweichen und das kaputte Liebespaar hinter mir lassen zu können. Ich kam auf der Avenue heraus, die hinter dem Club verlief, und sah mich rasch um.
Sollten die Flics bereits ausgestiegen sein, hielten sie sich zurück. Vermutlich waren sie wegen etwas Wichtigerem als einem Schauspieler gerufen worden, der sich mit einem Normalsterblichen schlägt.
Es war eine süße Illusion. Ich war noch keine zwei Schritte gegangen, da rief mich ein Polizist beim Namen und befahl mir, auf der Stelle stehen zu bleiben. Ich beachtete ihn nicht weiter und holte ein Päckchen Zigaretten aus der Gesäßtasche meiner Jeans.
„Stehen bleiben!“, brüllte er erneut.
Ich ging weiter, drehte den Bullen den Rücken zu und zündete mir eine an. Ich kam nicht mehr dazu, mein Feuerzeug wieder einzustecken. Plötzlich wurde ich heftig nach vorn geschleudert und knallte mit dem Gesicht auf die Motorhaube eines Wagens. Als der Bluterguss auf das eiskalte Metall traf, verzog ich vor Schmerz das Gesicht.
„Stehen bleiben, habe ich gesagt!“, zischte der Bulle, der nun hinter mir aufragte und mir eine Hand zwischen die Schultern presste.
Er suchte mich ab, betastete meine Taschen und den unteren Rücken.
„Hast du was dabei?“, fragte er und warf mein Zigarettenpäckchen auf den Boden.
„Nein, nichts.“
Es war nicht das erste Mal, dass ich festgenommen wurde, also wusste ich genau, was nun folgen würde. Sie würden mir auf offener Straße einen Verweis erteilen und mich gehen lassen, nachdem ich versprochen hatte, mich von nun an zu benehmen.
Plötzlich packte mich der Polizist am rechten Handgelenk, und ich spürte, wie sich die Handschelle darum schloss. Die andere Hand folgte, und an der kleinen Kette, die meine Fäuste miteinander verband, wurde ich grob zurückgezogen. Das kalte Metall schnitt mir in die Handgelenke, und die Brutalität, mit der die Festnahme vor sich ging, ließ mich missbilligend knurren. Die Sache verlief anders als vorhergesehen.
„Hey, langsam“, schimpfte ich.
„Träum weiter“, kam es postwendend. „Du verbringst die Nacht auf dem Revier, vielleicht beruhigst du dich dann wieder.“
„Ich möchte jemanden anrufen.“
Die Antwort des Bullen bestand darin, dass er heftig an der Kette zog, woraufhin sämtliche Muskeln in meinem Körper zu rebellieren begannen; vor allem meinen Schultergelenken gefiel diese Behandlung überhaupt nicht. Ich stolperte über einen Gullydeckel und senkte den Blick. Trotz allem musste ich grinsen – diese Farce war ein einziger großer Spaß für mich.
Der Polizist öffnete die Tür eines Zivilstreifenwagens und drückte mir zum Einsteigen den Kopf hinunter.
„Muss das sein?“, fragte ich.
Als ich ein letztes Mal aufblickte, stellte ich fest, dass sich auf dem Bürgersteig mehrere Fotografen befanden, die offenbar vorhatten, das Foto des Jahrhunderts zu verkaufen. Tja, Mathilde würde mir das Grinsen schon noch austreiben.
„Einsteigen!“
Der Wagen rauschte ab, und ich sah gerade noch, wie uns mit Kameras bewaffnete Paparazzi im Laufschritt folgten.
„Wohin fahren wir überhaupt?“
„Zum Polizeirevier des 9. Arrondissements. Sehr gemütlich dort, Sie werden sehen!“


2 – »Meine Güte, wie …
Sarah 

„Meine Güte, wie viel hast du denn bestellt?“
„Sie werden nach Gewicht verkauft. Ich habe ein sehr gutes Geschäft gemacht!“, verteidigte ich mich und schob das graue Samtsofa in der Leseecke etwas nach hinten.
Baptiste musterte mich genervt. Leicht verlegen und ein wenig beschämt blickte ich auf den Boden, denn ich kam mir vor wie ein Kind, das mit dem Finger im Marmeladenglas erwischt wird. Nur dass meine Marmelade antiquarische Bücher waren.
Die heutige Lieferung belief sich auf annähernd vierzig Kilo.
Zugegeben: Das entsprach keinem Glas, sondern eher einem Kessel voller Marmelade, und ich steckte bis zu den Ellbogen in der klebrigen Masse. Ich stand dazu, und die Scham wich rasch einem gesunden Gefühl von Stolz.
„Lesen ist eine positive Sucht“, erklärte ich, während mein Nachbar die vierte Bücherkiste auf den Stapel stellte. „Ich habe so viel bestellt, dass es für die nächsten Wochen reicht.“
„Sarah, diese Bücher sind zum Weiterverkaufen bestimmt, das ist dir doch klar, oder?“
Baptiste, der das einzige akzeptable Restaurant in der Stadt betrieb, war groß und von stämmiger Statur. Er verhielt sich stets zuvorkommend, war ungefähr so alt wie mein Vater, und er liebte es, mich wie eine Tochter zu behandeln. Er vergewisserte sich, dass ich regelmäßig aß, und nahm mich ebenso regelmäßig wegen der Buchhandlung ins Gebet. Seiner Ansicht nach besaß ich keinerlei Geschäftssinn und drohte noch vor Ende des Jahres pleitezugehen.
„Ja, ich weiß. Aber vorher werde ich mich davon überzeugen, dass die Bücher in Ordnung sind.“
„Sarah“, ermahnte er mich stirnrunzelnd.
Ich überhörte es und öffnete die erste Kiste. Taschenbücher verkauften sich am besten. Und ich hatte mir mit dem „Buchgetränk“ sogar ein spezielles Angebot überlegt: Zu jedem gekauften Taschenbuch gab es ein Heißgetränk gratis. Damit belohnte ich die Leserinnen und Leser und lockte zugleich die Koffeinsüchtigen an, die mit der Tasse in der Hand zwischen den Regalen der Buchhandlung herumschlendern konnten.
Es kam günstiger, gebrauchte Bücher in großen Mengen zu kaufen, und außerdem hatte ich das Gefühl, etwas Gutes zu tun, indem ich sie vor der Mülldeponie bewahrte. Ich sortierte die Bände, flickte sie, wenn nötig, legte sie im Schaufenster aus und stellte sie gelegentlich für die abendlichen Treffen des Leseclubs nach Themen zusammen.
Aber dies war mein Lieblingsmoment: der Augenblick, in dem ich die Bücher entdeckte, in dem wir Bekanntschaft miteinander machten und ich mir vorzustellen versuchte, durch wessen Hände sie bereits gegangen waren. Ich atmete ihren Duft ein, strich über das Papier und verlor mich in der Betrachtung der Titelbilder.
Ich hatte nie Gelegenheit gehabt zu verreisen, aber ich las, und das war beinahe das Gleiche – nur ohne Jetlag und vom gemütlichen Sofa aus.
Ich nahm ein Buch aus der Kiste und blätterte es rasch durch, ehe ich fortfuhr: „Ich muss mir den Allgemeinzustand ansehen, das Cover und so. Wusstest du, dass es grausame Menschen gibt, die Eselsohren in Buchseiten machen?“
„Das sind zweifellos gefährliche Straftäter“, spöttelte Baptiste.
„Genau wie die Leute, die deinen Bordeaux mit Wasser verdünnen.“
„Na, die haben wirklich einen qualvollen Tod verdient. Aber ich glaube nicht, dass ein Eselsohr …“
Ich hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Ohne ein Wort strich ich die Ecke einer Seite wieder glatt, die ein böser Mensch umgeknickt hatte. Das empörte mich immer wieder aufs Neue, dass manche Leute so wenig Respekt vor Büchern hatten.
„Ich hole mal die anderen Kisten“, sagte mein Nachbar schließlich.
Vertieft in die vergilbten Seiten, nickte ich nur zerstreut.
„Sarah?“
„Ja.“
„Nicht lesen. Begnüg dich damit, sie auszupacken, du hast noch zu tun.“
Ich hatte bereits begonnen, diese neue Geschichte zu verschlingen und dabei bereitwillig vergessen, dass ich erst alles auspacken und erfassen musste, ehe ich Nutzen aus der Lektüre ziehen konnte. Baptiste lief noch dreimal hin und her, und bald darauf sah ich mich – auf dem Boden sitzend – von Pappkisten umzingelt. Ich zog mir die Schuhe aus und leerte die erste Kiste, indem ich die Bücher gewissenhaft aufeinanderstapelte.
„Findest du denn Platz dafür?“, fragte Baptiste, der an der Wand lehnte.
„Anita bringt mir noch ein paar alte Regale zurück. Könntest du vorbeikommen und sie für mich aufstellen? Ich will sie unter der Treppe unterbringen, um die Lücke dort zu füllen.“
„Von mir aus.“
Er seufzte, und seine Worte schienen in der Luft zu hängen, als wartete er auf eine Antwort von mir. Ich musterte ihn eine Weile scharf, dann schenkte ich ihm ein Lächeln. In besorgtem Ton fragte er: „Ich gehe mit dem Ensemble ein Glas Wein trinken, kommst du mit?“
Ich schaute Baptiste an. Inmitten der Bücherkisten und im Trancezustand der Entdeckung dachte ich mir bereits Themengruppen für all diese Wunderwerke aus, und er schlug mir vor, einen trinken zu gehen? Als ich schwieg, kam er mit väterlich-missbilligender Miene auf mich zu.
„Ich mache mir Sorgen um dich“, sagte er.
„Mir geht’s gut.“
„Ich weiß, dass die Buchhandlung im Augenblick schlecht läuft.“
Ich war im Begriff, etwas zu erwidern, aber er hob gebieterisch den Zeigefinger. Baptiste nahm seine Rolle als Ersatzvater ein bisschen zu ernst, und manchmal ging mir das auf die Nerven. Jahrelang hatte meine Großmutter diese Buchhandlung geführt. Vor ihrem Tod hatte sie mir alles übertragen: den Laden, ihre Liebe zu Büchern, ihren Sinn fürs Teilen. Einfach alles. Seitdem tat ich mein Bestes, um den Fortbestand des kleinen Unternehmens zu sichern.
„Das wird schon wieder. Bald fangen die Sommerferien an, da gehen die Geschäfte immer sehr gut.“
„Sarah …“
Eilig räumte ich eine weitere Bücherkiste aus und ignorierte den bohrenden Blick meines Nachbarn. Er brauchte nicht zu wissen, dass die Konten in den roten Zahlen standen und der Bankberater mich drängte, endlich einen Gesprächstermin mit ihm zu vereinbaren. „Wir müssen Ihre Situation erörtern“, hieß es, aber das war nur eine bequeme Redensart, um mich in die Knie zu zwingen und mich vollends fertigzumachen, indem sie von mir verlangten, den Laden zu verkaufen.
Baptiste nahm mir das Buch aus der Hand, das ich gerade begutachtete. Ich hob den Kopf und musterte ihn gereizt.
„Ich arbeite gegenüber, ich sehe doch, was hier los ist. Willst du darüber reden?“
„Es ist alles in Ordnung, wirklich“, sagte ich im Brustton der Überzeugung.
„Und Pauline?“
„Was soll mit ihr sein?“
Ich stand auf und klopfte mir den Staub von der himmelblauen Jeans. Um etwas Platz zu schaffen, stieß ich mit dem Fuß einen Kistenstapel beiseite. Die Leseecke, die aus einem Sofa und drei senfgelben Lehnsesseln bestand, war komplett zugestellt. Bis zum nächsten Morgen, wenn ich öffnete, musste alles weggeräumt sein.
„Ich weiß, dass ihr euch nicht mehr so häufig seht, seit sie geheiratet hat. Vielleicht solltest du dich mal mit anderen Leuten treffen.“
„Pauline war in den Flitterwochen. Und außerdem habe ich dich und Anita und das komplette Ensemble. Ich brauche keine neuen Leute. Mit euch habe ich schon genug zu tun!“
„Mit einem Trupp alter Wracks, von denen die Hälfte taub ist und unter Arthrose leidet?“
„Und die andere Hälfte?“, fragte ich belustigt.
„Die andere Hälfte hat Probleme mit dem Gedächtnis oder mit der Prostata. Oder sogar mit beidem, wenn sie Pech haben. Sarah, niemand will seine Zeit mit Leuten verbringen, die ihren Hausarzt als Familienmitglied ansehen. Du solltest mit Menschen deines Alters verkehren.“
Ich hielt inne, wusste nicht recht, ob ich amüsiert oder verblüfft sein sollte. Ich kümmerte mich gern um das Theaterensemble der Stadt. Ich mochte den Buchladen, und ich mochte das Leben in diesem Ort. In meinen Augen hatte ich alles, was ich brauchte, und ich empfand keinerlei Bedürfnis, etwas anderes zu tun.
„Dazu habe ich keine Zeit“, antwortete ich ausweichend. „Und erst recht keine Lust!“
„Hast du schon mal ans Internet gedacht? Du könntest Bekanntschaften schließen, deine Leidenschaft mit anderen teilen.“
„So etwas interessiert mich nicht, Baptiste.“
„Und warum gehst du nicht zu der Party vor der Weinlese? Da sind jede Menge junge …“
„… stockbesoffene, hirnlose Typen, die schlecht riechen. Für jemanden, der um mein Wohl besorgt ist, finde ich deine Ideen ziemlich fragwürdig.“
„Okay, okay. Aber du kannst doch nicht immer allein bleiben! Du brauchst einen Mann, der sich um bauliche Maßnahmen im Laden kümmert … und die Bücherkisten schleppt.“
„Ich tue jetzt mal so, als wäre diese Bemerkung überhaupt nicht sexistisch, und empfehle dich für die weibliche Hauptrolle in unserem nächsten Stück.“
„Du weißt genau, wie ich das meine“, sagte er und seufzte. „Ich mache mir Sorgen um dich. Wir alle tun das. Eine hübsche junge Frau wie du …“
Dieses Gespräch wurde allmählich anstrengend. Alle hatten eine Meinung über mich und mein Liebesleben, sogar meine Freunde. Seit mehreren Wochen versuchte das Ensemble mit diebischem Vergnügen, mich aus dem Laden zu locken, aber bisher war ich standhaft geblieben. Ich war gern hier, und ich war gern allein. Es machte mir nichts aus. Ich brauchte niemanden und verspürte auch sonst keinen Mangel, mit dem Laden war ich völlig ausgelastet. Offen gesagt, hätte ich nicht gewusst, wie ich Zeit für eine Beziehung aufbringen sollte.
„Mir geht es gut hier inmitten der Bücher und weit weg von der Realität. Und das mit deiner Prostata tut mir leid“, fuhr ich fort, um vom Thema abzulenken.
„Aber … woher …“
„Eine einfache Schlussfolgerung, Baptiste. So, und jetzt möchte ich gern mit dem Auspacken fertig werden. Wenn die Bücher da drinbleiben, werde ich sie nie verkaufen.“
„Nicht mal auf ein Glas?“, hakte er nach.
„Nein. Danke, Baptiste.“
Um das Gespräch zu beenden, gab ich ihm einen Kuss auf die Wange, die von einem dünnen, grau melierten Bart bedeckt war. Ich hörte meinen Nachbarn ein weiteres Mal seufzen, ein sicheres Anzeichen dafür, dass er sich erneut mit einer Niederlage abfinden musste.
„Brauchst du noch Hilfe?“, fragte er, während er auf die Tür zusteuerte.
„Nein, ich komme klar. Geh nach Hause. Gloria wartet sicher schon auf dich.“
„Sie gehört zu der Hälfte, die taub ist. Um diese Zeit sitzt sie vor dem Fernseher vor ihrer Serie und schläft, und dann könnte ein Flugzeug neben ihr starten, ohne dass sie eine Miene verzieht.“
„Das erzähle ich ihr …“
„Hab ich mir schon gedacht.“
Auf der Schwelle des Ladens lächelte er mich noch einmal an und zog mich in eine freundschaftliche, warmherzige Umarmung. Innerhalb einer Sekunde hatte ich unser Gespräch vergessen und ihm seine aufdringliche Neugier verziehen.
„Geh nicht so spät ins Bett“, ermahnte er mich. „Und schließ die Tür ab.“
Ich blieb auf der Schwelle stehen, während er seine Weste zuknöpfte und sich ans Steuer seines Transporters setzte. Ohne Baptiste wäre ich gezwungen gewesen, mir die Bücher liefern zu lassen und ein Vermögen dafür auszugeben. Ohne es zu wissen, war er mir auch auf diese Weise eine große Hilfe, und dafür mochte ich ihn noch lieber.
Ich winkte ihm zum Abschied und wartete, bis er um die Ecke gefahren war, ehe ich wieder hineinging. Ich schloss die Tür und ließ den Blick über die Nachbarhäuser schweifen: Rechts säumte Baptistes Restaurant mit der Terrasse voller prächtig blühender Blumen den Platz, links befand sich eine Bäckerei in unmittelbarer Nachbarschaft eines Gemüsehändlers. Und direkt gegenüber stand der Blumenladen. Frédéric, der Florist, hatte stets ein Lächeln auf den Lippen und verfügte über einen üblen Sinn für Humor. Sehr bald hatte sich herausgestellt, dass wir einiges gemeinsam hatten: Er las gern und trank seinen morgendlichen Espresso am liebsten ohne Zucker. Gelegentlich brachte er mir Blumen vorbei, weil es ihn zu sehr betrübt hätte, sie wegzuwerfen. Der Gedanke an dieses Detail entlockte mir ein Lächeln, während ich dabei war, die Tür zu verriegeln.
Ich ging in die Leseecke zurück und öffnete vorsichtig sämtliche Kisten. Inmitten der Bücher fühlte ich mich sicher und geborgen. Baptiste war besorgt, ich sei zu einsam, dabei war es wesentlich leichter so. Das ersparte mir mitleidige Blicke. Ich musste das Geflüster und den Spott der Leute nicht mehr hören, die meine Eltern noch gekannt hatten. Manchmal dachte ich, dass es einfacher gewesen wäre, wegzugehen und ein neues Leben anzufangen, unberührt von den Eskapaden meiner Familie. Mehrmals hatte ich meine Koffer gepackt, meine Meinung aber wieder geändert: Wohin hätte ich auch gehen sollen? Mein Leben spielte sich nun mal hier ab.
Ich verbrachte den Großteil der Nacht damit, meine zuletzt erworbenen Schätze einzuräumen. Nachdem ich die Pappkisten zusammengefaltet und in einer Ecke des Ladens aufgestapelt hatte, stieg ich die Treppe zu meiner Wohnung hinauf. Außer dem Geschäft hatte meine Großmutter mir auch eine Unterkunft in der oberen Etage hinterlassen. Nach ihrem Tod hatte ich die Räume renoviert; die vergilbten Tapeten waren einer Schicht weißer Farbe und einigen Schwarz-Weiß-Fotos gewichen. Das Wohnzimmer quoll über vor Büchern, die sich sogar auf meinem Schreibtisch ausgebreitet hatten. Den Großteil der Zeit arbeitete ich auf der Couch, machte die Terminplanung für den Club und überlegte mir neue Aktionen für die Stammkunden.
Der Rest der Wohnung bestand aus zwei weiteren Zimmern: Ich schlief in dem Raum mit dem großen Glasfenster, das auf den Park hinter dem Haus ging, während mir das andere Zimmer als Zwischenlager für noch mehr Bücher diente.
Ich bereitete mir ein leichtes Abendessen zu und listete auf, was ich am nächsten Tag zu tun hatte. Den beiden Rechnungen – Telefon und Strom –, die geduldig darauf warteten, bezahlt zu werden, schenkte ich demonstrativ keine Beachtung. Irgendeine Lösung würde sich schon finden.

Am nächsten Tag nutzte ich den strahlenden Sonnenschein, um vor dem Laden ein paar Tische aufzustellen. Ich holte auch die minimalistische Getränkekarte hervor und fuhr mühsam einen Verkaufsständer hinaus. Perfekt aufgereiht standen die Bücher vom Vorabend darauf, nach altem Papier und ebenso alter Druckerschwärze duftend und bereit, gekauft zu werden.
Um elf Uhr kam wie üblich Anita mit dem Überschwang ihrer fünfundfünfzig Lenze in den Buchladen gestürmt. Stets originell gekleidet – heute hatte sie sich für eine individuell gestaltete Jeanslatzhose mit Stickereien und Schottenkaro-Flicken entschieden –, schäumte sie über vor immerwährender guter Laune, gepaart mit einem ziemlich beißenden Sinn für Humor. Nach ihrer dritten Scheidung vor vier Jahren hatte sie beschlossen, aufs Land zu ziehen und Jugendlichen bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu helfen. Für ihr finanzielles Wohlergehen sorgten ihre Ex-Ehemänner. Nachdem sie mich herzlich begrüßt hatte, musterte sie mich von Kopf bis Fuß und verzog das Gesicht.
„Hm, ich würde sagen … keine fünf Stunden Schlaf?“
„Dreieinhalb“, antwortete ich und unterdrückte ein Gähnen.
„Baptiste hat mir erzählt, dass du Bücher angekauft hast.“
Trotz ihrer lässigen Art gelang es Anita virtuos, ihr Missfallen zum Ausdruck zu bringen. Sie setzte ein halbes Lächeln auf und runzelte leicht die Stirn, und ich hatte längst gelernt, die Zeichen zu deuten. Diesmal verriet sie außerdem ihr Tonfall, der ein bisschen ernster war als sonst.
„Halt mir bitte keine Moralpredigt“, sagte ich und stürzte mich sofort wieder in die Arbeit. „Du weißt, dass ich das Lager ständig ergänzen muss, um die Kunden bei der Stange zu halten.“
„Deine Regale sind jetzt schon kilometerlang. Du solltest ein bisschen vernünftiger sein.“
„Ich weiß genau, worauf dieses Gespräch hinausläuft“, sagte ich ausweichend.
„Tatsächlich?“
„Tatsächlich. Du wirst mir etwas über Bücher erzählen und sagen, dass du dir Sorgen um den Laden machst. Und danach geht es weiter mit angedeuteten Vorschlägen für mein nicht existentes Liebesleben …“
„Sarah“, fiel sie mir ins Wort.
Ich hob eine Hand und fuhr fort: „Natürlich wirst du dich deutlich genug ausdrücken, damit ich gekränkt bin und gleichzeitig verunsichert genug, um die gewünschten Schlüsse daraus zu ziehen. Du wirst auf der Tatsache herumreiten, dass ich schon lange allein bin, und mir vorschlagen, mich mit einem Gleichaltrigen zu treffen, zum Beispiel mit dem besten Freund deines Sohnes.“
Anita starrte mich mit offenem Mund an, den Ellbogen auf die Theke gestützt, die als Treffpunkt diente. Sie richtete sich auf und verzog den Mund zu einem strahlenden Lächeln. Zufrieden, weil ich ihren Angriff abgewehrt hatte, kam ich langsam wieder zu Atem.
„Einen Kaffee?“, fragte ich.
„Einen koffeinfreien. Und tatsächlich wollte ich dir gerade von meinem Neffen erzählen“, korrigierte sie mich.
Ich ging zur Kaffeemaschine und kehrte meiner Freundin den Rücken zu.
„Warum wollt ihr mich unbedingt unter die Haube bringen?“, fragte ich, während ich den Wasserbehälter füllte. „Ich bin gern allein, ich habe Arbeit und überhaupt keine Zeit, mit dem erstbesten Typen zu flirten.“
„Zu flirten?“
Ich musterte sie mit finsterem Blick, ehe ich eine Tasse herausholte und sie unter die Kaffeedüse stellte. Vergeblich versuchte ich meinen Ärger zu unterdrücken. Ich hatte es immer schon gehasst, wenn andere sich in meine Angelegenheiten einmischten. Und dass sie alle so besessen von meinem Liebesleben waren, wurde allmählich geradezu beleidigend. Entweder wollten sie mich loswerden, oder sie hielten mich für zu tollpatschig, um einen Mann zu verführen.
Niemals würde ich zugeben, dass die zweite Vermutung die richtige war. Ich war einfach keine dieser femininen Frauen voller Geist und Witz, die sich in ihrem Körper wohlfühlen. Ich trug Jeans und T-Shirt, ließ meine Haare an der Luft trocknen und machte mir absolut nichts aus Schminke. Ich beneidete Frauen, die es verstanden, ihre Vorzüge zur Geltung zu bringen, die mit entschlossener Miene und sinnlichem Lächeln an ihrem Haar herumspielten.
Mein Leben war diese Buchhandlung. Den ganzen Tag lang dachte ich an Bücher … und sprach darüber. Sogar mit Männern, die mir möglicherweise gefielen. Und das verwandelte mich unweigerlich und immer wieder in eine Langweilerin, eine schüchterne graue Maus.
Ich selbst war die Einzige, die mein Liebesleben behinderte, ich war eine verdammte Spaßbremse mit dicken Socken und Wollstrickjacke.
„Ja, flirten“, fuhr ich fort. „Dafür habe ich keine Zeit! Und außerdem habe ich ständig eiskalte Füße und keine Ahnung, welchem Typ Mann so was gefallen könnte.“
„Sarah …“
„Hier wird jedenfalls garantiert keiner hereinschneien und mich zum Abendessen einladen.“
„Sarah …“
„Und wenn doch, ist er so alt wie mein Opa und starrt mich notgeil an. Glaub mir, der Märchenprinz kommt nicht …“
Mit Anitas Tasse in der Hand verstummte ich mitten im Satz, denn Frédéric, der Florist aus der Nachbarschaft, tauchte plötzlich mit einem Strauß roter Pfingstrosen auf und warf meiner Freundin einen verschwörerischen Blick zu. Ich stellte Anitas koffeinfreien Kaffee auf die Theke und wischte mir nervös die Hände an meiner Jeans ab.
Ich war nicht nur eine Spaßbremse auf Beinen, sondern hatte außerdem ein ausgeprägtes Talent dafür, in jedes Fettnäpfchen zu treten.
„Salut“, murmelte ich.
„Salut. Die sind für dich, ich dachte, sie gefallen dir vielleicht“, sagte Frédéric und hielt mir den Strauß hin.
Wie oft mir ein Mann Blumen geschenkt hatte, ließ sich an den Fingern einer Hand abzählen. Und vier von diesen fünf Sträußen hatte mir Frédéric überreicht. Es war deprimierend. Dennoch nahm ich sein Geschenk mit einem strahlenden Lächeln entgegen. Er blickte mir unverwandt in die Augen, und unsere Hände streiften sich in dem Moment, in dem ich die Finger um die Blumen schloss. Verlegen und mit rasendem Herzen senkte ich den Blick und nahm ihm den Strauß mit einer ruckhaften Bewegung aus der Hand.
Selbstverständlich verzog er keine Miene, sondern starrte mich nur an und fragte sich vermutlich, wie es um meine geistige Gesundheit stand.
„Danke“, flüsterte ich und spürte, wie meine Wangen heiß wurden.
„Du solltest dir öfter mal Blumen kaufen!“
„Das täte ich auch, wenn ich das Geld dafür hätte. Vielen Dank für den Strauß.“
„Keine Ursache. Ich dachte mir schon, dass sie dir gefallen würden. Ich habe gesehen, wie du die Tische rausgestellt hast.“
„Heute Nachmittag soll es prächtiges Wetter geben, habe ich gehört. Und du, wie sieht’s bei dir mit Aufträgen aus?“
„Am Wochenende habe ich eine Hochzeit, damit dürfte ich für den Rest der Woche ausgelastet sein. Da bleiben bestimmt ein paar Blumen übrig, die bringe ich dir dann.“
Gegen meinen Willen verspürte ich einen leichten Stich in der Herzgegend. „Für den Rest der Woche ausgelastet“, das bedeutete vor allem, dass er mich nicht besuchen würde. Frédéric tauchte für gewöhnlich am Abend bei mir auf, bestellte einen Kaffee, schlenderte durch den Laden und fragte mich schließlich, ob es etwas gab, das er unbedingt lesen musste.
Mein Nachbar gefiel mir. Er war groß, brünett, muskulös, zuvorkommend, lustig, scharfsinnig und faszinierend – damit entsprach er allem, was ich an Männern mochte. Oder jedenfalls fast allem. Wäre er an mir interessiert, wäre er definitiv die Verkörperung des idealen Mannes. Aber ich hatte sehr bald begriffen, dass er nur eine nette, hilfsbereite Nachbarin in mir sah.
„Das ist doch super!“, rief ich, um meine Enttäuschung zu verbergen.
„Also, was ist das für eine Geschichte mit diesem Mann, der dich zum Essen einlädt?“
Ich warf Anita einen Blick zu. Vorsichtshalber wich sie ein paar Schritte zurück und trat die Flucht in die Krimiabteilung an, während ich sie und ihre Nachkommen der nächsten Generationen verfluchte. Ich nahm einen Stift, griff nach meinem Terminplan und tat so, als müsste er auf der Stelle berichtigt werden. Vor lauter Panik zitterten mir die Hände, und ich versuchte das unangenehme Hitzegefühl nicht zu beachten, das mich überkam. Ich strich zwei Felder durch, kritzelte eine unleserliche Notiz und wendete das Blatt, um zwei Romantitel darauf zu notieren.
Als ich, verkrampft vor Nervosität, den Kopf hob, war Frédéric immer noch da. Ein amüsiertes Lächeln umspielte seinen Mund. Mein Herz schlug ein bisschen schneller, als ich seinen fröhlichen Blick und dieses unwiderstehliche Grübchen in seiner Wange sah.
„Bilde ich mir das nur ein, oder tust du gerade so, als sei ich gar nicht da?“
Ich bin das Mädchen, das am Boden des Lochs noch weitergräbt. Vermutlich, weil ich meine Scham dort beerdigen will, meine Schüchternheit und meinen Magen, der Loopings dreht.
„Ich … ähm … Niemand hat mich zum Essen eingeladen“, sagte ich schließlich, während ich den Stift zwischen den Fingern hin und her drehte.
„Und was machst du morgen?“
Der Stift flog durch die Luft, und ich ertappte mich dabei, dass ich mir die Finger rieb wie ein kleines Mädchen, das dringend zur Toilette muss. Ich war gleichzeitig erschrocken über seine harmlose Frage und bestürzt wegen meines eigenen Verhaltens. Meine krankhafte Schüchternheit würde die geringen Chancen zerstören, die ich bei diesem Mann vielleicht hatte.
Plötzlich verblasste Frédérics Lächeln, und er runzelte die Stirn.
„Ich hab ganz vergessen, dass du den Leseclub hast.“
„Ähm … äh … ja. Aber …“
„Und ich weiß, dass du nie einen Termin ausfallen lässt.“
„Ach ja?“
„Das gehörte zu den ersten Dingen, die du mir erzählt hast, als ich hier angekommen bin. Ich will deine Pläne und die der anderen nicht durchkreuzen.“
Ich unterdrückte ein frustriertes Stöhnen. Wenn ich nicht endlich lernte, den Mund zu halten, würde ich mir mein Leben irgendwann selbst vermasseln. Ich überlegte fieberhaft, wie ich die Situation retten konnte, ohne den Eindruck völliger Verzweiflung zu erwecken.
„Vielleicht an einem anderen Abend?“
Ich war beeindruckt von mir selbst, weil ich weder gestammelt noch wie ein Teenager gequiekt hatte. Stattdessen trat ich weiterhin von einem Fuß auf den anderen wie ein Kind vor der Bescherung am Heiligen Abend. Frédéric musterte mich. Er zögerte. Schließlich nickte er und schlug vor:
„Treffen wir uns doch zum Mittagessen.“
„Ja, super! Morgen?“
Innerlich geißelte ich mich für meine allzu offensichtliche Begeisterung, und ich kniff die Lippen zusammen, damit keine weitere Dummheit aus meinem Mund kommen konnte. Um einen unangebrachten Wortschwall zu unterdrücken, umklammerte ich die Theke – vor ihm auf dem Boden zu kriechen wäre dann doch zu demütigend gewesen.
„Morgen bin ich schon verabredet, aber vielleicht … übermorgen?“
„Ja, super!“
„Ich bringe dir Blumen mit“, versprach er und machte Anstalten, den Rückweg zu seinem Laden anzutreten.
„Ja, super!“
Am liebsten hätte ich mich geohrfeigt. Ich war so glücklich … Selbst wenn er mir vorgeschlagen hätte, mich von der Brücke zu stürzen, hätte ich nur ständig wiederholt: „Ja, super!“ Am Ende würde er noch glauben, dass ich Aufputschmittel nahm, aber tatsächlich war er es, der mich in diesen Zustand versetzte.
Im Übrigen war er der Einzige, der sich für mich interessierte. Ich liebte es, mich in seinem azurblauen Blick zu verlieren, während ich einfältig grinsend davon träumte, seine Hand in meiner zu spüren.
„Ich komme heute Abend noch mal auf einen Kaffee vorbei“, versprach er und winkte mir ein letztes Mal zu.
„Ja, super!“, erklang Anitas Stimme rechts von mir.
Mit raschem Schritt überquerte Frédéric den Platz, während sie mit bestürzter Miene den Kopf schüttelte. Sie stellte ihre Tasse mit dem noch dampfenden Kaffee auf die Theke, hob meinen Stift auf, der mitten im Gang lag, und gab ihn mir zurück.
„Das war ja erbärmlich.“
„Ich weiß“, sagte ich und stöhnte. „Was Männer betrifft, bin ich einfach eine Niete.“
„Ja, offensichtlich. Warum hast du den Club nicht sausen lassen und dich mit ihm zum Essen verabredet?“
Ich verbarg mein Gesicht in beiden Händen. Am liebsten hätte ich mich in Luft aufgelöst und diese Geschichte einfach vergessen. Unglücklicherweise war Anita Zeugin meines jämmerlichen Wortwechsels mit Frédéric gewesen, sodass er von nun an in Stein gemeißelt war. Sie würde es sich nicht nehmen lassen, mir meine Worte immer wieder in Erinnerung zu rufen, nur um mich zu quälen.
„Ich war nicht darauf vorbereitet“, versuchte ich mich zu rechtfertigen.
„Das ist das Problem mit den Männern: Sobald sie die Initiative ergreifen, verfallen wir Frauen in eine Art Schockstarre. Aber du hättest die Einladung trotzdem annehmen sollen.“
„Ich gehe mit ihm mittagessen.“
„Zum Mittagessen geht man mit Freunden, Sarah. Mittagessen ist eine unschuldige und etwas langweilige Sache.“
„Du übertreibst.“
Trotz meines katastrophalen Wortwechsels mit Frédéric empfand ich einen Anflug von Stolz, weil es mir gelungen war, mich zu einem Essen mit ihm allein zu zweit zu verabreden. Das war mehr, als ich mir hätte träumen lassen. Mein Blick wanderte zum Blumengeschäft hinüber. Frédéric war gerade dabei, die Eimer mit den Schnittblumen herauszuholen und sie vor den Laden zu stellen. Ich stieß einen neidischen Seufzer aus und drehte mich wieder zu Anita um, die mit den Augen rollte.
„Dann hast du ja noch zwei Tage Zeit, in denen du lernen kannst, nicht mehr zu hyperventilieren, sobald er vor dir steht.“
„Willst du noch einen Kaffee?“, fragte ich, um das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken.
„Nein, danke. Zieh am besten dein gelbes Kleid an, das steht dir gut.“
„Anita! Es ist nicht … Ich meine, es ist doch nur …“
„Ja, ich weiß. Aber glaub mir, diese lächerliche Geschichte von der inneren Schönheit stellt keinen Widerspruch zu diesem gelben Kleid dar. Auf andere Qualitäten kannst du später noch setzen, zum Beispiel auf deine Freundlichkeit und Großzügigkeit und dein Organisationstalent. Oder auf deine Gelassenheit.“
„Meine Gelassenheit?“
„Ich schwanke zwischen Gelassenheit und Durchhaltevermögen angesichts widriger Umstände“, fuhr sie nachdenklich fort.
Ich war ein sehr ängstlicher Mensch. Mir machte alles Angst, beginnend bei den Rechnungen, die sich stapelten, über den Wetterbericht bis hin zu einem Mittagessen mit Frédéric. Jeden Abend überprüfte ich zweimal, ob ich die Türen richtig abgeschlossen hatte, und das leiseste Knarren des Parketts versetzte mich in helle Panik.
Ich war alles andere als gelassen, und das wusste sie genau.
„Was redest du denn da, Anita?“
Sie leerte ihre Kaffeetasse in einem Zug und zeigte dann mit dem Zeigefinger auf eine Stelle hinter mir.
„Deine Leseecke steht unter Wasser.“

Blick ins Buch
Happy Ever After – Wo das Glück zu Hause istHappy Ever After – Wo das Glück zu Hause ist

Roman

Ein Roman für Bücherwürmer: die besondere Liebesgeschichte einer Bibliothekarin, die sich mit einem Bücherbus selbstständig macht  

Auf in die Highlands: Leseratte Nina bringt in dieser romantischen Road-Novel mit dem Bücherbus Glück in jedes Dorf und sucht selbst nach der großen Liebe. Für Fans von Manuela Inusa und Mary Simses.  

 Nina ist am Boden zerstört, als sie ihren Job als Bibliothekarin verliert. Ein reiner Brotjob macht sie nicht glücklich. Also macht sie sich mit einem Bücherbus selbstständig und will Leseglück in die Dörfer der schottischen Highlands bringen. Dabei stößt sie auf ungeahnte Hindernisse. Wird sie die Liebe ihres Lebens finden? Oder sucht sie am falschen Ort?  

Jenny Colgan hat mit „Happy Ever After – Wo das Glück zu Hause ist“ eine Hommage an das Lesen verfasst. Die SPIEGEL-Bestsellerautorin ist bekannt für romantische  Frauenromane wie „Die kleine Bäckerei am Strandweg“ und „Die kleine Sommerküche am Meer“ und hat allein in Deutschland Millionen von treuen Leserinnen. Ihre Romane verzaubern mit charmanten Charakteren, die nach Glück und Liebe streben und diese oft woanders finden, als sie vermutet haben.  

Eine Liebesgeschichte über das Lesen  

„Happy Ever After – Wo das Glück zu Hause ist“ ist nicht einfach nur eine Liebesgeschichte und ein Roman über einen Neuanfang. Zuallererst ist dieses Werk von Jenny Colgan ein Buch über Bücher, über das Lesen und den Effekt, den es auf Menschen hat. Denn mit Romanen kann Nina helfen: Sie weiß, welches Buch zu welcher Stimmung passt und wie sie ihre Kunden glücklicher macht.  

Die Bestsellerautorin von „Die kleine Bäckerei am Strandweg“  

Nur wenigen Autoren gelingt es so wie Jenny Colgan, mit ihren Büchern eine kleine Flucht aus dem Alltag zu ermöglichen. Mit „Happy Ever After – Wo das Glück zu Hause ist“ startet die Bestsellerautorin eine herzerwärmende Trilogie. Die perfekte Sommerlektüre für alle, die romantische Bücher schätzen und sich dabei in die schottischen Highlands entführen lassen wollen.  

An meine Leser

In diesem Buch findet sich keine Widmung, weil der ganze Roman euch gewidmet ist – den Lesern. Allen Lesern.

Hier geht es nämlich ums Lesen und um Bücher sowie darum, auf welche Art diese Dinge das Leben verändern. Ich finde, das tun sie stets zum Guten hin. Mein Roman handelt auch davon, wie es sich anfühlt, umzuziehen und einen Neuanfang zu wagen (wie ich es im Leben schon oft getan habe), und vom Einfluss unseres gewählten Wohnortes auf unsere Gemütslage. Ebenfalls erörtert er die Frage, ob man im echten Leben eigentlich so eine Liebesgeschichte wie in Büchern erleben kann, und es geht auch um Käse. Ich bin nämlich gerade an einen Ort gezogen, an dem viel Käse hergestellt wird, und kriege einfach nicht genug davon. Es kommt auch ein Hund namens Parsley vor.

Vor allem aber viele Bücher, weil unsere Heldin, Nina Redmond, davon träumt, eine Buchhandlung zu eröffnen.

Deshalb folgen jetzt ein paar nützliche Tipps dazu, wo man am besten liest, man sollte es dabei nämlich so bequem wie möglich haben. Falls ich einen wirklich offensichtlichen Ort vergessen haben sollte oder ihr das alles ganz anders macht, dann schreibt mir doch auf Facebook oder unter @jennycolgan bei Twitter. Ich bin nämlich der altmodischen Überzeugung, dass Lesen ein schützenswertes Gut ist. Und ich hoffe wirklich, dass ihr bei der Lektüre dieses Buches so viel Freude habt wie ich beim Verfassen, wo auch immer ihr es lesen mögt.

Badewanne
Ich entspanne mich gern abends um Viertel vor zehn in der Wanne, was meinen Ehemann in den Wahnsinn treibt. Er ist nämlich für die Temperatur zuständig (die nur etwas unter der der Sonne liegen sollte) und muss ständig Wasser nachlaufen lassen. Für mich ist die Wanne ein wahrer Luxus, nur Badeöle mag ich gar nicht. Die machen alles klebrig, deshalb finde ich sie eher eklig. Egal, darum geht es auch gar nicht, sondern ums Schmökern in der Wanne. Natürlich sind Taschenbücher dafür ideal, und im schlimmsten Fall kann man sie nachher auf der Heizung wieder trocknen (wie bei den von Leser zu Leser weitergegebenen Harry Potter-Büchern meiner Kinder, die alle verzogen und gewellt sind). Aber ich lese im Bad auch viel auf meinem E-Reader und verrate euch jetzt ein Geheimnis: Dabei blättere ich mit der Nase um. Vielleicht seid ihr ja nicht mit so einer prächtigen schottisch-italienischen Peter-Capaldi-Nase gesegnet wie ich. Aber mit ein bisschen Übung werdet ihr schnell feststellen, dass man so problemlos eine Hand im Wasser liegen lassen und trotzdem leicht umblättern kann. Falls bei euch zu Hause gern Leute unangemeldet ins Badezimmer platzen, solltet ihr aber vielleicht die Tür abschließen. Meiner Erfahrung nach sorgt dieser Anblick nämlich für große Heiterkeit.

Meine Freundin Sez benutzt beide Hände, steckt ihren E-Reader vorher aber in eine Plastiktüte. Sehr vernünftig.

Bett
Das einzige Problem beim Lesen im Bett besteht darin, dass es ein viel zu kurzes Vergnügen ist – nur zwei, drei Seiten, und der Schlaf gewinnt die Überhand. Falls es ein besonders langer Tag war, nickst du vielleicht ein paarmal kurz ein und reißt dich wieder zusammen, bevor du endgültig einschläfst. Und wenn du beim nächsten Mal wieder zu diesem Buch greifst, fragst du dich vielleicht, ob es darin wirklich um ein rosafarbenes Einhorn ging, das du im Schlafanzug durch einen Prüfungsraum verfolgt hast. Nein, lautet dann die Antwort, das alles wirst du in diesem Buch nicht finden. Du bist einfach nur eingeschlummert und musst deshalb wohl ein paar Seiten zurückblättern.

Ich habe aber vorsorglich allen Figuren in meinem Roman ganz unterschiedliche Namen gegeben. Es gibt nichts Schlimmeres, als spätabends irgendetwas über eine Cathy und eine Katie zu lesen, und man muss den Leuten das Leben ja nicht unnötig schwer machen.

Sonnenliege
In den Ferien ist so eine Liege einfach perfekt zum Schmökern, und ich konnte im Laufe meines Lebens oft am abends vorhandenen Sonnenbrand die Qualität der jeweiligen Lektüre ablesen.

Allerdings stellt man sich da schon die Frage, wie man das Buch am besten hält. Wenn man es in die Luft reckt, werden die Arme irgendwann schwer. Mal abgesehen davon, wird die Urlaubsbräune dann von einem großen buchförmigen Fleck gestört (der in manchen Kreisen allerdings als cool gilt, glaube ich). Da man mit Blick in die Sonne liest, kneift man dabei auch sehr unansehnlich die Augen zusammen.

Mit dem Buch im Schneidersitz auf einem Handtuch zu hocken ist auch nicht sehr elegant (zumindest nicht bei mir, weil ich einen leichten Buckel habe).

Positioniert man sich bäuchlings, schwitzt man auf das Buch, außerdem bohrt sich einem das Plastik der Liege in den Körper. Am besten besorgt man sich eine von diesen fantastischen Liegen für alte Damen, die einen eigenen kleinen Sonnenschirm haben. Ja, natürlich sehen die albern aus. Aber hey, man ist trotzdem allen anderen überlegen, finde ich, weil man auf diese Weise bequem lesen kann.

Auf der Straße
Früher war es einmal völlig akzeptabel, mit einem Buch vor der Nase die Straße entlangzulaufen. Die Leute sind dann mit nachsichtigem Lächeln beiseitegetreten, weil sie sich nur zu gut an Situationen erinnert haben, in denen sie selbst eine Lektüre einfach nicht aus der Hand legen konnten. (Ich habe mal in der Londoner U-Bahn beobachtet, wie eine junge Frau sich das Handgelenk in einem Halteriemen verrenkt hat, weil sie in Bank umsteigen und gleichzeitig Eine gute Partie zu Ende lesen wollte.)

Heutzutage starren jedoch alle unentwegt auf ihr blödes Handy, um es bloß nicht zwei Sekunden zu spät mitzubekommen, falls irgendjemand ein Hundefoto auf Facebook liken sollte. Einfach nur die Straße entlangzugehen ist daher auch ohne Taschenbuch vor der Nase zum reinsten Hindernislauf geworden. Lasst deshalb die gebotene Vorsicht walten!

Lesekreis
Wenn du meinen Roman für einen Lesekreis liest, dann kann ich mich nur entschuldigen, weil du vermutlich gerade um 2.15 Uhr in der Nacht vor dem Treffen damit anfängst. Ich fühle mich ja immer ein bisschen in die Schulzeit zurückversetzt, wenn mich jemand zur Lektüre eines bestimmten Buches zwingt. Und hey, wenn ich Lust auf Hausaufgaben hätte, würde ich mich doch für diesen Abendkurs einschreiben, den ich schon ewig machen will, für den ich aber irgendwie nie die Zeit finde.

Wenn man ein Buch in Eile lesen muss, dann meistens für den Fall, dass jemand fragt: „Und, wie fandest du das Ende?“ Sonst muss man nämlich mit wissender Miene nicken und dabei verzweifelt hoffen, dass der Autor nicht auf der Zielgeraden getrickst und die ganze Geschichte noch einmal auf den Kopf gestellt hat. (Ist mir das schon einmal passiert? Na, und ob!) Lasst mich euch daher versichern: Dieser Roman nimmt keine überraschende Wendung. Obwohl ich natürlich genau das behaupten würde, wenn ich mit dem Schluss überraschen wollte …

Hängematte
Als ich jünger war, habe ich einen wunderbaren Mann kennengelernt, der mir eine Hängematte gekauft und sie für mich auf meiner winzigen und äußerst gefährlichen Dachterrasse aufgehängt hat. Dort habe ich viele schöne Stunden damit verbracht, einfach nur hin und her zu schaukeln und zu lesen, Käsechips zu knabbern und an meinen tollen, gut aussehenden Freund zu denken.

Dann, mein teurer Leser, habe ich ihn geheiratet, und wir haben uns einen Haufen Kinder sowie einen Hund zugelegt und sind an einen Ort gezogen, an dem es immer regnet. Die Hängematte muss in irgendeinem Lagerraum gelandet sein. Und das, meine Freunde, ist wohl das viel beschworene Happy End.

Gemopste Lesezeit
Ah, meine liebste Gelegenheit zum Lesen! Ich komme oft absichtlich zehn Minuten zu früh, wenn ich die Kinder vom Schwimmen abholen muss, oder bleibe nach dem Einkaufen noch eine Viertelstunde im Auto sitzen, um der Welt ein bisschen Zeit für mich und mein Buch abzutrotzen. Die haben wir beide uns verdient, und ich genieße sie ganz besonders.
Pendeln

Pendeln ist einfach perfekt, wenn man den Dreh erst raushat. Guckt euch doch mal den glasigen Blick der Menschen an, die diesen komplizierten, zauberhaften Tanz durch öffentliche Verkehrsmittel jeden Tag auf sich nehmen. Aber gerade deshalb, weil Pendeln so ein straff organisierter Vorgang ist, kann uns das Gehirn für exakt die wenige zur Verfügung stehende Zeit in ferne Welten entführen. Packt euer Handy weg – dieser ganze Mist kann auch noch warten, bis ihr bei der Arbeit seid. Das hier ist eure Belohnung dafür, dass ihr pendeln müsst.

Auf Reisen
Reisen ist nicht dasselbe wie Pendeln. Wie ihr euch vorstellen könnt, bin ich absolut dagegen, dass man bald auch in Autos und Flugzeugen Zugang zum WLAN hat, obwohl es natürlich so kommen muss. Reservier im Flieger immer im Voraus einen Fensterplatz, stöpsel Kopfhörer ein, und such im Bordradio nach irgendetwas Entspannendem. Dann darfst du dich für ein paar Stunden in dein Buch vertiefen.

Gut, vermutlich wirst du kurz abgelenkt sein, wenn sich der Getränkewagen nähert. Aus Angst, übersehen zu werden, wird man dann ganz kribbelig und kann sich nicht mehr konzentrieren. Leg das Buch in diesem Moment besser beiseite, und wirf einen Blick in eine Zeitschrift. Tu so, als wärst du ganz relaxed und würdest dir keine Gedanken darüber machen, ob du gleich bedient wirst oder nicht.

Ich hab auch schon mal versucht, auf einem Billigflug gleichzeitig zu essen, zu trinken, Musik zu hören und zu lesen. Probier das lieber nicht, falls du nicht ein ordentliches Budget für die Reinigungskosten deiner Mitreisenden hast.

Züge hingegen sind geradezu fürs Lesen gemacht. Meiner Ansicht nach ist es besser, gute Kopfhörer mitzubringen, als sich in den Ruhebereich zu setzen und sich dort mit lauten Idioten herumzustreiten. Ich will ja gar nicht sagen, dass die eine Gefängnisstrafe verdient hätten, aber das Gegenteil würde ich jetzt auch nicht behaupten.

Am Feuer
Falls du kein offenes Feuer hast, tut es auch eine Kerze. Wenn die Tage kürzer werden, freue ich mich wirklich auf ein großes gemütliches Feuer und ein gutes Buch – je dicker, desto besser. Ich liebe richtig, richtig lange Romane, und je nachdem, wie nah das Wochenende ist (oder was ich momentan als Wochenende definiere), entweder eine große Tasse Tee oder ein Glas Wein, dazu ein wenig Ruhe und Frieden.

Ein Hund ist dabei auch sehr hilfreich. Hunde können uns nämlich wunderbar vormachen, dass man für ein glückliches Leben nicht alle zwei Sekunden aufs Handy schauen muss.

Im Krankenhaus
Aus dem ein oder anderen Grund habe ich im Laufe meines Lebens viel Zeit in Kliniken verbracht: In einer habe ich gearbeitet und in einer anderen mehrere Kinder zur Welt gebracht. Diese Kinder sind dann von Bäumen gefallen und haben sich Gliedmaßen gebrochen, etc., etc.

Im Krankenhaus scheint die Zeit ganz eigenen Regeln zu folgen. Sie verstreicht dort viel langsamer, und das ist auch nachts der Fall. Außerdem schwingt dort in allem eine gewisse Ehrfurcht vor den Geschehnissen um uns herum mit, vor Grenzerfahrungen, die jeden irgendwann betreffen: Verluste und neues Leben, Glück und tiefste Trauer. All dies bündelt sich hier auf den Stockwerken des sterilen, überhitzten Gebäudes, in dem rasche, professionelle Schritte auf dem glänzend polierten Linoleum Angst, Schmerz oder Freude mit sich bringen.

Ich finde es nicht so einfach, in Kliniken zu lesen. Dieser Prozess kommt mir vor, als würde sich ein großes Schiff durch schwieriges Gewässer vorankämpfen. Derweil führen die Menschen draußen an Land ihr normales Leben weiter und ahnen nichts von der schweren See, die ganz in ihrer Nähe durchpflügt wird.

Meiner Meinung nach sind Gedichte fürs Krankenhaus gut geeignet. Das sind kurze Texte, von denen man problemlos aufschauen kann, und man fühlt sich durch sie nicht so verletzlich, nicht ganz so von der Welt abgeschnitten. In solchen Situationen haben wir uns doch alle schon einmal wiedergefunden oder werden es eines Tages tun.

Ein Krankenhaus ist außerdem ein guter Ort, um sich zu jemandem zu setzen und ihm leise vorzulesen. Aus diesem Grund kann ich die Empörung nicht nachempfinden, wenn andere Leute darüber klagen, dass die Klinikcafeteria Kuchen und Eis anbietet. In Krankenhäusern sollte es auf jeden Fall Kuchen geben, das ist doch das Mindeste.

Im Schatten eines Baumes in einem sonnigen Park

Aber natürlich, und dazu bitte ein Eis von Mr Whippy, nicht dieses feste Zeug.

Sonstiges
Zu meinen wichtigsten Errungenschaften gehört es, dass ich herausgefunden habe, wie man am besten in folgenden Situationen liest: beim Stillen (indem man ein Kissen UNTER den Kopf des Babys legt), beim Haareföhnen (ich habe schreckliche Haare), beim Zähneputzen (hingegen habe ich gute Zähne, vermutlich, weil ich viel länger putze als empfohlen), beim Warten an der roten Baustellenampel, auf einer Toilette eingeschlossen bei einer furchtbar langweiligen Hochzeit (nicht meiner eigenen), auf dem Indoor-Spielplatz (am vermutlich besten Tag unseres Lebens habe ich dort mal einen kompletten Roman verschlungen, während sich meine Kinder im Bällebad vergnügt haben), bei der Pediküre (zur Maniküre gehe ich nie, weil ich dabei nicht lesen kann), beim Schlangestehen, in einem Cabrio (knifflig), in der Kirche (was eine Sünde war, für die ich auch angemessen bestraft wurde), auf Geschäftsreisen, bei denen ich allein in Restaurants essen musste (mit einem Buch ist man nie einsam), und ganz früher, als alles angefangen hat, auf dem rechten Rücksitz im alten grünen Saab 99 meines Vaters, genüsslich an einem Fab-Eis lutschend und mit dem Lockenkopf meines schlafenden jüngsten Bruders auf dem Schoß.

Also, erzählt ihr mir doch mal, wo ihr lest. Jeder Tag mit einem Buch ist nämlich besser als einer ohne, und ich wünsche euch nur allerglücklichste Tage.

So, und jetzt kommt mal mit und lernt Nina kennen …

Jenny XXX



Kapitel 1

Das Problem an tollen Sachen ist, dass sie sich oft als schreckliche Ereignisse verkleiden. Es wäre doch schön, wenn uns bei jeder üblen Erfahrung jemand auf die Schulter tippen und erklären würde: „Keine Sorge, das ist es wirklich wert. Im Moment kommt es dir zwar furchtbar vor, aber ich verspreche dir, dass am Ende alles gut wird.“

Dann könntest du sagen: „Danke, gute Fee!“ Oder du könntest auch fragen: „Werde ich denn irgendwann diese drei Kilo wieder los?“, und dann würde die Antwort lauten: „Natürlich, mein Kind!“

Das wäre echt nützlich, leider läuft das so aber nicht, und deshalb quälen wir uns oft viel zu lange mit Dingen herum, die uns gar nicht glücklich machen. Oder wir geben viel zu schnell bei einer Sache auf, die am Ende vielleicht doch gelingen würde. Meistens kann man nur schwer unterscheiden, um welche der beiden Möglichkeiten es sich denn nun handelt.

Das Leben vorwärts zu leben ist manchmal wirklich nervig. Das ging zumindest Nina durch den Kopf.

 

Nina Redmond, neunundzwanzig, mahnte sich selbst, bloß nicht in der Öffentlichkeit zu weinen. Falls du dir je gut zuzureden versucht hast, weißt du ja sicher, dass das meistens nicht gut klappt. Aber sie war hier schließlich bei der Arbeit, verdammt. An seinem Arbeitsplatz sollte man nicht heulen.

Sie fragte sich, ob andere es vielleicht trotzdem taten. Dann überlegte sie, ob es womöglich sogar alle taten, selbst Cathy Neeson mit ihren unbeweglichen, zu blonden Haaren, dem dünnen Mund und ihren Tabellenkalkulationen.

Die stand in diesem Moment mit verschränkten Armen in einer Ecke und betrachtete mit finsterem Blick den Raum. Cathy hatte dem kleinen Team, dem Nina angehörte, gerade eine mit Fachjargon gespickte Rede über die allgemeinen Kürzungen gehalten. An Sparpolitik müsse man sich eben gewöhnen, und Birmingham könne sich einfach nicht mehr all seine Büchereien leisten.

Nein, dachte Nina jetzt, vermutlich weinte Cathy eher nicht. In manchen Menschen steckte eben nicht eine einzige Träne.

(Nina wusste natürlich nicht, dass Cathy Neeson sowohl auf dem Weg zur Arbeit als auch später auf dem Heimweg weinte – den sie meistens erst nach acht Uhr abends antrat –, und zwar jedes Mal, wenn sie jemanden wegrationalisieren musste. Sie vergoss jedes Mal Tränen, wenn sie bei einem ohnehin schon winzigen Budget noch ein paar Prozent abknapsen musste, jedes Mal, wenn sie neue qualitätsbezogene Unterlagen liefern sollte, und jedes Mal, wenn ihr Chef ihr am Freitagnachmittag um vier noch jede Menge Verwaltungsarbeit aufs Auge drückte, während er selbst sich mal wieder – wie so oft – auf den Weg in den Skiurlaub machte.

Irgendwann würde Cathy es aufgeben und sich einen Job in einem Souvenirladen des National Trust suchen. Der würde zwar bloß ein Fünftel ihres bisherigen Gehalts, dafür aber auch nur die Hälfte an Arbeitsstunden und überhaupt keine Tränen mit sich bringen. Allerdings geht es in dieser Geschichte nicht um Cathy Neeson.)

Nina dachte mit einem Kloß im Hals daran, dass sie doch bloß eine ganz kleine Bücherei waren.

Am Dienstag und Donnerstag gab es dort vormittags eine Vorlesestunde für Kinder, am Mittwochnachmittag machten sie früh zu. Die Bücherei befand sich in einem etwas heruntergekommenen, altmodischen Gebäude mit schäbigem Linoleum-Fußboden, in dem es manchmal leicht muffig roch, das stimmte wohl. Und die große, tropfende Heizung brauchte morgens eine Weile, um in die Gänge zu kommen, woraufhin sie augenblicklich zu warm wurde. Das brachte Gerüche in Wallung, vor allem den ganz eigenen Mief vom alten Charlie Evans, der immer kam, um im Warmen ganz langsam den Morning Star von vorne bis hinten zu lesen.

Nina fragte sich, wo die Charlie Evans dieser Welt denn nun hinsollten.

Cathy Neeson erklärte, dass man das Büchereiangebot im Zentrum der Stadt bündeln wollte. Dort würde ein „Hub intersensorischer Erfahrungen“ entstehen, was auch immer das sein mochte, mit „multimedialem Erlebnisbereich“ und einem Café. Aber leider lag die Innenstadt für ihre Kunden mit Kinderwagen oder im fortgeschrittenen Alter mindestens zwei Busreisen zu weit entfernt.

Das Grundstück des freundlichen, schäbigen kleinen Büchereigebäudes mit Giebeldach würde verkauft werden, und es würden darauf Managerwohnungen entstehen, die für jemanden mit dem Gehalt eines Bibliothekars unerschwinglich wären.

Nina Redmond, neunundzwanzig, war ein Bücherwurm mit langem, wirrem Haar in Kastanienbraun und heller Haut mit ein paar Sommersprossen hier und da. Ihre Schüchternheit war derart ausgeprägt, dass sie oft in den unpassendsten Momenten rot wurde oder am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. Und nun hatte sie das Gefühl, dass man sie in eine Welt hinausschickte, in der ein rauer Wind wehte und wo sich auf einmal viele erwerbslose Bibliothekare zugleich auf dem Arbeitsmarkt tummelten.

„Also“, beendete Cathy Neeson ihre Ansprache, „Sie können quasi sofort damit anfangen, die ›Bücher‹ zusammenzupacken.“

„Bücher“ sprach sie aus, als fände sie das Wort angesichts ihrer glänzenden Vision des neuen Multimedia-Angebots irgendwie geschmacklos. All diese schmuddeligen, sperrigen Dinger.

 

Mit bangem Herzen und geröteten Augen schleppte sich Nina ins Hinterzimmer, wo die anderen zum Glück ähnlich mitgenommen aussahen. Ihre Kollegin Rita O’Leary hätte eigentlich schon vor gut zehn Jahren in den Ruhestand gehen sollen. In ihrem Alter konnte sie die Zahlen der Dewey-Dezimalklassifikation nicht mehr so gut lesen und sortierte die Bücher mehr oder weniger nach Gutdünken ein. Darüber hatten aber immer alle gern hinweggesehen, weil sie den Kunden gegenüber so herzlich war.

Nun brach Rita in Tränen aus, und Nina konnte einen Moment ihre eigene Traurigkeit vergessen, als sie die ältere Kollegin tröstete.

 

Viel zu schnell wurde ein Ausverkauf organisiert, bei dem die meisten der Leser ihre alten Lieblingsbücher aus der 10-Pence-Kiste durchblätterten und die schicken Neuanschaffungen links liegen ließen.

Im Laufe der nächsten Tage sollten die Angestellten eigentlich die restlichen Bücher zusammenpacken und zur Zentralbibliothek schicken.

Griffins normalerweise schon so mürrische Miene war dabei noch finsterer als sonst. Ninas Kollege trug einen langen, unangenehm dünnen Bart und zeigte sich den Menschen gegenüber herablassend, die seine literarischen Vorlieben nicht teilten. Da er nur wenig bekannte, längst vergriffene Romane aus den 1950ern über frustrierte junge Trinker in Fitzrovia mochte, hatte er häufig Gelegenheit, seine Attitüde zu perfektionieren.

„Na ja, wenigstens finden all die Bücher in der neuen großen Einrichtung in der Innenstadt ein schönes Zuhause“, sagte Nina zu ihm. Sie brachte es nicht einmal über sich, „Medienzentrum“ zu sagen.

Griffin schnaubte. „Hast du die Pläne denn nicht gesehen? Kaffee, Computer, DVDs, Pflanzen, Verwaltungsbüros … Und dann die Mitarbeiter, die Kosten-Nutzen-Analysen anfertigen und Arbeitslose schikanieren – ach, entschuldige, ›Achtsamkeitsworkshops‹ anbieten. Im ganzen verdammten Gebäude ist kein einziger Bereich für Bücher vorgesehen.“ Er deutete auf die Dutzende von Kisten. „Die sind nur noch Müll. Wahrscheinlich werden die zu Straßenbelag verarbeitet.“

„Werden sie nicht!“

„Und ob! Das macht man nämlich mit toten Büchern, wusstest du das nicht? Die werden beim Straßenbau als unterste Schicht benutzt, damit große dicke Autos über Jahrhunderte von Gedankengut und Ideen und Gelehrsamkeit rollen können. So stampfen sie mit ihren dämlichen fetten Reifen metaphorisch die Liebe zum Lernen in Grund und Boden, während polternde Top-Gear-Idioten unseren Planeten zugrunde richten.“

„Du hast heute Morgen aber keine besonders gute Laune, oder, Griffin?“

„Könnten Sie beide hier vielleicht ein bisschen Gas geben?“, drängte nun eine hektisch hereinstürmende Cathy Neeson. Durch das winzige Budget hatten sie die Lieferwagen nur für einen einzigen Tag mieten können und würden ernsthafte Probleme bekommen, wenn sie nicht rechtzeitig alles einluden.

„Jawoll!“, zischte Griffin mit leiser Stimme militärisch, während Cathy mit ihrem stets unbeweglichen blonden Bob wieder nach draußen eilte. „Gott, ich kann nicht fassen, wie bösartig diese Frau ist.“

Aber Nina hörte schon gar nicht mehr hin. Stattdessen betrachtete sie verzweifelt die Tausende von Büchern um sie herum, die mit ihren wunderschönen Covern und den optimistischen Klappentexten so hoffnungsfroh wirkten. Der Gedanke, dass auch nur ein einziges davon auf der Müllkippe landen könnte, brach ihr das Herz. Das waren doch schließlich Bücher! Für Nina war das so, als würde man ein Tierheim schließen. Und sie würden heute auf keinen Fall alles wegschaffen können, egal, wie Cathy Neeson sich das vorstellte.

Aus diesem Grund war Ninas Auto, ein Mini Metro, bis obenhin mit Büchern vollgeladen, als sie sechs Stunden später vor der Haustür des kleinen Häuschens parkte, in dem sie mit ihrer Mitbewohnerin lebte.

 

„Auf keinen Fall!“, versetzte Surinder, als sie an die Tür kam und die Arme vor ihrem ziemlich beeindruckenden Busen verschränkte. Sie hatte eine grimmige Miene aufgesetzt, die sie von ihrer Mutter, einer Polizeikommissarin, geerbt hatte. Bei Nina wendete sie diesen Gesichtsausdruck oft an.

„Die kommen mir nicht ins Haus. Ausgeschlossen!“

„Es ist ja nur … Ich meine, die sind schließlich in makellosem Zustand!“

„Darum geht es doch gar nicht“, wandte Surinder ein. „Und schau mich jetzt nicht so an, als würde ich hier gerade Waisenkinder verstoßen.“

„Na ja, in gewisser Hinsicht …“, sagte Nina und versuchte, nicht allzu flehentlich zu gucken.

„Ich hab’s dir schon mal gesagt, Nina, das halten die Balken im Haus nicht aus.“

Nina wohnte seit ihrem Umzug von Chester nach Edgbaston vor vier Jahren zusammen mit Surinder in einem winzigen Reihenhaus. Sie hatten einander vorher nicht gekannt und deshalb die wunderbare Gelegenheit gehabt, befreundete Mitbewohnerinnen zu werden, statt Freundinnen zu sein, die sich durchs Zusammenleben zerstreiten würden.

Nina machte sich ständig Sorgen, dass Surinder irgendwann einen festen Freund finden würde, der dann zu ihr ziehen wollte, oder dass sie sich gemeinsam etwas Neues suchen würden. Doch trotz ihrer vielen Verehrer war dies bislang nicht geschehen, was wirklich ein Segen war.

Surinder wies Nina gern darauf hin, dass sie ja nicht die Einzige war, der so etwas passieren könnte. Aber wegen Ninas lähmender Schüchternheit und ihres ziemlich einsamen Hobbys – des Lesens – waren sie sich ziemlich sicher, dass es wohl bei Surinder als Erstes so weit sein würde.

Nina war immer die Stille gewesen, die im Hintergrund blieb und die Dinge durch die Linse ihrer geliebten Romane betrachtete.

Nach einem weiteren unbehaglichen Abend im Kreise der unbeholfenen Freunde von Surinders neuester Männerbekanntschaft dachte Nina, dass sie einfach noch nie jemandem wie den Helden aus ihren geliebten Büchern begegnet war. Einem Mr Darcy oder Heathcliff oder vielleicht sogar einem Christian Grey, wenn ihr gerade der Sinn danach stand …

Die aufgeregten jungen Männer mit feuchten Händen, bei denen ihr nie irgendetwas Witziges oder Geistreiches einfiel, konnten da einfach nicht mithalten. Sie marschierten nicht finster und wutentbrannt über Moore in Yorkshire. Sie schlugen keinen Tanz in der Brunnenhalle aus, obwohl sie doch in Wirklichkeit schon ihr Leben lang für die verschmähte Tanzpartnerin schwärmten. Sie betranken sich einfach nur wie Griffin bei der Weihnachtsfeier und versuchten dann, mit einem Zungenkuss bei ihr durchzukommen, während sie die Beziehung zu ihrer Freundin als gar nicht so verbindlich hinstellten.

Egal. Jetzt schäumte Surinder jedenfalls vor Wut, und das Schlimmste an der Sache war, dass sie recht hatte. Für mehr Bücher war im Haus einfach kein Platz, weil schon überall welche standen und lagen: im Eingangsbereich, auf der Treppe und in Ninas Zimmer, das bis in den letzten Winkel vollgestopft war. Auch im Wohnzimmer waren etliche säuberlich aufgereiht, ebenso auf der Toilette, nur für alle Fälle. Nina hatte in einer Krise immer gern Betty und ihre Schwestern in Reichweite.

„Ich kann die doch nicht draußen in der Kälte lassen“, bettelte sie nun.

„Nina, das ist bloß ein Haufen TOTES HOLZ! Und zum Teil mieft es ganz schön!“

„Aber …“

Surinders Gesichtsausdruck blieb hart, als sie ihrer Mitbewohnerin streng in die Augen sah. „Nina, das reicht jetzt, die Sache gerät gerade langsam außer Kontrolle. Und wenn ihr in der Bücherei noch die ganze Woche mit Zusammenräumen beschäftigt seid, wird es nur noch schlimmer!“

Surinder trat aus dem Haus und nahm das oberste Buch von dem Stapel, den Nina vor sich hertrug. Es war ein dicker Liebesroman.

„Jetzt guck mal, den hast du doch schon!“

„Ja, ich weiß, aber das ist eine Hardcover-Erstausgabe. Sieh mal, wie schön! Dieses Buch hat noch nie zuvor jemand gelesen!“

„Und dazu wird es wohl auch nie kommen, weil dein Stapel mit noch zu lesenden Büchern größer ist als ich!“

Zornentbrannt baute sich Surinder im Vorgarten vor Nina auf. „Nein!“, sagte sie wieder und wurde jetzt laut. „Dieses Mal lasse ich mich nicht erweichen!“

Nina spürte, wie sie zu zittern begann. Sie standen kurz vor einer ernsthaften Auseinandersetzung, und sie konnte Streit und jegliche Art von Konfrontation einfach nicht ertragen. Was Surinder natürlich wusste.

„Bitte“, sagte Nina wieder.

Surinder reckte die Hände in die Luft. „Gott, ich komme mir vor, als würde ich einen Welpen treten. Sag mal, um eine neue Arbeit hast du dich auch noch nicht bemüht, oder? Nein, du rollst dich einfach auf die Seite und stellst dich tot.“

„Außerdem“, flüsterte Nina und fixierte die Gehwegplatten, als die Tür zufiel, „habe ich heute Morgen meinen Hausschlüssel vergessen. Ich glaube, wir haben uns ausgesperrt.“

 

Surinder starrte Nina wütend an. Nachdem ihr Kommissarinnengesicht seine Schuldigkeit getan hatte, brach sie aber in Gelächter aus.

Dann schlenderten sie zu einem netten kleinen Pub an der nächsten Straßenecke, in dem es heute ausnahmsweise mal nicht proppenvoll war, und suchten sich einen gemütlichen Tisch.

Surinder bestellte eine Flasche Wein, die Nina misstrauisch beäugte. Wein war normalerweise kein gutes Zeichen und der Auslöser für ein „Was mit Nina nicht stimmt“-Gespräch, das meistens nach dem zweiten Glas losging.

Aber so ein Dasein wie ihres war doch in Ordnung, oder nicht? Es war schließlich okay, Bücher zu lieben und seine Arbeit zu mögen und sein Leben so zu führen. Ein nettes, gemütliches kleines Leben mit einer Routine, das bislang niemanden gestört hatte.

„Nein“, sagte Surinder nach dem zweiten Glas und stellte es seufzend auf den Tisch.

Nina richtete sich aufs Zuhören ein und setzte eine leidgeprüfte Miene auf.

Surinder arbeitete bei einer Importfirma für Schmuck im Büro, wo sie die Buchhaltung machte und die Diamantenhändler an der kurzen Leine hielt. Sie war großartig in ihrem Job, und alle hatten Angst vor ihr. Sowohl ihr Händchen fürs Administrative als auch ihr geschickt eingefädeltes häufiges Fehlen waren legendär.

„Es reicht einfach nicht, oder, Niens?“

Nina konzentrierte sich auf ihr Glas und wünschte wirklich, nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen.

„Was hat denn der Berufsberater gesagt?“

„Er hat gesagt … dass es nach den Kürzungen eben nicht mehr viele Stellen für Bibliothekare gibt. Man wird vor allem Ehrenamtliche einsetzen.“

Surinder gab ein schnaubendes Geräusch von sich. „So nette alte Damen?“

Nina nickte.

„Aber die können den Leuten doch gar nicht die richtigen Romane empfehlen! Und sie wissen auch nicht, was ein Neunjähriger nach Harry Potter als Nächstes lesen sollte.“

„New World – Die Flucht“, sagte Nina automatisch.

„Genau das meine ich. Solches Fachwissen! Und kommen die überhaupt mit dem Klassifikationssystem klar? Mit der Ablage? Dem ganzen Verwaltungskram?“

Nina schüttelte den Kopf. „Eher nicht.“

„Und wo sollst du hin?“

Nina zuckte mit den Achseln. „Im neuen Medienhub gibt es wahrscheinlich Stellen für Informationsvermittler, aber dafür müsste ich an einem Kurs für Teambuilding teilnehmen und mich dann neu bewerben.“

„An einem Kurs für Teambuilding?“

„Ja.“

„Du?“ Surinder lachte. „Und, hast du dich dafür angemeldet?“

Nina schüttelte den Kopf. „Aber Griffin macht da mit.“

„Und dir wird wohl auch nichts anderes übrig bleiben.“

Nina seufzte schwer. „Vermutlich nicht.“

„Du verlierst deine Stelle, Nina! Du wirst arbeitslos! Den ganzen Nachmittag herumzugammeln und Georgette Heyer zu lesen wird daran auch nichts ändern, oder?“

Nina schüttelte den Kopf.

„Also reiß dich jetzt mal zusammen!“

„Wenn ich das mache, dürfen die Bücher dann ins Haus?“

„Nein!“


Kapitel 2

Am Tag des Teambuilding-Kurses war Nina aufgeregt, weil sie keine Ahnung hatte, was sie dort erwartete. Außerdem war ihr Auto ja immer noch bis unters Dach voll mit Büchern.

Auch Griffin nahm an dem Kurs teil und hatte ganz lässig die Beine übergeschlagen, so als wollte er sich als der entspannteste Typ aller Zeiten präsentieren. Das klappte allerdings nicht besonders gut. Sein Pferdeschwanz baumelte schlapp über sein leicht ergrautes T-Shirt, und seine Brille war schmierig.

„Diese Kursteilnehmer-Pappnasen“, flüsterte er Nina zu, um sie aufzuheitern.

Das half aber nicht, danach fühlte sie sich nur noch übler und zupfte nervös an ihrer Blümchenbluse herum.

Draußen war der Frühling so bewegt wie ein auf den Wellen hüpfendes Boot, Regenschauer und Sonnenschein wechselten einander ab.

Surinder hatte recht: Es war wirklich an der Zeit, dass sich Nina am Riemen riss. Aber manchmal kam es ihr eben so vor, als sei die Welt einfach nicht für Leute wie sie gemacht.

Selbstbewusste, charismatische Menschen wie Surinder konnten das nicht verstehen. Wer nicht extrovertiert war, sich nicht dauernd in den Mittelpunkt drängte, keine Selfies postete, nicht ständig redete und nach Aufmerksamkeit verlangte, wurde schlicht übersehen. Und normalerweise war es Nina ja ganz recht, wenn andere geradewegs durch sie hindurchguckten.

Doch jetzt wurde ihr klar, dass sie Gefahr lief, sich selbst zu übersehen. Was auch immer sie versuchte, wie viele Romane sie auch rettete, ihre Bücherei würde schließen. Ihren Arbeitsplatz würde es nicht mehr geben, und es ging ja nicht einfach nur darum, irgendwo einen neuen zu finden. Da überall Bibliothekare arbeitslos wurden, würden sich auf jede neue Stelle dreißig Kandidaten bewerben. Das war so wie bei Schreibmaschinenreparateuren oder Herstellern von Faxgeräten. Mit nur neunundzwanzig fühlte sich Nina fast schon überflüssig, den Anforderungen des Lebens nicht mehr gewachsen.

Sie hatte sich für den Kurs mit ihren Kollegen und den Mitarbeitern der beiden anderen schließenden Büchereien der Region im hinteren Saal des Gebäudes zusammengefunden.

Es wurde viel gemurmelt und geklagt, über die verdammte Regierung und darüber, wie ätzend alles war. Begriffen die Menschen denn nicht, war ihnen gar nicht bewusst, was Büchereien alles für die Allgemeinheit taten?

Nina glaubte eher, dass sie es sehr wohl wussten, sich aber einfach nicht darum scherten.

Nun sprang ein junger Mann auf das kleine Podium vorne und rief zur Begrüßung: „Hey!“ Er trug Jeans und ein rosafarbenes Hemd mit offenem Kragen.

„Ich frage mich, was sie dem für diesen Kurs eigentlich bezahlen“, flüsterte Griffin. „Mehr als uns, würd ich mal wetten.“

Nina kniff die Augen zusammen. Des Geldes wegen hatte sie sich ihren Beruf jedenfalls nicht ausgesucht.

„Hallo, alle zusammen!“, rief der junge Mann. Er gehörte zu diesen Leuten, bei denen der Tonfall am Ende immer hochging. Deshalb klang bei ihm jeder Satz wie eine Frage. „Also, ich weiß, dass die Situation hier nicht ideal ist?“

„Ach, was!“, schnaubte Griffin.

„Aber ich bin mir sicher, dass wir uns am Ende des Tages alle super verstehen werden … wenn wir unseren Teamgeist und unser Selbstbewusstsein gestärkt haben, ja?“

Griffin schnaubte wieder, Nina lehnte sich jedoch ein wenig vor. Ihr Selbstbewusstsein stärken? Das könnte wirklich nicht schaden.

 

Inzwischen war etwa eine Stunde verstrichen, und sie waren mit Spielen zur Vertrauensbildung beschäftigt. Damit sollten sie den Glauben an irgendetwas zurückerlangen, obwohl sie doch später alle im Kampf um die verbleibenden Stellen gegeneinander antreten würden.

Nina war mit verbundenen Augen durch den Raum gelaufen und hatte sich dabei nur von den Stimmen der anderen leiten lassen.

Der junge Kursleiter, der sich ihnen als Mungo vorgestellt hatte, war wirklich sehr motivierend. „Sie müssen die Vorstellung aufgeben, dass Sie manche Dinge einfach nicht können!“, rief er.

„Ach?“, seufzte Griffin.

Nina hingegen schaute Mungo an. War an der Sache vielleicht doch was dran?

„Man kann alles schaffen, man muss es nur versuchen.“

„Oh, gut, dann stoße ich am besten zum olympischen Tauchteam dazu“, lautete Griffins Antwort darauf.

Mungo lächelte unbeirrbar. Dann zog er eins seiner Hosenbeine hoch, und der ganze Raum keuchte hörbar auf, als darunter eine Kunststoffprothese zum Vorschein kam.

„Ich würde es zumindest versuchen“, sagte er. „Na los, was würden Sie wirklich gern tun?“

„Eine Abteilung für Medientechnik leiten“, antwortete Griffin rasch.

Nina wusste, dass er Mungo für einen Spitzel der Büchereileute hielt.

Mungo nickte bloß. „Machen wir es doch einfach so, dass jeder etwas dazu sagt“, schlug er vor. „Seien Sie ehrlich. Hier gibt es keine Spione.“

Nina sank auf ihrem Stuhl in sich zusammen. In der Öffentlichkeit zu sprechen war für sie eine Qual.

Ein grantiger Mann, den sie nicht kannte, meldete sich ganz hinten im Raum. „Ich wollte eigentlich immer gern mit Tieren arbeiten“, erklärte er. „Draußen in der freien Wildbahn. Sie beobachten und katalogisieren … Wissen Sie, was ich meine?“

„Das klingt ja super“, sagte Mungo, und es hörte sich an, als meine er es auch so. „Toll! Kommen Sie doch mal nach vorne!“

In Nina zog sich alles zusammen, als sie sich rund um einen Tisch aufstellen mussten, den der Mann nun erklomm, um sich fallen zu lassen und von der Gruppe aufgefangen zu werden.

„Ich träume schon lange davon, Maskenbildnerin beim Film zu werden“, verriet nun eine junge Rezeptionistin aus der Zentrale. „Die großen Stars zu schminken und so.“

Mungo nickte, sie trat vor und ließ sich ebenfalls fallen. Nina konnte nicht fassen, wie problemlos sich alle darauf einließen.

„Ich will einfach nur mit Büchern arbeiten“, sagte Rita. „Das ist alles, was ich mir im Leben wünsche.“

Fallen lassen musste sie sich allerdings nicht, wegen ihrer Hüfte.

Es wurden noch weitere Ideen vorgebracht, die mit viel Nicken und dem ein oder anderen Applaus vom Rest der Gruppe bedacht wurden.

Selbst Griffin nahm seine erste Antwort zurück und murmelte, dass er eigentlich gern Comics zeichnen würde.

Nina hingegen sagte nichts, obwohl es hinter ihrer Stirn fieberhaft arbeitete. Schließlich wurde ihr klar, dass Mungo sie anstarrte.

„Ja?“

„Na los, Sie sind die Letzte. Verraten Sie uns bitte, was Sie gern tun würden. Und seien Sie ehrlich.“

Widerwillig schob sich Nina in Richtung Tisch. „Darüber habe ich eigentlich noch nie nachgedacht.“

„Und ob Sie das haben“, widersprach Mungo. „Wie jeder andere auch.“

„Es klingt aber ganz schön albern. Vor allem unter den gegebenen Umständen.“

„Wir lassen uns gerade rückwärts vom Tisch fallen“, wandte er ein. „Albern ist hier gar nichts.“

Als Nina auf den Tisch kletterte, sah der Rest der Gruppe sie erwartungsvoll an. Ihr Mund war ganz trocken, und plötzlich hatte sie einen Blackout.

„Na ja“, sagte sie und spürte, wie ihre Wangen zu brennen begannen. Sie schluckte schmerzhaft. „Also … ich meine. Tja. Ich hab immer schon … immer schon davon geträumt, eines Tages meine eigene Buchhandlung zu führen. Nur eine ganz kleine.“

Er herrschte kurz Schweigen, und dann erklangen von überall her Stimmen.

„Ich auch!“

„O ja!“

„Das klingt einfach WUNDERBAR!“

„Schließen Sie die Augen“, bat Mungo behutsam.

In diesem Moment kniff Nina die Augen ganz fest zu, lehnte sich zurück und fiel in wartende Arme, die sie auffingen und dann vorsichtig auf dem Boden absetzten.

Und als Nina die Augen wieder aufschlug, fragte sie sich …

 

In der Pause nahm Mungo Nina beiseite, um mit ihr über ihren Traum zu sprechen.

Nina erklärte ihm, dass sie sich Dingen wie Betriebskosten oder Lagerbeständen oder Angestellten oder all den anderen großen Verpflichtungen, die ein Geschäft eben mit sich brachte, nicht gewachsen fühle.

Er nickte sanft. Als sie ihm gestand, dass sie genug Bücher für einen ganzen Laden in ihrem Auto zwischenlagerte, lachte er und hob eine Hand. „Wissen Sie“, sagte er, „man braucht für so etwas nicht unbedingt einen festen Standort.“

„Wie meinen Sie das?“

„Na ja, statt ein Ladenlokal zu mieten, das ja entsprechende Kosten mit sich bringt, könnten Sie doch etwas anderes probieren.“

Er zeigte ihr Fotos auf der Website einer Frau, die eine Buchhandlung auf einem Frachtkahn führte. Davon hatte Nina schon gehört und seufzte neidisch.

„Es muss auch nicht unbedingt ein Schiff sein“, fügte er hinzu. „Ich kannte mal eine Frau, die in Cornwall eine Bäckerei in einem Lieferwagen eröffnet hat.“

„Eine ganze Bäckerei?“

„Eine ganze Bäckerei! Die Leute sind meilenweit dafür gefahren.“

Nina sah ihn skeptisch an. „Ein Lieferwagen?“

„Warum nicht? Haben Sie denn den Führerschein?“

„Ja.“

„So einen Wagen könnte man doch hübsch herrichten, meinen Sie nicht?“

Nina erwähnte an dieser Stelle nicht, dass sie ewig gebraucht hatte, um zu lernen, wie man im Rückwärtsgang wendete. Mungos überschwänglicher Enthusiasmus war so allumfassend, dass es leichter schien, dem jungen Mann einfach zuzustimmen.

 

„EIN LADEN?“ Griffin musste natürlich wieder stänkern. „EINE BUCHHANDLUNG? Ja, bist du denn VERRÜCKT?“

Nina zuckte mit den Achseln. „Ich weiß auch nicht“, sagte sie. „Ich könnte doch deine Comics bei mir verkaufen.“

Sie fühlte sich immer noch seltsam inspiriert. Nun zeigte sie Griffin eine Anzeige, die sie während der Pause mithilfe des begeisterten Mungo gefunden hatte. „Schau dir das mal an.“

„Was ist das?“

„Ein Lieferwagen.“

„Ein stinkender alter Imbisswagen?“

„Ein stinkender alter Imbisswagen“, musste Nina widerwillig zugeben. „Gut, der wäre wahrscheinlich nicht ideal. Aber was ist denn mit diesem hier?“

„Du scheinst Lieferwagen ja für die Lösung aller Probleme zu halten“, knurrte Griffin. „Dabei sind die bestimmt voller Ungeziefer.“

„Ich hab doch gerade gesagt, dass ich Imbisswagen ausschließe!“ Ninas leicht gereizte Stimme ließ Griffin überrascht von seinem Pint Bier aufschauen. Es kam ihm wohl vor, als hätte da eine Maus gebrüllt.

„Jetzt bleib bitte mal ernst, und schau dir den hier an.“

„Oh, ein Lieferwagen!“, rief Griffin übertrieben sarkastisch aus. „Ich weiß wirklich nicht, was du von mir hören willst.“

„Na, zum Beispiel: ›Wow, Nina, das ist ja toll! Wer hätte gedacht, dass du dein Leben in die Hand nehmen und dir so was einfallen lassen würdest?‹“

„Hat dir dieser Mungo etwa den Kopf verdreht?“

„Nein, Griffin, der ist doch nur ein Kind. Aber mir gefällt seine Einstellung.“

„Das verstehe ich nicht“, murmelte Griffin. „Ein Lieferwagen. Ich dachte, du wolltest eine Buchhandlung eröffnen?“

„Das will ich auch!“, fuhr Nina fort. „Aber ein Ladenlokal kann ich mir ja wohl nicht leisten, oder?“

„Nein“, sagte Griffin. „Du wärst als Kreditnehmer ein viel zu großes Risiko für jede Bank. Schließlich hast du überhaupt keine Erfahrung darin, ein Geschäft zu leiten.“

„Stimmt“, nickte Nina. „Aber dafür weiß ich alles über Bücher, oder?“

Griffin sah sie an. „Ja“, musste er widerwillig zugeben, „was Bücher angeht, bist du ziemlich gut.“

„Und ich kriege doch eine Abfindung“, sagte Nina. „Außerdem könnte ich den Mini Metro verkaufen. Ich meine, ich könnte … Ich könnte mir einen Lieferwagen leisten … so gerade eben. Und Ware hab ich schließlich genug, hier aus der Bücherei und … na ja, eben aus meinem Leben. Bei mir stehen ja überall Bücher rum, mit denen könnte ich den Wagen erst einmal vollmachen und dann gucken, wie es weitergeht.“

„Du hast wirklich zu viele Bücher“, seufzte Griffin. „Ich hätte ja nie gedacht, dass ich das mal über jemanden sagen würde.“

„Also“, murmelte Nina. „Wenn ich den Warenbestand schon habe … und dazu noch einen Lieferwagen …“

„Ja?“

„Ich meine, warum sollte ich damit dann nicht durch die Gegend fahren und die Bücher verkaufen?“

So langsam steigerte sie sich da richtig hinein und spürte ein aufgeregtes Kribbeln in der Brust. Warum denn nicht? Wieso sollten alle anderen ihre Träume verwirklichen dürfen, nur sie nicht?

„Wo denn, etwa in Edgbaston?“

„Nein, es müsste irgendwo sein, wo das Parken nicht so streng geregelt ist“, überlegte Nina

„Also nirgendwo.“

„Irgendwo, wo ich nicht störe. Wo ich einfach meine Bücher verkaufen darf.“

„Ich glaube nicht, dass das so funktioniert“, wandte Griffin ein.

„Das wäre wie bei Bauernmärkten, wo die Händler einmal die Woche ihre Ware anbieten.“

„Du willst also nur einmal die Woche arbeiten und dich den Rest der Zeit um deine Bücherplantage kümmern?“, fragte Griffin.

„Jetzt hör schon auf, mir die Sache schlechtzureden!“, schimpfte Nina.

„Ich bin doch nur realistisch. Soll ich jetzt etwa sagen: ›Klar, Nina, pfeif auf die Möglichkeit einer neuen Anstellung und lass mit fast dreißig alles stehen und liegen, um einem Traum hinterherzujagen!‹? Dann wäre ich dir wohl kein guter Freund.“

„Hm“, machte Nina, der er damit ziemlich den Wind aus den Segeln genommen hatte.

„Ich meine“, fuhr Griffin fort, „du bist nicht gerade ein risikofreudiger Mensch. In den vier Jahren, die ich dich nun kenne, bist du kein einziges Mal zu spät aus der Mittagspause zurückgekommen. Du hast nie irgendeinen Änderungsvorschlag für die Mitarbeiter eingebracht oder dich über irgendetwas beschwert, bist niemals während eines Feueralarms einen Kaffee trinken gegangen – nichts. Du bist die Kleine Miss Perfekte Angestellte, die Kleine Miss Ideale Bibliothekarin … Und jetzt willst du dir einen Lieferwagen kaufen und damit draußen in der freien Wildbahn Bücher verkaufen? Um damit dein Geld zu verdienen?“

„Klingt das denn so verrückt?“, fragte Nina.

„Ja“, sagte Griffin.

„Hm“, kam es wieder von Nina. „Und was hast du vor? Dich bei Illustratoren und in Comicläden und so vorstellen?“

Einen Moment wirkte Griffin verlegen. „Oh“, hauchte er. „Du liebe Güte, nein, natürlich nicht. Ich werde mich vermutlich einfach um eine der neuen Stellen bewerben. Du weißt schon … der Sicherheit wegen. Als Wissensvermittler.“

Nina nickte traurig. „Ja, ich wohl auch.“

„Mit dir als Konkurrentin werde ich die Stelle sicher nicht kriegen.“

„Jetzt sei nicht albern, natürlich wirst du das“, wandte Nina ein und konzentrierte sich peinlich berührt auf die Anzeige. „Dieser Wagen steht bestimmt sonst wo.“

Griffin beugte sich über die Annonce und brach dann in schallendes Gelächter aus. „Nina, den kriegst du sowieso nicht.“

„Warum denn nicht? Das ist der, den ich will!“ Sie verbesserte sich: „Das ist der, den ich gewollt hätte.“

Er war blau, geräumig und altmodisch, mit großen Scheinwerfern. Er konnte nicht nur hinten geöffnet werden, sondern hatte auch noch eine seitliche Tür mit einer kleinen Metalltreppe, die man ausklappen konnte. Der Wagen war wirklich schön und strahlte ein gewisses Retroflair aus. Und vor allem war im Inneren jede Menge Platz für Regale, da es sich um einen ehemaligen Brotwagen handelte. Das Ding war einfach umwerfend.

„Na, dann viel Glück“, schnaubte Griffin und deutete aufs Kleingedruckte. „Guck, der steht nämlich in Schottland!“

Blick ins Buch
Weihnachten in der kleinen BuchhandlungWeihnachten in der kleinen Buchhandlung

Roman

Alle Jahre wieder … ein neuer atmosphärischer Weihnachts-Roman von der „Queen of Christmas“, Jenny Colgan!

„Weihnachten in der kleinen Buchhandlung“, der 4. Band der „Happy Ever After-Reihe“, entführt seine Leserinnen und Leser in das festlich geschmückte Edinburgh. In ihrem stimmungsvollen Roman erzählt SPIEGEL-Bestsellerautorin Jenny Colgan eine gefühlvolle Geschichte um das schönste aller Feste, die Magie von Büchern und das Glück der Freundschaft.

Als das Kaufhaus, in dem Carmen gearbeitet hat, kurz vor Weihnachten seine Pforten schließt, zieht sie widerstrebend zu ihrer Schwester nach Edinburgh. Sie soll dort eine kleine Buchhandlung übernehmen. Der Laden hat jedoch schon bessere Tage gesehen, es droht der Verkauf – wenn nicht ein Wunder geschieht.  Carmen will schon alles hinwerfen, doch dann lässt sie sich bezaubern: von den verschneiten Straßen der Stadt, vom Charme der altmodischen Buchhandlung – und von dem attraktiven Star-Autor, der dort plötzlich auftaucht. Ob die Magie der Weihnacht ein Wunder wahr werden lässt?

 Jenny Colgans gefühlvolle und atmosphärische SPIEGEL-Bestseller sind wie eine Tasse heiße Schokolade – sie wärmen von innen und machen glücklich.

Wie schon „Weihnachten in der kleinen Bäckerei am Strandweg“ oder „Weihnachten im kleinen Inselhotel“ stimmt auch „Weihnachten in der kleinen Buchhandlung“ auf die festliche Jahreszeit ein: mit einer Geschichte voller Heiterkeit, Gefühl, Schneeflocken und weihnachtlichem Glanz.

  „Wieder eine großartige Lektüre von Jenny Colgan, die Sie in Weihnachtsstimmung versetzen wird“ Bella

Für Impfstoffentwickler.
Mann, ihr habt uns gerettet,
ihr großartigen, klugen Forscher.
Und auch für die,
die uns geimpft haben.
Danke.


Oh, wie süß und erfreulich ist es doch
für das wahrhaft geistige Auge,
alle Arten von Gläubigen zu sehen …
Isaac Penington
(1616–1679, Quäker)


Prolog

Aber es ist doch August«, sagte Carmen ins Telefon, während sie ihr Buch zur Seite legte. „August und beinahe sonnig draußen. Eiswagen ziehen durchs Land, ich trage Sandalen und hab letzte Woche Sonnencreme aufgetragen, die ich auch fast gebraucht hätte! Da habe ich doch dafür jetzt keinen Kopf.“

„Ich meine ja nur“, ertönte wieder die sanfte Stimme ihrer Mutter, Irene, „dass es ganz gut wäre, wenn ich es schon früh wüsste.“

Carmen seufzte. Jedes Jahr das gleiche Theater.

„Und natürlich hat Sofia …“

Carmen verzog das Gesicht. „Jaja, sie bekommt wieder ein Baby und trägt damit zur Überbevölkerung der Erde bei, blablabla, ich weiß.“

„Carmen June Hogan, nicht in diesem Ton!“

„Also wirklich, Mum, Sofia kriegt einfach den Hals nicht voll. Sie hat doch schon drei Kinder! Egal, ich weiß jedenfalls noch nicht, was ich an Weihnachten mache. Vielleicht fahre ich auch weg.“

„Mit wem denn?“ Ihre Mutter klang skeptisch.

„Womöglich lerne ich ja bis Weihnachten jemanden kennen und entfliehe dann mit ihm nach Barbados! Oder L. A.!“

Sie konnte beinahe spüren, wie ihre Mutter am anderen Ende lächelte.

„Mit dir ist also an Weihnachten nicht zu rechnen, weil du in L. A. sein wirst?“

„Weil ich vielleicht in L. A. sein könnte!“

Carmen fragte sich, ob sie eigentlich als Einzige auf der Welt mit Mitte zwanzig bei Unterhaltungen mit ihrer Mutter immer noch zum patzigen Teenager wurde.

Aber es war doch erst August. Sie wollte noch nicht daran denken, dass der Sommer irgendwann vorbei sein würde, und erst recht nicht an ein weiteres Weihnachtsfest. Während der Feiertage würde sie in ihrem Elternhaus in ihrem früheren Kinderzimmer schlafen, das mittlerweile voll war mit lächerlichem Kram, der nicht ihr gehörte: mit Nähmaschinen und allen möglichen anderen Sachen. Dann würde sie wieder die alten Taschenbücher lesen, die noch bei ihr im Regal standen: die Follyfoot-Reihe, C. S. Lewis und, passend zu Weihnachten, Wintersonnenwende.

Alle würden einen Riesenwirbel um Sofias laute, freche Kinder machen und ihnen so unglaublich viel Zeug schenken (das immer aus Holz und furchtbar teuer sein musste), dass sie kaum das Papier eines Päckchens aufgerissen hatten, bevor sie sich schon auf das nächste stürzten.

Auch Sofias Geschenke für alle wurden von Jahr zu Jahr größer und wertvoller, womit offensichtlich war, wer in dieser Familie es zu etwas gebracht hatte – und wer immer noch Spice-Girls-Bettwäsche benutzte und reduzierte Ware von der Arbeit als Geschenke verteilte.

Irene ließ nicht locker. „Ich meine, Sofia wird zu dem Zeitpunkt sicher ungern reisen wollen und ist ja auch superstolz auf ihr neues Haus … Da dachte ich, dass wir alle zu ihr fahren und ich dann koche …“

Sofia arbeitete als Anwältin in Edinburgh, gut hundertfünfzig Kilometer entfernt von der dahinsiechenden Industriestadt an der Westküste Schottlands, aus der sie stammte. Sie hatte es wirklich zu etwas gebracht – danke der Nachfrage –, mit einem attraktiven, international tätigen Anwalt als Ehemann und all ihren Kindern und den Range Rovern, blablabla.

Carmen hingegen war weiterhin dort angestellt, wo sie schon als Schülerin samstags gejobbt hatte: in einem alten Kaufhaus, das immer schäbiger und heruntergekommener wirkte. Diese Tatsache erwähnte die Familie aber nie, was es irgendwie noch schlimmer machte.

Als könnte sie die Gedanken ihrer Tochter lesen, senkte Irene nun die Stimme und fragte: „Und, wie läuft es bei Dounston’s?“

Carmen verstand genau, was ihre Mum damit sagen wollte, obwohl sie den Tonfall hasste.

„Na ja … mit dem Weihnachtsgeschäft wird es sicher besser“, antwortete sie, was beide so gern glauben wollten.

Am Ende des Telefonats war die Sache mit den Feiertagen immer noch nicht eindeutig geklärt. Zumindest weigerte sich Carmen strikt, sich jetzt bereits festzulegen, obwohl ihre Mutter selbstverständlich mit ihr rechnete.

Denn es würde sich natürlich nichts anderes ergeben, und Carmen würde tatsächlich mit von der Partie sein – in Sofias neuem Haus, wie auch immer das aussehen mochte. Wahrscheinlich würde man ihr das übelste Bett von allen zuweisen. Die Alternative war, dass sie sich am vierundzwanzigsten wieder in ihre Spice-Girls-Bettwäsche kuschelte, und dieser Gedanke deprimierte sie nur noch mehr.

Carmen schaute sich im Personalraum um.

Ihre beste Freundin hier im Laden, Idra, war gerade hereingekommen und beäugte nun die Blümchentasse ihrer Vorgesetzten, Mrs Marsh, die unter Androhung der Todesstrafe nicht von anderen benutzt werden durfte.

„Denk nicht einmal daran!“, warnte Carmen sie.

„Ich werd da reinpinkeln“, antwortete Idra zornbebend. „Die hat mich zurück in die Hutabteilung versetzt!“

Carmen stöhnte mitfühlend. Die Hutabteilung lag direkt neben der Eingangstür. Der Gedanke dahinter war, dass sicher viele dringend eine Kopfbedeckung brauchten, wenn sie aus der Kälte der Einkaufsstraße hereinkamen, in der mittlerweile ein rapider Schwund an Geschäften stattfand.

Wer dort an der Kasse stand, war allerdings dauerhaft eisigen Windstößen ausgesetzt, während gleichzeitig der Lufterwärmer auch noch bei strategischem Lagenlook zu Schweißausbrüchen führte. Immerhin öffnete sich die Tür zunehmend seltener.

Carmen zählte die Tage in Büchern. Man konnte pro Tag schließlich nur eine gewisse Anzahl von Schaufenstern neu gestalten, daher hatte sie für die ruhigen Momente nach dem Überprüfen, Abstauben und Zurechtrücken ausgelegter Ware immer ein Taschenbuch unter dem Tisch.

Als sie damals bei Dounston’s angefangen hatte, war immer viel zu tun gewesen, und Carmen hatte nur während der Busfahrt zur Arbeit und in der Mittagspause lesen können. Mittlerweile schaffte sie einen Roman in drei Tagen und wurde immer schneller, was ihr wirklich große Sorgen bereitete.

„Mich hasst sie am meisten“, kommentierte Carmen zum Thema Mrs Marsh, als sie sich den Dienstplan für die nächsten Wochen anschaute.

Carmen hatte die ungünstigste Kombination von Schichten, die man sich nur vorstellen konnte – eine Frühschicht gefolgt von einer Spätschicht am nächsten Tag und danach sogar eine Früh- und Spätschicht am selben Tag. Trotzdem summierte sich ihre Arbeitszeit nicht auf eine volle Stelle, sodass sie nur über die Runden kam, indem sie auf jegliche Unternehmungen verzichtete, an allen Ecken und Enden knapste und am Sonntagabend zig Tupperdosen von ihrer Mutter mit nach Hause nahm.

„Sie hat gesagt, dass ich wie eine Herumtreiberin aussehe“, murmelte Idra.

„Was hattest du denn an?“

„Ich hab einfach nur meine Strickjacke ausgezogen. Für etwa zehn Sekunden.“

Carmen lachte, verstummte aber, als die Person, über die sie gerade sprachen, lautlos in den Raum glitt.

Obwohl sie untersetzt war, hatte Mrs Marsh über Jahrzehnte das geräuschlose Gleiten durchs Warenhaus perfektioniert – immer auf der Suche nach Übeltätern, Langfingern, Zeitverschwendern und Drückebergern, im Prinzip nach jedem, der so wirkte, als hätte er hier womöglich Spaß.

Ja, ihre Chefin bewegte sich lautlos auf ihren winzigen Füßchen, die immer in schicken schwarzen Pumps steckten. Dabei drückten die doch sicher und trugen wohl auch zu den Jahr für Jahr beharrlich wie Efeu wuchernden Besenreisern bei, die durch ihre Feinstrumpfhosen in einem dunklen Nude-Ton gerade eben zu erkennen waren.

Mrs Marshs Körpermitte war voluminös, und ihr üppiger Busen sah durch das Wäscheteil aus der Übergrößenabteilung so aus, als hätte sie nur eine einzige, durchgehende Brust, die im Laden notfalls als Ablage dienen könnte.

Carmen und Idra waren sich seit langem darüber einig, dass Mrs Marshs Idee von Perfektion in einem absolut sauberen und ordentlichen sowie völlig leeren Geschäft bestand. Kunden, die alles durcheinanderbrachten, deren Kinder Gläser herunterwarfen, die mit ihren matschigen Schuhen den Fußboden beschmutzten oder die die Fahrstuhletikette nicht befolgten, störten da eher.

(Mrs Marsh erinnerte sich nur zu gut an die Zeit, als sie noch einen Fahrstuhlführer gehabt hatten, und erwähnte das oft und gern.)

Die gähnende Leere, die ihre Chefin als Idealzustand erachtete, herrschte in den Abteilungen des Warenhauses leider immer öfter.

Nach und nach waren aus dieser unwichtigen, regionalen Satellitenstadt etliche Läden weggezogen – wie Kegel waren BHS, Next, Marks and Spencer und WH Smith einer nach dem anderen gefallen.

Bei Dounston’s hatten Generationen von Bräuten aus der Gegend ihre Hochzeitsliste hinterlegt und den Stoff für ihr Brautkleid ausgesucht, werdende Mütter hatten Kinderwagen gekauft, Familien Porzellan und ihr Sofa, ihre Wohnungsausstattung und Haushaltswaren.

Seit jeher gab es bei Dounston’s im August Schuluniformen und im Dezember neue Ware in der schicken Parfüm- und der wunderbaren Spielzeugabteilung. Dort leuchteten die Augen der Kinder jedes Jahr vor Begeisterung, wenn sie kamen, um für ein kleines Geschenk und ein Foto mit dem Weihnachtsmann vor einer Winterkulisse anzustehen.

Ja, das war Dounston’s, und alle gingen davon aus, dass es als Nächstes zur Reihe der Ladenleichen an der Einkaufsstraße hinzukommen würde.

Aber Carmen konnte sich eine Pleite des Warenhauses einfach nicht vorstellen – schließlich war es eine zuverlässige Anlaufstelle und so eng mit der Stadt und dem Leben ihrer Einwohner verknüpft.

Seine Buntglasfenster zeigten Szenen aus den Schiffswerften am nahen Clyde, und man würde in seiner hauseigenen Konditorei nicht einmal im Traum daran denken, zum französischen Gebäck und den Scones so etwas Neumodisches wie einen Caffè Latte anzubieten.

Nein, Dounston’s konnte einfach nicht dichtmachen, es war doch das Herz der Stadt.

Aber die Stadt selbst schien ja am Ende, tot. An der Einkaufsstraße blieb wenig außer Secondhandshops und Läden, in denen man Elektromobile mieten konnte. Gelegentlich wurde von der Stadtverwaltung in Geschäften, die aber von vornherein zum Scheitern verurteilt waren, lokales Kunsthandwerk oder Bilder von Malern aus der Gegend angeboten.

Natürlich wollten die Leute gern eine florierende Innenstadt. Aber sie wollten dort nicht fürs Parken bezahlen, wenn es im glitzernden Einkaufszentrum vor den Toren der Stadt umsonst war, wo es auch Wagamama gab.

Ja, sie wollten gern eine florierende Innenstadt, wollten dort aber nicht 17,99 Pfund für eine Porzellantasse mit dem Bild einer Schäferin bezahlen, wenn es für unter fünf Pfund etwas völlig Brauchbares auf Amazon gab.

Und sie wollten auch nicht den ganzen langen Weg ins Stadtzentrum für drei Meter rosafarbenes Dekoband auf sich nehmen, nur um dann festzustellen, dass gerade kein rosafarbenes Dekoband vorrätig war und sie deshalb Weinrot nehmen mussten, obwohl sie doch Rosa wollten.

Schließlich würde es nur zwei Minuten dauern, in einem Onlineshop auf das Band im gewünschten Farbton zu klicken, das schon am nächsten Tag geliefert werden würde.

Das alles konnte Carmen ja nachvollziehen. Obwohl sie jeden Tag ins Zentrum kam, hatte sie es beim Einkaufen auch gern bequem und war damit genauso mitschuldig wie alle anderen.

Und wer benutzte heutzutage schon Serviettenringe? Wie viele Dekokissen konnte ein Mensch, der halbwegs bei Verstand war, in seinem Leben kaufen? Außerdem ließen Brautjungfern ihre Kleider nicht mehr wie früher aus riesigen Lagen rosa- und lilafarbenem Satin anfertigen (oder aus Baumwollsatin, wenn das Geld knapp war).

Stattdessen wurden fertige Kleider im Ausland bestellt. Wenn sie auf den letzten Drücker ankamen, saßen die allerdings so schlecht, dass die Brautjungfern mit roten Wangen bei Dounston’s erschienen, um Rat für Anpassungen und das Kürzen des Saums zu erbitten und vielleicht einen Reißverschluss zu kaufen.

Nur drei Tage nach dem Telefonat war es so weit – man berief die Belegschaft ein, vor der sich nun Mrs Marsh aufbaute, die selbst längst reif für die Rente zu sein schien.

Idra hätte ihr Alter ungefähr auf neunzig geschätzt und zischte jetzt, dass sie am besten Gift in die verdammte Tasse gegeben hätte.

Die Ankündigung, dass man die komplette Belegschaft rauswarf, schien Mrs Marsh mit einer gewissen Genugtuung zu erfüllen. So formulierte sie es natürlich nicht, sondern sprach mit ihrer gewählt vornehmen Vortragsstimme davon, dass man „leider die Arbeitskräfte des Warenhauses freisetzen“ müsse.

Sie blickte durch ihre breite Brille mit dem pastellfarbenen Gestell und tätschelte sich die spraygefestigte Kurzhaarfrisur.

„Ich bin mir sicher, dass einige von Ihnen ausgezeichnete Referenzen bekommen und keinerlei Schwierigkeiten haben werden, eine neue Anstellung zu finden“, sagte sie und schaute vielsagend zu ihrem Liebling hinüber, der verdammten Schleimerin Lavinia McGraw.

Genau in diesem Moment begegnete Idras Blick dem von Carmen, die das schreckliche Gefühl beschlich, dass sie gleich an völlig unpassender Stelle in Gelächter ausbrechen würde.

Denn diese Nachricht war natürlich furchtbar, ganz grauenhaft, eine Katastrophe. Aber Carmen hatte so etwas schon kommen sehen, genau wie alle anderen, und hatte trotzdem nichts unternommen. Da brachte es ja auch nichts, dafür jetzt Mrs Marsh die Schuld zu geben.


Kapitel 1

Sofia d’Angelo, geborene Hogan, musterte den Weihnachtskranz, der draußen an ihrer glänzenden schwarzen Haustür hing, kniff die Augen zusammen und rückte ihn noch einmal zurecht. Dann trat sie einen Schritt zurück und bewunderte die perfekte Symmetrie des Arrangements.

Diesem Haus hatte sie nicht widerstehen können, das hatte Sofia schon bei der ersten Besichtigung gewusst. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen.

Okay, der Keller war ein wenig feucht, schließlich handelte es sich um ein altes Gebäude. Aber Liebe war Liebe, und es war doch niemand perfekt. Heute kam Haus Nummer 10 an der Walgrave Street allerdings nahe an absolute Perfektion heran.

In der Reihe von Gebäuden unterschiedlicher Größe, die an dieser Straße standen, war es das kleinste: Neben Keller und Erdgeschoss verfügte es über zwei weitere Stockwerke.

Das Haus war in der georgianischen Zeit am Rand von New Town gebaut worden (einem Stadtteil, der inzwischen so gar nicht mehr neu war). Die fünf perfekten Fenster mit jeweils zwölf kleinen Scheiben erinnerten an eine Kinderzeichnung, im obersten Stockwerk verlief ein filigraner Balkon vor den Fenstern, und zur Haustür hinauf führten elegante steinerne Stufen mit einem schmiedeeisernen schwarzen Geländer. Im Moment waren um dieses Geländer dicke Stechpalmenranken geschlungen, dekoriert mit Schleifen aus rotem Schottenkarostoff und geschmackvollen gelben Lämpchen.

Das alles erinnerte an ein Haus auf einer Weihnachtspostkarte, aus dem warmes Licht auf den eisigen Gehsteig fiel. Sowohl im Erdgeschoss als auch im ersten Stock stand ein Weihnachtbaum.

Zwei Christbäume! Hochzufrieden schlang sich Sofia die Arme um den Körper. Es war ein langer Weg von der kleinen Sozialwohnung auf der anderen Seite von Schottland bis hierher gewesen, aber sie hatte es geschafft.

Die Bestellung der Lebensmittel für Weihnachten hatte sie bereits im September bei Ocado aufgegeben, und auch das sorgfältig ausgesuchte Holzspielzeug für die Kinder war längst eingepackt, natürlich für jeden mit anderem Geschenkpapier, weil der Weihnachtsmann um die Bedeutung solcher Details wusste.

Die Termine für sämtliche Krippenspiele und Weihnachtskonzerte waren im Kalender vermerkt, genau wie der Ausflug zum überteuerten Weihnachtsmarkt und die Weihnachtsshow im Lyceum.

Und es war ja erst Anfang November. Sie hatten doch kaum die geschmackvollen Halloweenkränze und die orange-schwarze Dekoration rund um die Haustür weggeräumt, die Kürbisse und den großen Korb mit zuckerfreien Süßigkeiten.

In Sofias Welt war also alles in Ordnung – wenn man mal von ihrer Schwester absah.

Ihre Mutter hatte angerufen, weil Carmen jetzt schon seit drei Monaten wieder zu Hause wohnte und keine Aussicht auf eine neue Arbeit hatte.

Deshalb meldete sich ihre Mum jede Woche, bettelte Sofia an, etwas für Carmen zu organisieren, und klang dabei immer verzweifelter.

Dort, wo sie wohnten, gab es einfach keine Arbeit, und erst recht nicht im Handel. Allerdings unternahm Carmen auch nichts, um selbst Abhilfe zu schaffen.

Als ganz kleines Mädchen hatte Sofia gern ihre Puppen nebeneinander aufgereiht und ihnen Vorträge darüber gehalten, wie man sich beim Teetrinken zu benehmen hatte. Alles in ihrer Welt war sauber und ordentlich gewesen.

Sofia war vier gewesen, als ihre Mutter wieder schwanger geworden war, und in jener Zeit hatten so viele Leute zu ihr gesagt, was für eine fantastische große Schwester sie werden würde. Die kleine Sofia war darüber äußerst erfreut gewesen, unter anderem auch, weil sie tolle Geschenke bekommen hatte und die Leute für das Baby nur langweilige blöde Klamotten gekauft hatten. Was für wundervolle Monate sie damals durchlebt hatte! Selbst für so ein kleines Persönchen war Sofia ziemlich schlau gewesen, deshalb hatte sie sich gedanklich darauf vorbereitet, Carmen als Freundin, Vertraute und treue Weggefährtin in allen Lebenslagen willkommen zu heißen.

Leider sah das kreischende Monster mit dem verzerrten roten Gesicht dann gar nicht so aus wie die kleinen Schwestern in Sofias Kinderbüchern.

Und als sie älter wurde, hatte Carmen überhaupt keinen Spaß daran, mit Puppen zu spielen oder neue Kleidchen zu tragen. Tatsächlich mochte sie Kleider überhaupt nicht, und sie hasste die Schule, die Sofia so sehr liebte.

Vom Tag ihrer Geburt an gab es mit Carmen nur Ärger. Sie machte Theater, wenn sie nach drinnen oder draußen oder oben gehen sollte, wollte nicht baden oder sich die Haare waschen oder zum Schwimmunterricht oder Leute besuchen, nicht in den Kinderwagen oder aus dem Kinderwagen raus.

Sofia konnte Carmen nie begreiflich machen, dass braves Mitmachen doch viel einfacher war, selbst wenn man keine große Lust dazu hatte. Oft bekam man von den Erwachsenen, die einem lächelnd den Kopf tätschelten, dann sogar ein Plätzchen zur Belohnung. Das alles war für Sofia immer ganz unkompliziert. Carmen hingegen … war wie ein Dorn in ihrer Selbstzufriedenheit.

Jetzt runzelte Sofia die Stirn. Offenbar waren die Dinge wieder … schwierig, hatte ihre Mutter gesagt. Was erklärte, warum Carmen nicht zur Kommunion ihrer Ältesten gekommen war und nicht einmal eine Karte geschickt oder angerufen hatte.

Generell ließ sie Sofia in keiner Weise wissen, wie es in ihrem Leben aussah.

Na ja, es brachte ja nichts, sich jetzt darüber aufzuregen. Sofia strich sich die Stirn glatt – kein Botox bis nach der Geburt! Und über Carmen würde sie sich erst den Kopf zerbrechen, wenn es nicht mehr zu vermeiden war.

Sie warf einen letzten glücklichen Blick auf ihr hübsches Häuschen, dann machte sie sich mit klappernden Absätzen an gefrorenen Pfützen vorbei auf den Weg zur Arbeit.


Kapitel 2

Sofia will gar nicht, dass ich komme.«

„Unsinn“, log ihre Mutter. „Ihr befindet euch einfach in unterschiedlichen Lebensphasen, das ist alles. Und die Sache mit Pippas Feier hat eben ihre Gefühle verletzt.“

„Ihre Gefühle?“, echote Carmen. „Ich hocke hier in meinem Kinderzimmer, habe meine Arbeit verloren und nichts zu tun. Aber irgendwie sind die Gefühle unserer hochgeschätzten Sofia trotzdem das Einzige, was zählt.“

„Mein Schatz, also bitte. Du hast nicht einmal eine Karte geschickt!“

„Sofia will mich nicht bei sich haben. Ich bin doch bloß ihre merkwürdige kleine Schwester, die allen leidtut. Weil sie immer noch in einem Geschäft arbeitet, was ich ja nicht mal mehr tue, weil sie Single ist und nicht schwanger und selbstgefällig wie Sofias arrogante Freundinnen aus der großen Stadt.“ Zu Carmens Verärgerung begannen ihre Wangen zu brennen.

„Es ist okay, eifersüchtig zu sein“, antwortete ihre Mutter. Dann verzog sie gequält das Gesicht, als ihr klar wurde, dass sie genau das Falsche gesagt hatte.

„Ich bin nicht eifersüchtig!“, protestierte Carmen. „Wer will denn schon einen Haufen Blagen am Hals haben? Allerdings hätte ich nie damit gerechnet, dass Sofia wegen der Angelegenheit so einen Aufstand macht. Hat sie keine anderen Sorgen als die Frage, ob ich zu so einer blöden Feier komme oder nicht?“

„Wichtiger als die Frage, ob die eigene Schwester für ihre Familie da ist oder nicht?“

„Aber das ist doch gar nicht meine Familie! Außerdem gibt es bei denen ja alle zehn Minuten was zu feiern. Eine Hochzeit. Eine Taufe. Eine Geburtstagsfeier. Eine Babyparty. ›Liebe Carmen, gib bitte deine komplette Freizeit auf, um herzukommen und mir zu versichern, wie toll ich bin und wie toll mein Leben ist und wie toll meine Kinder sind! Ach, übrigens, könntest du wirklich teure Geschenke mitbringen, für die du eigentlich das Geld nicht hast? Und dann in Restaurants mitkommen, die du dir auch nicht leisten kannst? Da kann ich nämlich vor aller Augen demonstrativ für meine arme Schwester zahlen. Ach, und guck dir nur mein riesiges Haus an!‹“

Wütend verschränkte Carmen die Arme vor der Brust. Sie trauerte ihrem Zimmer in der WG hinterher, aber sie war eben pleite. Hier und da hatte sie eine Schicht in einem Café oder einer Kneipe übernehmen können, aber es suchte ja die ganze Stadt nach Arbeit.

Dass ihre Eltern ihr so freundlich unter die Arme griffen, machte es auch nicht besser. Carmen wusste genau, was sie dachten und ihr am liebsten ins Gesicht gesagt hätten – dass sie doch so ein schlaues Mädchen gewesen war. Sie hätte gut aufs College gehen und eine Berufsausbildung machen können, oder ein Handwerk lernen. Aber sie war stur geblieben und hatte auf niemanden gehört.

Und jetzt musste sie ihren Frust eben an irgendetwas auslassen.

„Außerdem seid ihr doch alle fünf Minuten da, um vor dem Altar der Enkelkinder Lobpreis zu singen, lasst dafür alles stehen und liegen. Mir kommt es so vor, als wäre diese ganze Familie vor allem Sofias Fanclub. Und seit ich da nicht mehr Mitglied sein will, bin ich die böse Carmen.“

Dazu sagte ihre Mutter erst mal nichts. Denn einerseits war durchaus etwas dran an dem, was Carmen gesagt hatte: Drei Kinder bedeuteten jede Menge Feiern und Geschenke und Trubel. Andererseits waren doch viele Frauen hingebungsvolle Tanten. Bei Carmen war sie nicht einmal sicher, ob sie das genaue Alter von Sofias Sprösslingen kannte.

Irene wünschte sich so sehr, dass ihre Töchter einander näherstehen würden. Sie wollte, dass sich alle gut verstanden, wie es in einer Familie sein sollte.

„Ich glaube, dass sie dich jetzt wirklich braucht“, behauptete Irene, die das so gar nicht dachte.

„Tut sie nicht“, erwiderte Carmen. „Sie hat doch ihr ›supertolles Kindermädchen‹.“

So wie über dieses Kindermädchen hatte Sofia über Carmen bestimmt noch nie geschwärmt.

„Und Federico.“

„Aber der ist wegen der Arbeit ständig unterwegs“, gab ihre Mutter zu bedenken. „Deine Schwester geht ja trotz der Schwangerschaft weiter ins Büro, und drei Kinder sind selbst mit Nanny ganz schön viel. Platz gibt es bei ihr genug, und sie hat mir versprochen, dass sie dir helfen wird.“

„Soll das ein Witz sein, Mum?“, hatte Sofia in Wirklichkeit gesagt, als ihre Mutter es wieder einmal versuchte. „Mir drückst du die alte Nörglerin nicht aufs Auge! Ich habe drei Kinder plus Federico, ein weiteres ist unterwegs, und zusätzlich arbeite ich an einem riesigen Fall, den ich nicht abgeben kann. Und jetzt soll ich mich auch noch um Carmen kümmern?“

„Wenn etwas erledigt werden soll, bitte jemanden darum, der viel beschäftigt ist …“, sagte ihre Mutter hoffnungsvoll. „Hier bleibt uns nichts mehr, Sofia, einfach gar nichts. Diese Stadt ist am Ende.“

„Ich weiß“, sagte Sofia. „Das hat sich durchaus bis zu uns herumgesprochen.“

„Und deine Schwester … Ich finde es einfach furchtbar, sie so traurig zu sehen.“

Jetzt meldete sich bei Sofia das schlechte Gewissen. „Sie wird gar nicht herkommen wollen. In ihren Augen ist Edinburgh doch voll von langweiligen, selbstgefälligen, arroganten Schickimickitanten in roten Hosen.“

„Sie …“

Ja, genau das dachte Carmen über Edinburgh und hatte es des Öfteren lautstark zum Ausdruck gebracht.

„So, wie ich das sehe“, begann Irene wieder, „tut sie einfach nur so, als wäre alles in Ordnung. Aber das ist es nicht, und die Sache macht uns wirklich fertig. Carmen hat keine Arbeit, trifft sich mit niemandem mehr … Ich mache mir solche Sorgen.“

„Und wieso ist Carmen mein Problem?“

„Ist sie ja nicht“, antwortete ihre Mutter. „Sie ist unser aller Problem. Nein, so meinte ich das nicht. Aber ich hab eben gedacht … dass sie so vielleicht eine engere Beziehung zu deinen Kindern entwickeln würde.“

Sofia schnaubte. „Sie weiß ja noch nicht einmal, wie sie heißen!“

„Weiß sie doch!“

„Und sie hat sich nicht dazu herabgelassen, zu Pippas Erstkommunion zu kommen. Beim Empfang ist ein Platz am Tisch leer geblieben.“

„Ich weiß“, sagte ihre Mutter. Das war übel gewesen.

„Vierundzwanzig Stunden später hat sie mir dann ›Sorry!‹ geschrieben. Sorry!“

„Sie weiß einfach nicht, wie das ist“, wandte Irene ein, „wenn man für seine Kinder immer nur das Beste im Sinn hat. Dass die im Leben einer Mutter so eine zentrale Rolle spielen, kann sie eben nicht nachvollziehen.“

„Ich weiß“, seufzte Sofia.

„Aber als Mutter macht man sich nun mal Sorgen. Und wenn eins von diesen Kindern unglücklich ist, würde man einfach alles tun, damit es ihm besser geht …“

„Du trägst ein bisschen zu dick auf, Mum!“

Aber die allzeit geschäftige Sofia hatte sich längst erweichen lassen.

„So, mal ganz im Ernst: Hat sie in ihrem Job denn was getaugt? Oder hat sie da auch nur rumgehangen und sich über alles lustig gemacht, wie in der Schule?“

„Nein, sie war gut“, versicherte ihre Mutter. „Als Bräute ihre Ausstattung noch nicht im Internet bestellt haben, wollten sich alle nur von ihr beraten lassen.“

„Bringt sie eigentlich weiterhin so gruselige Männer mit nach Hause?“

Irene sog Luft durch die Zähne. „Sie hat es eben nicht leicht.“

„Erinnerst du dich noch an den Dichter?“

„Und ob“, murmelte ihre Mutter. „Das sonntägliche Mittagessen, bei dem er vor eurem Vater ein komplettes Sonett über Sex zum Vortrag gebracht hat, ist mir unvergesslich geblieben.“

Beide begannen zu prusten, hörten aber schnell damit auf, weil es fies war, über Carmen zu lachen. Manchmal hatte sie es sich allerdings selbst zuzuschreiben.

„Hm“, kam nun von Sofia.

„Oooh“, machte ihre Mutter. „Das bedeutet, dass du eine Idee hast …“

Sofia überlegte fieberhaft und sagte schließlich: „Aber wenn sie es verbockt …“

„Sie wird das toll meistern!“, versicherte Irene und drückte insgeheim beide Daumen.

Blick ins Buch
Schneewittchen und die sieben SärgeSchneewittchen und die sieben Särge

Kriminalroman

Der witzige Auftakt zur Cosy-Crime-Reihe: Ein Buchhändler jagt den Märchenmörder!   
Was macht ein Geheimagent, der keine Lust mehr aufs Spionieren hat? Er kauft eine Buchhandlung und zieht in ein Örtchen in Süddeutschland. Logisch. Dumm nur, wenn plötzlich die Traumfrau eines Mordes beschuldigt wird, der verdächtig nach einer Realauflage von „Schneewittchen“ aussieht. Was tun? Buchhandlung zusperren, ein paar verpeilte Gehilfen anheuern und den wahren Mörder finden. Was soll schon schiefgehen?   

  Mit Robert Mondrian, seinem Star-Ermittler wider Willen, hat Krimiautor Jürgen Seibold einen unkonventionellen Meisterdetektiv geschaffen, der eher in seine Fälle stolpert, anstatt methodisch ans Werk zu gehen.    

Genau das macht „Schneewittchen und die sieben Särge“ zu einem unterhaltsamen Krimi  für alle, die in Geschichten über Mord und Totschlag auch etwas zu lachen haben wollen. Und das kommt im Auftakt zur „Lesen auf eigene Gefahr“-Reihe nun wirklich nicht zu kurz!   

 „Ein wahrhaft märchenhafter Krimi, der spannend und humorvoll zugleich ist.“ – Ruhr Nachrichten   

Die Jagd nach dem Märchenmörder ist gleichzeitig eine charmante Hymne auf die Literatur und das Lesen. Seibolds schräges Ensemble liebenswerter Figuren liefert Ihnen schon in der ersten Ermittlung des Buchhändlers zahllose gute Gründe, warum Sie immer wieder zu Robert Mondrian zurückkehren wollen.   

Prolog

Die Straße führte schnurgerade durch die Nacht. Nur ein kurzes Stück war von starken Scheinwerfern in grelles Licht getaucht, das auch die Handvoll Baracken und Garagen auf beiden Seiten der Fahrbahn aus der Dunkelheit schälte. Der Wind wirbelte ab und zu leichte Staubfahnen auf und drückte die struppigen Grasbüschel nieder, die hier und da aus dem löchrigen Asphalt zwischen den Gebäuden ragten.

Auf den ersten Blick schien alles friedlich, aber wer genauer hinsah, konnte hinter mancher Ecke ein kurzes Aufblitzen erkennen, wenn sich das Licht der Scheinwerfer auf dem Lauf eines automatischen Gewehrs spiegelte. Ab und zu war ein leises Kratzen zu hören, wenn ein Stiefel bewegt wurde, unter dem sich Sandkörner oder kleine Kiesel befanden. Vier Männer und eine Frau hatten sich auf dem Gelände verteilt, alle in dunkle Kampfanzüge gekleidet, die Gesichter von Sturmhauben bedeckt und bis an die Zähne bewaffnet. Alle hatten Nachtsichtgeräte, alle waren ausgebildet im Nahkampf und erfahren als Scharfschützen, und alle warteten, dass ihr Gegenüber einen Fehler beging. Ein Fehler nur, das sollte reichen, und der andere würde nie wieder Gelegenheit zu einem Fehler bekommen.

Niemand sagte ein Wort, die fünf Kämpfer verharrten reglos und stumm, nur manchmal verständigten sich zwei von ihnen mit knappen Handbewegungen und machten sich anschließend sofort daran, bessere Deckung zu suchen oder eine Position, aus der sie mehr von dem beleuchteten Gelände und der stockdunklen Landschaft drum herum überblicken konnten.

Der erste der vier Männer war tot, bevor er sich auch nur darüber wundern konnte, wie es sein Gegner geschafft hatte, so schnell von hinten an ihn heranzukommen. Er sank langsam zu Boden, vom anderen sorgfältig gehalten und so abgelegt, dass kaum ein Geräusch entstand. Der zweite spürte zwar noch eine Klinge im Genick, aber dann waren Wirbelsäule, Luftröhre und Stimmbänder auch schon durchtrennt, bevor er einen Laut von sich hätte geben können. Der dritte wartete auf ein Zeichen seines Kameraden, und als das nicht kam, arbeitete er sich zügig und leise zur Position des anderen hin – um Sekunden später neben seinem toten Mitstreiter niedergelegt zu werden.

Ein Mann und eine Frau waren noch übrig, und beide hatten den dritten Kämpfer seinen Platz verlassen sehen. Sie brauchten kein Zeichen, um zu wissen, was das bedeutete. Sofort wandten sie sich um und tauchten in verschiedene Richtungen in die nachtschwarzen Schatten hinter den Baracken ein. Ihre Schritte setzten sie mit Bedacht, ständig musterten sie ihre direkte Umgebung und lauschten, ob wirklich nur der Wind zu hören war oder doch vielleicht ein Schritt, ein Knirschen, ein Atemzug. Der Frau fiel auf, dass es rechts hinter ihr zischte wie von einer heftigen Windbö, doch bevor sie sich noch umdrehen konnte, hatte die Machete ihren Hals durchtrennt.

Der Mann, der die andere Richtung eingeschlagen hatte, hörte einen Körper auf einige lose Bretter fallen, der Lärm wirkte in der angespannten Stille unnatürlich laut. Er wusste, hinter welcher Baracke diese Bretter lagen, und er wusste, dass seine Kameradin inzwischen ziemlich genau dort angekommen sein musste. Er machte sich aber nicht direkt dorthin auf den Weg. Denn er wusste auch: Der andere hatte einen, wenn nicht sogar mehrere von ihnen getötet, ohne das geringste Geräusch zu verursachen. Hätte er das diesmal nicht auch lautlos zuwege gebracht, wenn er seinen nächsten Widersacher nicht in eine Falle locken wollte? Schritt für Schritt brachte er einen weiten Bogen hinter sich und achtete darauf, dass er im Schatten blieb. Sein Gewehr hatte er abgelegt, die Klinge seines Messers war geschwärzt und würde kein Licht reflektieren. Nun hatte er die Stelle vor sich, an der sich die losen Bretter befanden, und im Nachtsichtgerät zeichnete sich die Silhouette eines Menschen im Kampfanzug ab, der darauflag, das Gesicht von einer Sturmmaske bedeckt. Er sah sich um, ließ den Blick schweifen – außer ihm und dem reglosen Körper, der gut zwei Meter vom einen Ende der Baracke entfernt lag, war niemand zu sehen. Bis zum anderen Ende waren es acht oder neun Meter. Er machte einige Schritte zur Seite: Am entfernteren Ende der Baracke war niemand, kein Gegner lauerte dort, das Gewehr im Anschlag, um ihn zu erschießen, sobald er sich über die liegende Kameradin beugte. Nach weiteren Schritten in der Dunkelheit hatte er sich vergewissert, dass sich auch hinter dem anderen Ende der Baracke niemand befand. Vorsichtig näherte er sich dem Körper auf den Brettern, scannte zwischendurch immer wieder die Umgebung und hatte sich schließlich bis an ihn herangearbeitet. Er beugte sich ein wenig vor und streckte die Hand aus, um der Kameradin den Puls zu fühlen, da schnellte die eine Hand der liegenden Gestalt nach oben, und erstaunt blickte er auf seinen Bauch, durch den sich eine lange Klinge den Weg bahnte. Der andere erhob sich, während er selbst auf die Knie sackte und sein Messer fallen ließ, nahm die Sturmhaube ab und zückte ein Handy. Im Licht des Displays konnte er das Gesicht des Mannes erkennen, den sie bis hierher gejagt hatten. Eine seltsame Mischung aus Entschlossenheit und Wehmut lag auf dem markanten Gesicht. Dann kippte der Verwundete langsam nach vorn, blieb blutend liegen und hörte, wie der andere in knappen Worten Vollzug meldete. Dann wurde es still und dunkel um ihn.

 

Robert Mondrian erwachte, schwer atmend und mit rasendem Puls. Die Erinnerungen verfolgten ihn nicht mehr jede Nacht bis in seine Träume, aber oft genug, um seine Augenringe schwarzgrau wirken zu lassen. Er stand auf, trank in der Küche ein Glas Wasser, wendete die Bettdecke und das Kopfkissen und versuchte, wieder einzuschlafen. Hatte er gerade einen Wagen heranfahren hören? War gerade eine Autotür geöffnet worden, hatte er Schritte auf dem Pflaster gehört? War da eine Männerstimme gewesen, ein erstickter Schrei, ein dumpfer Aufprall wie von einem menschlichen Körper?

Verdammte Träumerei, brummte Robert und kämpfte sich zurück in einen unruhigen Schlaf.

1

Remslingen lag still in der Morgendämmerung.

Nun ja, so still es eben einer Kreisstadt im Speckgürtel von Stuttgart gegeben ist. Auf den Ausfallstraßen standen die ersten Pendler, allein im Kombi oder in der Limousine, an roten Ampeln, und auf den Gehwegen hinauf zum Bahnhof schlurften Männer und Frauen mit vollen Taschen und leerem Blick. Doch wer die Michaelskirche, deren Geläut gerade halb fünf schlug, hinter sich ließ und die Remsauen betrat, tauchte in relative Ruhe ein. Der Verkehr der Bundesstraße, die einen großen Bogen um Remslingen beschrieb, war hier nur noch ein stetes Rauschen, an manchen Stellen leiser als das Gurgeln des Flusses. Hier gab es keine müden Fußgänger, die einen anrempelten, weil sie nichts als die Abfahrtszeit der S-Bahn vor Augen hatten. Nur ab und zu einen einzelnen Hund, der an einem der Spielgeräte das Bein oder mitten auf der Wiese den Schwanz hob, und einen mürrischen Mann, der ihm nur kurz zupfiff und dann im Wegschlendern so tat, als ginge ihn das Tier und seine Hinterlassenschaft nichts an.

So still also lag Remslingen, und es war, als würde die Stadt noch einmal tief durchatmen, bevor die Hektik des beginnenden Dienstags einsetzte. Am Rand des Biergartens auf der Storcheninsel rauchte ein Obdachloser seine Kippe zu Ende und rollte den Schlafsack zusammen. Richie lümmelte in der Winnender Straße hundemüde auf dem Fensterbrett oberhalb der Eingangstür seines Scottish Pub herum und schimpfte vor sich hin, weil er seit ein paar Wochen nicht mehr vernünftig schlafen konnte. In der Langen Straße am Westrand des Marktplatzes schwang ein alter Holzklappladen auf, und der Puppenspieler beugte sich verschlafen aus dem Fenster, schlürfte geräuschvoll an seiner Bechertasse und ließ den Blick prüfend hinüber zum Marktplatz gleiten. Er sah Horst Schwarzfuß, der gerade damit begann, in seiner Metzgerei die Auslage zu ordnen. Hinter den Glasfronten rundherum war dagegen noch nirgendwo eine Bewegung auszumachen, obwohl auch der Buchladen, das Café Journal und Sonjas Vitaminoase um acht Uhr öffneten. Nur aus der Oberen Sackgasse war leise der Dieselmotor eines Transporters zu hören. Dort luden Sonjas Lieferanten frühmorgens ihre Waren ab und stapelten Obst und Gemüse in Kisten neben der Hintertür ihres Ladens. Und ließen eben manchmal den Motor laufen.

Der Motor des Transporters lief noch eine gute halbe Stunde, bis eine der Nachbarinnen auf die Gasse trat, um sich zu beschweren. Wütend griff sie durch die offene Fahrertür und stoppte den Motor. Dann baute sie sich breitbeinig vor dem Fahrer des Wagens auf, der vor der Hintertür von Sonjas Vitaminoase auf dem Pflaster lag, als ginge ihn das alles gar nichts an. Doch der Mann reagierte nicht auf ihre Schimpftirade. Er reagierte auch nicht auf das vorsichtige Anstoßen mit der Schuhspitze, mit der die Nachbarin den vermeintlich Schlafenden wecken wollte. Dann erst fiel der Frau auf, dass der Mann seltsam verkrümmt auf dem Boden lag und mit weit aufgerissenen Augen zur Hintertür von Sonjas Vitaminoase starrte. Und dass er nicht mehr atmete.

Erschrocken holte die Nachbarin Luft. Dann beendete ihr gellender Schrei die morgendliche Stille in Remslingen.

 

Was für eine Nacht! Selbst nach seinem Albtraum war es Robert Mondrian vorgekommen, als höre er Geräusche und Stimmen. Einmal glaubte er sogar, durch das geschlossene Schlafzimmerfenster den Schrei einer Frau zu vernehmen, und zog sich daraufhin die Decke über den Kopf – weshalb er das Summen des Weckers verschlief. Erst kurz nach neun schlüpfte er aus dem Bett und in die Klamotten. Er ließ nur schnell einen Kaffee aus der Maschine und schlurfte mit der Tasse in der Hand ins Treppenhaus hinaus. In der Gasse hinter dem Gebäude schien irgendetwas vor sich zu gehen, aber um nachzusehen, fehlten ihm im Moment das Interesse und die Zeit. Seinen schusseligen Mitarbeiter wollte er nicht länger als unbedingt nötig allein im Laden lassen, und falls es etwas Spannendes aus der Umgebung zu erzählen gab, würde Alfons ihm ohnehin gleich alles brühwarm berichten.

Er betrat den Buchladen durch die Hintertür, und kaum hatten die beiden Kakadus sein Eintreffen wie immer lärmend gemeldet, da kam Alfons um das Regal mit den Liebesromanen in englischer Originalausgabe geflitzt.

„Sherlock! Watson!“, rief Roberts Gehilfe. „Werdet ihr wohl den Schnabel halten!“

Die Vögel dachten natürlich nicht daran, ihm zu gehorchen, und so führte Alfons seinen Chef schnell ans andere Ende des Ladens, um ihm mit aufgeregter Stimme die Neuigkeit zu überbringen.

„Stellen Sie sich vor, Chef: Neben der Hintertür von Sonjas Vitaminoase wurde heute früh ein Toter gefunden. Die Kripo ist da und sichert Spuren. Mich haben sie auch schon gefragt, ob ich etwas beobachtet habe, aber leider …“

Roberts Mitarbeiter wirkte tatsächlich untröstlich, kein Wunder: Er liebte alles, was mit der Polizei zu tun hatte. Krimis waren die eine Leidenschaft von Alfons, die andere, noch größere, waren Superheldencomics, und während Robert inzwischen nachgegeben hatte und zumindest einige Klassiker der Kriminalliteratur führte, blieb er in seiner Ablehnung von Batman und Konsorten hart. Im Gegenzug änderte sich nichts in der gegenseitigen Anrede der beiden: Robert duzte seinen Mitarbeiter, der ihm das gleich am ersten Arbeitstag angeboten hatte – und im Gegenzug hatte auch er ihm das Du angeboten. Doch Alfons stellte sofort klar, dass er seinen Chef auf gar keinen Fall duzen könne, und Robert, obwohl er das anders sah, gab nach mehreren erfolglosen Anläufen nach.

„Meinetwegen kannst du gern raus und dir das mal aus der Nähe anschauen“, sagte Robert. „Außer deinen Kakadus ist ja noch niemand da.“

„Aber, Chef, Sie wissen doch, dass ich diese Kakadus nur in Pflege …“

Robert brachte ihn mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen und deutete grinsend zur Tür. Die altmodische Ladenglocke bimmelte noch, da war Alfons bereits am Schaufenster vorbeigehuscht und um die Hausecke verschwunden. Robert schlürfte von seinem Kaffee und schaute nachdenklich auf den Marktplatz hinaus. Ein Toter in der Gasse hinter seinem Haus. Die Kriminalpolizei, die in ihren Ermittlungen womöglich mehr Staub aufwirbelte, als ihm lieb war. Seine Kiefer mahlten, die Miene war ernst.

Dann wurde sein Blick weicher: Sonja, die natürlich weit mehr als er von der Sache betroffen war – und anders als er mit solchen Situationen keinerlei Erfahrung hatte. Einen Moment lang dachte er darüber nach, zu ihr zu gehen und ihr seine Hilfe anzubieten. Doch schon im nächsten Augenblick fiel ihm ein, warum er genau das nicht tun würde. Nein, nicht, weil er seinen Laden sonst unbesetzt zurückgelassen hätte. Robert lachte bitter. Er mochte früher auf die meisten sehr mutig gewirkt haben – aber mit einem klaren Ziel vor Augen, einem kampfbereiten Gegner als Widersacher hatte er einfach seinen Job gemacht. Aber eine Frau, für die man mehr empfand als die übliche Sympathie für eine nette Nachbarin … das war noch einmal eine ganz andere Sache.

 

Etwa zwanzig Minuten dauerte es, bis Alfons in die Buchhandlung zurückkehrte. Auf seinem blassen Gesicht hatten sich vor Aufregung rote Flecken gebildet, und statt einer vernünftigen Schilderung brachte er nur kurze oder abgebrochene Sätze zustande, die er mit überschnappender Stimme durcheinanderpurzeln ließ. Robert musste sich konzentrieren, um daraus halbwegs schlau zu werden. Scheinbar war vor der Hintertür von Sonjas Obstgeschäft einer ihrer Lieferanten tot aufgefunden worden. Alfons erging sich in Kleinigkeiten, vom laufenden Motor eines Transporters über die Nachbarin, die den Toten entdeckt hatte, bis hin zum Puppenspieler, der nach ihrem gellenden Schrei erst den Notruf gewählt hatte und dann auf die Straße gestürmt war, um nach der Frau zu sehen. Die Kriminaltechnik sicherte Spuren, eine Rechtsmedizinerin war vor Ort, und Polizeibeamte befragten die Nachbarn, wo sie heute zwischen drei und fünf Uhr morgens gewesen waren und ob sie etwas beobachtet oder gehört hatten, das der Polizei weiterhelfen konnte. Offenbar war der Tote nicht an einem Herzinfarkt gestorben. So weit hatte er das meiste verstanden, nur ein Detail verwirrte, und deshalb unterbrach er Alfons nach einer Weile.

„Was meinst du mit ›Schneewittchen‹?“, fragte Robert.

„Was?“

„Du hast gerade von ›Schneewittchen‹ gesprochen – was hat das mit dem Toten zu tun?“

„Ach so … na, weil er doch von dem Apfel gegessen hat.“

Robert hob die Augenbrauen, und Alfons machte ein Gesicht, als habe er einen besonders begriffsstutzigen Kunden vor sich.

„Von dem vergifteten Apfel“, wiederholte er. „Eben wie Schneewittchen.“

„Der Mann wurde vergiftet?“

„Ja, natürlich!“

„Mit einem präparierten Apfel?“

„Genau!“, rief Alfons aus, nickte beifällig und trug eine Miene zur Schau wie einst Roberts Mathelehrer, wenn bei einem schlechten Schüler endlich der Groschen gefallen war.

„Und woher weißt du das? Die Kripo wird’s dir ja nicht erzählt haben.“

Die roten Flecken wurden kräftiger, nun glühte Alfons fast vor Stolz. Er beugte sich ein wenig zu seinem Chef vor und senkte seine Stimme, obwohl sie allein im Laden waren.

„Die Rechtsmedizinerin hat’s mir verraten, versehentlich“, raunte er. „Ich stand direkt neben ihr, und sie hat mich wohl für einen von der Kripo gehalten. Erst, als sie aufsah, hat sie ihren Irrtum bemerkt und mich fortgescheucht.“

Die altertümliche Ladenglocke bimmelte, als die Tür aufschwang und zwei Männer in Jeans und Hemd hereinkamen. Sie schauten sich kurz beiläufig um und nahmen im Näherkommen Alfons und Robert ins Visier. Robert erkannte sofort, dass sie von der Kripo waren, noch bevor der Ältere sich ihm als Hauptkommissar Klaus Neher von der Kriminalpolizei Remslingen und seinen Kollegen als Oberkommissar Hannes Lachenmaier vorgestellt hatte.

„Sie haben einen sehr neugierigen Mitarbeiter“, sagte Neher und bedachte Alfons mit einem strengen Blick. „Ich hoffe, es ist Ihnen klar, dass Sie niemandem erzählen dürfen, was Sie vorhin aufgeschnappt haben!“

Alfons sank ein wenig in sich zusammen, was Neher mit einem leichten Grinsen quittierte, bevor er sich wieder an Robert wandte.

„Ihnen, Herr Mondrian, hat er vermutlich inzwischen schon alles anvertraut.“

Robert hatte den Polizisten noch nie gesehen, aber Neher hatte anscheinend aus dem Namen des Buchladens und der Tatsache, dass er und Alfons die einzigen Anwesenden waren, gefolgert, wer er war. Er schätzte ihn auf fünfzig Jahre oder etwas älter, und sein Hochdeutsch war badisch gefärbt.

„Ja, das hat er“, gab Robert zu. „Aber wir werden es beide nicht weitersagen.“

„Das wäre gut.“ Neher machte eine Geste, die den ganzen Raum umfasste. „Eine schöne Buchhandlung haben Sie.“

„Danke.“

Robert nickte höflich, obwohl er lieber mit den Augen gerollt hätte: Small Talk, um für die anstehende Befragung eine lockere Atmosphäre zu schaffen – plumper hätte es der Kommissar nicht anstellen können. Aber solange Neher ihn für jemanden hielt, der seine Spielchen nicht durchschaute und keine Erfahrung im Umgang mit Ermittlern hatte, so lange würde er hoffentlich nicht übertrieben gründlich in seinem Vorleben herumstöbern. Und Robert setzte noch einen drauf, indem er ein weiteres Thema anschnitt, über das sich gut plaudern ließ.

„Sie sind nicht von hier, Herr Kommissar, richtig?“

„Oh, hört man mir das noch immer an?“

„Ja, aber das stört mich nicht. Ich stamme selbst auch aus dem Badischen, auch wenn ich mir den Akzent nach vielen Jahren im Ausland abtrainiert habe.“

„Im Ausland?“

„Na ja, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen.“

Er lachte, und Neher stimmte mit ein.

„Aber glauben Sie mir“, merkte der Kommissar an. „Das ist alles nichts gegen das Schwabenland! Als ich hier anfing, von Karlsruhe in die damalige Direktion Waiblingen wechselte und ein Stück weiter oben im Remstal eine Kripoaußenstelle übernahm … Das war am Anfang kein Zuckerschlecken. Seien Sie also froh, wenn Sie reines Hochdeutsch sprechen. Ihre schwäbischen Kunden werden es Ihnen danken.“

„Wir führen übrigens auch Kriminalromane“, sagte er.

Ein gequälter Zug legte sich auf Nehers Gesicht, und Robert lachte erneut.

„Nur die Klassiker“, schob er nach. „Und keine der Geschichten spielt hier in der Gegend, soweit ich weiß.“

Alfons setzte zu einer Ergänzung an, aber ein kurzer Seitenblick von Robert sorgte dafür, dass er den Mund ohne ein Wort wieder schloss.

„Freut mich zu hören“, versetzte Neher und tat, als habe er nichts bemerkt. „Wo man als Kommissar heute ja jederzeit darauf gefasst sein muss, selbst zur Romanfigur zu werden … Aber Sie werden vielleicht verstehen, dass ich privat kein großer Freund von Krimis bin – mir reicht das, was mir durch meinen Beruf begegnet.“

„Das kann ich mir vorstellen. Es war auch nicht meine Idee, Krimis mit ins Angebot aufzunehmen, aber mein Mitarbeiter hat mich überredet. Ich schätze eher klassische Romane, vor allem anspruchsvolle Liebesgeschichten – falls Sie da mal etwas suchen, berate ich Sie gern.“

„Gut zu wissen, Herr Mondrian. Im Moment würde mich jedoch vor allem interessieren, ob Ihnen heute am frühen Morgen irgendetwas aufgefallen ist, das uns weiterhilft.“

„Leider nicht“, antwortete er, und weil Nehers Augenbrauen hochgingen, als er so schnell verneint hatte, fügte er hinzu: „Alfons hat mir schon gesagt, dass Sie und Ihre Kollegen die Nachbarn befragen und dass es Ihnen um die Zeit zwischen drei und fünf Uhr heute früh geht. Und um diese Zeit habe ich noch geschlafen, leider nicht gut heute Nacht.“

„Macht Ihnen irgendetwas Sorgen?“

Neher beobachtete ihn genau.

„Nein“, versicherte Robert und schwindelte so beiläufig, wie er konnte: „Ich vertrage nur warme Nächte nicht so gut. Mein Haus ist schön, und ich genieße die Lage mitten in der Stadt, aber das Gebäude ist halt nicht das jüngste und entsprechend schlecht gedämmt. In einem Sommer wie diesem habe ich deshalb manchmal Albträume – mit der Folge, dass ich heute verschlafen habe und später als sonst in die Buchhandlung kam.“

„Das kann ich bezeugen, Herr Kommissar!“, meldete sich Alfons zu Wort, aber Neher beachtete ihn gar nicht.

„Wenn ich Albträume habe, wache ich nachts ab und zu auf“, hakte er ein. „Und Sie?“

„Manchmal, und heute Nacht auch – aber in den paar Minuten, in denen ich wach war, habe ich nichts gesehen oder gehört, was mit einem Mord zu tun haben könnte.“

„Na ja, ob es Mord war, muss sich erst noch herausstellen.“

Robert ließ ein kurzes Lächeln zu, und Neher erwiderte es und zuckte mit den Schultern.

„Gegen Morgen“, fuhr Robert fort, „war es mir zwar, als hätte ich den Schrei einer Frau gehört. Ich dachte, dass ich das geträumt habe, aber vielleicht war es auch die Nachbarin, die den Toten entdeckt hat. Jedenfalls hat mir mein Mitarbeiter erzählt, dass das eine Frau aus der Nachbarschaft war. Mehr habe ich leider nicht für Sie.“

Neher musterte ihn noch einen Moment, dann nickte er und reichte ihm seine Visitenkarte.

„Falls Ihnen noch was einfällt …“

 

Robert stellte seine Kaffeetasse neben der Kasse ab und sah den beiden Kommissaren nach. Sie steuerten das Café Journal an, um dort die Bedienungen zu befragen. Zwei uniformierte Polizisten klingelten an einem der benachbarten Häuser, wurden eingelassen und verschwanden im Gebäude. Kleinere Gruppen von älteren Leuten oder Müttern mit Kindern standen auf dem Marktplatz beisammen und tauschten sich über den frühmorgendlichen Vorfall aus. Und auch Robert dachte darüber nach, welche Folgen der Mord in unmittelbarer Nachbarschaft für ihn haben konnte.

Fast zwei Jahre lang hatte er nun in dieser Stadt eine fast idyllische Ruhe genießen dürfen, hatte sich ganz auf den Handel mit Büchern konzentrieren und sonst in den Tag hineinleben können. Geld musste er mit seinem Laden keines verdienen: Er hatte eine ansehnliche Abfindung bekommen, als er aus dem Dienst ausgeschieden war – und fast zur selben Zeit hatte obendrein eine Erbschaft seine Finanzen so deutlich aufgebessert, dass er sich bis auf Weiteres um seinen Lebensunterhalt keine Sorgen machen musste. Er hatte ein ordentliches Sümmchen in die Übernahme der Buchhandlung und in den Umbau investiert, seither machte er in manchen Monaten leichte Verluste, in den meisten aber schaffte er eine schwarze Null oder einen bescheidenen Gewinn. Das führte dazu, dass seine finanziellen Reserven nicht abnahmen – einem befreundeten Banker in Berlin gelang es sogar immer wieder, einen Teilbetrag seines Geldes so vorteilhaft anzulegen, dass Roberts Vermögen unter dem Strich in bescheidenem Umfang anwuchs. Er selbst brauchte nicht viel. Einen guten Rotwein natürlich, etwas Vernünftiges zu essen und ab und zu eine Zigarre – mehr Luxus war nicht seine Sache. Er hatte erste Freundschaften geschlossen in Remslingen und Umgebung, hatte einige Lieblingslokale gefunden und schöne Plätze im Remstal und im Schwäbischen Wald – und er hatte sich verliebt, in seine Nachbarin Sonja, auch wenn sie davon nichts ahnte. Kurzum: Alles war so, wie er es sich vor zwei Jahren erträumt hatte – und wenn er eines Tages den Mut finden würde, sich mit Sonja zu einem Rendezvous zu verabreden, würde ihm sein neues Leben mehr bieten, als er je zu hoffen gewagt hatte. Ein Leben in Frieden. In einer festen Beziehung. In einem Beruf, der einem keine Geheimnisse selbst vor den engsten Freunden aufzwang. Und in dem alles, was man totschlagen musste, ab und zu ein langweiliger Tag war.

„Sonja ist übrigens völlig durch den Wind!“

Robert fuhr blitzschnell herum und baute sich für einen Moment mit leicht angewinkelten Knien und abwehrbereit vor Alfons auf, der ihn daraufhin ganz erschrocken ansah. Dass sein Mitarbeiter hinter ihm stand, hatte er ganz vergessen, und um die alten Reflexe ein wenig zu überspielen, räusperte er sich und tätschelte die Schultern des hageren Wuschelkopfs.

„Was hast du gerade gesagt?“, fragte er dann, ging langsam zur Kasse und hob die Tasse zum Mund.

„Ich … äh … Sie haben mich erschreckt, Chef!“

„Na, hör mal, Alfons, du magst doch Krimis, da wollte ich dir mal ein bisschen Action bieten – da es doch sonst bei uns so langweilig zugeht.“

„Ja, aber …“

„Nichts aber. Was hast du gerade gesagt? Es ging um Sonja, oder?“

„Ja, Sonja ist …“

Alfons blinzelte und schaute ihn prüfend an. Sein Chef wirkte nun wieder ganz lässig, geradezu gemütlich. Ein Lächeln lag auf seinem markanten Gesicht, und das weit fallende Shirt ließ nicht erkennen, ob Robert Mondrian durchtrainiert war oder einfach nur schlank. Er hatte breite Schultern, und die Armmuskeln, die jetzt ganz locker wirkten, hatten sich während der überraschend schnellen Drehung für kurze Zeit sehr eindrucksvoll unter der leicht gebräunten Haut abgezeichnet. Alfons war verwirrt.

„Jetzt red schon!“, forderte sein Chef ihn auf.

„Sonja ist ganz durch den Wind, habe ich gesagt.“

„Kein Wunder! Es liegt ja nicht jeden Morgen eine Leiche vor dem Hintereingang ihres Ladens.“

„Das auch, aber …“ Alfons senkte seine Stimme wieder zu dem verschwörerischen Tonfall, mit dem er gern Informationen weitergab, die er selbst für aufregend hielt. „Diese Kommissare haben Sonja nicht wirklich als Zeugin oder als jemanden befragt, der ohne eigenes Zutun mit einem Mordopfer konfrontiert wurde.“

„Wie meinst du das?“

„Für mich hat sich das so angehört, als würde die Kripo Sonja zu den Tatverdächtigen zählen.“

„Echt?“

Alfons nickte eifrig, schon wieder glühend vor Aufregung.

„Ach, das bildest du dir sicher nur ein“, besänftigte ihn Robert. „Wie sollte die Kripo denn auf so was kommen?“

„Sie haben Sonja nach einem Alibi gefragt.“

„Na, danach haben sie doch alle gefragt – auch von mir wollten sie wissen, wo ich heute früh zwischen drei und fünf Uhr war und was ich gemacht habe. Von dir nicht?“

„Doch, das schon, aber …“

„Aber?“

„Sonja hat daraufhin nur rumgestammelt. Es hat ein bisschen gedauert, bis sie schließlich sagte, dass sie daheim im Bett gelegen und geschlafen habe.“

„Okay, sie wird nach der Aufregung um den Toten halt durcheinander gewesen sein, da braucht man schon mal länger für eine Antwort.“

„Ich hatte den Eindruck, dass die Kommissare ihr nicht glaubten.“

„Aber wieso sollte sie den Mann denn umbringen?“

„Er war einer ihrer Lieferanten.“

„Ja, und? Dann muss sie ihn doch nicht töten, sondern nur bezahlen.“

Robert klatschte Alfons mit seiner Hand auf die rechte Schulter und lachte. Sein Mitarbeiter blieb ernst.

„Vielleicht hat sie ihn schon länger nicht mehr bezahlt?“

Nun stutzte Robert doch.

„Wie kommst du darauf?“

„Eine Nachbarin hat das Gerücht gestreut, dass Sonja schon seit einiger Zeit ein bisschen knapp bei Kasse sei – keine Ahnung, ob das stimmt. Vielleicht musste gerade der Lieferant, der jetzt tot im Hof liegt, besonders lang auf sein Geld warten.“

„Jetzt hör aber auf, Alfons! Vielleicht solltest du weniger Krimis lesen.“

„Ich zähle nur eins und eins zusammen, und das macht die Kripo auch. Denen kommen solche Gerüchte natürlich ebenfalls zu Ohren. Und wissen Sie, Chef, was das für eine Sorte Apfel war, mit der der Lieferant vergiftet wurde?“

„Keine Ahnung.“

„Die Sorte heißt ›Schöner von Winsley‹ …“

Alfons setzte dazu eine sehr geheimnisvolle Miene auf.

„Das klingt für mich eher wie der Name eines Rassehundes oder eines Rennpferdes“, brummte Robert.

„Aber, Chef, das ist eine ganz seltene Apfelsorte! Ich hab das gleich gegoogelt, nachdem die Kripo Sonja den angebissenen Apfel gezeigt und sie daraufhin sofort den Namen der Sorte genannt hatte.“ Alfons schloss die Augen und referierte aus dem Gedächtnis, was er im Internet dazu gefunden hatte: „Erntereif ab Mitte Juli, eine englische Züchtung, eng verwandt mit dem ›Schönen aus Bath‹. Wird selten im Handel angeboten, weil er sehr frisch verkauft werden muss.“

„Wieder was gelernt, danke. Und?“

„Sonja hat der Kripo erzählt, dass sie die einzige Händlerin im ganzen Rems-Murr-Kreis ist, die diese Sorte führt. Natürlich nur, wenn sie frisch geerntet wird – also von Mitte Juli bis Anfang August –, weil sich der Apfel ja nicht lange hält, wie ich schon …“

„Bitte, Alfons, komm endlich auf den Punkt!“

„Und Sonjas Lieferant wiederum ist der einzige Großhändler, der den Apfel im Angebot …“

„Alfons!“

Robert war nun etwas lauter geworden, und sein Mitarbeiter sah ihn fragend an.

„Aber, Chef, ich muss Ihnen doch erklären, warum die Kripo meiner Meinung nach glaubt, dass Sonja als Mörderin infrage kommt.“

„Musst du mir dazu wirklich einen pomologischen Vortrag halten?“

Alfons lächelte.

„Pomologisch, genau, Chef, so heißt das … Aber jetzt mal im Ernst, nur Sonja führt hier in der Gegend diese Apfelsorte, nur dieser eine Lieferant bietet die Sorte an, und jetzt ist er tot – gestorben an einem vergifteten Apfel von genau jener Sorte –, da würde ich als Kripokommissar auch stutzig werden!“

„Mich dagegen würde eher stutzig machen, dass Sonja ausgerechnet einen Apfel als Tatwaffe präpariert haben soll, der eine Spur zu ihr legt.“

Alfons runzelte die Stirn, man konnte fast sehen, wie es dahinter arbeitete.

„Hm“, machte er nach kurzem Sinnieren. „Hm … stimmt eigentlich, Chef.“

„Na, siehst du? Also wird die Kripo einfach ihrer Arbeit nachgehen, sie wird den Mörder dingfest machen, und Sonja kann in aller Ruhe weiter ihr Obst und Gemüse verkaufen.“

Erst wirkte Alfons erleichtert, dann verzog sich sein Gesicht zu einer betrübten Miene.

„Was ist denn noch?“, fragte Robert deshalb.

„Dieser Kommissar Neher bat Sonja am Ende der Befragung, vorerst nicht wegzufahren – oder, falls es sich gar nicht vermeiden ließe, ihm vorher Bescheid zu geben.“

Robert hob eine Augenbraue.

„Das klingt nicht gut, Chef, oder?“

„Nein.“

 

Robert zögerte lange, zu seiner Nachbarin zu gehen. Und dass er nach fast einer Stunde doch noch all seinen Mut zusammennahm, hatte auch mit einer Frau zu tun, die in diesem Moment mühsam über das Kopfsteinpflaster auf seine Buchhandlung zustöckelte. Selina Brand war eine nette und attraktive Frau, aber mit dem Nippes, den sie ihm als vermeintliche Umsatzbringer für seinen Laden aufschwatzen wollte, trieb sie ihn jedes Mal fast in den Wahnsinn. Also huschte er aus der Tür, als sie gerade einige besonders tückische Pflastersteine direkt vor sich musterte, und verschwand mit einigen schnellen Schritten aus ihrem Blickfeld. Er lehnte sich hinter der Hausecke gegen die Wand und lauschte, ob sie ihn entdeckt und seine Verfolgung aufgenommen hatte, aber stattdessen hörte er, wie sich ihre Schritte in ungleichmäßigem Rhythmus entfernten, und schließlich die altmodische Türglocke seines Ladens. Leise atmete Robert auf, dann erst bemerkte er, dass direkt neben ihm seine Nachbarin Sonja an der Hauswand lehnte.

„Na, liegt vor Ihrer Buchhandlung auch eine Leiche?“

Sonjas rauchige Stimme ging ihm immer unter die Haut, aber jetzt brachte sie ihn obendrein aus dem Tritt, weil er sich erst noch kurz hatte sammeln wollen, bevor er das Gespräch mit ihr eröffnete. Das hatte sich nun erledigt.

„Nein, ich … äh …“

Langsam wandte er vollends den Blick zu ihr und lächelte scheu. Sonja erwiderte sein Lächeln wie gewohnt mit einem halb spöttischen, halb neckischen Grinsen. Sie hielt eine brennende Zigarette in der linken Hand und deutete damit nun auf die Kriminaltechniker in ihren weißen Ganzkörperanzügen, die im Hof nach wie vor Spuren sicherten, Nummerntäfelchen aufstellten und Fotos schossen. Die Leiche war weg, Kreidestriche markierten die Umrisse vor der Hintertür von Sonjas Laden, und als Robert zur Oberen Sackgasse blickte, konnte er gerade noch sehen, wie das Heck eines Leichenwagens hinter dem nächsten Gebäude verschwand.

„Heute werde ich nicht mehr viel Obst verkaufen. Das zieht sich ganz schön hin mit der Untersuchung“, knurrte sie und führte die Zigarette wieder zum Mund.

Robert hatte kein Auge für die Kriminaltechniker. Er sah nur die schlanken Finger der Frau neben sich, die vollen Lippen, die sich ein wenig öffneten, und den Zigarettenfilter, der teilweise dazwischen verschwand. Ihre Wangen und ihr Hals spannten sich ein wenig an, als sie an der Zigarette zog, gleich darauf stieß sie eine kleine Rauchwolke aus. Robert schluckte trocken, und als daraufhin erneut ein leichtes Grinsen um Sonjas Mund spielte, beeilte er sich, nun doch zu den Spurensicherern hinüberzuschauen. Aus den Augenwinkeln konnte er beobachten, dass sie ihn einen Moment lang nachdenklich musterte, bevor auch sie wieder nach vorne sah.

„Ich wusste gar nicht, dass Sie rauchen, Sonja“, brachte er nach einer kurzen Pause hervor.

„Nur, wenn eine Leiche hinter meinem Laden liegt“, versetzte sie trocken und ließ ein heiseres Lachen hören, das schnell in einen Hustenanfall überging. Schließlich schnippte sie die Kippe auf den Boden und trat die Glut aus. „Und auch dann sollte ich es wohl lieber lassen.“

Sie sah ihn an.

„Sie rauchen nicht, Robert?“

„Nein, eigentlich nicht.“

„Eigentlich?“

Er grinste.

„Na ja, ab und zu mal eine Siegerzigarre, sonst nichts.“

„Eine Siegerzigarre?“

„Kennen Sie das nicht? Ich weiß gar nicht mehr, aus welcher Sportart ich mir das geborgt habe. Ich glaube, amerikanische Baseball- oder Basketballprofis haben das früher zelebriert. Wer Meister wurde oder sonst was Tolles zuwege brachte, steckte sich eine dicke Zigarre an.“

„Und zu welchen Anlässen stecken Sie sich eine an?“

Er ging das letzte Dutzend Zigarren durch – die ersten zehn hatten mit erfolgreich abgeschlossenen Aufträgen zu tun, über die er nicht reden wollte. Die jüngste hatte er sich gegönnt, nachdem er die ersten Worte mit Sonja gewechselt hatte – auch nicht das passende Beispiel für diese Unterhaltung. Also hielt er sich an Nummer elf.

„Eine habe ich geraucht, als die Einweihungsparty meines Buchladens so gut gelaufen war.“

Sie lächelte.

„Ja, das war ein schöner Abend, da haben Sie recht. Volle Bude, leckere Häppchen, kühles Bier und kräftiger Rotwein, Sie hatten keinen schlechten Einstand in Remslingen.“

„Finde ich auch.“

„Und wie läuft’s seither? Sind Sie zufrieden?“

„Ja, durchaus.“

Ihr kehliges Lachen ließ ihn den Kopf drehen.

„Na ja, als Kaufmann müssen Sie aber noch dazulernen“, sagte sie.

„Wieso das?“

„Kennen Sie nicht die erste Regel für einen erfolgreichen Kaufmann? ›Lerne klagen, ohne zu leiden.‹ …“

„Ich werd’s mir merken, aber ganz ehrlich, ich komme zurecht.“

„Freut mich. Eine Freundin von mir hatte eine Buchhandlung ein Stück das Remstal hinauf – vor drei Jahren hat sie aufgegeben.“

„Tut mir leid. Aber es stimmt natürlich, große Sprünge sind nicht drin, das Gehalt von Alfons kann ich mir gerade so leisten, und ich persönlich brauche nicht viel.“

Sonja zwinkerte ihm zu.

„Na, geht doch!“

„Was?“

„Das mit der Kaufmannsregel.“

Sie grinsten, dann wurden beide wieder ernst. Robert überlegte, wie er am besten auf das Thema zu sprechen kommen konnte, das ihn hierhergetrieben hatte. Ihm kam nichts Originelles in den Sinn, deswegen fiel er einfach mit der Tür ins Haus.

„Alfons hat mir erzählt, dass die Kripo Sie nach einem Alibi gefragt hat und dass der Kommissar seiner Meinung nach Sie für eine der Tatverdächtigen hält.“

Sonja nickte und blickte nun sehr betrübt drein.

„Aber da müssen Sie sich keine Sorgen machen, Sonja“, versuchte er, sie zu beruhigen. „Die Kripo hält anfangs doch erst einmal alle für verdächtig. Dem Kommissar muss eigentlich klar sein, dass er da auf dem Holzweg ist.“

„Eigentlich … so, wie Sie eigentlich nicht rauchen, Robert?“

Er räusperte sich, und sie fuhr nach einem tiefen Seufzer fort:

„Dem Kommissar habe ich wohl zu lange für meine Antwort gebraucht. Und dann kann halt auch niemand bezeugen, dass ich tatsächlich im Bett lag und schlief, als Helmut vor der Hintertür meines Ladens starb.“

„Helmut?“, platzte Robert heraus, und er bereute seine unbedachte Frage sofort.

Aber Sonja lächelte nur nachsichtig.

„Helmut Sichler, mein Lieferant, das Mordopfer. Wir kannten uns schon länger und früher mal auch etwas näher, wenn ich es mal so ausdrücken darf.“

„Entschuldigen Sie bitte“, fügte er schnell hinzu. „Das geht mich natürlich auch gar nichts an.“

„Kein Problem, Robert. Wir nennen uns ja auch beim Vornamen. Ich mach das mit allen so, mit denen ich regelmäßig zu tun habe.“

Wie sie das so leichthin aussprach, versetzte es ihm doch einen kleinen Stich, obwohl er als bloßer Nachbar, mit dem sie offenbar nichts weiter im Sinn hatte, natürlich keinerlei Rechte anmelden durfte.

„Und als er tot aufgefunden wurde, war ich auch noch nicht im Laden gewesen. Von meiner Wohnung in der Winnender Straße sind es mit dem Rad nur ein paar Minuten, da gehe ich selten früher als halb acht los. Als mich die Polizei verständigte, war ich noch gar nicht richtig wach. Ich bin sofort aus dem Bett gesprungen, bin ungeduscht in die Kleider geschlüpft, nicht mal für einen Kaffee hat es gereicht.“

Sie warf ihm einen entschuldigenden Blick zu.

„Ich hoffe, man merkt mir die fehlende Dusche nicht allzu sehr an …“

Robert schnupperte. Der blumige Duft, der sie sonst umwehte, fehlte – das war sonst wohl auf ihr Shampoo oder Duschgel zurückzuführen. Aber sie roch auch heute so unglaublich gut, dass Robert Mühe hatte, die Bilder vor seinem inneren Auge zu verscheuchen … die aus dem Bett schlüpfende nackte Frau, ihre anmutigen Bewegungen, ihr von der warmen Julinacht aufgeheizter Körper. Er räusperte sich erneut und rief sich in Gedanken zur Ordnung. Dann bemerkte er, dass Sonja ihn ansah, ein bisschen verwundert, ein bisschen amüsiert.

„Äh … nein, keine Sorge“, presste er hervor und hoffte inständig, dass er nicht so rot wurde, wie es sich in diesem Moment anfühlte.

Sie lächelte ihn an, und seine Wangen brannten noch eine Spur heißer.

„Aber was den Kaffee angeht, da kann ich helfen“, kam ihm schließlich die rettende Idee, und schon sprudelte er los: „Mit Milch? Etwas Zucker? Cappuccino, Latte macchiato, Espresso? Meine Maschine in der Buchhandlung kann alles. Ich kann Ihnen den Kaffee bringen, oder Sie kommen mit und machen es sich eine Zeit lang in unserer Leseecke bequem und …“

Sonjas belustigter Blick blieb noch kurz auf ihn gerichtet, dann stieß sie sich von der Hauswand ab.

„Wissen Sie, was, Robert? Ich nehme Ihr Angebot einfach an. Hier braucht mich einstweilen eh keiner.“

Sie ging die paar Schritte bis zu dem Kriminaltechniker, der ihr am nächsten war, und sagte ihm, wohin sie jetzt zu gehen gedenke. Der Mann sah sie irritiert an.

„Kollege Neher hat Ihre Handynummer?“, fragte er sie.

„Ja.“

„Dachte ich mir. Sie müssen sich nicht bei uns abmelden. Es wäre nur gut, wenn Sie für ihn erreichbar bleiben könnten.“

„Und Sie ziehen einfach die Haustür hinter sich zu, wenn Sie im Treppenhaus fertig sind, ja?“

„Ich fürchte, das wird noch ein Weilchen dauern.“

 

Claas Michelsen zitterte ein wenig, als er das Telefonat beendete. Ein vergifteter Apfel. Eine Leiche mitten in der Altstadt von Remslingen. Sofort reihten sich erste Assoziationen aneinander, vor seinem geistigen Auge nahmen Schlagzeilen Form an, und die ersten Sätze hatte er in Gedanken schon formuliert, noch bevor er überhaupt wusste, was genau geschehen war. Zwei Telefonate und eine halbstündige Internetrecherche später hatte er genug Details beisammen, um den Chefredakteur der Stuttgarter Ausgabe des Boulevardblatts anzurufen. Der hörte in seinem Büro mit Blick aufs Esslinger Neckarufer erst ruhig zu, bevor es ihm dann doch zu bunt wurde.

„Schneewittchen?“, donnerte Horst Günther in den Hörer, und Michelsen konnte fast vor sich sehen, wie Günthers Wampe vor Empörung zitterte. Wegen seiner stark untersetzten Figur wurde er hinter vorgehaltener Hand meist nur „Napoleon“ genannt – aber auch sein harscher Umgangston und seine rücksichtslose Art wurden dem Spitznamen gerecht. „Sind Sie jetzt vollends durchgeknallt, Michelsen? Schreiben Sie das meinetwegen in Ihrem schrägen Newsblog, aber so etwas kommt mir nicht in mein Blatt! Verstanden?“

Das Gespräch war schneller weggedrückt, als Michelsen zu einer Erwiderung ansetzen konnte. Nun war guter Rat teuer. Er arbeitete seit vielen Jahren als freier Journalist, aber in einer seriösen Tageszeitung hatte er seit einigen Konzertberichten während seiner Schulzeit nichts mehr untergebracht. Zu Radio und Fernsehen hatte er keine Kontakte, und für seinen Blog, der bisher keinen einzigen Euro an Werbeeinnahmen eingespielt hatte, war ihm diese Geschichte zu schade. Also beschloss er, einstweilen weiterzurecherchieren. Vielleicht würde sich noch etwas ergeben, das ihm doch noch einen zahlenden Kunden bescherte.

 

„Napoleon“ ging unterdessen dem Hinweis des windigen freien Mitarbeiters nach. Der Kripobeamte, mit dem er sich gut verstand, fragte zwar erstaunt, woher Günther denn schon von der Geschichte wisse, aber letztlich bestätigte er ihm, dass heute am frühen Morgen unweit des Remslinger Marktplatzes eine männliche Leiche aufgefunden worden war. Mehr Details gab er nicht preis, wies aber darauf hin, dass Journalisten demnächst für vier Uhr zu einer Pressekonferenz im Gebäude der Kripodirektion am Alten Postplatz eingeladen würden. Er überprüfte, wer Zeit hatte, für sein Blatt dorthin zu gehen, aber bis auf zwei eher nicht so rührige Kollegen schien niemand verfügbar. Günther seufzte, dann brüllte er: „Sissi!“

Seine Sekretärin hatte ihn natürlich selbst durch die geschlossene Tür gehört, und an der Tatsache, dass er ihr denselben Rufnamen verpasst hatte wie all ihren Vorgängerinnen, störte sie sich längst nicht mehr.

„Rufen Sie diesen depperten Michelsen an“, befahl er, als sie in der halb geöffneten Tür stand. „Quetschen Sie ihn ein bisschen aus, und wenn Sie zu dem Schluss kommen, dass er diesmal wirklich Ahnung von der Story hat, die er mir andrehen will, dann geben Sie ihm in Gottes Namen den Auftrag. Er soll um vier Uhr zur Pressekonferenz, Remslingen, Kripodirektion. Und zwei Stunden später will ich eine Geschichte im System haben, die knallt, verstanden?“

 

Pünktlich zum Ladenschluss trug Alfons den Käfig mit den beiden nervigen Kakadus Sherlock und Watson hinaus und setzte ihn auf den kleinen Bollerwagen, auf dem tagsüber ein Werbeaufsteller für das Buchthema des Monats montiert war – im Moment für Walter Scotts Ivanhoe, der vor zweihundert Jahren erschienen war. Den Bollerwagen hatte Alfons angeschafft, nachdem er seinen Chef überredet hatte, die Vögel während seiner Arbeitszeit in der Buchhandlung halten zu dürfen. Der Wagen hatte Gummireifen, aber selbst das Rumpeln metallbeschlagener Holzräder auf dem Marktplatzpflaster hätte niemand gehört: Die Kakadus krächzten und kreischten putzmunter in alle Richtungen, und der eine oder andere Passant, der die werktägliche Prozession des hageren Wuschelkopfs und seiner zwei Vögel schon kannte, machte sich einen Spaß daraus, den Vögeln Geräusche vorzumachen, die sie auch prompt mit großer Begeisterung (und noch größerer Lautstärke) nachahmten. Es dauerte jedes Mal fast zehn Minuten, bis die beiden von der Buchhandlung aus nicht mehr zu hören waren. Und wenn Robert sich ausmalte, wie Alfons seine zweischnäblige Geräuschmaschine die schmale Gasse zum Bädertörle auf die Remsauen hinunterzog und unterwegs die Gäste des spanischen Lokals und die Flaneure im Park beschallte, musste er schmunzeln.

Eines Morgens vor etwa einem Jahr hatte der Käfig mit den Kakadus vor der Wohnungstür von Alfons gestanden. Niemand hatte gesehen, wer die Viecher dort abgestellt hatte, und angeblich wusste niemand, wem sie gehörten. Ebenso angeblich suchte Alfons händeringend nach dem Besitzer oder wenigstens nach einem Platz in einem geeigneten Tierheim – doch Robert wusste längst, dass Alfons sich an die beiden Vögel gewöhnt hatte und sie so schnell nicht wieder hergeben würde. Nicht ohne Grund hatte er den beiden Namen gegeben, die nur ein Krimifreak wie er für zwei Kakadus auswählen konnte. Ab und zu ermahnte Robert seinen Mitarbeiter, dass die lauten Vögel nicht für immer tagsüber im Buchladen bleiben konnten. Aber wann immer Alfons versprach, sich eine Lösung für das Problem zu überlegen, war es eine glatte Lüge.

Robert winkte noch zwei Bekannten zu, die gerade die Obere Sackgasse heraufschlenderten und offenbar wie gewohnt zu einem der drei italienischen Restaurants unterwegs waren, die an der nordöstlichen Ecke des Marktplatzes direkt nebeneinander um Gäste warben. Dann schloss er die Ladentür und räumte noch ein paar Bücher zurück in die Regale.

Schließlich ging er in die Wohnung hinauf, öffnete die Fenster, um vor der kommenden Nacht wenigstens einen Teil der Tageshitze aus den Räumen zu vertreiben. Anschließend duschte er, zog sich eine Jeans und ein ausgeleiertes Shirt an und verließ das Haus durch die Hintertür. Die meisten Kriminaltechniker waren gegangen, nur eine Frau und ein Mann sicherten noch immer unverdrossen Spuren. Sie schauten kurz auf, als er in einigen Metern Entfernung an ihnen vorbeiging. Er grüßte, doch die beiden hatten für ihn nur ein kurzes Nicken als stumme Erwiderung übrig und konzentrierten sich gleich wieder auf ihre Arbeit.

Die Luft war noch recht warm, und mehr als eine behäbige Brise strich nicht über den Marktplatz. Im Thai-Imbiss in der Kurzen Straße musste er gar nicht erst bestellen. Als die Wirtin ihn hereinkommen sah, verschwand sie sofort in ihrer engen Küchenecke, und bald darauf ließ er sich die große Schüssel Tom Yam Gung schmecken: Garnelen, Pilze, Galgant, Zitronengras in scharfer Brühe, dazu eiskalte Cola. Kühler war ihm danach nicht, als er wieder auf die Straße trat, aber nun hatte er die richtige Grundlage für seine nächste Station.

Richie McCafferty, der Wirt des Scottish Pub nahe des Beinsteiner Tors, blickte mürrisch drein, als sein neuer Gast die Tür hinter sich schloss. Doch Robert wusste ihn zu nehmen, und weil sich im Sommer der ganze Trubel auf die Terrasse konzentrierte, die Richie neben sein Haus gebaut hatte, waren sie an warmen Tagen wie diesem im schummrigen Gastraum meist unter sich. Nachdem die Bestellung für draußen erledigt war, füllte Richie zwei Glaskrüge mit schwarzem Bier. Robert sah ihm dabei gern zu. Richie stammte aus Dunfermline, und mehr noch als dem übrigen Schottland fühlte er sich dem „Kingdom of Fife“ verbunden, wie er die oberhalb von Edinburgh gelegene Region an der schottischen Westküste am liebsten nannte. Das hieß: Aus den Boxen krachte immer zur vollen Stunde ein Klassiker der Hardrockband Nazareth, die ebenfalls aus Dunfermline stammte – wobei Richie immer Unverständliches in seinen struppigen grauen Bart murmelte, wenn er danach gefragt wurde, ob er mit dem Nazareth-Sänger Dan McCafferty verwandt sei. Und das Bier, das er offen ausschenkte, stammte von einer dortigen Brauerei. Die hatte ihm sogar eine echte schottische Zapfanlage vermittelt, mit der er das Bier von Hand aus dem Fass ins Glas pumpte, was dem Getränk etwas weniger Kohlensäure mitgab als in Deutschland üblich.

„Was ist mit dir, Richie?“, fragte Robert, als sie beieinandersaßen und ihre Glaskrüge zur Hälfte geleert hatten.

„Was soll sein?“

„Du scheinst nicht besonders gut drauf zu sein.“

Der Wirt zuckte mit den Schultern.

„Ich bin müde. Seit ein paar Wochen schlafe ich schlecht, und dann stromere ich in der Wohnung rum, lehne stundenlang an der Fensterbank oder drehe auch mal eine Runde durch die Stadt. Ist echt Mist, wenn du todmüde bist und trotzdem nicht schlafen kannst!“

Er prostete Robert zu und leerte seinen Bierkrug.

„Warst du heute Nacht auch in der Stadt unterwegs?“, fragte Robert möglichst beiläufig und hob ebenfalls sein Glas, ließ Richie dabei aber nicht aus den Augen.

„Nein, heute Nacht nicht. Du fragst wegen der Sache gleich bei dir ums Eck, wegen der Leiche hinterm Obstladen, oder?“

„Ja. Schade, hätte ja sein können, dass du zufällig was beobachtet hast.“

„Hab ich auch, aber nichts Spannendes, leider.“

„Und was?“

„Ich stand eine Weile am Fenster und hab rausgeschaut. Ein Penner ist rübergeschlurft zur Storcheninsel. Zwei Besoffene haben sich eingesaut, als sie versucht haben, ans Beinsteiner Tor zu pinkeln. Und ein Lieferwagen ist durchs Tor gefahren und die Lange Straße hinaufgerumpelt.“

„Was für ein Lieferwagen?“

„So ein alter Göppel, den sehe ich immer wieder hier durchfahren. Überall verbeult, zieht eine ziemliche Abgaswolke hinter sich her, und rundum sind verblasste Zeichnungen von Obst und Gemüse auflackiert.“

„Könnte das der Wagen von Sonjas Lieferanten gewesen sein?“

„Von Sonja Fischer? Ach so … stimmt, ja“, brummte Richie und stutzte. „Der Tote im Hof war einer ihrer Lieferanten, oder?“

Robert nickte und trank sein Glas leer.

„Mann! Dann war ich womöglich der Letzte, der diesen Typen lebend gesehen hat!“

„Na ja, von seinem Mörder abgesehen – oder von seiner Mörderin …“

„Natürlich, klar. Aber … was meinst du mit ›Mörderin‹? Du hast das gerade so seltsam betont.“

„Die Kripo verdächtigt unter anderem auch Sonja.“

Richie riss die Augen auf, er starrte Robert an, und dann legte sich langsam ein breites Grinsen auf sein verwittertes Gesicht.

„Und das macht dir zu schaffen, weil du ein Auge auf die gut aussehende Obstverkäuferin geworfen hast, stimmt’s?“

Robert schwieg.

„Natürlich stimmt’s“, gab Richie sich die Antwort gleich selbst. „Glaubst du, ich habe vergessen, wie du mir hier vor ein paar Monaten am Ende eines durstigen Abends von dieser Frau vorgeschwärmt hast? Und auch wenn sie nicht ganz nach meinem Geschmack ist, weil ich es gern etwas fülliger mag, gebe ich zu, dass sie sehr gut aussieht, und nett ist sie obendrein. Das Einzige, was ich an der ganzen Sache nicht verstehe, ist, dass du es ihr noch nicht gesagt hast. Du siehst doch auch nicht schlecht aus, Mann, ihr wärt auf jeden Fall ein schönes Paar.“

Richie lachte heiser, ging mit den beiden leeren Gläsern zum Tresen und kehrte mit zwei gefüllten Krügen zurück.

„Trink, mein Freund. Vielleicht traust du dich dann sogar heute Abend noch, der schönen Sonja reinen Wein einzuschenken.“

Aus den Lautsprechern krähte Dan McCafferty Love hurts; es war punkt zehn.

„Oder vielleicht lieber morgen“, fügte Richie hinzu.

Sie stießen an und tranken. Richie wischte sich den Mund mit dem Ärmel seines fleckigen Shirts trocken. Danach musterte er seinen Gast eine kleine Weile.

„Du siehst aus, als würdest du dir eher überlegen, wie du deiner Sonja helfen kannst. Als würdest du nach Infos suchen, die sie entlasten. Warst du früher mal Bulle oder so was?“

Robert blinzelte und sah ihn forschend an.

Richie winkte ab und lachte.

„Keine Angst, du hast mir hier im Pub niemals etwas in dieser Richtung erzählt, auch nicht an Abenden, an denen du mit ordentlicher Schlagseite hier raus bist.“

Der Wirt zwinkerte ihm zu.

„Muss ja ganz was Spannendes gewesen sein, wenn du so ein Geheimnis draus machst, Mann. Aber keine Sorge, ich bohre nicht nach, ich lass dich in Ruhe, und jetzt habe ich nur noch eine Frage. Magst du was essen? Ich habe heute ganz frisch Haggis gemacht. Und wenn du nur einen Snack magst, Schottische Eier habe ich auch.“

Robert lehnte mit gespieltem Bedauern ab. Er hatte vor Jahren einmal in einer kleinen Kneipe ein paar Kilometer von Richies Heimatstadt Dunfermline entfernt Haggis gegessen und das etwas seltsame Gericht durchaus gemocht. Aber Richie war ein so lausiger Koch, dass ihm sogar die Schottischen Eier jedes Mal missrieten. Dabei war es eigentlich keine große Kunst, hart gekochte Eier mit Wurstbrät zu umgeben, die so entstandene Kugel mit Brotkrümeln zu panieren und sie in der Fritteuse kurz auszubacken.

Durchs offene Fenster waren Rufe zu hören. Richie ging zum Tresen, zapfte ein paar Bier und trug sie auf die Terrasse hinaus. Den Rest des Abends saß Robert stumm und allein an seinem Tisch. Richie hatte zu tun, holte sich irgendwann zwischendurch einen gut gefüllten Teller zum Tresen – der Geruch, den das Essen darauf verströmte, bestätigte den schlechten Ruf des Wirtes als Koch sehr eindringlich. Um elf Uhr rockten Nazareth Hard Living, und als um Mitternacht Steamroller folgte, winkte Robert dem Wirt zu, dass er nun zahlen wolle.

„Wirklich schade, dass du heute Nacht weiter nichts gesehen hast“, sagte er.

„Andererseits bedeutet das für deine Sonja ja eher etwas Gutes“, versetzte Richie und steckte sein gut gefülltes Portemonnaie wieder weg. „Wann immer ich sie morgens zu ihrem Laden oder abends nach Hause radeln sehe, kommt sie hier an meinem Pub vorbei. Manchmal schneit sie auf ein, zwei Pint herein, manchmal winkt sie mir nur zu. Und wenn hier eine Band spielt, fehlt sie selten.“

„Sie wohnt in der Winnender Straße, da führt der direkte Weg mit dem Rad natürlich bei dir vorbei. Und heute früh hast du sie nicht gesehen?“

„Nein, heute nicht. Ich bin allerdings gegen halb sieben wieder ins Bett und hab tatsächlich noch zwei, drei Stunden schlafen können. Ob sie zu ihrer üblichen Zeit am Pub vorbeikam, kurz nach halb acht, weiß ich daher nicht.“

Robert wirkte enttäuscht, deshalb musste Richie deutlicher werden.

„Hast du mich denn nicht verstanden? Wenn ich gesehen habe, wie der Lieferant die Lange Straße entlanggefahren ist, aber Sonja weder in der Stunde davor noch in der danach hier vorbeikam, ist es doch eher unwahrscheinlich, dass sie dort war, wo schließlich der tote Lieferant aufgefunden wurde, richtig?“

Robert dachte nach.

„Wann genau soll der Lieferant denn gestorben sein?“, hakte Richie nach.

„Das weiß ich nicht. Und weil Gift im Spiel war, ich aber keine Ahnung habe, um welches es sich handelt, weiß ich auch nicht, ob der Lieferant im Hof zwischen Sonjas Laden und meinem Haus vergiftet wurde oder ob das schon vorher passiert ist. Die Polizei fragt die Leute jedenfalls immer nach dem Zeitraum von drei bis fünf Uhr heute früh.“

„Leider habe ich nicht auf die Uhr geschaut, als der Lieferwagen vor meinem Haus vorbeigefahren ist, aber das müsste schon so ungefähr in dieser Zeit gewesen sein. Und wie gesagt, da war in der Langen Straße keine Sonja weit und breit zu sehen.“

„Sie könnte heute früh einen anderen Weg genommen haben.“

„Und warum sollte sie das tun? Jede andere Strecke wäre doch ein Umweg!“

„Vielleicht wollte sie nicht, dass du sie bemerkst. Sie weiß doch sicher, dass du sie oft vorbeifahren siehst.“

„Ja, natürlich weiß sie das. Ich stalke sie ja nicht, sondern sehe sie eben zufällig, wenn ich mal am Fenster stehe oder vor dem Haus zu tun habe oder den Pub lüfte.“

„Wenn sie unbemerkt zu ihrem Laden gelangen wollte, hätte sie durchaus einen Grund gehabt, einen Umweg in Kauf zu nehmen.“

„Sag mal, Robert, was bist du denn für ein schräger Verehrer? Du stehst auf die Frau, und jetzt suchst du Gründe, die sie noch verdächtiger machen würden?“

„Das sind nur Gedankenspiele, Richie. Ich halte sie für unschuldig, aber das kann ich nicht mit Vermutungen belegen, die mir jeder Kommissar ohne große Mühe um die Ohren hauen würde.“

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30. Oktober 2020
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