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RestwärmeRestwärme

Restwärme

Kerstin Preiwuß
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Roman

„Umso kraftvoller wirken die knappen, lakonischen Dialoge, die Preiwuß immer wieder einschiebt, sowie die zahlreichen Natur-Metaphern. Ähnlich wie der verrätselte Titel "Restwärme" sind sie anspielungsreich, aber nicht eindeutig zu entschlüsseln. Es brodelt unter ihrer Oberfläche.“ - SPIEGEL online

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Restwärme — Inhalt

Mariannes Vater ist gestorben. Aus ihrer eigenen, erwachsenen Existenz kehrt die junge Geologin dahin zurück, wo Mutter und Bruder noch leben, in ein altes Haus am See, tief in der mecklenburgischen Provinz. Nur ein paar Tage will sie bleiben, bis nach der Beerdigung. Doch was sie glaubte, lange hinter sich gelassen zu haben, holt sie wieder ein. Eine Familiengeschichte voller stummer Tragödien. Ihr Vater war ein gebrochener Tyrann, ihre Mutter duldete und schwieg. Schicht um Schicht trägt Marianne ab. Zum Vorschein kommt, wie Verletzungen durch Krieg und Unfreiheit persönliche Schicksale prägen. Kerstin Preiwuß lässt dabei nicht der Bitterkeit das letzte Wort. Mit großem Verständnis für das menschliche Drama erzählt sie von Verletzungen, die Generationen überdauern. Ein Debüt wie lange nicht – sprachmächtig, klug und mit nachhallenden Bildern.

€ 18,99 [D], € 19,60 [A]
Erschienen am 14.07.2014
224 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-8270-1231-9
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€ 14,99 [D], € 14,99 [A]
Erschienen am 14.07.2014
240 Seiten, WMePub
EAN 978-3-8270-7750-9
Download Cover
„Kerstin Preiwuß zwingt ihre Leser genau hinzuschauen, in eine Seelenlandschaft, deren Archaik sie in eine verstörende Schönheit übersetzt hat.“
Deutschlandfunk "Büchermarkt"
„Ein ganz feines Sensorium stellt Preiwuß hier unter Beweis, das sie gekonnt in eine abgekochte, leicht angestaubte Sprache überführt, die wie an diesem aus der Zeit gefallenen Flecken Mecklenburgs wiedergefunden scheint.“
taz
„Ihrer bildreichen und exakten Sprache merkt man an, dass die Autorin zuvor Lyrik schrieb.“
Vogue
„Die Geschichte, die Preiwuß erzählt, ist keine ungewöhnliche. Interessant wird sie durch das untrügliche Gespür der Autorin für Stimmungen und die Präzision ihrer Beschreibungen. [...] Ein weites, melancholisches Buch. Kerstin Preiwuß' Sprache ist präzise und von großer Schönheit.“
Bücher
„In ihrer makellosen Prosa erzählt Kerstin Preiwuß in ihrem Romandebüt "Restwärme" von alten Verletzungen und kaum verheilten Wunden. Aber auch von Mariannes festem Willen, sich nicht in die Reihe der vielen durch Krieg und DDR-Regime Geschlagenen einzugliedern.“
Brigitte

Leseprobe zu „Restwärme“

Der Flug war ohne Zwischenfälle verlaufen. Sie hatte Lufthansa gebucht, obwohl die teurer waren, weil noch nie eine Maschine der Lufthansa abgestürzt war. Neben ihr saß ein Elternpaar mit Baby, und kein Flugzeug, in dem ein Baby mitflog, würde abstürzen, so etwas passierte einfach nicht. Das Kleine wurde abwechselnd von Vater und Mutter auf den Arm genommen, je nachdem, zu wem es sich drehte. Dabei brabbelte es vor sich hin. Es hatte die ganze Startphase über geschrien, bis seine wenigen Haare nass am Kopf klebten, sich durchgebogen und immer wieder [...]

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Der Flug war ohne Zwischenfälle verlaufen. Sie hatte Lufthansa gebucht, obwohl die teurer waren, weil noch nie eine Maschine der Lufthansa abgestürzt war. Neben ihr saß ein Elternpaar mit Baby, und kein Flugzeug, in dem ein Baby mitflog, würde abstürzen, so etwas passierte einfach nicht. Das Kleine wurde abwechselnd von Vater und Mutter auf den Arm genommen, je nachdem, zu wem es sich drehte. Dabei brabbelte es vor sich hin. Es hatte die ganze Startphase über geschrien, bis seine wenigen Haare nass am Kopf klebten, sich durchgebogen und immer wieder zurückgeworfen, sodass seine Eltern es kaum halten konnten. Die Ohren, sagte seine Mutter entschuldigend zu ihr, es tut ihm in den Ohren weh.

Sie konnte das Baby verstehen, denn obwohl es während des Flugs keine Turbulenzen gegeben hatte, war sie nassgeschwitzt. Der Schweiß war ihr ausgebrochen, nachdem die Flugbegleiterin zwei junge Männer in der Reihe hinter ihr gebeten hatte, sich leiser zu unterhalten, sie würden die anderen Passagiere stören. Die beiden warteten, bis die Frau weitergegangen war, dann fuhren sie lautstark mit ihrer Unterhaltung über Filme fort, in denen Flugzeuge abstürzten. Sie drehte sich um und starrte die Männer an, aber es änderte nichts, die beiden animierten sich gegenseitig mit Begeisterungslauten zu immer neuen Details. Lautlos wünschte sie ihnen Impotenz wegen zu hoher Strahlenbelastung und drehte sich wieder zurück. Mit der Wut kam der Schweiß, er nässte bereits unter ihren Achseln, es juckte, als würden kleine Nadeln von innen durch die Haut stoßen. Um sich vom Kratzen abzuhalten, presste sie die Hände gegen die Oberschenkel. Es kam vor, dass sie allergisch auf ihren eigenen Schweiß reagierte, selten zwar, aber es war schon passiert, in jedem Fall machte es ihr das Leben nicht einfacher, bei Vorstellungsgesprächen etwa oder bei Verabredungen. Sie hatte darum alle erdenklichen Entspannungsübungen gelernt und war mit Bachblüten, Yoga und autogenem Training vertraut. Die Kombination von Bachblütentropfen und autogenem Training half normalerweise gut, nur beim Fliegen versagte jedes Mittel.

Sie befahl sich, an etwas anderes zu denken. Mutter hatte sie noch am späten Abend angerufen. In ihrer Stimme hatte ein Unterton gelegen, der sie, obwohl sie schon im Bett lag, schlagartig munter machte. Mutter rief sonst nie an. Sie hatte die Bettdecke beiseitegeschoben, war mit dem Telefon ins Bad gegangen und hatte sich auf die Toilette gesetzt. Dort war es am kühlsten. Das Gespräch war kurz. Sie sagte, sie werde kommen, und legte auf, ohne die Antwort abzuwarten. Danach blieb sie sitzen, das Telefon in der Hand. Obwohl sie kaum etwas gesagt hatte, war sie erschöpft. Der Schweiß sammelte sich zwischen ihren Brüsten, aber das konnte auch an der hohen Luftfeuchtigkeit liegen, selbst in den Nächten kühlte die Luft hier nicht ab. Ihre Knappheit am Telefon war eine Flucht nach vorn gewesen, in ihrer Vorstellung behielt auch Mutter den Hörer in der Hand.

Die beiden Männer gingen noch bis kurz vor dem Landeanfl ug sämtliche ihnen bekannten Katastrophenfilme durch, erst dann wurden sie ruhiger. Sofort nachdem das Flugzeug still stand, brach in der Kabine eine geschäftige Hast aus, alle griffen nach ihren Taschen und drängten aus der Maschine. Sie stand auf, um die Familie mit dem Baby durchzulassen. Die Hose klebte ihr an den Beinen, und dort, wo sie gesessen hatte, glänzte das Leder. Unauffällig löste sie den Stoff von der Haut, nahm ihre Reisetasche und ging zum Ausstieg.

Die Wohnung machte einen vernünftigen Eindruck. Ein paar Teller mit angetrockneten Resten standen in der Küche neben benutzten Gläsern und einer halben Pizza, die eingesunken in ihrem Pappkarton lag, aber das war in Ordnung. Normalerweise räumte Marie alles weg, bevor sie wiederkam. Sie ging weiter bis zum Zimmer ihrer Tochter und öffnete die Tür. An den Wänden hingen Poster einer Boy-band. Ganz oben auf dem Regal stand eine Lavalampe, in der träge Blasen schwebten. Das Bett war nicht gemacht, und auf dem Boden lagen die Sachen, die sie gestern getragen haben musste. Das weiße Trägerhemd war viel zu kurz, um die Nieren zu bedecken. Bei dem Wetter würde sie sich erkälten.

Sie riss ein Blatt aus einem der Collegeblöcke auf Maries Schreibtisch und zog die Tür wieder hinter sich zu. Marie mochte es nicht, wenn sie heimlich in ihr Zimmer ging. Sie wiederum hatte etwas dagegen, dass ihre Tochter sich zu dünn anzog. In gewisser Hinsicht waren sie also quitt.

Mit dem Blatt setzte sie sich in die Küche und schrieb einen kurzen Brief, in dem sie erklärte, dass sie zwar früher zurückgekehrt, aber schon wieder unterwegs war. Bereits beim zweiten Satz geriet sie ins Stocken. Sie setzte an, strich durch, setzte erneut an, bis die Wörter schwarz übermalt waren. Dann zerknüllte sie das Blatt und warf es in den Müll, nur um es gleich wieder herauszuholen und in ihre Hosentasche zu stecken. Es war besser, Marie erfuhr nichts davon. Sie hatten abgemacht, dass sie zum Schlafen zu einer Freundin ging. Marie war es gewohnt, häufi ger dort zu übernachten, während sie für die Arbeitstreffen in Neapel war. Das war eine stille Übereinkunft zwischen ihnen und es funktionierte gut.

Sie ging in den Flur zurück, schulterte ihre Tasche, ohne noch einmal hineinzuschauen, und verließ die Wohnung.


Die Fahrt dauerte drei Stunden auf einer Strecke, für die man eigentlich die Hälfte der Zeit brauchte, aber der Zug hielt alle zehn Minuten. Manchmal waren es nur Behelfsbahnhöfe. Sie war gleich nach oben gegangen und hatte sich einen freien Vierersitz gesucht, sie konnte nur in Fahrtrichtung sitzen, ander nfalls wurde ihr schlecht. In Fahr trichtung zu sitzen war die einzige Sicherheit, die ihr das Fliegen bot. Ansonsten gab es nur Nachteile, vor allem konnte man sich nicht aussuchen, wo und neben wem man saß, oder den Platz wechseln, wenn einem der Sitznachbar nicht passte.

Nach dem nächsten Halt ging ein Mann an ihr vorbei, sah auf die Tasche, die sie auf den gegenüberliegenden Sitz geworfen hatte, und fragte, ob der Platz noch frei sei. Sie zuckte zusammen, als wäre er zu nah an sie herangetreten, und war zugleich von sich selbst peinlich berührt. Die meisten Doppelsitze waren belegt, es war also nur eine Frage der Zeit, bis sich jemand zu ihr setzen würde. Sie zog die Tasche weg. Der Mann nahm den Platz schräg gegenüber, seine Knie stießen dabei fast an ihre Beine, sodass sie die Füße einzog, um nicht unhöflich zu wirken. Sie musterte sein Spiegelbild in der Fensterscheibe. Er war schon alt. Auf dem Kopf trug er eine jeansfarbene Schirmmütze, an der rechts über dem Ohr mit einer Sicherheitsnadel drei Federn eines Eichelhähers befestigt waren. Es waren die Schmuckfedern, die es nur an den Flügeln gab.

Sie lehnte den Kopf gegen die Scheibe. Der Wind zog durch die Ritzen und ließ sie frösteln, obwohl es Juni war. Berlin hatte sie mit empfindlicher Kühle und Regen begrüßt. Ihre Hose hatte vom Saum her die Nässe aufgesogen und lag wie ein feuchter Lappen um die Knöchel. Ihre Füße waren nackt und steckten in Sandalen. Seit der Landung waren sie kalt.

Langsam dünnten die Vorstädte aus. Man konnte in die Gärten hinter den Häusern schauen. Planschbecken lagen neben umgekippten Dreirädern schlaff im Gras. Stühle lehnten an Plastiktischen, ein paar Obstbäume, ansonsten Gemüsebeete und Rasen. Nur die Zucchinipflanzen waren neu, sie ersetzten nach und nach die Kürbisse auf den Komposthaufen.

In den Mülleimer unter dem Fenster hatte jemand ein Hakenkreuz geritzt. Dahinter zog die Landschaft vorüber. Ein paar Rehe standen am Waldrand wie eine Momentaufnahme. Die Hügel der Endmoräne hatten bereits die K iefer nwälder und ihren sandigen Untergrund abgelöst, sie kam ihrem Ziel also näher. Ab und an war ein See zu sehen, sonst Felder, manche schon am Blühen, die meisten jedoch noch grün. Kuhherden standen ergeben auf durchtränkten Wiesen. Durch den Regen, der jetzt über das Fenster schlierte, waren sie jedoch nur schemenhaft zu erkennen. Das Prasseln war trotz der Zuggeräusche deutlich zu hören, mal stärker, mal schwächer, aber immer da.

Mit dem Zug nach Hause kommen, das hieß, langsamer als langsam sein, einspurig. Warten auf den Gegenzug, kein IC E , nur Regionalbahn und ab und zu ein InterCity. Dafür Rehe, Kraniche, Füchse vielleicht und Natur, ja Natur: sehr schön hier, vierzig Kilometer Nacht waren kein Problem, nur Davonkommen war schwer, man hing so am Land, dass es an einem zog, wenn man es verließ, eine Art Herzschmerz, aber das war nur ein Bild, denn im Bauch saßen wesentlich mehr Nerven. Man musste wohl einen Ort finden für all die widersprüchlichen Gefühle, und da hatte das Herz gewonnen, denn hier ging das arme Blut rein und kam reich wieder raus, während der Magen bloß verschob, was am Ende den Körper verließ, vielleicht war die ganze Heimatsehnsucht nur so etwas wie eine Herzmetapher für den Bauch.

Es war unversehens über sie gekommen. Das Wort Zuhause hatte sich in ihr gebildet, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte. Es passte nicht mehr. Es passte immer noch. Es hing an ihr und ließ nicht los. Eine Umklammerung, die nach außen wie eine Umarmung wirkte, der man den Würgegriff aber nur nicht gleich ansah.

Sie zwang sich, an etwas anderes zu denken. Das Treffen war gut verlaufen, sie hatte vorgearbeitet und konnte bereits einige Auswertungen präsentieren, die den Kollegen in Neapel helfen würden. Sie war stolz auf sich und ihre Arbeit, es bedeutete etwas, Teil einer internationalen Forschungsgruppe zu sein. Es war nicht einfach gewesen in der letzten Zeit, wie so vieles wurde auch ihr Institut wenn nicht abgewickelt, so doch zumindest verschlankt, und sie hatte ihre Chance genutzt. Schon während des Studiums hatte sie sich auf Tektonik spezialisiert und ihre Praktika im Observatorium in Collm absolviert. Dort war es ihre Aufgabe gewesen, sämtliche Erdbeben weltweit zu erfassen und auszuwerten. Es gab fl ache und tiefe Beben, Nah-und Fernbeben, die von Störungen und Atombombenexplosionen zu unterscheiden waren. An manchen Tagen gab es bis zu eintausendfünfhundert Beben. Das waren Schwarmbeben. Sie traten in zehnminütigen Abständen auf und unterschieden sich von den Fernbeben hinsichtlich ihrer Wellenstruktur. Ein Schwarmbeben hatte erst eine kleine Amplitude, bevor es zur großen kam, ein Fernbeben dagegen war niedrig auf den Oberflächenwellen, sein Seismogramm aber wurde mit zunehmender Entfernung immer länger. Fernbeben sandten Wellen, die bis durch den Erdmantel zum Erdkern vordrangen, dort reflektiert wurden und an anderer Stelle wieder an die Oberfläche kamen, bevor sie sich erneut auf den Weg durch die Erde machten. Je stärker das Beben gewesen war, desto mehr Wellen sandte es aus. Man müsse, sagte der Leiter der Station, sich das wie einen Weihnachtsstern vorstellen, der durch einen dreidimensionalen Raum bricht. Nicht jede der Zacken stoße direkt vor ihrer Haustür durch die Erde. Weil die Erde jedoch aus unterschiedlichen Strukturen bestehe, würden am Ende alle Zacken so weit abgebogen, dass sie ihnen stets zu Füßen fielen. Aber der Vesuv, hatten ihre italienischen Kollegen gesagt, ist unberechenbar. Ist wie eine schwangere Frau, die gerade ihr Kind überträgt. Wir können nur messen und immer wieder messen, vorhersagen lässt sich nicht, wann der Ausbruch kommt.

Sie dachte daran, gleich nach ihrer Ankunft Marie anzurufen, entschied sich aber dagegen. Solange sie sich nicht meldete, war alles in Ordnung. Das zu wissen reichte. Sie griff zu dem Buch, das sie für die Reise mitgenommen hatte. Jemand kehrt nach Hause zurück, obwohl niemand es von ihm erwartet hatte. Dennoch begrüßten ihn alle.

Eine Melodie und eine automatische Stimme kündigten den nächsten Halt an. Sie horchte auf. Das Lied hatte sie zuletzt als Kind gehört. Als die Stimme verebbte, erhob sich der Mann, verabschiedete sich knapp und ging zum Ausstieg.


Der Zaun hatte seine Farbe behalten: ein splittriges Grün, unter dessen Abblätterungen das Holz hervorlugte. Er stand schief da mit seinen nach oben zugespitzten Pfählen, als bildete er Palisaden um eine längst verlassene Burg. Beim Öffnen stemmte sich das Tor in den Sandboden, weil das Holz über die Jahre nicht aufgehört hatte zu arbeiten. Holz kam nie zur Ruhe.

Sie beeilte sich. Der Himmel hatte längst seine Struktur verloren, keine Wolke war mehr von einer anderen zu unterscheiden, und es schüttete wie aus Eimern. Der Garten war in ein fahles Zwielicht getaucht, das alle Pflanzen gleich aussehen ließ, ein wildes, fleischiges Wachstum, das sich unbändig in alle Richtungen wand. In den Ritzen des Plattenwegs, der zum Haus hinunterführte, hatte sich Löwenzahn eingenistet, an dessen Blättern braune und schwarze Schnecken klebten.

Das Haus sah aus wie ein Bunker. Bis auf das Dach mit seinen moosbewachsenen roten Schindeln unterschied es sich nicht vom Himmel. Irgendwann würde es in sich zusammenfallen. Das Dach würde erst undicht werden, dann einsacken. Der Wind würde hineinfahren in die durchgelegenen Betten, die Treppe runterrasen und durch das Haus fegen und die Geweihe von der Wohnzimmerwand hebeln, und dann würde der Regen alles durchnässen. Nach ihm würde der Schimmel langsam die Wände entlangwachsen und sich allmählich mit der Luft verbinden, bis aus dem Haus ein feuchter Schwamm geworden war. Selbst wenn man sie dafür aus dem Tiefschlaf holte, könnte sie den Grundriss zeichnen. Eine Zeitschrift suchte immer mal wieder Fotos vom Ende der Welt. Hier bot sich gerade ein gutes Motiv an.

Der Schlüssel lag wie früher in dem verlassenen Vogelhaus. Sie griff aus alter Gewohnheit hinein, nicht weil sie ihn brauchte. Ein Windspiel hing schwer von der Markise, es gab keinen Ton mehr von sich, weil der Bambus sich unter dem Regen so vollgesogen hatte, dass die Luft zwischen den einzelnen Hölzern keinen Spielraum mehr fand. Nur die Tür passte nicht ins Bild, sie war das Neueste am ganzen Haus, eine Konstruktion aus Plastik und Glas mit einem Quer-schlitz als Schlüsselloch. Wenn man sie öffnete, stand man inmitten bunter Bänder, die vom Rahmen herabhingen.

Mutter stand in der Küche, wie immer, den Unterleib an den Herd gepresst, im bunten Kittel, der die Arme frei ließ, und briet etwas in der Pfanne. Sie hatte sie noch nicht bemerkt, also sah sie ihr vom Flur aus zu. Ihre Hände waren so braun, dass die Altersfl ecken kaum auffi elen. Über den Handrücken war die Haut gespannt wie bei einem prall gefüllten Getreidesack. Sie war klein geworden. Ihr Gesicht war von Falten zerfurcht, es sah aus wie eine von den Walnüssen, die sie im Herbst immer aufgesammelt hatte. Die Haare lagen ihr in dünnen, kurzen Strähnen um den Kopf und ließen sie aussehen wie ein Mann. Als Kind hatte sie oft dabei zugesehen, wie sie sich Locken eindrehte, während ihre Füße im Heizschuh steckten.

Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.
Natürlich komme ich.
Dann ist ja gut. Wie lange bleibst du?
Bis alles vorbei ist. Ach, ich bin ja immer allein.
Und Hans?
Der ist unten am See. Kannst ihn holen. Abendbrot ist fertig.

Draußen kroch ihr sofort die Nässe unter die dünne Jacke. Sie ging in den Flur zurück und zog sich den Troyer über, der an der Garderobe hing. Er war zu weit, wärmte aber besser als der Trenchcoat. Eine Wespe kam angefl ogen und umkreiste ihren Kopf. Sie war ungewöhnlich groß, vielleicht eine späte Königin auf der Suche nach einem Ort für das Nest. Wenn man sie nicht tötete, würden ihr Tausende folgen. Sie reagierte allergisch auf Stiche, das hatte sie von Mutter, also machte sie drei schnelle Schritte zur Seite und lief, als die Wespe nicht von ihr ablassen wollte, bis in den Hinterhof, um dem Tier zu entkommen.

Unter der Walnuss stand der alte Schuppen, auf den er so stolz gewesen war: selbst gebaut. Das hieß, Ziegel rüde aufeinandergepackt, bis der Mörtel aus den Ritzen quoll. Dann mit Beton verputzt. Die Tür hing wie ein Fremdkörper an der Vorderseite, sie schloss nicht mehr richtig, sodass der Schuppen offen blieb. Unterm Dach steckten verrostete Äxte und Beile und an der Wand waren Pinsel aufgereiht, alle mit verklebten Borsten. Hinten stand eine Werkbank mit einer Schleifmaschine, vorn steckten Kneifzangen, auf der Arbeitsplatte herrschte heillose Unordnung. In einer Ecke lehnten Fahrräder, deren verrostete Ketten schlaff von den Zahnkränzen hingen. Der Boden war uneben, eine Buckelpiste, die er immer mit der Landschaft verglichen hatte. Eine Sense hing locker an der Wand. Als sie beim Heraustreten die Tür schließen wollte, war es, als käme das Blatt ihr ein Stück entgegen.

Gegenüber lag der Hühnerstall. Früher schliefen hier nachts die Hühner auf den Stangen, nachdem sie den ganzen Tag den Boden aufgescharrt hatten. Immer wenn sie den Hof betrat, um Eier zu holen, hatte sie sich vor dem Hahn in Acht nehmen müssen, der ihr zwischen die Beine fuhr und nach den Adern pickte. Er war schon zu zäh, um ihn noch zu essen, aber sie zählte darauf, dass ihm der Kopf eines Tages wie ein Holzscheit vom Rumpf getrennt würde, was nützte es da, dass der Körper danach noch den Helden spielte und wie wild durch den Hof lief, was nützte ihm da sein Hahnenkamm? Der Kopf wurde vergraben, wie überhaupt alles, was nicht zu verwerten war: Hühnerköpfe, Entenköpfe, alles unterm Apfelbaum: Sommerscheibe, grasgrün mit weißem Fruchtfleisch, der früheste Apfel im Jahr.

Vor dem Hühnerstall stand eine Wäschespinne. In ihrem Netz hingen ein paar Unterhosen aus Baumwolle wie erschlaffte Segel im Regen. Sie trat ein. Anstelle der Tiere waren die Geräte eingezogen. Aufgereiht an der Wand hingen Besen, Harke und Forke. Es roch noch nach Huhn. In der Ecke lehnte das Luftgewehr, mit dem er immer auf Krähen zielte, abdrückte und traf, wenn er nüchtern war. Wenn er besoffen war, erwischte er manchmal ein Huhn, das war, wenn die Diabolos durch den Hinterhof pfiffen. Dieser verdammte Jähzorn, der in der Familie lag.

Auf dem Weg zum Zauntor geriet sie ins Stolpern. Sie suchte die Stelle nach einem Hindernis ab. Aber da war nichts. Kein Ast oder Stein. Nur glatt getretener Boden. Sie stockte, trat dann einen Schritt nach vorn und blieb stehen. Ein kurzer Schwindel, die Welt geriet ins Schwanken, aber sie gab dem Gefühl nicht nach und ging weiter bis zum alten Hundezwinger. Dort hausten jetzt die Kaninchen in aufeinandergestapelten Buchten, die aus ehemaligen Holzkisten zusammengezimmert waren. Sie öffnete das oberste Gatter, nahm etwas Heu von der Schubkarre und hielt es hinein. Die Alte hatte wieder geworfen. Die Jungen flüchteten erst in den hinteren Teil der Buchte, kamen aber langsam wieder hervor und ließen sich schließlich streicheln. Sie strich ihnen vom Kopf aus über den Körper, dabei duckten sie sich und verharrten regungslos, sodass sie spürte, wie ihre Körper zitterten.

Wenn sie zum See wollte, musste sie unter der Teppichstange durch. Es war, als würden ihre Füße den Weg kennen. Bis auf die Pforte stand vom Zaun nichts mehr. Man konnte auch rechts und links daran vorbeigehen, denn der Draht hing lose zwischen den Pfählen. Mal ragte er ins Grundstück hinein, mal lehnte er sich hinaus, nie aber bildete er eine Grenze zum Schutz. Einige Enden hatten sich gelockert und standen ab. Nicht ungefährlich, wenn man hier hängen blieb. Unwillkürlich zählte sie die Jahre, die seit der letzten Tetanusimpfung vergangen waren.

Auf der Wiese, die sich zwischen Böschung und Ufer erstreckte, scheuchte sie eine Ringelnatter auf. Kurz konnte sie dabei zusehen, wie das Tier sich fußlos über die Wiese schob, dann wurde es vom Schilf verschluckt. Zwischen den Grasbüscheln ragten schon die ersten Blätter der Pestwurz hervor. In ein paar Wochen würden sie ein Dickicht ergeben, durch das man eine Schneise schlagen musste, um zum Bootshaus zu gelangen. Im Schilf trieb ein Fisch mit dem Bauch nach oben, er war bereits aufgedunsen und seine Schuppen hatten sich ins Weiße verfärbt. Am Ende des Stegs stand jemand. Auf ihr Rufen kam er ihr entgegen.

Wenn du weiter so laut bist, vertreibst du die Fische.
Hallo.
Hallo.

Die Bohlen unter den Füßen verstärkten den Klang ihrer Schritte. Auf dem Holz klebte Schwalbenmist und in den Fenstern des Bootsschuppens hingen statt der Gardinen geometrisch gewobene Netze, in deren Mitte Spinnen reglos verharrten. Erst als eine Fliege sich in einem der Netze verfing, tat sich was, blitzschnell bewegte die Spinne sich entlang der Fäden auf die Fliege zu und wickelte sie in einen Kokon.

Ich möchte keine Fliege sein.
Nein, du bist der, der die Fliege ins Netz wirft.
Früher warst du nicht so zimperlich.
Schon was gefangen?
Du bist immer noch zu laut.
Vorn treibt ein toter Fisch im Schilf.
Das kommt von den Motorbooten. Die heizen mit hun dert PS über den See, obwohl nur fünfzig erlaubt sind. Alles Leute aus Berlin. Man sieht überhaupt keine anderen mehr. Im Frühling kommen sie über die Au tobahn und bringen ihre Boote her. Dann weißt du, die Saison hat begonnen.
Aber die Fische?
Erstens ist es zu laut und zweitens wird der See durch die vielen Boote immer Schmutziger. Wenn früher ein Fisch tot im Wasser trieb, war der Sommer so heiß, dass die Algen den ganzen Sauerstoff verbraucht haben. Heute ist es heiß und blüht und schmutzt und was weiß ich. Hab letzte Woche einen Hecht mit der Forke erwischt.
Was hast du?
Der stand da unterm Steg, und ich dachte mir, wenn du den jetzt richtig angeln willst, mit Köder und so, ist er schneller weg, als du denken kannst. Also hab ich die Mistforke geholt.
Du hast ihn aufgespießt?
Aufgespießt, geschuppt und ausgenommen. Er war krank, das sah man an den Schuppen. Von allein steht der nicht einfach so am Ufer.
Ist das erlaubt?
Mir doch egal. Hab ihn schließlich nicht geangelt.
Braucht man dafür nicht einen Schein?
Was willst du eigentlich? Kommst hierher und bist nur da, weil du musst.
Was machst du jetzt?
Arbeiten, was sonst.
Und wo?
In Hamburg.
In Hamburg?
Kühllager ausräumen. Muss nachher wieder hin. Zur Spätschicht. Und morgen früh auch.
Nach der Spätschicht gleich die Frühschicht?
Na und? Hauptsache, es bringt Geld.
Wann bist du wieder da?
Hängt vom Verkehr ab. Nachmittags gegen drei wahr scheinlich. Dann geh ich erst mal schlafen. Und danach will ich angeln.
Scheint dir ja ziemlich egal zu sein, dass deine Schwester da ist.
Wir müssen nicht miteinander reden. Müssen wir nicht.

Auf dem Rückweg kam ihr die Katze entgegen. Sie trug einen Vogel im Maul und legte ihn ihr vor die Füße. Mit hängendem Flügel versuchte der Vogel zu entkommen, aber die Katze setzte mit der Pfote nach und holte ihn zurück. Erst als er sich nicht mehr rührte, ließ sie von ihm ab und strich ihr miauend um die Beine. Sie ging weiter, aber die Katze drängte erneut heran. Dann sprang das Tier einen Schritt weg und maunzte, als wollte es ihr etwas zeigen. Sie folgte ihm in den Holzschuppen. Zwischen gestapelten Scheiten sah sie ein Junges mit blauen Augen an. Als sie die Hand ausstreckte, fauchte es leise. Sofort war die Alte zur Stelle, schob sich zwischen ihre Hand und das Junge und ließ sich auf die Seite fallen. Das Junge drängte sich an die Mutter, suchte die Zitze, trat mit den Pfoten gegen ihren Bauch und begann gierig zu saugen, während die Alte laut schnurrte.

Mutter goss Teewasser auf. Ohne nachzudenken, öffnete sie den Schrank, um Tassen und Teller herauszuholen. Es war alles an seinem Platz. Sie trug das Geschirr in die Stube und deckte auf. Dann ging sie zurück in die Küche und holte, was Mutter aus dem Kühlschrank auf die Anrichte gestellt hatte. Im Hintergrund lief der Fernseher. Sie setzte sich auf den Stuhl, der immer ihrer gewesen war, und wartete. An der Wand hingen Fotos. Es waren größtenteils Schwarz-Weiß-Aufnahmen, verwackelte Schnappschüsse von Menschen, die sich vor dem Haus versammelt hatten, samt einer Farbaufnahme aus der Luft, die das Haus von oben zeigte.

Mutter kam mit der Teekanne aus der Küche und stellte sie mit einem Ächzen ab, noch bevor sie sie ihr aus der Hand nehmen konnte. Sie aßen bereits, als Hans kam.

Abend.
Ich hab die Katze gesehen.
Die alte?
Die junge. Im Holzschuppen.
Ach, da hat sie es hingeschleppt. Die andern hab ich erwischt, aber eins war plötzlich nicht mehr da, als ich mit dem Sack gekommen bin.
Lass es in Ruhe. Das Junge hat ein Recht auf sein Leben.
Und du versorgst es dann, oder wie? Willst du Katzenfutter schicken?
Lass es in Ruhe. Dieses eine.
Warum?
Weil ich dich darum bitte.
Mit Bitten wird die Brut auch nicht weniger.
Geh zum Tierarzt, ich bezahl die Sterilisation.
Du bist aber hartnäckig.
Versprich es mir.
Mir doch egal. Ist ja nicht mein Geld.

Es gab Grützwurst. Sie sah zu, wie die beiden sich die schlierige Wurst mechanisch mit der Gabel in den Mund schoben und dabei Schmatzgeräusche von sich gaben. Dann nahmen sie sich ein Stück Brot und tunkten es in die Reste. Mutter hörte nicht auf zu kauen. Dabei wippte die Warze am Kinn im Takt der Bewegung mit. Als müssten sich die Kiefer noch an dem abarbeiten, was sie bereits geschluckt hatte.

Isst du kein Fleisch?
Nein.
Schaden würde es dir nicht.
Nützen auch nicht.
Früher hast du immer gegessen, was auf den Tisch kam.
Früher musste ich das auch.
Schlecht war’s nicht für dich. Früher war sowieso vieles besser. Heute dagegen rumort’s überall, bloß hinhören kann man, was soll man sonst tun. Mein Blutdruck lag gestern bei über zweihundert, da hab ich gedacht, jetzt ist‘s aus.
Früher hat Vater am Ende eines Saufabends immer den Krieg gewonnen und seine Schusswunde gezeigt.
Ich will das nicht hören. Wenn du nichts Besseres zu sagen hast.
Wo ist er jetzt?
Beim Bestatter. Kannst morgen Vormittag noch mal zu ihm, wenn du willst.
Ja.
Die Beerdigung ist am Nachmittag.

Nach dem Essen ging sie in die Küche und wusch ab. Sie stellte den Wasserkocher an und ließ heißes Wasser in die Abwaschschüssel laufen. Dann goss sie zwei Kannen kaltes nach. Es war ein sinnloser Aufwand, aber Mutter machte das immer so, um Energie zu sparen, es sei doch alles so teuer geworden. Das Wasser war jedes Mal zu heiß, es brühte ihre Hände krebsrot und ließ sie gefühllos werden. Auf der Fensterbank lag eine vertrocknete Wespe. Zwei Fliegen flogen ineinander verknäult durch die Luft und machten ein brummendes Geräusch. Der Rest der Brut hing reglos am Fliegenfänger unter der Küchenlampe.

Sie stellte das saubere Geschirr in die Abwäsche. Dann ging sie wieder zurück. Mutter saß in einem Sessel und hatte die Beine hochgelegt. An der Wand hing ein Kalender, in den die Namen der Familienmitglieder eingetragen waren. Bei Vater stand für den nächsten Tag Beerdigung, bei Hans, wann er zur Arbeit musste. Auch ihr Name stand über einer Zeile, darunter Kreuze für jeden Tag, den sie hier sein würde.

Kann ich noch was für dich tun?
Du kannst hinten Holz nachlegen.
Feuerst du immer noch? Es gibt doch Heizungen.
Holz gibt eine ganz andere Wärme. Und billiger ist es auch.

Im Fernsehen lief eine Vorabendserie. Erst drängte der Mann die Frau an die Wand, dann küsste er sie. Die Frau drehte ihren Kopf weg und leistete Widerstand, der aber mit der Dauer des Kusses schwand, bis sie schließlich nicht mehr versuchte, den Mann von sich zu stoßen, sondern die Arme um seinen Nacken schlang und den Kuss erwiderte. Sie sah so lange zu, bis sie die Handlung nachvollziehen konnte, dann ging sie ins hintere Zimmer. Der Ofen strahlte eine bullige Wärme ab. Das Feuer hatte das Holz fast aufgezehrt, nur ein weißer Rest glühte als Gerippe in den Flammen. Sie öffnete die Tür, nahm ein Scheit aus der K iste daneben und warf es in den Feuerraum, dass die Funken stoben.

Die Schrankwand stand da wie immer, in einer Reihe die Bücher, in der Reihe darunter verschieden große Gläser für Wein, Bier und Schnaps. Im grünen Jägerrock Karl May von Winnetou bis Old Surehand, dazu Bücher vom Krieg, Angriffshöhe 4000, Hitlers Spionagegeneräle sagen aus und Ähnliches. Daneben drei Bände ohne Beschriftung im roten Leinenschuber. Als sie ihn in die Hand nahm, löste sich einer der Bände und fiel zu Boden. Durch den Aufprall öffnete er sich, da wurde klar, dies war gar kein Buch, sondern nur eine Attrappe, denn statt der Seiten fielen Fotos heraus.

Sie ging in die Knie, um die verstreuten Bilder einzusammeln. Dann nahm sie den ganzen Schuber, setzte sich an den Wohnzimmertisch und schüttete ihn aus. Auf den Fotos waren Menschen verschiedenen Alters auf Hochzeiten, Geburtstagen, Beerdigungen zu sehen, Schnappschüsse drinnen wie draußen. Die Gesichter wahllos vertraut. Vater, wie er in den Bohnen stand und sitzend neben Mutter, und zwischen ihnen auf dem Tisch lag geräucherter Aal in Stücken auf dem Teller. Auf einigen Fotos hatte er ein kleines Kind auf dem Schoß, ein Mädchen mit Rattenschwänzen, das war sie. Auf einem Bild war er noch jung, mit schwarzen Haaren und vorgeschobenem Kinn. Hier schien er so alt, wie sie jetzt war, man sah, dass sie das Gesicht von Mutter hatte, nur das Kinn war von ihm. Auf einem Bild waren sie zum ersten Mal zusammen, das war schon ihr Hochzeitstag. Seine Haare trug er immer glatt nach hinten gekämmt, wie auf dem nächsten Bild auch die Kollegen, ein Winter-bild, drei Männer im Schnee, die aus dem Foto auf etwas deuteten, das nicht zu sehen war. So sahen damals alle aus, so musste die Mode gewesen sein.

Sie hielt Mutter eins der Fotos hin. Wie war das mit dem Schnaps?

Das ist dein Vater als junger Mann, und hier sind wir getraut, und vorher war er im Krieg, und erst danach haben wir uns kennengelernt, sind beide unversehrt geblieben, das war schon was. Und warum wir geheiratet haben, frag mich nicht, darüber haben wir nie gesprochen, das machte man so. Was kann ich schon erzählen? Den Ersten, der kam, hab ich genommen. Ich war schon fünfundzwanzig, und wenn man fünfundzwanzig ist, kann man‘s sich nicht mehr aussuchen. Ich habe das Leben immer genommen, wie es kam, und hätte gern mal ein schönes Kleid gehabt. Die DDR war auch nur ein Land, in dem wir lebten. Und euch großgezogen haben, vergiss das nicht.

Im Fernsehen lief mittlerweile ein Boxkampf. Ich mag das, sagte Mutter, wenn sie miteinander kämpfen und man nicht weiß, wer den nächsten Treffer landet. Hoffentlich geht keiner zu früh zu Boden.

Irgendwann war es endlich so spät, dass man ans Schlafen denken konnte. Die Tür, die vom Flur zur Bodentreppe führte, war rahmenlos in die Wand eingelassen, sodass man sie leicht übersah. Dahinter wand sich die Treppe wie immer nach oben, nur dass das Holz Patina angesetzt hatte und von Würmern durchlöchert war. Es knackte beim Gehen, vielleicht war das gar keine Treppe mehr, sondern ein Sieb. Eine Stufe war nicht mehr vorhanden, stattdessen hatte jemand eine Platte schlecht drübergenagelt. Sie musste aufpassen, dass sie sich nicht vertrat.

Im Zimmer oben war es kühl, und die Luft roch nach Erde, aber das Bett war frisch bezogen. Auch der alte Kachelofen stand noch da. Im Winter hatte sie immer die Decke für einige Minuten dagegengepresst, bevor sie daruntergekrochen war. Beim Einschlafen bäumten sich Bilder auf, oder saß jemand unter ihnen und stemmte sie an die Wand?

Kerstin Preiwuß

Über Kerstin Preiwuß

Biografie

Kerstin Preiwuß wurde 1980 in Lübz geboren und lebt heute mit ihrer Familie in Leipzig. Seit dem Wintersemester 2021 hat sie den Lehrstuhl für „Literarische Ästhetik“ am Deutschen Literaturinstitut Leipzig inne. Die Lyrikerin, Romanautorin und Essayistin promovierte über deutsch-polnische Ortsnamen...

Pressestimmen
Deutschlandfunk "Büchermarkt"

„Kerstin Preiwuß zwingt ihre Leser genau hinzuschauen, in eine Seelenlandschaft, deren Archaik sie in eine verstörende Schönheit übersetzt hat.“

taz

„Ein ganz feines Sensorium stellt Preiwuß hier unter Beweis, das sie gekonnt in eine abgekochte, leicht angestaubte Sprache überführt, die wie an diesem aus der Zeit gefallenen Flecken Mecklenburgs wiedergefunden scheint.“

Vogue

„Ihrer bildreichen und exakten Sprache merkt man an, dass die Autorin zuvor Lyrik schrieb.“

Bücher

„Die Geschichte, die Preiwuß erzählt, ist keine ungewöhnliche. Interessant wird sie durch das untrügliche Gespür der Autorin für Stimmungen und die Präzision ihrer Beschreibungen. [...] Ein weites, melancholisches Buch. Kerstin Preiwuß' Sprache ist präzise und von großer Schönheit.“

Brigitte

„In ihrer makellosen Prosa erzählt Kerstin Preiwuß in ihrem Romandebüt "Restwärme" von alten Verletzungen und kaum verheilten Wunden. Aber auch von Mariannes festem Willen, sich nicht in die Reihe der vielen durch Krieg und DDR-Regime Geschlagenen einzugliedern.“

Westdeutsche Allgemeine Zeitung

„Eindringlich und bei aller Wut poetisch rechnet die 34-jährige Autorin Kerstin Preiwuß im Romandebüt "Restwärme" mit den Traumata ab, die von Generation zu Generation weitergegeben werden.“

Hamburger Morgenpost

„Die so präzise wie poetische und bilderreiche Erzählkunst der Lyrikerin lässt den Leser teilhaben an der Erkenntnis, dass jeder untrennbar mit dem Ort seiner Kindheit verbunden ist.“

Ruhr Nachrichten

„Ein eindringlicher Roman über etwas so Schwieriges und Widersprüchliches wie Heimatverbundenheit und Familienzugehörigkeit ist Kerstin Preiwuß mit "Restwärme" gelungen. [...]. Lesenswert!“

Ostthüringer Zeitung

„Wie Angelika Klüssendorf in "Das Mädchen" und "April", wie Daniela Krien in "Muldental" beschreibt auch Kerstin Preiwuß eine von einem Regime gegängelte Gesellschaft, in der es vor allem ums Durchkommen ging. Aber nicht (n)ostalgisch, nicht denunzierend, sondern genau in den Dialogen, plastisch in den Beschreibungen, kraftvoll in dem Versuch, aus dem Erlebten herauszukommen. Die Kinder der DDR sind erwachsen geworden.“

SR 2 "BücherLese"

„Mit großem Verständnis für das menschliche Drama erzählt Preiwuß von Verletzungen, die Generationen überdauern, und erschafft eine Welt, die man nicht mehr vergisst.“

Jolie

„Ein Todesfall und verdrängte Familiendramen: Bei der Leipzigerin Kerstin Preiwuß wird es in "Restwärme" ernst.“

SPIEGEL online

„Umso kraftvoller wirken die knappen, lakonischen Dialoge, die Preiwuß immer wieder einschiebt, sowie die zahlreichen Natur-Metaphern. Ähnlich wie der verrätselte Titel "Restwärme" sind sie anspielungsreich, aber nicht eindeutig zu entschlüsseln. Es brodelt unter ihrer Oberfläche.“

Die WELT

„Kerstin Preiwuß ist mit "Restwärme" ein lakonischer Roman gelungen. [...]. Die Reise zurück zur Mutter und zum Bruder Hans wird zur Nabelschau des innerfamiliären Grauens - trocken erzählt und mit einer Prise Zynismus gespickt in den teilweise großartig, fast wie bei Beckett konstruierten Dialogen.“

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