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Das schwarze Manuskript Das schwarze Manuskript - eBook-Ausgabe

Heinrich Steinfest
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Roman

— „Die intelligenteste Literatur unserer Gegenwart“ Denis Scheck
Hardcover (23,00 €) E-Book (19,99 €)
€ 23,00 inkl. MwSt. Erscheint am: 29.08.2025 Bald verfügbar Das Buch kann 30 Tage vor dem Erscheinungstermin vorbestellt werden.
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Das schwarze Manuskript — Inhalt

Wenn einer alles hat und alles aufgibt

Ashok Oswald hat diesen Pool bauen lassen, nachdem er im Alter von 35 Jahren zu einem beträchtlichen Vermögen gekommen war. Wie jeden Morgen zieht er seine Bahnen durch das kühle Wasser, doch dieser Morgen ist besonders: Drei Fremde zwingen ihn, sein Ritual zu unterbrechen und das Manuskript herauszugeben, das Peter Bischof ihm vor vielen Jahren anvertraute. Ashok händigt es aus, aber was ist so bedeutsam an diesem Buch, dass diese Leute zu allem bereit scheinen? Um das herauszufinden, gibt Ashok sein altes Leben auf.

Ein abgründiger Roman, in dem Literatur und Leben sich aufs Originellste kreuzen.

„Steinfest erzählt lustvoll, klug, mitreißend.“ SZ

„Ungewöhnliche Protagonisten, prachtvolle Stories und eine sehr sorgfältig gewählte Sprache.“ FAZ

€ 23,00 [D], € 23,70 [A]
Erscheint am 29.08.2025
240 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-492-07216-8
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€ 19,99 [D], € 19,99 [A]
Erscheint am 29.08.2025
224 Seiten
EAN 978-3-492-60993-7
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Leseprobe zu „Das schwarze Manuskript“

1

Ashok Oswald saß in seinem Haus und dachte nach. Dabei tat ihm der Rücken weh. Freilich nicht vom Denken, sondern davon, die vergangene Nacht in einem großen Verpackungskarton zugebracht zu haben. So wie mitunter obdachlose Menschen dazu gezwungen waren, wenn sie vor der Kälte und den Widrigkeiten einer Nacht in die leidliche Geborgenheit einer lebensgroßen oder zumindest halbwegs lebensgroßen Schachtel flüchteten und in Decken oder Müll gepackt den Schlaf suchten.

Allerdings war Oswald alles andere als obdachlos, vielmehr war er das Gegenteil. Das [...]

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1

Ashok Oswald saß in seinem Haus und dachte nach. Dabei tat ihm der Rücken weh. Freilich nicht vom Denken, sondern davon, die vergangene Nacht in einem großen Verpackungskarton zugebracht zu haben. So wie mitunter obdachlose Menschen dazu gezwungen waren, wenn sie vor der Kälte und den Widrigkeiten einer Nacht in die leidliche Geborgenheit einer lebensgroßen oder zumindest halbwegs lebensgroßen Schachtel flüchteten und in Decken oder Müll gepackt den Schlaf suchten.

Allerdings war Oswald alles andere als obdachlos, vielmehr war er das Gegenteil. Das Haus, in dem er lebte und das ihm gehörte, war eines der prächtigsten und originellsten dieser an prächtigen und originellen Häusern nicht ganz armen reichen Gegend.

Der Karton, in den sich Ashok Oswald für eine Nacht gelegt und der ihm seinen Rückenschmerz beschert hatte, befand sich in einem der Räume an der Rückseite des Hauses, die hinaus auf das weite Grundstück mit den hohen alten Bäumen führte. Es waren jene Räume, die Oswalds Kunstsammlung beherbergten, manches äußerst Berühmte, manches demnächst Berühmte. Durch diese Räume war Oswald spät am Abend flaniert, in völliger Einsamkeit, ohne seine Frau, die ihn am Nachmittag verlassen hatte, und auch ohne seinen Leibwächter, dem er nur eine Stunde später kündigte. Wobei das eine nicht mit dem anderen in Verbindung stand. Oder nur insofern, als dass er endlich und wirklich allein sein wollte. Von Menschen verlassen, nachdem er sich eine Woche zuvor auch von seinen beiden Hunden getrennt hatte, und zwar keineswegs schweren Herzens. Er hatte den zweien nie so richtig getraut. „Hunde reicher Leute“, hatte er, der selbst so Vermögende, einmal erklärt, „sind wie Kellner in Nobelrestaurants. Sie verachten dich, während sie sich vor dir verbeugen. Im devoten Blick – dem der Hunde und dem der Kellner – liegt ein Verrat. Kein Aufbegehren, keine Revolution, aber ein Verrat.“

Er war also froh, die Hunde los zu sein, ebenso wie seinen Leibwächter. Und dass er seine Frau los war, konnte man bedauerlich nennen, sogar traurig, bedeutete aber im wahrsten Sinne eine Lösung.

Zwar gab es noch eine Köchin und einen Gärtner, aber die kehrten an den Abenden zu ihren Familien zurück, und auch sein Chauffeur lebte nicht im Haus. Für die Reinigung wiederum erschien dreimal die Woche ein Trupp junger Männer, die aus irgendeinem Krieg stammten, deren Auftragslage sich aber vom Töten hin zur Gebäudereinigung entwickelt hatte.

Er war somit an diesem Abend völlig alleine im Haus gewesen, als er die Räume seiner Sammlung durchschritt und dann eine ganze Weile vor dem kleinen, überaus delikaten Bildnis von Tintoretto stehen blieb, das er mit einer abstrakten Komposition von Piet Mondrian zusammengetan hatte. In der Tat sprach er gerne davon, er habe das eine Bild mit dem anderen gekreuzt. Er sagte, man könne das gut sehen, wie hier die farbigen Flächen des modernen Meisters in die Gesichtskonturen des alten Meisters übergingen und umgekehrt und dabei so etwas wie ein neues Wesen entstehe.

Es war ein langer Tag gewesen, der mit einem Gespräch mit seinem Anwalt geendet hatte – denn letztlich endete alles bei den Anwälten, sie waren die Pathologen und Totengräber des Lebens. Erschöpft löste sich Oswald von der Tintoretto-Mondrian-Kreuzung, die vor seinen Augen ein wenig verschwamm, sodass das „neue Wesen“ die Gestalt einer Impression annahm. Eigentlich wollte er jetzt hinüber in den Wohnbereich zurückkehren, da fiel sein Blick auf ein Objekt, das er erst kürzlich erstanden hatte. Die Installation eines jungen Künstlers, den noch kaum jemand kannte. Und die an den Hyperrealismus der Pop-Art erinnerte, als einige Amerikaner das Ambiente des Alltags in ein Kunstwerk verwandelten, von der Suppendose bis zu täuschend echt aussehenden Menschen aus Glasfaser und Polyesterharz.

Oswald hatte die Installation direkt aus dem Atelier des jungen Künstlers erstanden, einen langen, fleckigen IKEA-Karton, der der Länge nach auf dem Boden lag, mit aufgeklapptem Deckel, während an den Seiten zwei grob geschnittene Gucklöcher klafften. Im Inneren befand sich eine Figur, deren Beine aus dem Karton herausstanden. Die Beine einer lebensgroßen Kasperlfigur, mit roten Schnabelschuhen an den Füßen und einem mit verschiedenfarbigen Karos gemusterten Beinkleid. Allerdings zeigten auch diese Hose und diese Schuhe – dazwischen löchrige gelbe Socken – Spuren langer Nutzung unter harten Bedingungen. Wäre in diesem Karton einer dieser perfekt nachgemachten Menschen etwa eines Duane Hanson gelegen, es wäre weniger unheimlich gewesen als diese lebensgroße und vom Leben gezeichnete Kasperlfigur, auch dadurch, dass man deren Oberkörper und Gesicht nicht sehen konnte, sich aber gut die hölzerne Fratze dieser „lustigen Person“ vorstellen konnte. Auf dem Karton stand mit dickem Filzstift der bekannte Spruch des Möbelhauses geschrieben: Entdecke die Möglichkeiten.

Es mochte verrückt sein, und Oswald dachte ja auch, wie verrückt es war, als er jetzt – er, der vierundsechzigjährige Chef eines internationalen Mischkonzerns – in die Knie ging, sich auf diese Knie fallen ließ und zu der Kasperlfigur in den Karton kroch.

Oswald fühlte sich unendlich müde, und irgendwie hatte dieser Ort bei aller Ungemütlichkeit – die Enge, der harte Untergrund – und trotz des spürbaren Horrors – das grinsende Puppengesicht – etwas von einer Zuflucht. Oswald legte sich auf die Seite, mit der rechten Schulter gegen den Boden, um sich auf diese Weise von dem Antlitz der Kasperlfigur abzuwenden, dessen große, schwarz umrandete Augen ebenso wie das kräftige Rot auf Backen und Nasenspitze aus dem Halbdunkel herausleuchteten.

Wenn Oswald jetzt hier lag, dann gewiss nicht, um nachfühlen zu können, wie es für einen Obdachlosen sein musste, in einem solchen Karton zu schlafen. Er hatte diese Skulptur ja nicht etwa wegen ihres sozialkritischen Impetus gekauft – dies wäre ihm so lächerlich wie kokett erschienen –, sondern schlicht, weil sie von einem unbekannten Künstler stammte und es zu Oswalds Ehrgeiz gehörte, das Unbekannte unter das Bekannte zu mischen und dank seines Namens als bedeutender Sammler eben auch diese zu kreuzen.

Und mit Kreuzungen kannte er sich nun wirklich aus. Sie hatten ihn reich gemacht, sie hatten ihm den Weg in eine ganz andere Welt geebnet als die, aus der er gekommen war. Nicht, dass seine ursprüngliche Welt die der zu Nachtquartieren umgewandelten Kartons gewesen wäre, also bittere Armut, aber doch etwas, was man einen bescheidenen Mittelstand nennen konnte. Sein Vater Michael Oswald war Mathematiklehrer an einem Wiener Gymnasium gewesen, der als achtzehnjähriger Soldat im Zweiten Weltkrieg eine Beinverletzung erlitten hatte, die ihn ein Leben lang beim Gehen behinderte. Er sagte nie „hinken“ dazu, sondern nannte es nur sein „schweres Bein“. Seine größte Leidenschaft aber war das Schachspiel. Und als Schachspieler nahm er in der Nachkriegszeit an einigen Turnieren teilnahm. Dabei lernte er 1959 die Inderin Amrita Devi kennen, die sich auf dem Weg nach Plowdiw in Bulgarien befand, zum damaligen „Kandidatenturnier“ für die Schachweltmeisterschaft der Frauen, wo sie als erste Inderin antreten würde. In Wien machte sie einen Zwischenstopp, um an einem Schauturnier teilzunehmen. Und dort, in Wien, praktisch an dem Tisch, auf dem sich das Schachbrett befand und ihr gegenüber der elf Jahre ältere Michael Oswald saß, blieb Amrita Devi hängen. Das war im Mai 1959.

Unglaublich, aber doch, sie blieb in dieser Stadt, verzichtete darauf, nach Bulgarien zu reisen, so sehr hatte sie sich in diesen Mann verliebt, den zu besiegen sie übrigens nur acht Züge benötigte. Michael Oswald war ein begeisterter Amateur, aber bei Weitem kein Großmeister oder was an sprachlichen Übertreibungen der Schachsport auch immer zu bieten hatte. Amrita Devi hingegen ein Schachgenie, und es ist schwer zu sagen, was sie noch alles an Erfolgen errungen hätte – zum Beispiel die Dominanz der Sowjetrussinnen durchbrechen –, hätte sie diesen Mann nicht auf der anderen Seite eines Schachbretts kennengelernt. Um sich während dieser acht Züge und dieses Schachmatts in ihn zu verlieben. Und er sich in sie, gar keine Frage, so ernüchternd seine Niederlage gewesen war. Für den Schachspieler, nicht den Mann. Wobei es nicht nötig gewesen wäre, dass Amrita darum auf das Kandidatenturnier in Bulgarien verzichtete. Das war geradezu ein Klischee, eine Frau, die eine Karriere für einen Mann aufgab. Allerdings gab sie ja nicht etwa ihre Karriere für die seine auf, vielmehr entschied sie ganz einfach, in Wien zu bleiben, schwanger zu werden, soweit man das entscheiden konnte, und einen Sohn auf die Welt zu bringen, der zwar den Nachnamen des Vaters, aber durchaus einen indischen Vornamen tragen sollte. Was durchzusetzen gegen die österreichische Bürokratie der späten Fünfzigerjahre gar nicht so einfach war. Doch es gelang. Der Junge, der 1960 das Licht der Welt erblickte, würde den Vornamen Ashok tragen. Was so viel wie der Sorglose bedeutet und ein wenig ein Witz war angesichts eines irdischen Daseins, das eher das Gegenteil aller Sorglosigkeit darstellt. Außer vielleicht das Dasein zweier ineinander verliebter Schachspieler. Doch ein Schachspieler sollte Ashok trotz aller genetischer Einflüsse und elterlicher Einflüsterungen nicht werden. Das mochte bitter für Mutter und Vater sein, denn das Kind, das natürlich so früh wie irgend möglich an dieses „Kriegsspiel“ aus Königen und Königinnen, Tieren, Bauwerken, Sportlern und einer Menge von Leuten aus der Landwirtschaft herangeführt wurde, zeigte durchaus das aus Logik, Gedächtnis und Vorausschau bestehende Talent, jedoch keinerlei Leidenschaft für diese Verfrachtung einer kämpferischen und intriganten Welt auf ein ziemlich geordnetes Brett. Das Spiel seiner Eltern – das auf gewisse Weise auch ein Liebesspiel war – langweilte ihn. Als Kind wie als Jugendlichen. Und als er schließlich vierzehn oder fünfzehn war und ihn die Pubertät bei allen Unsicherheiten und merkwürdigen Gefühlen auch zu einer gewissen Freiheit der Entscheidungen führte, verweigerte er es gänzlich, sich weiterhin an dieses Brett im Stile einer zu Boden gesunkenen Zielflagge zu setzen, das seinen Eltern so viel bedeutete.

Sein Vater geriet dann in seinen Fünfzigern in eine fatale Geschichte, die ihn seinen Lehrerjob kostete – er hatte einen Schüler geohrfeigt, der während eines Vortrags eine Naziparole gebrüllt hatte. Leider hatte die Ohrfeige des eigentlich recht zarten Herrn Oswald den Schüler zwei Zähne gekostet. Niemand konnte ahnen, dass Michael Oswald in seinen Jugendjahren geboxt hatte und auch nach dem Krieg und trotz seines Hinkens in der Federgewichtsklasse ein ziemlich passabler Rechtsausleger gewesen war.[1]

Ein Wechsel an eine andere Schule kam aus disziplinarischen Gründen nicht infrage, aber ohnehin war Oswald froh, den ungeliebten Lehrerjob aufgeben zu können und sich einen Traum zu erfüllen, der darin bestand, zusammen mit seiner Frau ein kleines Fachgeschäft für Schachbretter, Schachfiguren und Schachliteratur zu eröffnen, wo in einem Nebenraum auch Kurse für interessierte Laien angeboten wurden. Das war wahrlich keine Goldgrube, der wirtschaftliche Erfolg gering, aber die Freude der beiden Betreiber an ihrem Geschäft beträchtlich. Denn obgleich Amrita Devi, die nun Amrita Oswald hieß, ihre gerade erst begonnene Karriere mit der Geburt des kleinen Ashok und dem Umzug nach Wien aufgab – sehr zum Ärger ihrer Familie, die diese Ehe ebenso ablehnte wie den Umstand eines Mischlingskindes –, wurde sie eine ausgezeichnete Schachlehrerin. Von der auch jenes kleine Schachlehrbuch stammte, das den ungewöhnlichen Titel Wie ich eine Partie eröffne und sie mit Würde und Anstand zu einem guten Ende führe trug. Kein Bestseller, aber doch ein Werk, von dem Bobby Fischer einmal meinte, es sei auf eine wunderbare Weise durchgeknallt.

Ashok entledigte sich also in jugendlichen Jahren des Schachspiels und würde bis zum Ende seiner Tage nicht wieder zu diesem beflaggten Brett zurückkehren. Soweit man das sagen konnte, denn sein Leben war ja noch nicht ganz abgeschlossen, als er in dieses Kartonobjekt eines jungen unbekannten Künstlers schlüpfte, um dort einzuschlafen und die Nacht zu verbringen.

Aber wie war er reich geworden? Ein wahrhaftig reicher Mann! Wie man vielleicht sagte, ein wahrhaftig starker Regen oder ein Sommer bis zum Umfallen. Somit ein Extrem bezeichnend. So wie man auch sagt, Picasso war ein Genie, obwohl er eigentlich nur Maler war.

Ashok Oswald war zu einem dieser Leute geworden, die mit einem Fingerschnippen einen unsinnig großen Pool in ihren auch nicht ganz kleinen Garten setzen konnten und genau aus dieser Unsinnigkeit der Größe eine gewisse Freude bezogen. Gleich einer Katze, die einen Vogel fängt, im Maul durch die Gegend trägt, aber rein gar keinen Hunger auf ihr Opfer verspürt. Allerdings muss schon erwähnt werden, dass Oswald den unsinnig großen Pool, der im Zentrum seines von hohen, alten Bäumen herrschaftlich dominierten Gartens gleichsam als eine blaue Wunde in dunkler Erde klaffte, durchaus benutzte. In ihm schwamm. Tag für Tag. Jeden Morgen und jeden Abend. Seinen in über sechs Jahrzehnten gereiften, das Leben und die Umstände des Lebens aushaltenden Körper frühmorgens wie spätabends in dieses gechlorte Poolwasser fügte wie eine sich wiederholende Spur in einem Kriminalfall.

Er sagte gerne: mein zweiter Pool. Und sagte es nicht ohne einen Ausdruck von Bedauern. Denn bereits vierzig Jahre zuvor hatte er an dieser Stelle einen ersten Pool errichten lassen, und zwar mit einer gefliesten Verkleidung aus verschiedenen Natursteinen, als das noch gar nicht Mode gewesen war. Nämlich auf diese oder ähnliche Weise zur Natur zurückkehren zu wollen. Gleich Schmetterlingen, die wieder Larven sein möchten. Allerdings ohne aufs Fliegen zu verzichten.

Er hatte diesen ersten Pool bauen lassen, nachdem er im Alter von vierundzwanzig Jahren mit einem Mal zu einem beträchtlichen Vermögen gekommen war. Nach einem Studium zum Lebensmittelchemiker an der Wiener Universität hatte er ein sogenanntes Praktisches Jahr an einer Lebensmittelbehörde zugebracht und in seiner Freizeit in einem eigenen kleinen Labor herumexperimentiert. Weniger wie ein Wissenschaftler, wie er selbst sagte, mehr wie ein Spieler oder sich selbst unterhaltender Künstler. Vor allem als Ausgleich zur behördlichen Lebensmittelüberwachung, die ihm wie langweilige Polizeiarbeit vorkam. Faktum war, dass er in seinem Labor, das er kokett „Atelier“ nannte, eine Formel entwickelte, mit der sich die künstliche Zucht von Steinpilzen würde realisieren lassen. Denn Steinpilze mussten schließlich wie alle Mykorrhiza-Pilze eine Symbiose mit den Wurzeln von Fichten oder Eichen eingehen, weshalb Oswald ein Verfahren erfand, das einen Ersatz für diese Symbiose schuf und ernsthaft eine kommerzielle Produktion ermöglichte. Etwas, das er eine „Baumfälschung“ nannte und in der Folge das Konzept dieser Fälschung – die aber zu vollkommen echten Steinpilzen in großen Mengen führen konnte – an einen bekannten Lebensmittelkonzern verkaufte. Das Eigentümliche, geradezu Unverständliche war, dass dieser Konzern Oswalds Formel niemals zur Anwendung brachte, was dann doch ein wenig an die Legende von geheimen neuen Antriebsmotoren erinnerte, die in den Schreibtischschubladen der großen Autohersteller verkümmerten, verwelkten und verdarben, um auch noch den letzten Tropfen Benzin unter die Leute zu kriegen.

Wieso aber dieser Verzicht auf eine hochprofitable Pilzzucht zugunsten der professionellen oder halb professionellen oder gänzlich touristischen Schwammerlsucher?

So geschah es also, dass Oswald eine beträchtliche Summe erhielt, die er sogleich in der vernünftigsten Weise in ebenjenes Unternehmen investierte, das ihn gerade bezahlt hatte, auch wenn es nie eine Steinpilzzucht betreiben würde. So wie es auch geschah, dass Oswald wenig später von Wien nach Köln umsiedelte, um in der Forschungsabteilung jenes Unternehmens zu arbeiten und am südlichen Rand der Stadt ein Grundstück zu erwerben, auf das er zunächst einmal nichts anderes setzte als diesen einen Pool aus verschiedenfarbigen, unterschiedlich stark geschliffenen und polierten Natursteinen. Während er sich im Stadtzentrum eine kleine Wohnung mietete und immer nur zum Schwimmen zu seinem Grundstück fuhr – wobei er gerne sagte, im Hinblick auf seine Eltern, die er ja durchaus liebte, sein Schachbrett sei das Wasser.

Aber dabei blieb es eben nicht. Irgendwann, beziehungsweise nicht irgendwann, sondern nachdem er mit knapp fünfunddreißig Jahren die Leitung der Forschungsabteilung übernommen hatte und damit auch in den Vorstand jenes Nahrungsmittelkonzerns aufgestiegen war (doch selbst da noch kein Wort über die Sache mit den Steinpilzen) und im Übrigen mit anderen Erfindungen im Nahrungsmittelbereich Furore machte – Gefrierkost, die nicht nur aus Spinat und Erbsen und Rosenkohl bestand –, entschied er sich, zu jenem wunderbaren Pool auch ein ebenso wunderbares Wohnhaus errichten zu lassen. Die Schwester des Pools, wie er das nannte, das Haus.

Dieses Haus im Süden von Köln wurde von einem japanischen Architekten erdacht und errichtet, ein ovaler Baukörper, dessen gerundete Fassade durch einen Wechsel aus Klinker und Kirchheimer Muschelkalk eine in der Nähe befindliche Industriellenvilla aus den 1920er-Jahren zitierte. Man könnte sagen, dass hier eine alte Haut über eine junge Konstruktion gezogen wurde. Aus diesem sachlichen Baukörper ragte auf der Rückseite ein gewaltiger Erker heraus, ein langer Gang, dessen hohe Scheiben den Blick zu beiden Seiten der Parkanlage öffneten und der an jener Stelle endete, an welcher der Pool begann. Der dann allerdings nicht mehr jener Pool war, der hier ursprünglich gewesen war. Denn noch während der Bauarbeiten an der Villa Oswald kam es zu einem dieser Vorfälle, die verrückt klingen, aber letztlich einfach nichts anderes darstellen als eine pure Laune der Natur. Eine Laune, die darin bestand, dass ein knapp drei Kilogramm schwerer Gesteinsbrocken, der seit viereinhalb Milliarden Jahren im All unterwegs gewesen war, in genau diesen Pool fiel. Welcher im Moment des Einschlags gerade ohne Wasser gewesen war. Und obwohl der Brocken mittels seines Erdeintritts einiges seiner ursprünglichen Größe eingebüßt hatte, wie diese viel zu dick geschälten Kartoffeln, richtete er dennoch einen beträchtlichen Schaden an dem steinernen Bassin an. Immerhin nicht an dem im Bau befindlichen Oval einer modernen Villa, und verletzte somit auch keinen der Arbeiter, die dort während des Impacts tätig waren.

Eine Pointe bestand sicherlich darin, dass der Wert dieses Steins noch einiges über dem des Pools lag. Dennoch weigerte sich die Versicherung, für den Schaden aufzukommen. So oder so musste der Pool rundum erneuert werden, wobei der Architekt der Villa dies übernahm und ein Bassin schuf, das die Fassade des Ovals widerspiegelte, so wie diese das benachbarte Baudenkmal zitierte. Der erkaltete Meteorit selbst gelangte schließlich unter einen Glassturz und mitten in Oswalds Kunstsammlung. Was jemanden einmal zu der Bemerkung verführte, dies sei so, als würde man in eine Anhäufung von Computermäusen auch eine richtige, natürliche Maus setzen.

Oswald hatte den Umstand, dass ein Stein aus dem All auf sein Grundstück und in seinen Pool gestürzt war, trotz aller Zerstörung und des Verlustes seiner ersten Anschaffung als ein gutes Omen aufgefasst. Weil er meinte, es liege eine gewisse Auszeichnung darin, von einem so alten und so lange schon unterwegs gewesenen Körper ausgewählt zu werden.

Und darum sollte später das Logo des Mischkonzerns, der unter Oswalds Leitung und dem Dach des Lebensmittelkonzerns entstand, die Form dieses Meteoriten erhalten. Ein geometrisierter Meteorit, dessen emblematische Gestalt so unterschiedliche Branchen wie Solaranlagen, Baumaschinen, Küchengeräte und Medizintechnik vereinte, aber auch einen Hersteller von Privatflugzeugen, den Marktführer in Sachen Golfausrüstung und natürlich den ebenfalls den Markt anführenden Produzenten von Tiefkühlkost. Sowie ein paar kleinere, dafür zukunftsweisende Technologieunternehmen. Während die Menschheit weiterhin davon träumte, wie es wäre, könnte man Steinpilze züchten. Wenn schon das Beamen niemals gelingen würde.

Für einen unheimlichen kleinen Moment hatte Oswald das Gefühl gehabt, der Arm der lebensgroßen Kasperlfigur hätte sich auf seine Schulter gelegt. Aber das war wohl nur der blaue Fleck an seiner Schulter, der sich soeben meldete und den er sich beim Tennis zugezogen hatte. Das war am Vortag gewesen, als er zusammen mit seiner Frau Christine im Doppel gegen ein befreundetes Ehepaar angetreten war und seine Frau, die so viel jüngere, das einstige Fotomodell, ihn mit ihrem Schläger getroffen hatte. Unabsichtlich, weil so was ja absichtlich kaum geschieht. Während es hingegen ganz sicher Absicht war, dass sich Christine am gleichen Abend mit ihrem Anwalt traf, nicht nur um sich zu besprechen, sondern auch um mit ihm ins Bett zu gehen. Nicht zum ersten Mal. Nur dass sie am Tag darauf endlich die Konsequenzen zog und ihrem Mann von dieser Affäre erzählte. Die keine Affäre, sondern eine Liebe sei, wie sie sagte. Und daran anschloss, dass er, Oswald, wohl kaum wisse, was das eigentlich sei, eine Liebe.

Er fand das übertrieben, auch wenn er sich erinnerte, dass seine erste Frau, mit der er zwei Kinder hatte, Söhne, die jetzt zwanzig und zweiundzwanzig waren, etwas Ähnliches geäußert hatte, als er sich von ihr scheiden ließ. Um nämlich Christine heiraten zu können.

Und während nun also auch Christine es auf diese Weise ausdrückte, „du weißt ja gar nicht, was Liebe ist“, hatte sie ein wenig melodramatisch die kleine Klimt-Zeichnung von der Wand genommen und in ihre große Tasche getan. Bevor sie erklärte, ihn zu verlassen und noch heute zu Christian zu ziehen.

„Findest du nicht“, sagte Oswald, „dass das lächerlich klingt, Christine und Christian? Abgesehen davon, dass unser Herr Anwalt doch genauso wenig Ahnung von der Liebe hat. – Und wieso den Klimt?“

„Den hast du mir geschenkt. Schon vergessen?“

„Die meisten Frauen nehmen ihren Schmuck mit.“

„Den habe ich bereits gestern eingepackt“, erklärte Christine.

Und das war’s dann auch. Sie vollzog auf ihren High Heels, mit ihren langen Mannequinbeinen, eine Halbdrehung, sodass Oswald nur noch ihren Rücken sah, als sie, den Klimt in der Tasche, bei der Türe des Ovals hinausmarschierte.

Er war sie also los. Und in das Gefühl des Bedauerns mischte sich auch ein Aufatmen. Denn wenn man alt war und sich einen jüngeren Partner aussuchte, war das einfach ein Fehler. Eine Übertreibung, eine Lächerlichkeit und führte in letzter Konsequenz immer zu etwas Jämmerlichem. Denn es war nun mal jämmerlich, dieser Versuch, mittels eines anderen Menschen eine Zeitreise antreten zu wollen. Zeitreisen waren unmöglich, das wusste jedes Kind.

Nicht ganz so lächerlich war Oswalds eigene Sicherheit. Immerhin bekleidete er eine der Toppositionen europäischer Wirtschaftskraft und übte beträchtlichen Einfluss auf die Politik aus, wie es ja eigentlich immer die Wirtschaftsleute sind, die de facto über Krieg und Frieden und das Glück und das Elend einer Gesellschaft entscheiden. An welchen Fronten auch immer. Das führte aber ebenso zu ihrer Gefährdung, obwohl natürlich der Linksterrorismus seine Bedeutung verloren hatte. Die Leute, die heute noch Terrorakte verübten, suchten sich dafür nicht Personen wie Oswald aus, sondern die weichsten und leichtesten Ziele, fuhren in einen Weihnachtsmarkt, deponierten eine Bombe in einem Schnellzug oder schossen in einem Konzert wild um sich, um alles zu töten, was lebte. Terrorismus war eine Sache für Feiglinge und Faule geworden, und für Leute – man muss es so sagen, auch wenn es schlimm klingt – ohne jegliche Fantasie.

Nein, die Bedrohung kam gewissermaßen aus den eigenen Kreisen, wenn man zum Beispiel mafiöse Organisationen oder geheimdienstliche Apparate als einen Teil der Wirtschaft begriff, und das war ja der Fall. Das waren Leute mit einem ziemlich üblen Sportsgeist, die nicht davor zurückschreckten, unliebsame Vertreter der bürgerlichen Elite einzuschüchtern oder zu disziplinieren. Abgesehen davon, dass Rivalitäten auch in den Reihen der Wirtschaftsbosse nicht immer nur auf legale Weise ausgefochten wurden. Und darum gehörte es zu den Notwendigkeiten eines Mannes wie Oswald, nicht ohne Security unterwegs zu sein. Das galt für sein Unterwegssein in der Welt, es galt aber auch für sein Leben in den eigenen vier Wänden, sosehr es eher vier hoch zwei Wände waren.

Für diese Sicherheit in Oswalds privatem Reich war ein Leibwächter verantwortlich, selbstredend ein Schrank von einem Mann. Aber in der Art elastischer Schränke. Und diesem Mann erklärte Oswald, nur kurz nachdem Christine zusammen mit dem Klimt das Haus verlassen hatte, er sei gekündigt. Und möge bitte sogleich seinen Job beenden.

„Wieso denn?“, wollte der Leibwächter wissen, der ja schon einige Jahre an diesem Ort seinen Dienst versehen hatte.

„Es ist eine Form von Reinigung“, erklärte Oswald.

„Halten Sie mich für schmutzig?“

„Sie missverstehen das. Die Reinigung bezieht sich auf mich, nicht auf Sie. Sie brauchen es nicht persönlich zu nehmen. Nehmen Sie es sachlich.“

Der Mann war Bulgare und verwechselte sachlich mit Sache, weshalb er sich fragte, von was für einer Sache hier die Rede sei. Aber was sollte er tun? Oswald bestand darauf, dass er ging. Also ging er. Gab freilich der Firma Bescheid, in deren Auftrag er bei Oswald tätig gewesen war. Eine Firma, die sofort einen Ersatzmann schicken wollte. Doch Oswald wehrte ab, ebenso die Frage, ob ihm ersatzweise eine Frau lieber wäre. Nein, sagte er, er wolle derzeit ohne „die Anwesenheit eines Schutzes“ auskommen und würde sich melden, sobald sich dieses Bedürfnis gelegt habe.

Noch während er dieses Telefonat führte, stand um die Ecke im weiten, offenen, stählernen Küchenbereich seine Köchin, auch sie Bulgarin, was aber ein reiner Zufall war. Sie sprach ein ungemein hübsches Deutsch, als sitze dieses Deutsch auf einer Schaukel mit durchsichtigen Seilen, vor allem aber gehörten ihre gefüllten Paprika und ihre Palacinka zu den exzellentesten auf der Welt. Wie auch die kunstvollen, vielschichtigen Sandwiches, die sie soeben für Oswald bereitete. Sandwiches als ein Ausdruck gewitzter Durchtriebenheit. Denn Oswald aß abends, zumindest wenn er zu Hause blieb, immer nur kalt, während seine Frau Christine abends nie etwas gegessen und konsequenterweise auch nie etwas gekocht hatte. Sie besaß diesen Körper einer Hungerkünstlerin.

Und auch der Gärtner stand noch draußen bei den Hecken, an denen er mit viel Feingefühl herumschnippelte. Er war ein älterer Mann mit unklarer Herkunft – einmal stammte er aus einer Familie israelischer Palästinenser, dann wieder aus einer Sippe libanesischer Juden. Geradezu, als sei er ein fleischgewordener Konflikt. Ein Konflikt, der sich in die ausgedehnte Gartenlandschaft eines reichen Mannes österreichisch-indischer Herkunft geflüchtet hatte.

Aber diese Köchin und dieser Gärtner waren bereits längst nach Hause gegangen, als sich Ashok Oswald zu der Kasperlfigur in den vergilbten IKEA-Karton legte und nach dem kurzen Schrecken einer eingebildeten Handauflegung tatsächlich in den Schlaf fand.

Und nun saß er also nach einer harten Nacht an dem großen Stehtisch in seiner von einem ungarischen Küchendesigner mit viel Naturstein, Beton, Glas und Teakholz komponierten Küche und hatte vor sich einen Espresso, der in dem kleinen Gefäß eine unheimliche Tiefe suggerierte. Oswald spürte die Feuchtigkeit, die sich im Laufe der Nacht in seiner Unterkleidung angesammelt hatte. Er hatte heftig geschwitzt in dem engen, warmen Karton. Und die Kasperlfigur in seinem Rücken hatte auch nicht gerade zur Kühlung beigetragen. Er erinnerte sich, mehrfach von seiner ersten Frau geträumt zu haben, von Margot, was erstaunlich war, wenn man bedachte, dass er soeben von seiner zweiten Frau verlassen worden war. Er hatte Margot kennengelernt, nachdem er in den Vorstand jenes Lebensmittelkonzerns gewechselt war und es während der Bauarbeiten zu einem Meteoriteneinschlag in seinem ersten Pool gekommen war. Was ganz unmittelbar mit dem Kennenlernen zusammenhing, da die damals sechsundzwanzigjährige Margot als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Uni Köln und als Spezialistin für Kosmochemie jenen Brocken untersuchte, der da in Oswalds Pool gelandet war und den die Uni gerne im Dienste der Forschung in staatlichen Besitz übertragen hätte. Aber Oswald bestand nun mal darauf, diesen Weltraumstein zu behalten, auch mit der völlig unlogischen Begründung, dieser sei schließlich nicht ganz zufällig hier auf seinem Grundstück gelandet. Anstatt etwa irgendwo auf dem Gelände der Universität zu Köln, wo es ja durchaus genügend Platz dafür gegeben hätte.

Man hätte natürlich auch vermuten können, Oswalds Sturheit – sein Anwalt argumentierte erfolgreich, dass der Meteorit aufgrund seiner außerirdischen Herkunft als „herrenloser Gegenstand“ zu begreifen sei, der alleine dem Finder gehöre –, dass also Oswalds Sturheit dazu diente, im Zuge solcher Streitigkeiten den Kontakt zu der zehn Jahre jüngeren Frau zu erhalten. Und genau das war der Fall. Denn so wie Oswald den Stein nicht losließ, ließ er auch Margot nicht los, obgleich es dauerte, bis sie ein Paar wurden. Er bot der Wissenschaftlerin alle Freiheiten an, wenn es darum ging, den Meteoriten zu untersuchen, bestand aber darauf, das Objekt als natürlichen Beitrag in seine künstliche Kunstsammlung aufzunehmen.

Margot wurde drei Jahre nach dem Meteoritenvorfall seine Frau, ohne darum ihre Karriere zu beenden. Wobei es einige Leute gab, die meinten, sie sei auf solche Weise doch noch in den Besitz des Steins gelangt. Als sie dann allerdings viele Jahre später dieses Haus verließ – nicht zuletzt hatte sie an diesem Ort 2002 und 2004 ihre beiden Söhne auf die Welt gebracht –, verzichtete sie darauf, den Meteoriten mit sich zu nehmen. Im Gegensatz zu ihrer Nachfolgerin, die darauf bestand, zusammen mit der Klimt-Zeichnung zu gehen und nie wieder zurückzukehren. Wobei eine gewisse Ironie darin bestand, dass Oswald dem Brocken aus dem All aufgrund seiner stellenweise goldgelben Färbung genau diesen Namen gegeben hatte: Klimt, während die offizielle Namensgebung nach dem Fundort erfolgte, also Marienburg (Köln).

Somit waren einige Zeit lang zwei Klimts in diesem Gebäude gewesen. Seit gestern hingegen gab es nur noch jenen außerirdischen Klimt, während der irdische mit der dreißigjährigen Geliebten eines Familienanwalts und demnächst von Oswald geschiedenen Frau mitgegangen war.



2

Ashok Oswald nahm einen Schluck vom kräftigen Espresso, rutschte dann vom Hocker herunter und begab sich in eins der Badezimmer, wo er sich seiner verschwitzten Kleidung entledigte. In der Folge schlüpfte er in eine Badehose und wechselte ins Freie, hinaus in den frühen Morgen, der bereits mit einiger Wärme und einem von der Nacht gereinigten blauen Himmel aufwarten konnte. Oswald bewegte sich hinüber zu dem sinnlos großen Bassin, warf sein Handtuch wie ein erlegtes Gespenst auf einen der Liegestühle und sprang ohne weitere Umstände ins Wasser.

Oswald war nicht unbedingt ein schlanker Mann, sondern besaß eine gewachsene Fülle. Aber es gab in der Welt der Menschen wie in der der Tiere gewichtige Typen, die sich bestens im Wasser zu bewegen verstanden. Und in der Tat, Oswald verfügte über diese gewisse Eleganz großer Robben, wenn er seine hundert Kilo kraulend von einem Beckenende zum anderen beförderte und mit konstanter Geschwindigkeit seine Bahnen zog. Er liebte das Kraulen, weil dabei ein wiegender Rhythmus entstand, der ihm das Gefühl gab, das Wasser selbst ziehe ihn Stück für Stück zu sich her. Zumindest, dass er mittels der eigenen wiegenden Bewegung vom Wasser getragen und befördert wurde. Während ihm das Brustschwimmen wie ein Gewaltakt gegen das Wasser vorkam. Wie Rudern oder Walfang.

So zog er also durch das Wasser beziehungsweise wurde vom Wasser gezogen, als er beim Drehen des Kopfes und dem kurzen Atemholen drei Personen zu erkennen meinte, die sich am Poolrand entlangbewegten. Er hielt aber nicht etwa an, um zu sehen, ob es Gehilfen des Gärtners waren oder Leute von der Gebäudereinigung, wie auch immer die um diese Zeit hereingekommen waren – möglicherweise war Oswalds Köchin, schließlich die Einzige, die einen Schlüssel besaß, bereits im Haus und hatte ihnen geöffnet –, sondern schwamm weiter. Es gehörte zu seinen unbedingten Prinzipien, die veranschlagte Zahl von Bahnen einzuhalten, die er abends wie morgens schwamm. Dies nicht zu tun, in irgendeiner Form oder aus irgendeinem Grund zu unterbrechen oder frühzeitig aufzugeben wäre ihm erschienen wie der Anfang vom Ende. Wie die Niederlage, von der man sich – wie gerne gesagt wird – nie wieder erholt. Nein, drei Leute, egal, was sie hier verloren hatten, konnten ihn nicht daran hindern, die verbliebenen viereinhalb Bahnen zu absolvieren. Da hätte schon etwas kommen müssen … etwas in der Art eines herabstürzenden Meteoriten.

Als er dann ein letztes Mal eine Wende vollzog, erkannte er beim Abstoßen, dass sich die drei am oberen Ende des Pools aufgestellt hatten und einer von ihnen durch eine Handbewegung zu verstehen gab, er, Oswald, möge endlich aus dem Wasser steigen. In dieser Handbewegung vereinten sich eine Strenge und Ungeduld, die diesem Menschen, wer auch immer er sein mochte, in keiner Weise zustand. Nicht hier, nicht auf diesem Grundstück. Und wäre er von der Polizei.

Aber von der Polizei war er nicht.

Oswald schwamm die Bahn zu Ende, wobei er das Tempo stärker drosselte als üblich auf den letzten Metern, willentlich der Ungeduld des mit der Hand winkenden Mannes eine Demonstration der Langsamkeit entgegensetzend. Die Armzüge mit besonderer, stark verzögerter Akkuratesse vornehmend. Zeitlupe!

Und so schlug Oswald auch in Zeitlupe an, bevor er den Kopf aus dem Wasser hob und zu den dreien am Rand des Beckens hochsah.

Er kannte sie nicht. Ein junger Mann und eine junge Frau und ein älterer Mann – jener, der ihn gestisch angewiesen hatte, aus dem Wasser zu kommen.

Was er nun auch tat, dabei aber nicht die Treppe nutzte, sondern seine hundert Kilo geschickt hochkatapultierte. Sodass er recht knapp vor den drei Fremden zu stehen kam und einige Tropfen von seinem poolnassen Körper auf sie hinüberspritzten.

„Was tun Sie hier?“, fragte er. Und erkundigte sich, ob die drei vom Reinigungsteam seien. Oder von der Gärtnerei.

„Reinigungsteam trifft es eher“, sagte der, der hier das Sagen hatte und trotz der Wärme eine schwarze Lederjacke und eine schwarze lederne Hose trug, was wohl bedeutete, dass er Teile seines Lebens auf einem Motorrad zubrachte. Und der jetzt mit einer Stimme, in der ebenfalls einiges von Schwarz steckte, Oswald anwies, sich nach drinnen zu begeben und sich etwas anzuziehen.

Oswald schüttelte lachend den Kopf und meinte, dass er ganz gewiss nicht …

Ja, er wollte sagen, dass, wenn es ihm Freude bereite, er auch die nächste halbe Stunde hier in der Badehose stehen und in die Morgensonne blinzeln könne, aber so weit kam er nicht. Der junge Mann – vielleicht doch einer aus dem Trupp der Gebäudereinigung – war vorgetreten und hatte Oswald einen kurzen, heftigen Schlag in die Magengrube verabreicht. Gerade so, dass Oswald nicht zusammenbrach, aber doch in die Knie ging und kurzfristig das Atmen einstellte. Während seine Körpermitte für einen Moment verwirrt und beleidigt die Welt als einen hässlichen Ort gewahrte.

Oswald richtete sich wieder auf und entließ ein Schwall aufgesparter Atemluft.

„So, können wir jetzt“, sagte der Lederjackenmann, während der junge Schläger wieder zurückgetreten war und seine Hände hinter dem Rücken verschränkte, so, als stelle er ein Gewehr zurück.

„Ich weiß nicht, was Sie sich davon erwarten“, meinte Oswald.

„Ich schon.“

Oswald setzte sich in Bewegung, dabei traf sein Blick den der jungen Frau. Und jetzt begriff er, sich getäuscht zu haben. Nicht der junge Mann, sondern die junge Frau hatte zugeschlagen. Er konnte es in ihren Augen lesen. Weniger eine Freude oder einen Triumph, mehr eine Bestimmtheit, mit der sie, die Frau, tat, worum sie gebeten und wofür sie bezahlt wurde. Denn sie wurde doch ganz sicher bezahlt. Was hier geschah, geschah im Auftrag. Und es fragte sich nur, in wessen und wozu. Und ob es sich eher um etwas Geschäftliches oder etwas Privates handelte. Oswald überlegte, wie weit Christian, Christines Anwalt, wohl gehen würde. Es war bekannt, mit was für Leuten er sich mitunter abgab. Aber was um Himmels willen wollte er denn? Christine hatte er doch schon. Noch einen Klimt?

Oswald wurde also in das Haus hineineskortiert, wo er in Hose und Hemd und Sandalen schlüpfte und man sich sodann zu viert in den Hauptraum begab. Dort, wo über einem mächtigen Sofa ein Gemälde von Seurat hing, Badende Frauen, Frauen, hinter denen wiederum ein Tresor im Mauerwerk steckte.

„Sie brauchen sich gar nicht die Mühe machen, mich zu foltern“, verkündete Oswald.

„So hart?“, meinte der Lederjackenmann belustigt.

„Ganz im Gegenteil“, sagte Oswald, „ich vertrage keinen Schmerz. Sie müssen sich nicht noch einmal die Mühe machen, mir wehzutun. Sie bekommen, was Sie wollen. Hier hinter dem Seurat … Sie wissen, was ein Seurat ist? Dort also ist mein Safe, ich gebe Ihnen den Code. Wenn es das ist, was Sie wollen, in meinen Safe sehen. Oder ist es der Seurat? Oder beides?“

„Weder noch“, sagte der Lederjackenmann, „obwohl ich das Bild auf etwa hundert Millionen schätze. Aber ich weiß nur zu gut, dass wenn ich dieses Gemälde abhänge, um an Ihren Safe zu gelangen, ich einen Alarm auslöse, der halb Köln aus dem Schlaf reißt. Also die, die jetzt noch schlafen. Und außerdem hat mich weder der Seurat noch ihr dummer Safe zu interessieren. Darum sind wir nicht hier.“

„Ach ja, und warum sind Sie hier? Mir mein morgendliches Schwimmen zu verderben?“

„Sie haben ein großes Mundwerk dafür, dass Sie angeblich keinen Schmerz vertragen. Ich sollte das überprüfen.“

„Nein, bitte, lassen wir das aus. Worum geht es also?“

„Um ein Manuskript.“

„Manuskript? Kann es sein, dass Sie sich in der Adresse geirrt haben? Hier gibt es keine Manuskripte.“

„Das sehen meine Auftraggeber anders.“

„Sie arbeiten also gar nicht für sich selbst.“

„Würde ich für mich selbst arbeiten, würde ich vielleicht doch noch die Alarmanlage kappen und den Seurat mitnehmen. Und mich mit dem Geld zur Ruhe setzen. Das ist ein wunderbares Bild. Andererseits, wer kann mit Ruhe rechnen, wenn er einen Seurat stiehlt? Wie auch immer, meine Auftraggeber möchten, dass Sie sich von einem Manuskript trennen, in dessen Besitz Sie vor vierzig Jahren gelangt sind. Sie erinnern sich doch?“

„Um ehrlich zu sein …“, begann Oswald und wollte schon sagen, keine Ahnung zu haben, wovon die Rede sei. Aber da war eine Bewegung in den Augen des Lederjackenmanns, ein Blitzen, das nun endgültig beträchtlichen Schmerz versprach. Auch wenn der Verursacher des Schmerzes die junge Frau sein würde. Außerdem, es stimmte, es gab ein Manuskript. Nur hatte Oswald schon lange nicht mehr daran gedacht.

„Sie meinen den Hunger, oder?“, fragte Oswald.

„Ich meine den Hunger, richtig“, sagte der Leckerjackenmann und nahm ein wenig von der Ankündigung eines Schmerzes aus seinen Augen und seinem Blick.

Ja, so lautete der Titel dieses Manuskripts: Hunger. Was natürlich an jenen berühmten Roman von Knut Hamsun von 1890 denken ließ. Und das hätte schließlich auch erklärt, wieso der Lederjackenmann und seine beiden Gehilfen den Seurat verschmähten und nach einem Manuskript fragten. Wenn man sich nämlich vorstellte, Oswald würde das handgeschriebene Originalmanuskript von Hamsuns Roman besitzen. Also in der Fassung, in der sich noch gewisse blasphemische und erotische Stellen befanden, die zwar in der ersten Ausgabe enthalten waren, aus späteren jedoch getilgt wurden und erst im 21. Jahrhundert wieder ins Buch zurückfanden. Im Gegensatz zu manch anderem, was heutzutage gleich einer verspäteten Zensur gestrichen oder verändert wurde.

Aber es war nicht Hunger von Knut Hamsun, was hier gemeint war, sondern ein Romanmanuskript desselben Titels, das Oswald vor vierzig Jahren, genauer gesagt vor einundvierzig Jahren, vom Autor selbst erhalten hatte. Das angeblich einzige Exemplar. Das war 1983 gewesen, eine Zeit, als Autorinnen und Autoren ihre Texte noch in irgendeine Art von Schreibmaschine getrommelt hatten, im Falle von Hunger eine IBM-Kugelkopfschreibmaschine. Das war die, die dieses hübsche wie heftige Geräusch machte, von dem einmal gesagt wurde, es höre sich an wie jemand, der es allen recht machen wolle und sich darum wie verrückt nach allen Seiten drehe. Jedenfalls war dieser gut dreihundert Seiten starke Roman auf einer solchen IBM geschrieben und von Hand korrigiert und verbessert worden. Den Autor hatte Oswald in jenem Jahr 1983 kennengelernt, da war er selbst gerade dreiundzwanzig gewesen und hatte sein Praktisches Jahr in der Lebensmittelbehörde begonnen, wie auch seine verspielten Forschungen im Rahmen der Steinpilzzucht.

Er war an diesem glasklaren, eisigen Dezembernachmittag soeben auf seinem Heimweg gewesen und an einer Straßenbahnhaltestelle gestanden, an der eine Menge Leute warteten, darunter eine Gruppe Jungs, vielleicht sechzehn, siebzehn, total enthemmt, laut, gefährlich, die auch gefährlich nahe an ein Mädchen herangetreten waren, das bewegungslos und mit bestrumpften, eng zusammengepressten Beinen am Rande der Station stand, während sie ihren Oberkörper in einer Pelzjacke wie in ein wildes, jetzt aber totes Tier verpackt und versteckt hatte. Auch sie wartete, vor allem darauf, dass die Jungs aufhörten, sie mit obszönen Gesten zu bedrohen. Oder dass einer von den herumstehenden Erwachsenen sich endlich ein Herz fasste, immerhin ebenfalls ein Muskel … Aber ausgerechnet die drei, vier Männer, die so aussahen, als hätten sie auch anderswo Muskeln, blickten weg oder bemerkten wirklich nicht, wie gefragt sie hier gewesen wären. Und auch Oswald, der sehr viel weniger zart war als seine Mutter und sein vom Krieg gezeichneter Vater, unternahm nichts, obgleich er überlegte, ob er … Im Nachhinein dachte er sich, dass er wahrscheinlich bis ans Ende der Tage hätte überlegen können, ohne etwas zu tun, versteinert in der Abwägung. Außerdem, es war wirklich kalt und seine Zehen halb erfroren, und er war Lebensmittelkontrolleur und nicht Polizist. Und noch besaß niemand ein Handy, um genau jene Polizei zu rufen (obgleich auch viele Jahre später trotz totaler Kommunikation nicht wenige Menschen sich fragten, wo nur die Polizei blieb, wenn man sie brauchte, und sie leider erst dann aufzutauchen pflegte, wenn man mit seinem Wagen auf einem Behindertenparkplatz stand).

Als er da in seiner Versteinerung hin und her überlegte, bemerkte er den Mann, der sich an den Umstehenden und ebenfalls Versteinerten vorbeidrängte, auf das Mädchen und die Jungs zu und in einem von Sachlichkeit und Selbstbeherrschung bestimmten Ton einfach meinte: „Hört auf, Kinder, mit dem Unsinn!“

Die solcherart Angesprochenen wandten sich dem Mann zu, der wohl so Mitte dreißig war, Anzugträger, glatter Wintermantel, Schal um den Hals, über dem der Knoten einer silbrig glänzenden Krawatte wie ein versinkender kleiner Mond hervorleuchtete. In seiner mit einem feinen Wollhandschuh bekleideten Hand trug er eine schmale lederne Aktentasche.

Sie blickten ihn erstaunt an, die „Kinder“, verblüfft ob solcher selbstmörderischer Dreistigkeit. Einer von ihnen, der sichtlich kräftigste und schamloseste, bekleidet mit einem offenen Burberry über dem Lacoste-Pullover, verzog sein Gesicht zu einer verächtlichen Grimasse und meinte: „Hey, du Schwuchtel, bist du verstrahlt? Hau ab, oder ich reiß dir den Schädel ab.“

„Ist das wirklich nötig?“, fragte der Mann.

„Was, dass ich dir eine knalle, Schwuli?“

Der Mann schüttelte den Kopf. In seinem Gesicht war ein Ausdruck echten Bedauerns ob der Dummheit einer Welt, die es einfach nicht fertigbrachte, nicht in die Pfütze zu treten. Er sagte: „Gut, wenn es sein muss.“

Dann wandte er sich zu Oswald um, der zufälligerweise hinter ihm stand, und sagte: „Seien Sie so gut!“

Er reichte Oswald zuerst die Aktentasche, dann entledigte er sich des Mantels, den er sorgsam zusammenlegte und Oswald paketgleich ebenfalls überreichte. Und genauso machte er es auch mit seinem Sakko und seinem Seidenschal, zog seine dünnen Wollhandschuhe aus und griff schließlich nach dem unteren Ende seiner Krawatte, um sie sich zwischen den Schlitz zweier Hemdknöpfe zu stecken. In der Folge öffnete er die Manschetten seines reinweißen Hemds, das ein wenig um seinen schlanken Körper zu flattern schien, frühlingshaft, so wenig grad Frühling war, und faltete die Ärmel über seine Ellenbogen hoch.

So stand er da, bei minus zwei Grad, in seinem Frühlingshemd und mit gesicherter Krawatte. Und eben mit nackten Unterarmen, die ungemein drahtig und sehnig aussahen. Modelliert (als dieses Wort in der Körperkultur noch keine Bedeutung besaß). Modelliert und modellhaft. Und obgleich Bruce Lee bereits genau zehn Jahre tot war, so geisterte durch die Hirne junger Männer noch immer der flinke Körper dieses sinoamerikanischen Kampfkünstlers.

Und das, was man hier sah, oder zu sehen meinte, waren nicht nur diese wie aus Bambus geschnitzten Unterarme, sondern ebenso die Haltung eines Mannes von vollkommener Selbstsicherheit. Wozu auch gehörte, dass er Mantel, Tasche und Sakko in eine sichere Verwahrung gegeben hatte.

Der auf solche Weise Entkleidete lächelte wie in freudiger Erwartung, dieser Mann von Bruce-Lee’scher Strahlkraft in seinem blütenweißen Herrenhemd, das ein warmer imaginärer Vorfrühlingswind in Bewegung zu setzen schien (dass der Mann vielleicht fror und also zitterte, schien unmöglich). Der Anführer der Jungs war gebührend verunsichert. Er machte zwar noch irgendwelche abfälligen Bemerkungen, aber in seinem Gemurmel breiteten sich Furcht und Verzweiflung aus. Er ahnte Schlimmes. Und weil da gerade die Straßenbahn einfuhr, tat er so, als müssten er und seine Freunde unbedingt pünktlich zu Hause sein, um ihre Schulaufgaben zu erledigen.

„Beim nächsten Mal …“, sagte er, während er einstieg. Aber er wusste wohl selbst, wie wenig er sich nach einem nächsten Mal sehnte. Er so wenig wie seine Freunde. Alle stiegen ein und fuhren davon.

Und das Mädchen? Es war nirgends zu sehen. War es ebenfalls eingestiegen? Hatte es die Situation genutzt, um sich zu Fuß auf den Weg zu machen und die dummen Männer ihrem Schicksal zu überlassen? – Man hätte meinen können, sie sei bloß einer dieser Engel gewesen, die hin und wieder unter die Menschen traten und nachsahen, ob sich etwas gebessert hatte. Um dann leider festzustellen, dass zwar die Autos sicherer geworden waren, aber nicht die Straßen.

„Auch gut“, sagte der Mann, wandte sich wieder Oswald zu und erlöste ihn nach und nach von den Handschuhen, von Sakko und Schal, dem Wintermantel sowie der Aktentasche, eine Tasche, so dünn und leicht, dass darin kaum etwas anderes als ein Packen Papiere sein konnte. Und etwas anderes war ja auch nicht darin.

Nachdem der Mann also aus seiner frühlingshaften Kampfkleidung wieder in seine wintergemäße Ausstattung zurückgekehrt war, sagte er zu Ashok: „Sie wollten sicher auch die Straßenbahn nehmen, sorry.“

„Eigentlich schon“, antwortete Oswald, beeilte sich aber zu erklären, dass er sehr gerne als zeitweilige Kleiderablage gedient habe. So sagte er es nicht, aber dem Sinn nach schon.

„Darf ich Sie zur Wiedergutmachung auf einen Kaffee einladen?“, fragte der Mann, während er den Krawattenknoten noch etwas zur exakten Mitte hin verschob, sodass tatsächlich eine schimmernde silbrige Spiegelung auf dem feinen dunkelblauen Seidenschal zu erkennen war, als sei’s ein Gemäldetitel: Mond über nächtlichem Meer.

Wie gesagt, man schrieb Dezember 1983. Im Frühjahr war über die ersten AIDS-Toten in Österreich berichtet worden, und im Sommer war mit Klaus Nomi der erste bekannte Popstar daran verstorben, weshalb es hieß, sogar Mickymäuse könnten dieser Krankheit erliegen. Vor allem ging eine große Angst vor Homosexuellen um, der Begriff der Schwulenpest wurde kreiert, und manche dachten, es genüge wohl, von einem Schwulen angehaucht zu werden, wie es dann viele Jahre später tatsächlich genügte, angehaucht zu werden, um sich ein bestimmtes Virus einzufangen.

Oswald war gewiss nicht homophob, allerdings ein ziemlicher Hypochonder und neigte darum zu einer gewissen Paranoia. Nicht, dass er meinte, ein Atemzug genüge, um sich anzustecken, aber die Einladung zum Kaffee versetzte ihm doch einen Schrecken. Ein Schrecken, den wohl auch der Mann registrierte, der sich jetzt mit seinem Namen vorstellte, Peter Bischof, und der mit einem kleinen Lächeln – das praktisch den silbrigen Mond nun auch nach oben hin widerspiegelte – erklärte, dass die Einladung zum Kaffee ganz sicher nichts anderes sei als eine Einladung zum Kaffee. Was aber nicht sein müsse, natürlich nicht.

„O ja, gerne!“, sagte Oswald, der bei aller Hypochondrie und anfallsweisen Paranoia ein im Grunde neugieriger Mensch war. Kein Wunder bei jemandem, der gerade versuchte, unzüchtbaren Pilzen auf die Schliche zu kommen. Und auch er nannte nun seinen Namen.

Die beiden bewegten sich von der Straßenbahnhaltestelle weg, während mit einer unheimlichen Plötzlichkeit der Himmel vom wolkenlosen Blau zum Grau einer massiven Bedeckung wechselte und es aus diesem Grau heraus zu schneien begann.

Sie gingen in eines dieser alten Kaffeehäuser, die entlang des sogenannten Gürtels standen. Spätere Generationen konnten sich das kaum noch vorstellen, aber zu dieser Zeit glich das Eintreten in ein Kaffeehaus dem Eintreten in ein impressionistisches Gemälde, verursacht vom Qualm unzähliger Zigaretten, die hier Stunde um Stunde verraucht wurden und einen dichten Nebel schufen. Ein Nebel, der im Übrigen die meisten Menschen hübscher aussehen ließ, wie man ja auch sagen konnte, ein von Monet oder Renoir porträtierter Mensch habe auf den Gemälden besser ausgesehen als in Wirklichkeit. Natürlich, für die Gesichtshaut waren diese Zigaretten – gleich ob inhaliert oder von deren Schwaden umspielt – nicht sonderlich gut, aber solange man im idealisierenden Nebel des Kaffeehauses saß, war es nicht so wichtig, wie gut oder schlecht die Haut von jemandem war.

Oswald und Bischof nahmen an einer der Fensterlogen Platz, eckige Sitzbänke, in denen sich die Gesäße der Stammgäste eingegraben hatten, gleichermaßen wie der Nebel eingesickert war und den graublauen Polsterungen einen Geruch verlieh, der das Gegenteil von kaltem Rauch war, nämlich warmer Rauch. Vom rückwärtigen Teil drang das Klingklang der Billardkugeln herüber, zart begleitet von den Geräuschen geschobener Schachfiguren.

Ein Kellner erschien mit einer gänzlich untypischen Eifrigkeit. Offensichtlich war Bischof nicht nur zahlender Stammgast, sondern auch versierter Trinkgeldgeber. Das führte zwar nicht bei jedem Kaffeehauskellner zu einer Beschleunigung und zur Aufgabe eingeübter Unhöflichkeiten, aber bei diesem einen eben schon. Ein wenig so, wie man sagt: Schnee in Tel Aviv.

Beide bestellten einen sogenannten Kleinen Braunen. Bischof zog eine Zigarettenpackung aus der Innentasche seines Jacketts und bot Oswald eine an. Dieser nahm dankend an. Und so rauchten sie, praktisch einer in den anderen hinein, jedenfalls querten sich die aus Mund und Nasen strömenden Wölkchen wie ineinander dringende Fahnen. Als wär’s ein Staatsbesuch.

„Die Jungs hatten wirklich Glück“, meinte Oswald mit einem genüsslichen Grinsen, „dass da grad die Straßenbahn kam und sie gerettet hat.“

„Nun, in Wirklichkeit hat die Straßenbahn mich gerettet“, meinte Bischof.

„Das verstehe ich nicht.“

„Was denken Sie? Dass ich es mit denen echt hätte aufnehmen können?“

„Ja, ich dachte, genau das sei der Plan. Und er hat ja funktioniert.“

„Was funktioniert hat“, erklärte Bischof, „war die Geste. Das Theater. Die Inszenierung. Sich an einem bitterkalten Tag bis aufs Hemd auszuziehen.“

„Auf diese Weise sind aber Ihre Kung-Fu-Unterarme sichtbar geworden.“

„Was meinen Sie? Die Streifen?“

„Nun ja …“

„Eine Verletzung“, sagte Bischof, „Narben von einem Unfall, den ich vor zehn Jahren hatte. Eine Dummheit, kurzärmelig mit einem Motorrad durch die Gegend zu rasen und auch dann gerade weiterzufahren, wo eine Kurve eher zum Gegenteil Anlass gegeben hätte. Aber nein, Kung Fu, das ist nicht mein Ding.“

Er lachte und versicherte, weder diesen noch andere Kampfkunststile zu beherrschen und genau genommen von schwacher Konstitution zu sein. Zum Beispiel im Unterschied zu ihm, Oswald. Was Oswald natürlich daran erinnern sollte, nichts unternommen zu haben, um dem Mädchen zu Hilfe zu eilen. Er, eins dreiundachtzig groß, muskulös, schwergewichtig, aber nicht unbeweglich. Während Peter Bischof tatsächlich von schmaler und feingliedriger Gestalt war, eigentlich viel eher der Sohn von Ashoks Vater hätte sein können.

Der Eindruck wehrhafter Drahtigkeit rührte ganz einfach von den länglichen Narben an seinen Unterarmen her.

„Wow!“, sagte Oswald, „Sie haben also gepokert. Psychologie!“

Er sei Schriftsteller, erklärte Bischof, und damit ein Spezialist für Erfindungen. Für Erfindungen und Täuschungen und Verwandlungen. Das könne freilich auch schiefgehen. Manche Haie, die man anschreie, würden leider doch nicht abdrehen. Doch es lohne den Versuch und geschehe schließlich nicht jeden Tag.

„Und was schreiben Sie so?“, erkundigte sich Oswald, der sich als Wissenschaftler gewissermaßen auf der anderen Seite des Spektrums wähnte, obgleich seine Steinpilzforschung nicht völlig ohne magische Momente auskam.

„Romane“, antwortete Bischof und ergänzte, dass der Plural nicht ganz korrekt sei, weil er nach vielen angefangenen und nie beendeten Geschichten soeben erst seinen ersten Roman auch wirklich zu Ende gebracht habe und nicht einmal sicher sei, ob er sich um eine Publikation bemühen werde.

„Mit dreiunddreißig“, sagte er, „sollte man langsam etwas veröffentlicht haben. Auf der anderen Seite ist das Schönste an einem Erstling die Möglichkeit, dass dieser sehr viel später, am besten ganz zum Schluss, am besten, wenn der Autor selbst nicht mehr lebt, als gedrucktes Werk erscheint. Der Prolog als Epilog.“

„Das muss man sich aber leisten können“, fand Oswald.

Keine Frage, so Bischof, dass jegliche Dekadenz – und es sei dekadent, einen Erstling ans Ende verschieben zu wollen – aus einem gewissen unverdienten Reichtum resultiere. Der in seinem Fall bescheiden sei, aber ausreichend. Das Erbe seiner leider früh verstorbenen Eltern. Zwei Mietshäuser, die er verwalte, wobei es sicherlich zu den schändlichsten Einkünften eines Menschen gehöre, für ein Haus, welches man selbst weder erbaut noch erdacht oder dort auch nur die Wände gestrichen habe, andere zur Kasse zu bitten. Aber aus dieser Falle werde er so rasch nicht herauskommen. Er könne es sich nicht leisten, schon gar nicht als Schriftsteller. Außerdem enthalte sein Buch gewisse Stellen, die jetzt zu publizieren zu früh sei.

„Wieso zu früh?“

„Weil sie wirkliche, real lebende Personen betreffen.“

„Soll das heißen, diese Personen sollten auch erst tot sein, bevor das Buch erscheint?“, fragte Oswald nicht ohne Belustigung.

Bischof hingegen meinte ernst, dass das in der Tat besser wäre. So wenig Mitleid er mit gewissen in seinem Roman beschriebenen Figuren hätte, würde ihm der veröffentlichte Text wohl einige Probleme bereiten.

„Das klingt jetzt ziemlich abenteuerlich“, fand Oswald. „Wollen Sie nicht etwas konkreter werden?“

„Nein, lieber nicht“, sagte Bischof, „das wäre nämlich so, als würde ich das Buch doch noch herausbringen, anstatt darüber zu schweigen und es an das Ende meines Lebens zu stellen, genauer gesagt hinter das Ende.“

Oswald dachte sich: Ah ja, so schweigen also Künstler. Indem sie Andeutungen machen, Neugierde wecken und dann erklären, nichts erklären zu können. Wie dieser Typ vor seinem Gemälde, der eine halbe Stunde darüber redet, beim besten Willen nicht sagen zu können, wie und warum er gemacht habe, was er gemacht habe. Als würde sich der Strich selbst streichen.

Dennoch, Bischof war ihm nicht unsympathisch. Er hatte etwas von einem Aristokraten, der zwar die Aristokratie für einen Unsinn hält, sich aber seiner Herkunft nicht entziehen kann. Es war etwas lustvoll Depressives an diesem Mann, etwas elegant Schwindsüchtiges. Oswald war ziemlich überzeugt davon, dass Bischof nicht nur seinen Erstling niemals veröffentlichen würde, sondern auch alle Romane, die noch folgen sollten. Dass er in Wirklichkeit die Niederlage und Demütigung scheute, die so viele an Verleger und Agenten geschickte Manuskripte nach sich zogen. Dass es eben seiner aristokratisch-anarchischen Ader widersprach, sich derartigen bürgerlichen Erniedrigungen auszusetzen.

Jetzt wollte Oswald aber doch wissen, wie der Roman hieß und worum es ging, also nicht worum konkret, wenn Bischof darüber nicht reden wolle, aber doch, was die Basis der Geschichte sei. Ihr Fundament.

„Hunger“, sagte Bischof.

„Hunger ist das Fundament?“

„Der Titel ebenso wie das Fundament.“

Oswald sagte, er meine sich zu erinnern, dass ein Buch mit diesem Titel bereits existiere.

„Natürlich“, antwortete Bischof und erklärte, ganz bewusst die Unverfrorenheit besessen zu haben, für seinen Roman den gleichen Titel gewählt zu haben wie Knut Hamsun für sein epochales Werk einer frühen Moderne. Auch wenn es bei ihm nicht um den Hunger von Hamsuns Protagonisten gehe, der ja tatsächlich hungert, sondern um den Lebenshunger einiger junger Menschen Mitte der 1970er-Jahre, die durch ein schreckliches Geheimnis aneinandergebunden und ineinander gefangen sind. Und deren Lebenshunger sie weiter antreibt: das merkwürdige Gefühl, trotz aller Aktionen und Handlungen und Übertreibungen einfach nicht satt zu werden.

Bischof erklärte, eine Weile den Titel Durst im Kopf gehabt zu haben, wobei es aber auch diesen bereits gebe, bei Flann O’Brien, der einen Einakter so benannt habe. Doch schließlich habe er sich dann doch für den Hunger entschieden.

Sagte er und wechselte abrupt von der Antwort zur Frage und wollte von Oswald wissen, was er denn so mache.

Woraufhin Oswald von seinem beendeten Studium und der Langeweile erzählte, die ihn bei seinem Praktischen Jahr in der Lebensmittelbehörde erfasst habe, verschwieg allerdings, sich mit einiger Spannung und Freude dem Geheimnis der Steinpilze zu widmen. Denn das klang mehr nach Literatur als nach Wissenschaft, und er wollte Bischof seine Rolle nicht streitig machen.

Die beiden kamen bald auf andere Themen. Über AIDS sprachen sie nicht, aber über eine Liebe, die sie teilten und mit der der eine den anderen überraschte, nämlich die Liebe zum Fußball. Die Liebe zu einer Mannschaft namens Rapid Wien, die die Farbe Grün lange vor einer bestimmten Bewegung und Partei für sich beansprucht hatte. Auch teilten beide das Bedauern über den Rücktritt von Bruno Kreisky im Frühjahr dieses Jahres, dessen Sozialistische Partei bei den Nationalratswahlen zwar wieder stimmenstärkste Partei geworden war, aber die absolute Mehrheit eingebüßt hatte (das war für die heutigen Jüngeren fast so schwer vorstellbar wie die Allgegenwart Zigaretten rauchender Menschen, nämlich ein Sozialdemokrat – damals hieß es noch Sozialist –, der, krank hin oder her, wegen des Verlustes einer absoluten Mehrheit zurücktritt). Sie redeten über Polen, über Konrad Kujaus Hitler-Tagebücher und das dumme Stern-Magazin, über die auch nicht sehr gescheiten Briten, die Margaret Thatcher eine zweite Amtszeit geschenkt hatten, kamen dann aber zum Fußball zurück wie zu jenem Feld, in dem Start und Ziel sich vereinen, und gingen schließlich auseinander, nicht ohne ihre Telefonnummern ausgetauscht und den Wunsch eines Wiedersehens bekundet zu haben. Wobei Oswald darauf verwies, dass er in seiner kleinen Mietwohnung nur über ein Vierteltelefon verfüge, also einen Anschluss mit vier anderen Personen teile – nein, das war keine WG, Viertelanschluss bedeutete tatsächlich, einer von vier Teilnehmern zu sein. Somit war Oswalds Telefonglück oder Telefonunglück freier oder besetzter Telefonverbindungen von ihm unbekannten Personen abhängig. – Der heutige Mensch stelle sich ein Viertelhandy vor. Würde es einem vielleicht helfen, so etwas wie Disziplin und Geduld zu entwickeln sowie die Fähigkeit, den Hunger zu zügeln?

Die Optimisten sagten dazu: Wer will schon eine Torte ganz für sich? Nun, die meisten eigentlich schon, und in der Tat hatte zu Beginn der 1980er-Jahre in Österreich die Umstellung auf sogenannte ganze Telefone begonnen, als spreche man von einem ganzen statt einem geteilten Leben. Einer Vereinzelung, einem Verlust an Teilhabe. Allerdings war dies noch nicht dort geschehen, wo Oswald eine kleine Wohnung bezogen hatte und er in dieser Wohnung, in einer ehemaligen Dunkelkammer, sein Steinpilz-Labor eingerichtet hatte.

Wenn Oswald – der später so vermögende und mächtige Mann – an diese Zeit des Vierteltelefons dachte, kam es ihm vor, als denke er an ein früheres, ein vergangenes Leben. Als sei er irgendwann dazwischen gestorben und eingefroren und schließlich in der Zukunft wieder aufgetaut worden. Um dann verblüfft festzustellen, wie reduziert und schmal und wenig objekthaft die Telefone geworden waren, und dass die alten, großen Apparate mit ihren wunderschönen Wählscheiben, viertel oder ganz, gleich Dinosauriern ausgestorben waren. Während heutzutage eine gewisse Einfachheit eingesetzt hatte, hochtechnisch, keine Frage, aber eben auch ein wenig kleingeistig und irgendwie bedauernswert. Als hätte Gott nicht nur mit dem Rauchen aufgehört, um jetzt Yoga zu treiben – was ja lächerlich ist bei jemandem, der ewig lebt, nämlich auf seine Gesundheit zu schauen –, sondern so, als hätte er sich auch von der Schönheit ausgefallener Objekte verabschiedet und alles auf ein Maß der Nützlichkeit heruntergebrochen. Man brauchte sich nur anzusehen, was aus den Autos geworden war. Das einundzwanzigste Jahrhundert predigte das Hässliche als das Sinnvolle, daran konnte keine noch so noble Edelstahlküche etwas ändern.[2]


[1] Es ist übrigens bekannt, dass Gott, oder wer auch immer dahintersteckt, ein beträchtliches Faible für Ironie besitzt. Und eine solche Ironie bestand nun nicht zuletzt darin, dass jener Junge, der da frech und selbstherrlich und aus gutem Hause stammend die Gruppe der Pöbler an der Straßenbahnhaltestelle anführte und sich dann beinahe auf eine körperliche Auseinandersetzung mit Bischof eingelassen hatte – hätte nicht die einfahrende Straßenbahn ihn gerettet, und damit auch Bischof gerettet –, dass dieser Junge also derselbe war, dem ein Jahr später der zart wirkende, aber im Schachboxen bestens versierte Vater von Ashok, Michael Oswald, zwei Zähne ausschlug. Und darum als der Lehrer, der er war, von der Schule flog. Glücklicherweise direkt hinein in das lang erträumte Fachgeschäft für Schach. – Weder Ashok noch sonst jemand sollte die Parallele begreifen, wie dieser junge Mann in beiden Geschichten auftauchte, einmal unverletzt entkam, das andere mal nicht. Die Ironie blieb eine geheime.

[2] Michael Oswald hatte bereits Anfang der 1960er-Jahre ein Konzept entwickelt, mit dem er Boxen und Schach vereinte, allerdings war seine Idee niemals auch nur probeweise umgesetzt worden. Oswalds Regelwerk jedoch war nicht unähnlich jenem des niederländischen Aktionskünstlers Iepe Rubingh, der 2003 das Schachboxen erfand, wobei dieser wiederum von einem Comic des französischen Zeichners Enki Bilal inspiriert worden war. Inwieweit einer der beiden je von Michael Oswald gehört hatte, ist unbekannt. Tatsache war jedenfalls, dass Rubinghs Schachboxen – indem es sich von der reinen Kunst löste – zu einem überaus beliebten Profi- und Amateursport wurde und 2022 bei den Chessboxing Championships in Los Angeles dem YouTube-Kanal einen Rekord bescherte.

Heinrich Steinfest

Über Heinrich Steinfest

Biografie

Heinrich Steinfest wurde 1961 geboren. Albury, Wien, Stuttgart – das sind die Lebensstationen des erklärten Nesthockers und preisgekrönten Autors, welcher den einarmigen Detektiv Cheng erfand. Er wurde mehrfach mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, erhielt 2009 den Stuttgarter Krimipreis und...

Veranstaltung
Lesung und Gespräch
Mittwoch, 08. Oktober 2025 in München
Zeit:
19:30 Uhr
Ort:
Buchhandlung Moths,
80469 München
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