Sherlock ist ausgeflogen (Lesen auf eigene Gefahr 4) Sherlock ist ausgeflogen (Lesen auf eigene Gefahr 4) - eBook-Ausgabe
Kriminalroman
— Humorvoller Cosy Crime über einen Buchhändler im Ermittlungsfieber„Humorvoll und spannend“ - Waiblinger Kreiszeitung
Sherlock ist ausgeflogen (Lesen auf eigene Gefahr 4) — Inhalt
Verbrechen gehören zu Robert Mondrians Vorlieben, nur bitte keines in seiner Buchhandlung. Im vierten Band der Cosy Crime Reihe „Lesen auf eigene Gefahr“ erzählt SPIEGEL-Bestsellerautor Jürgen Seibold von einem skurrilen Fall bei dem ausgerechnet Haustiere verschwinden.
Buchhändler Robert Mondrian ist froh, dass er nicht schon wieder in einem Mordfall ermitteln muss. In Remslingen verschwinden Haustiere – darum braucht er sich nicht zu bemühen. Doch dann ist ein drittes Tier wie vom Erdboden verschluckt: ausgerechnet Sherlock, einer von Mondrians beiden Gelbhaubenkakadus, die in der Buchhandlung in einer Volière gehalten werden. Watson, der zweite Kakadu, blieb zurück – und ein blutverschmiertes Stück Flokati. Nur kurze Zeit später wird ein bestohlener Hundehalter tot aufgefunden. Auf einem Flokati ...
„Genau die richtige Lektüre für alle, die bei Krimis an gute Unterhaltung denken.“ Esslinger Zeitung
„Sherlock ist ausgeflogen“, der vierte Band der lustigen Cosy Crime Reihe „Lesen auf eigene Gefahr“ von Jürgen Seibold, steht ganz im Zeichen des berühmten Meisterdetektivs Sherlock Holmes. Nach „Schneewittchen und die sieben Särge“, „Sein oder Totsein“ und „Frodo war's nicht“ packt den sympathischen Buchhändler Robert Mondrian nun erneut das Ermittlungsfieber nach bestem Vorbild.
„Robert Mondrian und sein verpeiltes Gehilfenteam fordern Ihre Lachmuskeln heraus!“ Buch-Magazin
Leseprobe zu „Sherlock ist ausgeflogen (Lesen auf eigene Gefahr 4)“
Prolog
Nach dem Frühstück ging er mit seinem Begleiter durch das Foyer und trat vor das imposante Gebäude des Englischen Hofs. Überall waren Gespräche in hartem Schwyzerdütsch zu hören, es gab Tipps für Wanderungen und Tagesausflüge sowie Informationen zum Hotelmenü am Abend. Das Wetter war trocken, aber nicht allzu sonnig für einen Tag Anfang Mai. Ihm war das ganz recht, denn er spürte nach den Wanderungen der vergangenen Tage ein leichtes Ziehen in den Beinmuskeln.
Der Hotelier empfahl den beiden Männern in fast akzentfreiem Englisch eine Bergwanderung [...]
Prolog
Nach dem Frühstück ging er mit seinem Begleiter durch das Foyer und trat vor das imposante Gebäude des Englischen Hofs. Überall waren Gespräche in hartem Schwyzerdütsch zu hören, es gab Tipps für Wanderungen und Tagesausflüge sowie Informationen zum Hotelmenü am Abend. Das Wetter war trocken, aber nicht allzu sonnig für einen Tag Anfang Mai. Ihm war das ganz recht, denn er spürte nach den Wanderungen der vergangenen Tage ein leichtes Ziehen in den Beinmuskeln.
Der Hotelier empfahl den beiden Männern in fast akzentfreiem Englisch eine Bergwanderung hinauf zu einem kleinen Weiler am Fuß des Rosenlauigletschers und eine Einkehr im dortigen Kurhaus, zuvor aber einen Abstecher zu den spektakulären Wasserfällen, für die sie unterwegs einen kleinen Umweg machen müssten. Die beiden Männer antworteten ebenfalls auf Englisch, und er wunderte sich nur kurz, dass das plötzlich seine Muttersprache zu sein schien.
Es ging die Dorfstraße hinunter, nach dem Ortsausgang von Meiringen aber schon bald steil bergan, erst umgeben von Wiesen und einzelnen Waldstücken, dann führte ihr Weg hinein in den dunkler werdenden Bergwald. Nach einer Weile blieb er stehen, um zu verschnaufen. Sein Begleiter war weniger hoch aufgeschossen als er, zeigte sich aber zäh und etwas besser in Form als er selbst.
Der andere hatte ein sympathisches Gesicht, eine hohe Stirn, einen buschigen Schnauzer und ebensolche Koteletten. Er trug eine altmodische Mischung aus Wander- und Ausgehkleidung: eine Bundhose und grobe Wollstrümpfe, darüber jedoch die vertraute Kombination aus Hemd, Weste und Überrock. Er sah an sich hinunter: Bis auf die Bundhose war er ganz ähnlich gekleidet, etwas weniger zweckmäßig für eine Bergwanderung vielleicht als der ihn begleitende Arzt, aber das alles kam ihm eigenartig bekannt vor. Die englische Sprache, die Kleider wie aus einem vergangenen Jahrhundert, ein Begleiter, der ihn siezte, obwohl sie sich seit Jahren sehr vertraut waren …
Bevor er sich darüber wundern konnte – und darüber, dass man sich in einem Traum überhaupt über etwas wundern konnte –, ging es auch schon weiter den Berg hinauf. An der Abzweigung zu den Reichenbachfällen machten sie noch einmal eine kurze Pause, dann marschierten sie den zunehmend schmaler werdenden Pfad entlang auf die Sehenswürdigkeit zu. Der Boden wurde feuchter, sie mussten ihre Schritte vorsichtiger setzen, und als der Weg kaum mehr einen Meter breit war, links begrenzt von steil aufragendem Fels, rechts mit prächtigem Blick auf einen schwarzen Abgrund, war er froh, dass er schwindelfrei war.
Für den Blick, der sich ihnen am Ende bot, hatte sich der Umweg auf jeden Fall gelohnt. Tosend stürzte das Wasser des Wildbachs in die Tiefe, überall waren Gischt und Nebel und ein anhaltendes Donnern, das alles übertönte. Eine Weile betrachteten sie das Spektakel schweigend, dann wandte er sich um. Plötzlich war der Begleiter verschwunden, kurz darauf sah er ihn noch einen Moment talwärts eilen, dann kam ein anderer Mann auf ihn zu. Ein Mensch, der ihm in Größe und Statur auffallend ähnelte, der sehr ähnlich gekleidet war und ihm mit einem spöttischen Lächeln entgegentrat, wie er es selbst gern zur Schau trug.
Einen Moment lang hatte er das Gefühl, in einen Spiegel zu schauen. Dann wieder hob sich der andere durch markante Unterschiede von ihm ab: mit einer verschlageneren Miene, einem gebeugteren Oberkörper, mit deutlich lichterem Haar und einer formelleren Kleidung.
Er wusste sofort, wer das war. Und er wusste, als wer er träumte. Er hatte diesen Mann gejagt, bevor er von seiner Existenz wusste. Er hatte ihm eine empfindliche Niederlage beigebracht. Jetzt war nur noch eins zu tun und dafür womöglich nur noch eins zu erleiden. Und so traten die beiden Männer einander gegenüber. Der andere ließ ihn kurioserweise noch einen kurzen Brief schreiben, in dem er letzte Angelegenheiten regeln und den er mit seinem Zigarettenetui beschwert in eine Felsnische legen konnte, dann stellten sie sich zum Zweikampf.
Eigentlich hätte er dem anderen klar überlegen sein sollen. Der andere noch weniger austrainiert als er und obendrein von einem weiten Mantel in seinen Bewegungen behindert. Er dagegen mit der Übung aus zahllosen Kämpfen, gefährlichen Einsätzen und so viel Erfahrung, sich auch gegen übermächtige Gegner am Leben zu halten.
Doch all seine Erfahrung, all seine Übung schienen wie weggeblasen. Er hatte das Gefühl, seit Jahren nur noch im Morgenmantel im Lehnstuhl gesessen und Pfeife geraucht und eher mit dem Kopf als mit dem Körper gearbeitet zu haben. Entsprechend ausgeglichen ging es hin und her auf dem schmalen Bergpfad über der Schlucht. Mal war der eine im Vorteil, mal der andere, und als sich schließlich das Handgemenge ganz langsam zu seinen Gunsten entwickelte, merkte er, dass er an Standfestigkeit verlor. Dass seine Schuhe auf dem glitschigen Grund keinen rechten Halt mehr fanden. Dass der andere nicht mehr auf sein Gleichgewicht achtete und dass er selbst, so eng ineinander verschlungen, wie sie waren, die Balance für sie beide nicht halten konnte.
Und so hatte er den anderen zwar endlich in seiner Gewalt, hatte ihn überwunden und besiegt, aber im selben Moment neigte sich sein Gegenüber dem Abgrund zu, und er fiel mit ihm.
Das Letzte, das er sah, war ein triumphierend grinsendes Gesicht unmittelbar vor seinem. Danach waren da nur noch Nässe, Dunkelheit und harter Fels.
Robert Mondrian wachte gerade noch rechtzeitig auf. Im nächsten Moment hätte sein Körper zerschmettert auf dem Grund der Schlucht gelegen, wäre vom gischtenden Wasser davongetragen und irgendwann zerschunden, aufgedunsen und in Treibholz verheddert aufgefunden worden.
Was für ein seltsamer Traum!
Er setzte sich auf und sah sich um. Alles war wie immer in den vergangenen Jahren. Sein Bett, in dem ab und zu auch seine Freundin Selina Brand übernachtete, stand in einem zweckmäßig eingerichteten Schlafzimmer. Die Tür zum Flur stand offen, und dahinter konnte er das diffuse Licht sehen, das die nächtliche Beleuchtung des Marktplatzes verursachte und das durch Wohnzimmer- und Küchenfenster drang.
In der ersten Zeit nach seinem Umzug nach Remslingen hatte er noch von alten Aufträgen geträumt, von denen hier niemand wissen sollte. Von seinem alten Leben, das ihn damals mehr plagte als heute. Dann waren seine Träume anders geworden, nicht immer friedlicher, aber doch nicht mehr von den Jahren im Geheimdienst geprägt, sondern eher von seiner Buchhandlung und der idyllischen Umgebung des Hauses, das er gekauft hatte. Manchmal auch von Selina.
Aber wieso schlich sich eine literarische Figur in seine Träume? Wieso träumte er sich als Sherlock Holmes, der mit Watson wandert und mit Professor Moriarty auf Leben und Tod kämpft?
Er versuchte ein Lachen, weil dieser Traum doch nur seinen Ursprung darin haben konnte, dass sein Mitarbeiter Alfons vor einigen Jahren zwei herrenlose Gelbhaubenkakadus vor seiner Wohnungstür entdeckte, sie behielt und – Krimifan, der er war – sie Sherlock und Watson nannte.
Das Lachen klang hohl und bitter. Denn er wusste, dass es möglicherweise auch ganz anders war.
Früher hatte er geträumt, was Ahnungen und Befürchtungen ausgelöst hatten, die in seinem Unterbewusstsein rumorten. Details, die er mit geübtem Blick nicht übersehen, denen er aber keine Bedeutung beigemessen und sie deshalb in seinem Gedächtnis einstweilen in eine dunkle Ecke verbannt hatte.
Noch einmal versuchte er, sich die beiden Kakadus als Auslöser seines Traums vorzustellen. Es gelang ihm nicht. Seufzend schlug er die Bettdecke zurück und schlurfte in die Küche, um Kaffee zu kochen.
Kapitel 1
Gustaf Kruse, der Puppenspieler, ging mit weit ausgreifenden Schritten auf die Buchhandlung zu. Er beeilte sich nicht nur, um dem anstehenden nächsten Regenguss zu entgehen. In der Bäckerei gegenüber hatte er zwei besonders schön geratene Vanilleschnecken ergattert und freute sich nun auf einen entspannt verplauderten Kaffee mit Robert Mondrian, in dessen Buchhandlung um diese Zeit oft nicht viel los war. Zwei-, dreimal die Woche trafen sich die beiden inzwischen in Mondrians Leseecke. Der Puppenspieler steuerte die süßen Stückle bei, der Buchhändler spendierte den Kaffee, und was sich so in der Stadt tat, bot den Anlass für ihre Gespräche.
Die neugierige Frau Heberle, die in Remslingen an jeder Ecke ihre Ohren spitzte, hätte über die Themen der beiden Männer nur milde gelächelt. Keine Skandale, keine Aufreger, eigentlich nicht einmal richtiger Tratsch – Robert und sein Nachbar waren nicht auf die dunklen Geheimnisse der Stadtbewohner aus. Sie erzählten sich vom neuen Spanier, der sehr leckere Tapas anbot, oder von Lino Fontanas Versuchen, einem Teil seiner Speisekarte einen veganen Anstrich zu geben, was er dann meistens mit leckerer Sahnesoße wieder selbst torpedierte.
Frau Heberle wäre dazu noch eingefallen, dass das sicher an Linos neuer Freundin lag, die sich nicht nur vegan ernährte, sondern auch eine der treibenden Kräfte hinter dem veganen Frühstücksbrunch im nahen Winnenden war. Die Heberle hatte sogar herausgefunden, dass Linos Liebste das Gleiche für Remslingen plante, und ihre korpulente Freundin Marianne Pfuderer hatte dazu verständnislos den Kopf geschüttelt und schnell noch ein Stück Torte zwischen ihre Lippen gestopft.
Robert Mondrian und Gustaf Kruse dagegen interessierte nur, dass Lino Fontana seit einigen Monaten sehr glücklich war und dass seine Freundin einen sehr sympathischen Eindruck hinterließ, solange sie nicht über vegane Ernährung sprach und dabei ihren missionarischen Eifer offenbarte.
Gustaf Kruse zog die Tür der Buchhandlung auf und betrat das Geschäft, während über ihm die altmodische Ladenglocke schellte. Die beiden Gelbhaubenkakadus Sherlock und Watson, die wie immer in ihrem Käfig neben dem Regal mit den englischen Originalausgaben standen, imitierten die Glocke täuschend echt, wenn auch deutlich lauter. Dann wurde es still im Raum, und Kruse stutzte. Sonst machten er und die Vögel sich immer noch einen Spaß daraus, sich ein wenig zu necken. Heute hockten Sherlock und Watson nebeneinander auf der Stange und schauten abwechselnd zum Puppenspieler und zur Leseecke. Sie wirkten bedrückt, und als Kruse ihrem Blick folgte, sah er dort Robert Mondrian sitzen. Der Buchhändler war in einen Roman vertieft und sah aus, als habe er die halbe Nacht wach gelegen und gelesen.
„Na, müde?“
Gustaf Kruse ließ sich schwer auf einen der Sessel fallen und legte die Bäckertüte auf den Tisch. Robert blätterte um, bevor er aufsah und mit den Schultern zuckte.
„Ziemlich, ja.“
Und als der Buchhändler auch jetzt noch keine Anstalten machte, zur Teeküche zu gehen, nickte Kruse zu dem kleinen Raum hinter der Verkaufstheke hinüber.
„Dann würde uns beiden doch ein Kaffee jetzt sehr guttun, nicht wahr?“
Über Roberts blasses Gesicht huschte nun ein schwaches Grinsen. Er nickte, stand auf und hantierte wenig später an der Kaffeemaschine. Es zischte, mahlte und pumpte, und dann stellte der Buchhändler zwei Tassen mit dampfendem Cappuccino und zwei Teller auf den Tisch. Kruse holte die Schnecken aus der Tüte, verteilte sie und schob seinem Gastgeber einen der Teller hin.
„Sieht sehr lecker aus“, murmelte Robert und nippte an seiner Tasse.
„Das will ich meinen!“, schwärmte Kruse übertrieben euphorisch und lachte. „Und in was für einen Schmöker warst du vorhin so vertieft?“
Roberts Freundin Selina Brand war inzwischen eine Art freie Mitarbeiterin in Kruses Puppentheater, sie schrieb bereits am zweiten Stück mit ihm, und darüber hatten sich die beiden angefreundet und waren irgendwann zum Du übergegangen. Da blieb es nicht aus, dass sich wenig später auch die Männer duzten.
Robert drehte das Buch so, dass sein Gast den Titel lesen konnte. The Memoirs of Sherlock Holmes stand auf dem Einband.
„Sherlock Holmes?“ Kruse war überrascht. „Ich dachte, du bist kein Krimifreund.“
„Die Klassiker mag ich schon. Holmes, auch Edgar Allan Poes Geschichten um Detektiv Dupin und George Simenons Maigret-Romane. Nur mit neueren Krimis habe ich so meine Schwierigkeiten. Ganz im Gegensatz zu meinem Mitarbeiter Alfons, wie du weißt.“
Er lachte.
„Apropos Alfons, wo ist er eigentlich?“, fragte Kruse. „Hat er es gestern mit dem Wandern übertrieben und liegt heute mit Muskelkater im Bett?“
„Das würde ich gern sehen: Alfons Weber am ersten Mai in Wanderstiefeln, und dann womöglich noch einen Handkarren mit Bier hinter sich herziehend …“
Robert grinste und biss ein Stück von der Vanilleschnecke ab.
„Nein, Alfons ermittelt“, fuhr er in leicht spöttischem Ton fort, als er den Mund wieder leer hatte.
„Wegen der verschwundenen Tiere, um die er sich sorgt?“
„Ja. Und das ist genau seine Kragenweite, wenn du mich fragst. Ein Hund ist weg, eine Rassekatze auch – und Alfons ist natürlich davon überzeugt, dass die beiden Vierbeiner entführt wurden. Und weil er sofort Feuer und Flamme war für seinen neuesten Fall, habe ich ihm angeboten, ihm jedes Mal freizugeben, wenn er einer Spur nachgehen will. Und so fehlt er in der Buchhandlung mal für einen ganzen Tag, mal nur für ein oder zwei Stunden.“
„Und ist er schon auf eine vielversprechende Spur gestoßen?“
„Ich glaube nicht, aber er ist ziemlich hartnäckig. Vielleicht sollte er eine Detektei eröffnen, das Nachforschen scheint ihm zu liegen.“
„Und jetzt bereitest du dich darauf vor, ihm zu helfen?“
„Ich werde mich hüten! Wie kommst du denn auf diese Idee?“
Kruse nickte zu dem Sherlock-Holmes-Buch hin.
„Ach so, das. Ich hatte heute Nacht einen sehr seltsamen Traum, der mich an eine Kurzgeschichte von Arthur Conan Doyle erinnerte. Da wollte ich ein paar Details nachlesen.“
„Im englischen Original? Das wäre mir zu anstrengend.“
„Das solltest du ruhig auch mal machen. Englische Klassiker in der Originalsprache – da reichen nur wenige Übersetzungen heran.“
„Und hilft dir die Geschichte dabei, deinen Traum zu deuten?“
„Na ja, deuten … Ich wollte überprüfen, worin der Traum mit der Geschichte übereinstimmt und worin nicht.“
„Und zu welchem Ergebnis bist du gekommen?“
„Diese Anthologie enthält die Geschichte The Last Problem, und darin lässt Doyle seinen legendären Ermittler sterben. Er hatte wohl keine große Freude mehr daran, sich immer neue Geschichten um Sherlock Holmes auszudenken. Also ließ er ihn in einer Schlucht in der Schweiz auf seinen Erzfeind treffen, den genialen Verbrecher James Moriarty, genannt Professor. Die beiden kämpfen miteinander, und am Ende stürzen sie gemeinsam in die Tiefe.“
„Und wie lief das in deinem Traum ab?“
„Da war ich …“
Robert unterbrach sich und überspielte die Pause, indem er einen Schluck Cappuccino trank. Er setzte die Tasse ab, biss vom Plunderstück ab und schaute zur Tür. Draußen fielen die ersten Tropfen, die ein böiger Wind vor sich hertrieb. Ihr leises Klatschen gegen die Fenster war für eine Weile das einzige Geräusch in der Buchhandlung.
„Hast du häufiger solche Träume?“, fragte Kruse, als ihm die Pause zu lang wurde.
„Ab und zu. Aber Kurzgeschichten träume ich selten, eher gingen mir in den ersten Jahren hier in Remslingen Erinnerungen nach.“
„Erinnerungen aus deinem früheren Leben?“
Robert kniff die Augen zusammen und versuchte, in Kruses Miene zu lesen.
„Früheres Leben … wie das klingt.“
Kruse bemerkte, dass sein Gegenüber plötzlich angespannt wirkte. Trotzdem wollte er noch nicht lockerlassen. Die Vorgeschichte des Buchhändlers interessierte ihn sehr. Er witterte eine spannende Geschichte.
„Na, du warst ja nicht immer Buchhändler, nicht wahr?“
Robert forschte noch intensiver im Gesichtsausdruck des Puppenspielers.
„Ich meine, du warst nicht immer Buchhändler hier in Remslingen“, schob Kruse schnell nach. Ihm war schon aufgefallen, dass Mondrian Fragen nach seiner Vergangenheit nicht gut aufnahm. Sie waren inzwischen gut genug miteinander befreundet, dass er ihm das gelegentliche Nachforschen nicht wirklich übel nahm, aber dennoch wich er jedes Mal aus, wenn Kruse die Sprache darauf lenkte, was der Buchhändler vor seinem Umzug nach Remslingen gemacht hatte. Und manchmal lag in solchen Momenten etwas in Mondrians Blick, als dürfe in Remslingen um keinen Preis jemand erfahren, was er damals gemacht hatte. Was war der dunkle Fleck in Mondrians Vergangenheit? Es konnte keine Kleinigkeit sein.
Alfons Weber störte sich nicht am stärker werdenden Regen. Das Treffen war ein voller Erfolg gewesen. Sowohl der pensionierte Oberstaatsanwalt Dr. Heinrich Jäckel als auch die Kriminalkommissarin Hanna Lier hatten ihn ausführlich mit Informationen versorgt. Jäckel vermisste seinen Belgischen Schäferhund, Lier ihre Norwegische Waldkatze. Spätestens als die beiden die Namen ihrer Lieblinge genannt hatten, konnte Alfons einen guten Draht zu ihnen aufbauen. Jäckel hatte seinen Hund nach Agatha Christies Privatdetektiv Hercule Poirot benannt, und Liers Katze hieß Wisting, weil ihr die Krimis um den norwegischen Kriminalkommissar William Wisting und seine Tochter so gut gefielen. Also erzählte Alfons von den beiden Gelbhaubenkakadus, die er in ihrem Vogelkäfig eines Morgens vor der Tür seiner Wohnung vorgefunden und denen er die Namen Sherlock und Watson gegeben hatte.
Das zerstreute in den Augen von Kommissarin Lier die letzten Zweifel daran, dass Alfons es ernst meinte mit seinem Versprechen, nach den verschwundenen Tieren zu suchen. Jäckel hatte dem jungen Mann sofort geglaubt, und es schien ihm selbstverständlich zu sein, dass von Alfons nach seinem Hund gefahndet wurde – während er der Polizei ankreidete, dass sie das nicht als Fall von höchster Wichtigkeit einstufte.
Ohnehin führte der pensionierte Staatsanwalt gern das große Wort, und sie hatten sich auch in seinem Haus getroffen, hatten sich in seinem Wohnzimmer besprochen. Zwischen altmodischen Möbeln aus dunklem Holz war Alfons fast versunken in dem schweren Sessel, den Jäckel ihm zugeteilt hatte. Aber die Informationen, die ihm anvertraut wurden, hatten die trockenen Kekse und den dünnen Kaffee mehr als wettgemacht.
Nun war er auf dem Heimweg. Zu Hause wollte er seine hastig hingekritzelten Notizen ins Reine schreiben, danach würde er in die Buchhandlung zurückkehren. Zwei Entführungen innerhalb einiger Tage, auch wenn es sich „nur“ um Haustiere handelte. Und er, Alfons Weber, ermittelte in diesem Fall. Ein zufriedenes Lächeln legte sich auf sein regennasses Gesicht.
Hanna Lier hatte Jäckels Haus zusammen mit Alfons Weber verlassen. Doch während er sofort hinaustrat in den Regen, war sie noch eine Weile im Windfang vor der Eingangstür stehen geblieben. Sie mochte Regen nicht, und wenn er ihr von Böen ins Gesicht getrieben wurde, mochte sie ihn noch weniger. Aber es half nichts. Sie musste zurück zum Dienst, bevor die Kollegen ihr unangenehme Fragen stellten. Dass der pensionierte Staatsanwalt die Kripo seit dem Verschwinden seines Hundes mit seiner Forderung danach nervte, doch endlich eine Ermittlungsgruppe einzurichten und Spuren zu sammeln und den Verbleib seines Tiers zu klären, sorgte auf den Fluren der Direktion für Heiterkeit. Damit durfte sie auf keinen Fall in Verbindung gebracht werden.
Sie kramte den Schirm aus der Handtasche und entfaltete ihn mit der einen Hand, während sie mit der anderen den Kragen ihrer Jacke unter dem Kinn zusammenzog. Wenn sie den Regenschirm schräg vor sich halten würde, müsste sie leidlich geschützt sein und dennoch genug vom Gehweg sehen, um nicht zu stolpern.
Eilig machte sie sich auf den Weg. Tatsächlich kam sie gut voran, allerdings verwehrte ihr der Schirm den Blick auf die Gestalt, die sich in diesem Moment aus einem Hofdurchgang auf der anderen Straßenseite löste.
Den Kragen hochgeschlagen, die Schultern eingezogen achtete die Gestalt darauf, von dem jungen Mann nicht entdeckt zu werden, der mit etwa fünfzig Metern Vorsprung gemächlich durch die Straßen ging, als bemerkte er den stetig zunehmenden Regen nicht. Von Jäckels Haus war es ein gutes Stück Weg, bis er in die Winnender Straße einbog und schließlich in einem Mehrfamilienhaus verschwand. Die Gestalt drückte sich schräg gegenüber in einen Hauseingang und behielt die Fenster in den verschiedenen Etagen des Gebäudes fest im Blick. Doch es war noch Tag, also wurde nirgendwo ein Licht angeknipst. Und es war auch keine Bewegung hinter einem der Fenster auszumachen, daher wurde leider nicht klar, in welchem Geschoss der junge Mann wohnte.
Das würde sie ein anderes Mal herausfinden müssen. Und bedächtig machte sie sich auf den Fußweg in die Innenstadt.
Gustaf Kruse hatte das Gespräch inzwischen wieder auf unverfänglichere Themen gelenkt, schließlich trank er seinen Cappuccino aus und verabschiedete sich von Robert Mondrian. Draußen kam ihm eine Frau entgegen, die sich unter dem strömenden Regen duckte, obwohl sie ohnehin schon völlig durchnässt aussah. Kruse sah sie kaum an und beeilte sich, sein Haus halbwegs trocken zu erreichen.
Die Frau betrat die Buchhandlung, schüttelte sich und wollte nur schnell ein bestelltes Buch abholen. Robert war noch ganz in Gedanken, erinnerte sich aber an den Titel des gewünschten Buchs, holte es aus dem Regal, kassierte ab und grübelte noch immer über seinen seltsamen Traum nach und darüber, ob er eine tiefere Bedeutung haben konnte, als die Kundin schon wieder durch den strömenden Regen eilte.
Robert sah ihr kurz nach, dann wandte er seinen Blick nachdenklich dem Gebäude zu, in dem sein Nachbar Gustaf Kruse wohnte und im Erdgeschoss sein kleines Theater betrieb. Er hielt Kruse für einen netten Kerl, aber immer wieder brachte sein Nachbar wie nebenbei das Gespräch auf Roberts Vergangenheit. Es war dem Puppenspieler anzusehen, dass er Robert nicht für so einfältig hielt, dass ihm diese „Zufälle“ nicht auffielen. Und trotzdem versuchte er sein Glück immer wieder. Aber in diesem Punkt musste er die Neugier des anderen unbefriedigt lassen.
Denn sollte er ihm sagen, dass er vor seiner Zeit als Buchhändler Agent von Deutschlands geheimstem Geheimdienst gewesen war? Dass er Auftragsmorde ausgeführt und Unfälle arrangiert hatte, wenn das der Sicherheit des Landes diente? Und dass er seine Aufträge zwar selbst nachrecherchiert, aber am Ende kein Problem mit dem Töten gehabt hatte, wenn er zu dem Schluss gekommen war, es träfe die Richtigen? Und dass er den Dienst quittiert hatte, als einer der Aufträge eben nicht der Richtigen gegolten hatte?
Robert rieb sich die Schläfen und kehrte in die Leseecke zurück. Er räumte Teller und Tassen in die Teeküche und ließ sich dann wieder in den Sessel sinken. Und während er noch einmal in der letzten Kurzgeschichte der Sherlock-Holmes-Anthologie blätterte, fragte er sich zum wiederholten Mal, was sein Traum wohl bedeuten mochte. Er hatte gelernt, auf Träume ebenso zu achten wie auf Gefühle oder auf Gedanken, die ihm scheinbar zufällig und zusammenhanglos in den Sinn kamen. Die Jahre im Geheimdienst hatten seine Sinne geschärft, und es kam vor, dass ein Gedanke oder eine Beobachtung, die es nur bis in sein Unterbewusstsein schaffte, ihn auf diese Weise vor einer drohenden Gefahr warnte.
Aber warum träumte er von Professor Moriarty, der nahe des Reichenbachfalls im Kanton Bern mit seinem Erzfeind Sherlock Holmes kämpft und am Ende mit ihm zusammen in die Tiefe stürzt? Warum hatte er im Traum gewusst, dass es Moriarty gewesen ist, obwohl er das Gesicht des anderen nicht klar sehen konnte? Und warum hatte er diese Episode aus der Perspektive von Sherlock Holmes erlebt?
Die Türglocke riss ihn aus seinen Gedanken.
Alfons Weber drückte die Ladentür gegen den Druck einer Windbö zu und schüttelte sich. Wenig später war rund um ihn der Boden nass von den Regentropfen, die von ihm herunterliefen. Robert saß in der Leseecke, ein aufgeschlagenes Buch vor sich, und sah mit einer Miene zu ihm her, die Alfons nicht zu deuten wusste.
„Tut mir leid, Chef“, beeilte er sich zu sagen und zeigte zerknirscht auf den nassen Boden. „Ich wisch das sofort weg. Draußen ist ein fürchterliches Sauwetter.“
„Du siehst nicht so aus, als würde dich das wirklich stören. Warst du erfolgreich mit deinen … Ermittlungen?“
„Und wie!“
Alfons strahlte und flitzte nach hinten, um einen Putzlappen zu holen.
„Darf ich Ihnen davon erzählen?“, fragte er, während er den Boden trocken wischte.
Robert lächelte. Ihm war im Moment jede Abwechslung recht, die ihn aus seinem Gedankenkarussell holte, also konnte er seinem Mitarbeiter die Freude gern machen.
„Vorhin habe ich die Besitzer der beiden entführten Tiere getroffen“, begann Alfons nach einer Weile. Der Boden war wieder trocken, und zwischen ihnen auf dem Tisch standen zwei dampfende Kaffeetassen.
„Ob sie entführt wurden, weißt du nicht sicher“, korrigierte Robert ihn.
„Ich bin überzeugt davon, aber lassen wir das. Der Hund heißt Poirot, die Katze Wisting.“
Alfons warf seinem Chef einen schelmischen Blick zu, den der richtig deutete.
„Der Hund wurde also wohl nach Agatha Christies Meisterdetektiv Hercule Poirot benannt – aber Wisting?“
„Kommissar William Wisting und seine Tochter Line, eine Journalistin, sind die Hauptfiguren einer norwegischen Krimiserie, deren Verfilmungen seit ein paar Jahren auch im deutschen Fernsehen laufen.“
„Schön, die beiden Tiere heißen also wie Krimifiguren. Damit wären Sherlock und Watson ja auch in großer Gefahr.“
Alfons schaute erschrocken zu den beiden Gelbhaubenkakadus, die friedlich in ihrem Käfig hockten.
„Tut mir leid, Alfons“, fügte Robert hinzu, „ich wollte dir keine Angst einjagen. Es ist wahrscheinlich Zufall, dass beide verschwundenen Tiere die Namen von Figuren aus Kriminalromanen tragen.“
Alfons kaute auf der Unterlippe, dann zuckte er mit den Schultern.
„Wie auch immer, jedenfalls hat mir das einen guten Draht zu den beiden Besitzern verschafft. Als ich ihnen erzählt habe, wie ich die beiden Vögel genannt habe, war das Eis zwischen uns gebrochen.“
„Das freut mich für dich.“
„Dr. Jäckel ist pensionierter Oberstaatsanwalt. Mit seinem Belgischen Schäferhund war er am Vormittag Gassi gegangen, die übliche Runde zur Rems und durch die Remsauen wieder nach Hause. Danach machte sich Herr Jäckel eine Kleinigkeit zu Mittag und versorgte auch Poirot. Nach dem Essen legte sich Poirot wie üblich in seinen Hundekorb, der im Flur im Erdgeschoss steht, und sein Herrchen ging für gut eine Stunde ins Bett. Als er aufstand, war Poirot spurlos verschwunden. Im Hundekorb lag ein kleines, blutverschmiertes Teppichstück.“
„Hat er Einbruchspuren an der Haus- oder an der Terrassentür bemerkt?“
„An der Terrassentür konnte er keine Auffälligkeiten erkennen. Das Schloss der Haustür ist zerkratzt – ich konnte es vorhin selbst in Augenschein nehmen. Aber Herr Jäckel gab zu, dass das nichts bedeuten muss: Er sieht nicht mehr so gut und stochert deshalb manchmal eine Weile mit dem Schlüssel herum, bis er ihn endlich ins Schloss bekommt.“
Alfons beugte sich grinsend etwas zu Robert hin.
„Außerdem glaube ich, dass er nicht immer nüchtern nach Hause kommt. In der Küche konnte ich durch die offene Tür einige leere Weinflaschen sehen, auch ein Schnäpschen scheint er sich gern mal zu gönnen.“
„Und er scheint einen gesegneten Mittagsschlaf zu haben. Ich meine, der Hund hat sich doch sicher nicht einfach so mitnehmen lassen. Da müsste doch jemand etwas gehört haben.“
Alfons nickte und setzte eine bedauernde Miene auf.
„Eigentlich schon, aber Jäckel wohnt allein im Haus, und er selbst hat beteuert, keinen Mucks gehört zu haben.“
Die Ladenglocke schellte, die Kakadus imitierten den Klang, und die Frau, die in diesem Moment die Buchhandlung betrat, lachte lauthals auf.
„Na, da haben Sie ja zwei ganz spezielle Mitarbeiter“, sagte sie.
„Gaaaanz speziell! Gaaaanz speziell!“, zeterten die Kakadus.
Alfons sprang auf und herrschte die Vögel an.
„Sherlock! Watson! Seid ihr wohl still?“
Er eilte zu der Kundin, setzte eine entschuldigende Miene auf und bediente sie. Sie kaufte zwei Thriller, einen aktuellen Bestseller und einen älteren, der seit Jahren gut nachgefragt wurde. Als sie wieder in den Regen hinausgegangen war, kehrte Alfons in die Leseecke zurück.
„Und die Katze?“, fragte Robert, um das Gespräch von eben wieder in Gang zu bringen.
„Gehört einer Kollegin von Kommissar Neher. Sie hält ihre Norwegische Waldkatze in der Wohnung, das Tier darf nicht raus. Als sie vom Dienst nach Hause kam, war Wisting weg. Die Balkontür stand einen Spalt weit offen, aber Kommissarin Lier war sicher, dass sie die Tür geschlossen hatte, bevor sie zur Arbeit ging.“
„In welcher Etage befinden sich ihre Wohnung?“
„Dritter Stock.“
„Könnte die Katze da irgendwie runtergeklettert sein?“
„Eher nicht. Es gibt keine Katzentreppe oder so etwas, es reicht auch kein Ast direkt bis an ihren Balkon, und dass die Katze einfach so vom Balkon gesprungen ist, halte ich nicht für wahrscheinlich. Die Kommissarin hat mir ihre Katze außerdem als nicht sehr sportlich beschrieben. Direkt neben dem Balkon von Frau Lier befindet sich ein zweiter, aber die Tür in die dazugehörige Wohnung war verschlossen, und von der Katze gab es auf dem anderen Balkon keine Spur.“
„Und wenn sie nach unten gefallen wäre, hätte das Tier vermutlich tot oder verletzt auf dem Boden gelegen.“
„Es gibt dort Büsche, auch ein Stück Wiese, aber wenn sie hinuntergefallen wäre, hätte sie sich doch sicher bemerkbar gemacht und geschrien, damit ihr Frauchen ihr hilft.“
„Oder es hätte jemand anderes die Katze gesehen und hätte Frau Lier informiert.“
„Eben. Außerdem lag auch in der Wohnung der Kommissarin ein Teppichstück.“
„Ebenfalls blutverschmiert?“
Alfons nickte bedeutungsvoll.
„Weiß man, ob das Blut von den verschwundenen Tieren stammt?“
„Jäckel hat die Kripo geradezu bedrängt, dass sie das Teppichstück ins Labor geben sollen, aber dort wollte ihm niemand helfen.“
„Eigenartig. Natürlich sind Laboruntersuchungen nicht unbedingt für verschwundene …“
Alfons hob die Augenbrauen.
„… oder meinetwegen für entführte Haustiere gedacht. Aber wenn man nett fragt, vor allem als ehemaliger Staatsanwalt, der ja lange mit der Polizei zusammengearbeitet hat, wird ihm doch normalerweise jemand den Gefallen tun.“
„So heftig, wie Herr Jäckel über die Kripo geschimpft hat, vermute ich, dass sein Verhältnis zur Polizei nicht das beste war. Und wenn er in der Direktion tatsächlich so auf den Putz gehauen hat, wie er mir das geschildert hat, kann ich mir gut vorstellen, dass die Polizisten auf stur geschaltet haben.“
„Notfalls hätte Herr Jäckel die Laborkosten ja auch privat übernehmen können. Als pensionierter Oberstaatsanwalt kann er sich das doch locker leisten.“
„Hat er jetzt auch gemacht. Er hat eine Probe des Blutflecks zu einem privaten Labor geschickt, dazu ein paar Haare seines Hundes. Auf das Ergebnis wartet er noch.“
„Und das Blut, dass die Kommissarin auf dem Teppichstück in ihrer Wohnung vorgefunden hat: Für eine Kollegin werden das die Kripobeamten doch sicher mal aus Gefälligkeit einschicken, oder nicht?“
„Als wir vorhin in Jäckels Haus beisammensaßen, hatte ich den Eindruck, dass Frau Lier ihren Kollegen gar nicht erzählt hat, dass ihre Katze verschwunden ist.“
„Ach, du hast ihren Namen nicht von der Polizei erfahren? Von wem denn dann?“
„Von Jäckel. Sie muss mitbekommen haben, was für einen Aufstand er in der Kripodirektion gemacht hat. Daraufhin ist sie zu ihm und hat sich ihm anvertraut. Er musste ihr versprechen, dass er ihren Namen nicht nennt – vielleicht hat sie Angst, sich vor den Kollegen lächerlich zu machen.“
Robert versuchte sich zu erinnern, was er bisher über die beiden verschwundenen Haustiere in der Zeitung gelesen hatte. Tatsächlich war immer nur Jäckels Name genannt worden, die Besitzerin der Katze war anonym geblieben.
„Sie ist noch nicht lange in Remslingen“, fuhr Alfons fort. „Gut möglich, dass sie auf keinen Fall bei den anderen anecken will. Sie hat allerdings schon einige Erkundigungen eingezogen.“
„Und was haben die ergeben?“
„Nichts Konkretes, aber es scheint einige Aktivisten zu geben, die zuerst gegen ein geplantes Tierkrematorium in der Gegend protestiert haben und sich nun gegen Tierheime und einen kleinen Zoo in Rommelshausen positionieren. Vielleicht gibt es da einen Zusammenhang.“
Robert spürte ein Kribbeln im Nacken, das er aus früheren Jahren gut kannte und das ihm schon mehr als einmal das Leben gerettet hatte. Nur war es sehr unwahrscheinlich, dass hier im friedlichen Remslingen jemand aus einem Versteck heraus mit einem Scharfschützengewehr auf ihn zielte. Er wandte sich um, sah zur Ladentür hin. Dort war niemand. Robert stand auf, schaute durch die Fenster auf den Marktplatz hinaus. Alle, die jetzt draußen unterwegs waren, beeilten sich, zügig wieder ins Trockene zu kommen. Es gab nur zwei Passanten, die nicht besonders schnell unterwegs waren. Der eine war Pasquale Fontana, der Seniorchef des Ristorante Fontana, der immer sehr gemächlich ging. Sonst bewegte sich nur eine Frau langsamer als die anderen durch den Regen. Er sah sie lediglich von hinten, ihr Gesicht war ihm verborgen. Es konnte die Kundin von eben sein – oder eben jede andere schlanke Frau, die er nicht kannte. Sie schlenderte zum Café Journal hinüber, betrat das Lokal und verschwand drinnen aus seinem Blickfeld.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie Alfons neben ihn trat und neugierig seinem Blick folgte.
„Haben Sie was Verdächtiges entdeckt, Chef?“
Alfons klang so angespannt, dass Robert lächeln musste.
„Nein, ich hatte nur gerade so ein Gefühl. Aber ich habe mich wohl getäuscht.“
Die Frau hatte ein paar Tage freigenommen. Für den Rest der Woche, womöglich auch noch etwas länger, hatte sie so viel vor, dass zum Arbeiten keine Zeit mehr blieb. Also konnte sie direkt vom Marktplatz in die Tiefgarage gehen und bei diesem Sauwetter nach Hause fahren, sich duschen und umziehen. Dafür ließ sie sich eine Menge Zeit, und den Nachmittag über bereitete sie alles vor, was sie für die Nacht plante.
Dann legte sie sich schlafen. Den Wecker hatte sie auf 21 Uhr gestellt, das sollte reichen. Denn erst spät in der Nacht würde sie tun, was nun anstand. Wichtig war nur, dass sie in der frühen Morgendämmerung startete, wenn man mit bloßem Auge noch nicht alles sah, aber mit dem Auto auf einem Feldweg auch mal ein Stück ohne angeschaltete Scheinwerfer fahren konnte.
Sie rechnete noch einmal alles durch. Das müsste reichen.
Gerade als Robert nach einem sehr ruhigen Tag die Buchhandlung schließen wollte, kamen noch zwei Kunden. Er hielt ihnen die Tür auf, nahm sich Zeit, sie zu beraten, und sah ihnen lächelnd nach, als sie mit zwei Bestsellern gingen, die er ihnen empfohlen hatte: einem Roman um eine kalifornische Chemikerin in den 1950er- und 1960er-Jahren und der Geschichte eines alten Buchhändlers, der eine ganz besondere Verbindung zu seinen Kunden pflegt und ihnen während seines täglichen Spaziergangs die Bücher bringt, die er für sie passend findet.
So ein Buchhändler wollte auch Robert sein, obwohl er nicht unbedingt Lust hatte, jeden Abend Bücher zu Fuß in der Stadt zu verteilen. Zu Fuß aber würde er jetzt zum Essen gehen. Eine Pasta im Ristorante Fontana, dazu ein Glas Wein, das klang nach einem angenehmen Abend. Der Marktplatz war belebt, aber nicht überlaufen, und seit sich die Regenwolken verzogen hatten, waren die Pflastersteine in der Sonne getrocknet.
Auch Pasquale Fontana hatte seinen Stuhl wieder vor das Ristorante gestellt und saß nun auf seinem angestammten Schönwetterplatz ein paar Meter neben dem Eingang zum Lokal. Er hatte das rechte Bein behaglich ausgestreckt, das linke hielt er ein wenig angewinkelt, und in einer Hand hielt er die Pfeife, die er immer wieder für einen kräftigen Zug an den Mund führte.
„Na, signor libraio“, knarzte er mit seiner heiseren Stimme und zwinkerte Robert vergnügt zu. „Schon wieder in Ermittlungen unterwegs?“
„Nein, eigentlich wollte ich mir nur einen Teller Pasta und ein Glas Wein schmecken lassen.“
„Guter Plan, aber sagen Sie meinem Sprössling unbedingt, dass Sie Pancetta in der Carbonara haben wollen. Der Junge hat mir das doch gestern tatsächlich mit Räuchertofu und Hafersahne vorgesetzt!“
Pasquale Fontana schüttelte sich, lachte dann aber herzlich.
„Na ja, wo die Liebe hinfällt, nicht wahr?“, fuhr er fort. „Seine neue Freundin ist ja schon ein heißer Feger, aber ihr veganer Tick würde mir auch in anderer Hinsicht den Appetit verderben, wenn Sie wissen, was ich meine.“
Robert wusste es, da hätte es das anzügliche Grinsen des Alten gar nicht gebraucht. Er verabschiedete sich vom Patron und trat ins Ristorante. Der Dekoration des Lokals hatte Linos neue Lebensgefährtin gutgetan. Die alten Magnumflaschen Lambrusco waren von den Fensterbrettern verschwunden, auch die Plastikblumen fehlten, stattdessen gab es kleine Tischsträußchen in schlichten Vasen, edle Stoffservietten und auf jedem Tisch eine halbe Handvoll winziger Kieselsteine, die hübsch neben den Vasen verstreut waren.
Lino Fontana stand gerade in der Tür zur Küche und besprach etwas mit dem Koch. Er wandte sich kurz um, und auf Roberts fragenden Blick hin deutete er auf ein kleines Tischchen im hinteren Bereich des Restaurants. Kurz darauf war er alle Anweisungen losgeworden und eilte zu seinem neuen Gast. Es war noch zu früh für die meisten Stammgäste, fast alle Tische waren noch unbesetzt, aber schon mit „Reserviert“-Schildchen versehen.
„Herr Mondrian, wie schön, dass Sie mal wieder vorbeischauen.“
Robert musste lächeln. Er kam alle paar Tage zum Essen hierher, aber der Wirt begrüßte ihn jedes Mal, als habe er sich monatelang nicht blicken lassen.
„Was darf ich Ihnen bringen? Einen Primitivo, wie immer?“
Robert nickte.
„Und heute vielleicht mal etwas Leichtes, etwas ganz Bekömmliches? Ich habe ein ganz neues Rezept, ganz ohne Käse und Sahne und …“
„Ihr Vater hat mir gerade davon vorgeschwärmt.“
Linos Gesicht verzog sich zu einer säuerlichen Miene.
„Verstehe. Dann doch lieber Tagliatelle al ragù?“
„Sehr gern, und vorneweg einen kleinen Salat.“
Lino wand sich ein wenig.
„Der Haussalat, den Sie sonst immer nehmen, steht jetzt ohne Thunfisch auf der Karte. Meine Freundin hat mir das erklärt, und ich fürchte …“
„Da hat sie recht, den nehme ich dann also ohne Thunfisch. Aber Ihr wunderbares Dressing mit Joghurt und Sahne …“
„Gibt es natürlich“, versicherte Lino Fontana eilig. Dann räusperte er sich und fügte etwas leiser hinzu: „Noch.“
„Das freut mich“, sagte Robert und bemühte sich, ernst zu bleiben.
Der Wirt schien seine Speisekarte nicht ganz aus freien Stücken etwas veganer zu gestalten, und offenbar leistete er den Wünschen seiner Freundin in manchen Details noch Widerstand.
Die Nudeln mit Hackfleischsoße waren jedenfalls so lecker wie immer, die Atmosphäre im Ristorante, das sich allmählich füllte, war angenehm wie gewohnt, und als Robert sich nach dem Zahlen erhob, den Geschmack des würzigen Espresso noch auf den Lippen, waren fast zwei Stunden wie im Flug vergangen. Er schob seinen Stuhl näher an den Tisch und wandte sich gerade zum Gehen, da war plötzlich eine erregte Unterhaltung aus der Küche zu hören. Dann schoss eine sehr attraktive Frau in den Gastraum, schwer beladen mit Essen in mehreren Behältern, und flitzte grußlos an den Gästen vorbei. Sie schob mit der Hüfte die Eingangstür auf und eilte über den Marktplatz davon. Während Robert den Abgang der Frau verfolgte, kam Lino aus der Küche und blieb neben ihm stehen. Er wirkte unglücklich, und es war ihm sichtlich peinlich, dass seine Gäste die kurze Szene mitbekommen hatten.
„Ihre Freundin?“, fragte Robert.
„Ja. Sie hat viel Temperament, das gefällt mir eigentlich, aber …“
„Ach, das wird sich schon wieder einrenken.“
„Hoffentlich. Allerdings finde ich es nicht gut, dass sie ständig Essen zu ihren Freunden trägt. Wissen Sie, Herr Mondrian, Stammgäste wie Sie lade ich gern einmal ein, aber von diesen Leuten habe ich noch nie auch nur einen hier im Lokal gesehen.“
Robert war noch nie von ihm eingeladen worden, und genau in diesem Moment fiel ihm ein, dass der Wirt ihm heute auch keinen Grappa spendiert hatte.
„Kennen Sie die Freunde denn?“, fragte er, anstatt Lino Fontana darauf hinzuweisen.
„Nur vom Hörensagen. Hier waren sie ja noch nie, wie gesagt. Aber jedes Mal, wenn Maren sich mit ihnen zu einer Besprechung trifft, schleppt sie hier die Gerichte nur so raus. Ich meine, ich muss schließlich auch von irgendetwas Strom und Heizung bezahlen, nicht wahr?“
Miete musste er nicht bezahlen, das Haus gehörte der Familie seit Jahren. Und auch sonst musste sich niemand um die Fontanas Sorgen machen. Soweit Robert wusste, hatten sie ihre Gewinne klug investiert und von den Erträgen die eine oder andere Wohnung gekauft. Aber Lino hatte offenbar sehr gut die erste Kaufmannsregel verinnerlicht: Lerne klagen, ohne zu leiden. Doch so aufgewühlt der Wirt war, plapperte er einfach weiter.
„Immerhin nimmt sie nicht das teure Fleisch. Das war alles vegan, was sie mitgenommen hat.“
„Ach, dann geht’s in den Besprechungen um den veganen Brunch, der bald auch in Remslingen angeboten werden soll? Davon habe ich mal gehört, das stößt sicher auf einiges Interesse.“
Lino Fontana winkte genervt ab. Die Tür zum Ristorante wurde geöffnet, Linos Vater schlenderte herein, klopfte seine Pfeife an einem Aschenbecher aus, der am Rand des Tresens stand, nestelte eine Packung mit Tabak auf und füllte den Pfeifenkopf neu. Er konzentrierte sich sehr auf diese Tätigkeit, aber es war ihm anzusehen, dass er die Ohren spitzte, um nur ja kein Wort der Unterhaltung seines Sohnes mit dem signor libraio zu verpassen.
„Veganer Brunch … Blödsinn“, schimpfte Lino, der gar nicht darauf achtete, dass sein Vater in Hörweite war. „Das sind militante Tierschützer, und darüber, worum es in diesen Besprechungen geht, verrät mir Maren kein Wort. Ich hoffe nur, dass sie sich nicht in Schwierigkeiten bringt.“
Militante Tierschützer? Robert fragte sich, ob das etwas mit den verschwundenen Haustieren zu tun haben könnte, also versuchte er, das Gespräch am Laufen zu halten.
„Welche Schwierigkeiten meinen Sie denn?“
„Was weiß ich, aber man liest das doch überall. Diese Aktivisten sind nicht mehr damit zufrieden, demonstrieren zu gehen. Da klebt man sich auf die Straße oder wirft Kartoffelbrei auf berühmte Gemälde.“
Er schüttelte sich. Unfug mit Lebensmitteln war für ihn offensichtlich eine Vorstellung, die er nur schwer ertrug.
„Und so etwas hat Ihre Freundin vor?“
„Hoffentlich nicht. Wie gesagt, sie erzählt mir nicht, worum es in diesen Besprechungen geht.“
„Wissen Sie, wo sich die Gruppe trifft?“
Lino war so in Fahrt, dass er Roberts Frage beantwortete, bevor sie ihn hätte misstrauisch machen können.
„Nicht weit von hier. Nur ein Stück die Kurze Straße runter, bis zu der schmalen Gasse, die zum Bädertörle führt. Dort wohnt einer aus der Gruppe, in seinem Wohnzimmer baldowern sie Gott weiß was aus.“
Linos Blick flackerte.
„Und wenn Maren dann spätabends nach Hause kommt, ist sie oft so aufgewühlt, dass gar nichts mehr …“
Er räusperte sich, warf Robert einen kurzen Blick zu und wurde ein wenig rot.
„Gut, Herr Mondrian, ich muss dann auch wieder weitermachen. War schön, dass Sie hier waren. Bis bald.“
Er drehte sich um, machte ein paar Schritte, blieb stehen, dachte kurz nach und wandte sich wieder Robert zu.
„Ach, da rede ich vorhin noch davon, dass ich Stammgäste gern auch mal einlade – und dann habe ich Ihnen noch nicht mal einen Grappa angeboten!“
Er lachte nervös und machte Anstalten, hinter den Tresen zu eilen. Da stoppte ihn sein Vater.
„Geh du mal in die Küche und sag dem Koch, er muss jetzt nicht mehr an Fleisch und Speck sparen – die Tofuprinzessin ist ja gerade nicht da.“
Lino holte scharf Luft, aber bevor er noch etwas erwidern konnte, wedelte Pasquale unleidig mit der Hand.
„Avanti, avanti, den Grappa für il signor libraio kann auch ich einschenken.“
Grinsend schaute der Alte seinem Sohn hinterher, bis der in der Küche verschwunden war, dann wandte er sich an Robert.
„Gehen Sie doch schon mal raus, ich komme gleich mit dem Grappa nach.“
Robert zog sich einen freien Stuhl zu dem kleinen Tisch, an dem Fontana senior Hof hielt, und als der Patron sich ihm gegenübersetzte, hatte er die Pfeife im Mund, eine Flasche Grappa in der einen Hand und zwei nicht besonders kleine Gläser in der anderen. Ächzend ließ er sich auf seinen Stuhl sinken, danach schenkte er großzügig ein.
„Salute!“, knarzte Pasquale Fontana und prostete seinem Gast zu.
„So geht das zwei-, dreimal die Woche“, erzählte der Alte. „Sie lässt den Koch veganes Zeug zubereiten, verpackt dann alles und trägt es zu ihren seltsamen Freunden. Stellen Sie sich vor, signor libraio, die essen kein Fleisch und keinen Fisch, da kommt kein Käse an die Nudeln und keine Sahne – muss ich noch mehr sagen? Womöglich trinken sie nicht einmal Alkohol!“
Fontana senior war ehrlich entsetzt, auch der zweite Schluck Grappa konnte ihn nicht wirklich beruhigen.
„Ich bin der Freundin meines Sohnes mal nachgegangen. Man will ja wissen, wo sie sich herumtreibt. Nicht aus Neugier, naturalmente, aber am Ende bringt sie noch meinen Sohn in Schwierigkeiten. Wissen Sie, der ist total verliebt in das Mädchen. Gut sieht sie ja aus, und sie hat auch ordentlich Feuer unterm Hintern – woher immer sie das nimmt, da sie doch kein Fleisch isst. Aber sie ist halt auch etwas launisch, und wer etwas gegen ihre Essgewohnheiten sagt, dem gibt sie sofort ziemlich frech raus. Nachdem sie versucht hat, mir die Ravioli auszureden, die wir seit jeher nach dem Rezept meiner nonna, Gott habe sie selig, zubereiten, habe ich ihr untersagt, mit mir über unsere Speisekarte zu sprechen. Aber was soll ich machen? Mein Lino ist wie Butter in den Händen dieser Frau.“
Er lachte heiser und griff erneut zum Glas.
„Ich sollte wohl besser sagen: wie Margarine.“
Pasquale Fontana kicherte.
„Einmal habe ich ihr einen Artikel gezeigt, den ich im Internet gefunden und extra für sie ausgedruckt hatte. Da wurde beschrieben, welche tierischen Produkte in vielen Margarinen mit drin sind. Hat ihr nicht gefallen, das kann ich Ihnen sagen.“
Ein dritter Schluck, dann füllte der Alte das Glas erneut.
„Kennen Sie jemanden von diesen Aktivisten?“, fragte Robert.
„Nicht persönlich, aber die eine nennt sich Gaba und singt in einem Gospelchor. Außerdem ist sie Sängerin in einer christlichen Heavy-Metal-Band, die hatten mal einen Auftritt während des Altstadtfests. Nichts für mich, muss ich zugeben. Wenn jemand so laut kreischend von Gott und vom Paradies singt, kann man schon mal vom Glauben abfallen.“
Er grinste.
„Dann gibt es noch den Tillmann Stepaniak, in dessen Elternhaus sich die Gruppe trifft. Ein fürchterlich verbohrter junger Mann, dabei hat er so nette Eltern. Die beiden kommen immer mal wieder zu uns, bestellen einen schönen Fisch oder ein Steak – wie ein Junge mit solchen Wurzeln so missraten kann, ist mir wirklich ein Rätsel. Der Vater ist nicht mehr so gut zu Fuß, deshalb haben sie sich am Rand der Altstadt eine Wohnung gekauft, die sie mit dem Aufzug erreichen können. Tillmann hat das Elternhaus übernommen und im Erdgeschoss ein Parteibüro, einen Seminarraum und eine Showküche eingerichtet.“
„Ein Parteibüro?“
„Ja, er ist Kreisvorsitzender einer Tierschutzpartei, deren Name mir gerade nicht einfällt. Der steht aber auf einem Schild neben der Haustür. Und in die Showküche lädt er Köche aus der Veganerszene ein, und dort bringen die dann den Kursteilnehmern bei, wie man ohne Butter, Fleisch und Milch kocht.“
Er schüttelte den Kopf und tröstete sich mit dem nächsten Schluck Grappa. Dann schaute Pasquale Fontana an Robert vorbei zum Marktplatz, und als Robert sich umdrehte, um seinem Blick zu folgen, sah er Kommissar Klaus Neher näher kommen.
„Was für eine Idylle“, sagte Neher ohne Begrüßung und nickte grinsend zu der Schnapsflasche hin.
„Nehmen Sie sich einen Stuhl“, lud der Alte ihn ein. „Ich hole gleich noch ein Glas.“
„Nein danke, und gegessen habe ich auch schon“, erwiderte Neher. „Ich würde Ihnen gern Ihren Gast entführen, wenn Sie gestatten.“
„Ah, wieder ein Kriminalfall, in dem Sie ihn um Hilfe bitten?“
Pasquale Fontana musterte den Kripobeamten, und seine Augen blitzten dabei so auffällig, dass Neher lachen musste.
„Nein, da muss ich Sie diesmal enttäuschen, Signor Fontana. Heute Abend habe ich nur ein Bier mit einem Freund im Sinn. Kommst du, Robert?“
Mondrian leerte sein Glas, bedankte sich für den spendierten Grappa und machte sich mit Neher auf den Weg zu Richies Scottish Pub.
Nach einigen Metern kamen sie zu dem Haus, in dem Fontanas Angaben zufolge die Besprechung stattfand, die Linos Freundin Maren mit veganen Speisen versorgt hatte. Robert blieb kurz stehen und ließ seinen Blick über die Fenster im ersten Stock schweifen.
„Was ist denn?“
Neher hatte ebenfalls nach oben geschaut. Aus zwei Fenstern drang warmes Licht, dahinter befand sich vermutlich das Wohnzimmer, in dem sich die Gruppe traf. Aber es war hinter den Scheiben keine Bewegung zu erkennen.
„Erzähl ich dir bei Richie.“
„Genau, ein Bericht zu kühlem Bier ist genau das, was mir im Moment vorschwebt.“
„Wenn es in meinem Fall heute auch ein Sprudel sein darf, wäre mir das lieber.“
Lachend erreichten sie den Pub, sie drängten sich durch die eng beieinanderstehenden Gäste und hatten Glück: Gerade standen zwei Männer auf und gaben Barhocker frei. Sie hatten kaum ihre Getränke bestellt, da warf Pubbesitzer Richie McCafferty einen kurzen Blick auf die Wanduhr über der Tür, die zu den Toiletten führte. Die nächsten Griffe galten dem CD-Spieler und dem Lautstärkeregler, und schon donnerte wie zu jeder vollen Stunde ein Song der schottischen Hardrockband Nazareth ohrenbetäubend durch die Gaststube.
Klaus Neher und Robert Mondrian kannten das Ritual wie alle Stammgäste, und sie wussten, dass Richie damit der Rockgruppe seine Reverenz erwies, die in seiner Heimatstadt Dunfermline gegründet worden war. Wieder einmal nahm sich Robert vor, Richie danach zu fragen, ob er mit dem Sänger der Gruppe verwandt war, schließlich trugen sie denselben Nachnamen. Doch der Song war so laut aufgedreht, dass kaum ein Gedanke gefasst und schon gar keiner behalten werden konnte.
Und so warteten alle einfach, bis der Song verklungen und die Musik wieder sanfter und vor allem leiser geworden war. Nun setzten die Gespräche wieder ein, und Robert brachte Klaus Neher auf den neuesten Stand, was Lino Fontanas vegane Freundin und ihre Freunde anging.
„Sag bloß, du recherchierst in dieser seltsamen Geschichte mit den verschwundenen Haustieren!“, rief Neher verblüfft aus.
„Nein, nein, das überlasse ich lieber meinem Mitarbeiter. Alfons ist Feuer und Flamme für diese Geschichte. Er ist überzeugt, dass die Tiere entführt wurden, und es scheint ja auch einiges dafür zu sprechen.“
„Die blutigen Teppichflicken, ich weiß. Übrigens Stücke, die vermutlich aus demselben Flokati zugeschnitten wurden. Die Schnittkanten passen zueinander.“
„Flokati? Sind das nicht richtig teure Teppiche?“
„Die echten schon. Schurwolle, geknüpft in Griechenland und so weiter. Aber wir sprechen hier von einem günstigen Imitat aus Polyester, das immerhin recht schön gearbeitet ist. Aber im Internet bekommst du so einen Teppich in der Größe ein auf eineinhalb Meter für fünfunddreißig Euro.“
„Warum habt ihr dem pensionierten Staatsanwalt denn den Gefallen nicht getan, den Flokati-Flicken und das Blut im Labor untersuchen zu lassen?“
Neher seufzte und nahm einen großen Schluck Bier.
„An mir wäre es nicht gescheitert, aber zu Mord und Totschlag ist er wegen seiner verschwundenen Töle ja wenigstens nicht gleich gekommen“, versetzte er mit einem traurigen Lächeln. „Weißt du, der alte Jäckel hat sich zu seiner Zeit als Oberstaatsanwalt nicht viele Freunde in der Direktion gemacht. Und wegen seines Hundes ist er den Kollegen auch nicht besonders feinfühlig gegenübergetreten. Der hat ziemlich auf dicke Hose gemacht, hat auf seine angeblich so guten Beziehungen gepocht. Da haben die halt auf stur geschaltet.“
„Inzwischen hat er das Blut auf dem Flokati selbst in ein Labor gegeben.“
„Das hätte ich an seiner Stelle auch gemacht. Jäckel hat wohl nicht nur bei der Polizei keine Freunde, er ist auch in seiner Nachbarschaft als ziemlicher Stinkstiefel verrufen. So wurde es mit der Zeit eben sehr einsam um ihn, da ist der Verlust seines Hundes ein harter Schlag. Mir tut er leid, aber das muss ich den Kollegen gegenüber für mich behalten. Die machen sich über den alten Mann eher lustig, und nicht wenige gönnen es ihm, dass nun auch noch gewissermaßen sein letzter Freund weg ist.“
„Eigentlich ziemlich billig, ihn dafür auszulachen.“
„Finde ich auch. Aber Jäckel ist keiner, den man mögen muss. Und unter meinen Kollegen haben manche wohl noch eine alte Rechnung mit ihm offen. Es menschelt auch bei der Polizei, weißt du?“
Robert nickte und stieß mit Neher an. Der Kommissar trank, stellte das Glas ab und starrte dann schweigend auf sein Bier.
„Eine Kollegin ist übrigens auch in diese Geschichte verwickelt“, sagte er nach einer kurzen Pause.
„Inwiefern?“, fragte Robert, obwohl er ahnte, was Neher meinte.
„Eine Kommissarin aus meiner Inspektion ist die Frau, deren Hauskatze verschwunden ist.“
Robert blinzelte, und Neher verstand seine Reaktion falsch.
„Tja, es menschelt wirklich bei uns, auch im Hinblick auf Haustiere.“
„Woher weißt du das? In der Zeitung wurde ihr Name bisher nicht erwähnt. Hat es dir die Kollegin erzählt?“
„Nein, sie wird sich hüten. Nicht einmal ich spreche ja laut aus, dass ich die Scherze über Jäckel nicht gut finde. Und die Kollegin ist noch recht neu in Remslingen, die will natürlich noch weniger, dass jemand sie in Verbindung mit dem pensionierten Staatsanwalt bringt.“
„Und wie hast du es dann erfahren?“
„Sie hatte am Anfang ab und zu von ihrer Rassekatze erzählt, hatte auch gefragt, ob wir ihr einen guten Tierarzt empfehlen können. Zuletzt hat sie das Tier nicht mehr erwähnt, sie richtet Dienstfahrten so ein, dass sie zwischendurch immer mal wieder etwas privat erledigen kann. Und einmal habe ich sie zufällig in der Nähe von Jäckels Haus gesehen. Was soll ich sagen? Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und habe sie ein paar Minuten lang im Auge behalten – und gesehen, wie sie zu Jäckel ging.“
Robert lächelte.
„Du liegst übrigens vollkommen richtig“, sagte er. „Alfons hat heute mit den beiden Tierbesitzern gesprochen – deine Kollegin Hanna Lier war ebenfalls dabei.“
Neher nickte nachdenklich.
„Eigentlich traurig, dass sie sich deinem Mitarbeiter anvertraut, aber nicht mir als ihrem Vorgesetzten.“
„Alfons musste ihr versprechen, ihren Namen keinem der Kollegen zu verraten. Es ist ihr wohl nicht leichtgefallen, mit ihm über das Verschwinden ihrer Katze zu reden. Sie hat sie nach einer norwegischen Krimifigur benannt – was für eine Norwegische Waldkatze ja keine schlechte Idee ist. Jäckels Hund heißt Poirot, und als Alfons von seinen Kakadus Sherlock und Watson erzählte, hatten die drei gleich einen guten Draht zueinander.“
Nazareth platzten mit dem nächsten Song brachial in die Unterhaltung. Die beiden Männer warteten den Schlussakkord ab, und bevor die schottische Rockband eine Stunde später wieder an der Reihe war, sahen sie zu, dass sie Richies Pub den Rücken kehrten.
Klaus Neher hatte sich verabschiedet und eilte davon, um noch zu Hause einzutreffen, bevor seine Frau ins Bett ging. Robert hatte es nicht so eilig und schlenderte die Kurze Straße hinauf. Einige Nachtschwärmer waren unterwegs, zwei Autos kamen im Schritttempo vom Marktplatz herunter, und die Tür des Elternhauses von Tillmann Stepaniak schwang auf. Robert näherte sich dem Gebäude gerade so weit, dass er die Frauen und Männer, die jetzt auf die Straße traten, sehen und beiläufig beobachten konnte, ohne der Gruppe aufzufallen. Lino Fontanas Freundin umarmte die anderen und machte sich dann auf den Weg zum Ristorante. Der Rest der Gruppe zerstreute sich in alle Richtungen, und die beiden Frauen, die ein paar Meter an Robert vorbei in Richtung Beinsteiner Tor gingen, waren nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. Immerhin schien Pasquale Fontanas Befürchtung, die Aktivisten würden womöglich auch keinen Alkohol trinken, unbegründet.
Der junge Mann, der noch kurz in der Haustür stehen blieb und den anderen nachschaute, war schlank, fast schon hager. Er trug seine dunkelblonden Haare knapp schulterlang und hatte sie seitlich gescheitelt. Schließlich ging er ins Haus zurück, zog die Tür hinter sich zu, und als das Licht im Treppenhaus erlosch, sah man ihn oben hinter den erleuchteten Fenstern hin- und hergehen. Vermutlich räumte er Gläser und Geschirr weg. Robert wartete, und als er im ersten Stock des Hauses keine Bewegung mehr wahrnahm, überquerte er die Kurze Straße und ging zu Stepaniaks Elternhaus.
Neben der Eingangstür waren zwei Metallschilder angebracht. Auf einem stand „Stepaniak – Beratung für ein richtiges Leben“, auf dem anderen „FTP – Freie Tiere Partei“. Das Parteischild trug am unteren Ende noch ein Wappen, das die Silhouetten mehrerer Tiere zu einem Logo stilisierte, darunter las Robert: „Member of IFoA – International Friends of Animals“.
Der Marktplatz leerte sich zusehends, Lino Fontana stand in der Tür seines Lokals und winkte Robert zu, und oben unter dem Dach schwang ein Fenster auf. Dort nahm Linos Vater nun wohl seinen Beobachtungsposten ein, für den ihm Frau Heberle die Anschaffung eines kleinen Fernglases empfohlen hatte.
Robert musste lächeln, und er lächelte noch, als er sein Haus betrat. Eigentlich hätte er jetzt doch noch Lust auf ein Glas Wein gehabt, aber er war zu müde. Kurz darauf schlüpfte er unter die Bettdecke, da fiel ihm Alfons ein, den er mit seiner Bemerkung zu den Namen der gesuchten Haustiere unnötig beunruhigt hatte. Natürlich hatte er auch seinen beiden Kakadus Namen gegeben, die aus Kriminalromanen stammten, aber dass ausgerechnet ein Poirot und ein Wisting verschwunden waren, war ganz sicher nur ein seltsamer Zufall. Gleich morgen früh würde er mit seinem Mitarbeiter sprechen, bis Alfons sich auch wirklich keine Sorgen mehr machte.
Dann fiel ihm ein, dass er morgen endlich seine Freundin Selina wiedersehen würde, die nach einem mehrtägigen Besuch bei ihren Eltern nach Remslingen zurückkehrte. Im nächsten Moment waren Alfons und seine Vögel vergessen, und Robert schlief mit schönen Gedanken ein.
Wer die bisherigen Bände der Krimis um meinen etwas speziellen Buchhändler gelesen hat, weiß es schon: In jedem der Bücher sind Hinweise auf den jeweiligen literarischen Bezug versteckt, mal mehr, mal weniger auffällig. Auch die Zahl der Kapitel ist ein solcher Hinweis: Sieben waren es in Schneewittchen und die sieben Särge, vierzehn in Sein oder Totsein (die Zahl der Zeilen in Shakespeares Sonetten) und neun in Frodo war’s nicht (so viele Ringe der Macht ließ Sauron von den Elben für die Menschenfürsten schmieden).
Diesmal sind es elf Kapitel, passend zur Zahl der Kurzgeschichten in der Anthologie The Memoirs of Sherlock Holmes – dort findet sich die Erzählung The Final Problem, in der Arthur Conan Doyle seinen genialen Detektiv am 3. Mai 1891 im Kampf mit Professor Moriarty in den Tod stürzen ließ. In den vermeintlichen Tod, denn Doyle ließ seinen Helden 1905 wiederauferstehen – wegen neuer Ideen und lukrativer Verlagsangebote.
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