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Wovon wir träumen

Lin Hierse
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Roman

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Wovon wir träumen — Inhalt

Nur eins kann ich mir nicht aussuchen: Tochter sein

Eine junge Frau steht auf einem Berg in Shaoxing. Sie ist gekommen, um ihre Großmutter zu beerdigen. Die Frage, wo sie selbst hingehört, schiebt sie beiseite. Vielleicht ist sie überall ein bisschen zu Hause oder nirgendwo ganz. Ihre Mutter hat China vor Jahren verlassen, weil sie in Deutschland ein anderes Leben wollte. Die Träume der jungen Frau ähneln denen ihrer Mutter. Und doch träumt sie anders, weil die Orte verschwimmen und sie die Geister der Familie nicht loswird.
Subtil, mutig und mit feinem Gefühl für die Sprache erzählt Lin Hierse in „Wovon wir träumen“ von einer Beziehung zwischen Mutter und Tochter und den Fragen nach Identität, Nähe und Abgrenzung. Auf den Spuren der deutsch-chinesischen Geschichte findet sie eine Form, Migration nicht als Trauma zu begreifen, sondern als Traum. 

„Extrem berührend und unaufdringlich nah: ein Roman wie eine innige Umarmung.“ Fatma Aydemir

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 27.04.2023
240 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31957-7
Download Cover
€ 13,99 [D], € 13,99 [A]
Erschienen am 10.03.2022
176 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-60158-0
Download Cover

Leseprobe zu „Wovon wir träumen“

abschied

Der Tag, an dem wir A’bu nach Hause bringen, ist sehr gewöhnlich. Es ist frühmorgens an irgendeinem Dienstag im April, der Himmel über Shanghai ist weder grau noch blau, es regnet nicht und es scheint auch nicht die Sonne. Es ist einfach, wie es ist.

Da Jiujiu, mein ältester Onkel, steht auf dem Bürgersteig und hält ein großes gerahmtes Portraitfoto von A’bu in den Händen. Es ist in dicken schwarzen Stoff eingewickelt, nur oben links, wo das Tuch verrutscht ist, schaut ihre ordentliche Frisur hervor. Da Jiujiu sieht müde aus und sanft. Er war [...]

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abschied

Der Tag, an dem wir A’bu nach Hause bringen, ist sehr gewöhnlich. Es ist frühmorgens an irgendeinem Dienstag im April, der Himmel über Shanghai ist weder grau noch blau, es regnet nicht und es scheint auch nicht die Sonne. Es ist einfach, wie es ist.

Da Jiujiu, mein ältester Onkel, steht auf dem Bürgersteig und hält ein großes gerahmtes Portraitfoto von A’bu in den Händen. Es ist in dicken schwarzen Stoff eingewickelt, nur oben links, wo das Tuch verrutscht ist, schaut ihre ordentliche Frisur hervor. Da Jiujiu sieht müde aus und sanft. Er war immer schon der sanfteste und leiseste der Brüder. „Eigentlich ist das nicht gut für einen Erstgeborenen“, sagt die Familie. „Eigentlich müsste er die Dinge doch in die Hand nehmen, die Familienfeste organisieren und Reden halten mit lauter, fester Stimme.“

Aber Da Jiujiu nimmt wenig in die Hand, wenn man es ihm nicht aufträgt.

An diesem Morgen steht er ganz aufrecht. Sein Anzug ist an den Schultern etwas zu weit, er wirkt viel zerbrechlicher, als er ist. Er ist eigentlich wirklich kräftig, jeden Abend macht er hundert Kniebeugen. Sein Körper ist drahtig, nur sein Gesicht ist weich, er sieht seiner Mutter sehr ähnlich. Ein Schritt hinter ihm steht sein Sohn und hält die Urne im Arm. A’bu trank bis zu ihrem Tod aus der Tasse mit dem London-Schriftzug, die er ihr vor Jahren mitgebracht hat. Er, der älteste von uns Enkeln, der viel zu selten zu Besuch kommt, noch seltener als ich. Früher kam er aus Singapur, dann aus der Schweiz und seit einer Weile aus Großbritannien.

Neben den beiden steht der Nachbar, dessen Namen ich nicht kenne, der mir aber immer freundlich zunickt, wenn ich an seinem Wohnhaus vorbeigehe. Er hat einen großen Regenschirm über ihnen aufgespannt, damit A’bus Geist nicht schon auf der Reise in ihr Heimatdorf davonfliegt und sich verirrt. Ich würde mich sicher auch verirren, ich kenne den Weg nicht. Raus aus Shanghai bis nach Shaoxing, keine Ahnung, wo lang, aber zum Glück muss ich nur mit dreiundzwanzig anderen Menschen und einem Geist in diesen Bus steigen und dabei zusehen, wie die große Stadt langsam ausdünnt.

Da Ayi reicht mir zwei dünne rote Papierschnipsel und weist mich an, sie mir in die Schuhe zu stecken. Als älteste Tante kennt sie alle Regeln. „Am besten mit der roten Seite nach außen, damit du später keine Flecken an den Socken hast.“

Eigentlich würde ich gern ein paar Flecken behalten von diesem Tag, aber ich will nichts falsch machen, und deswegen tue ich, was sie sagt.

„Warum das Papier im Schuh?“, frage ich, und ihre Antwort ist „Zur Sicherheit“.

Ich will weiterfragen, zu welcher Sicherheit, aber da ist Da Ayi schon zwischen den anderen Füßen verschwunden, also nehme ich die Antwort, die fast immer passt: zum Schutz vor bösen Geistern.

Es gibt unendlich viel, was vor bösen Geistern schützt. Ein Spiegel gegenüber einer Tür, um sie hinauszureflektieren. Eine im Zickzack gebaute Brücke, weil böse Geister nur geradeaus gehen können. Warum also nicht auch rotes Papier in den Schuhen.

Wir steigen in den Bus, ich bin beinahe die Letzte. A’bus Geist und die Männer sitzen vorne, Mas Brüder mit ihren Söhnen, außerdem mein Cousin, der wohl für immer diese schweren Tränensäcke tragen wird, seit er vor vier Jahren einen Nagel in den Sarg seines Vaters schlagen musste. Auf den Plätzen dahinter haben sich meine Tanten niedergelassen, und die Frauen meiner Cousins, als gäbe es eine stille Ordnung. Ich gehe zwischen den Reihen hindurch nach hinten und lasse mich neben Ma auf einen Sitz fallen. Zwischen uns liegt der Gang, ich habe zwei Plätze für mich allein. Meine Cousine dreht sich zu mir um und reicht mir eine Plastiktüte mit zwei Mantou und kaum gesüßter Sojamilch, beides ist unangenehm warm auf meinem Schoß.

„Iss was, das wird dir guttun“, sagt sie und schaut mich dabei mit wachen Augen an. Sie ist immer ganz im Moment, sie hängt keinen Gedanken nach.

Der Fahrer startet den Bus, und ich schaue aus dem Fenster. Der Ausblick auf Shanghai ist einer der besten, besonders aus einem Auto heraus. Ich rutsche auf den Fensterplatz und lege die Tüte neben mir ab. Draußen werden Hochhäuser von einer Schnellzugtrasse abgelöst, drinnen raschelt das Plastik. Ich drehe den Verschluss meiner Sojamilch auf, es ist die gute mit dem schlichten roten Aufdruck, und sauge einen großen Schluck in mich hinein. Es fühlt sich an, als würde mein Magen von innen umarmt. Um mich herum beißen hungrige Münder in weißes Reismehlgebäck.

A’bu tunkte ihre Mantou jeden Morgen widerwillig in eine Mischung aus gemahlenem schwarzen Sesam und Zucker und sehnte sich dabei nach einem Schälchen Reissuppe mit eingelegtem Gemüse. Je älter sie wurde, desto stärker vermisste sie den Geschmack ihrer Kindheit – salzig, sauer, bitter – und desto sturer verlangte sie danach, dass man sich um sie kümmert wie um ein Kind. „Alles ist ein Kreis“, hat Ma einmal zu mir gesagt. „Wir fangen ganz hilflos an und hören hilflos wieder auf.“

Die Stimmung im Bus ist gut, ganz anders als damals, als wir Mas Bruder beerdigen mussten. Auf den Tod der Ältesten ist man immer irgendwie vorbereitet, und doch weiß niemand, wohin sich die Familie ausrichten soll, wenn sie verschwunden sind. Meine Cousins reden und lachen, Ma zeigt ihrer Schwester auf dem Handy Fotos aus ihrem Garten, Da Jiujiu hat den Kopf zur Seite geneigt, vermutlich schläft er nicht, bei jeder Unebenheit im Asphalt stößt er mit der Schläfe gegen das Fenster. Nur Da Ayi sitzt ganz aufrecht, sie hat die Hände in den Schoß gelegt und betrachtet nervös den Himmel. „Hoffentlich regnet es nicht, wenn wir auf den Berg steigen. Hoffentlich.“

Ich habe eine Einwegkamera dabei, aus der Drogerie bei mir in Berlin um die Ecke. Ich will A’bus letzte Reise festhalten, auch diesen Moment, also drehe ich das Rädchen bis zum Anschlag und schaue durch den Sucher. Die Szene ist schwer einzufangen, von meinem Platz aus sehe ich vor allem Hinterköpfe. Ich könnte aufstehen und das Bild von vorne machen, aber das erscheint mir unpassend. Heute ist mehr Aufgabe als Ausflug. Also halte ich die Kamera, so still es geht, und drücke auf den wackeligen Auslöser. Es gibt keine Fotos von A’bu als junger Frau, und es kann kein Foto geben von A’bu als Geist. Aber es gibt jetzt das Bild dieser Busfahrt.

Ich weiß nicht genau, wie lange wir fahren, vielleicht drei Stunden, Shaoxing ist von Shanghai etwas mehr als zweihundert Kilometer entfernt. Wir haben es nicht eilig, aber wir machen auch keine Pause. Irgendwann lenkt der Fahrer den Bus vorbei an grünen Hügeln und hinein in die nächste Stadt. Als A’bu 1923 geboren wurde, war Shaoxing ein Dorf, heute leben hier über fünf Millionen Menschen. Ich war noch ein Kind, als ich das letzte Mal hier war. Ma erzählt mir, dass wir damals in schmale Boote umsteigen mussten, um uns in die Nähe des Berges bringen zu lassen, auf dem mein Großvater begraben liegt.

„Und danach mussten wir wandern, über so wackelige Stege und auf Trampelpfaden, dann viele Stufen steigen, den Berg hinauf. Weißt du das noch?“

Ich nicke.

Es war eine lange Reise, und sie war genau richtig beschwerlich. Es ist nie leicht, die Toten zu besuchen. An die Boote erinnere ich mich nicht, nur an Bambuswälder und Tümpel, in denen meine Cousins und ich kleine Frösche fingen, um sie einen Moment lang in den Händen zu spüren und dann wieder freizulassen.

„Es gibt doch dieses Foto von mir“, sage ich, „zwischen dicken Bambusstämmen. Die waren ganz glatt und kühl. Wenn ich das Ohr an sie gepresst hab, konnte ich das Wasser in ihnen rauschen hören.“

„Ja“, sagt Ma und sieht zufrieden aus.

Heute brauchen wir kein Boot mehr, und ich bin ein bisschen enttäuscht, als der Bus direkt am Fuße des Berges hält, wo ein steiler Weg in wucherndem Grün verschwindet. Auf den letzten Kilometern haben uns Autos und Rikschas begleitet, darin mittelalte Männer, die ich noch nie gesehen habe. Sie blasen in fanfarenartige Instrumente, schlagen kleine Becken aus Bronze aneinander und tragen riesengroße Papiergestecke in neonbunten Farben. Es ist eine schöne Begrüßung, so laut, so schrill, fast pompös. A’bu war keine Berühmtheit, ihr Leben war klein und bescheiden. Niemand weiß genau, wann sie geboren ist, „Irgendwann im Januar“, schätzen wir in der Familie. Aber wo ihr Leben begann, ist klar. Dass nun so viele Menschen ein Fest feiern, um sie am Ort ihrer Geburt willkommen zu heißen, macht mich glücklich.

Als ich aussteige, pustet ein kugelbäuchiger Mann noch immer leidenschaftlich in sein Instrument, heraus kommt ein hemmungsloses Klagen. Überall haben sich Grüppchen gebildet, es werden ein paar Hände geschüttelt, die Männer aus der Stadt stecken den Männern vom Land teure Zigaretten an, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger halten, während sie gierig an ihnen ziehen. Die Frauen rauchen nicht. Mich beachtet niemand wirklich. Ab und zu trifft mein Blick einen anderen, manchmal starrt mich jemand ein paar Sekunden lang an, mit leicht geöffnetem Mund. Wir werden hier nicht lange bleiben. Nur der Busfahrer hat sich seine Kappe tief ins Gesicht gezogen und die Beine auf das Armaturenbrett gelegt.

„Der ruht sich aus, bis wir zurückkommen“, sagt Da Ayi, hakt sich bei mir unter und zieht mich in Richtung des Trampelpfads.

Wir haben es nach wie vor nicht eilig, der Zug aus nun über dreißig Menschen setzt sich langsam in Bewegung. Der Himmel ist mittlerweile blau, Da Ayi ist erleichtert. Es heißt, wir bräuchten eine halbe Stunde, um die Grabstelle zu erreichen, doch sie muss zwischendurch immer wieder anhalten. Abwechselnd gehen wir neben ihr, erst ich, dann ihr Sohn, dann Ma, wir stützen sie beim Stufensteigen. Ich weiß, dass ihre Füße schmerzen. Wir bezwingen einen Berg. Wir kommen nur an, wenn wir gemeinsam ankommen.

Als ich die letzten Schritte auf das Grab zugehe, ist der größte Teil des Trupps bereits da und ruht sich auf Baumstämmen und niedrigen Mäuerchen aus. Einer der Männer, die die schweren Papiergestecke getragen haben, wischt sich mit einem kleinen Handtuch erst den Schweiß von der Glatze, rollt dann sein T-Shirt bis unter die Brust nach oben und tupft sich den Bauch. Nur ein paar Meter entfernt beginnt ein anderer, mit einem Meißel die Fugen in der Wand hinter dem Altar aufzubrechen. Neben mir fängt eine Frau plötzlich an, laut und ungehalten zu jaulen. Ich kenne sie nicht, und doch schreit sie ihren Schmerz über den Tod meiner A’bu hinaus in die Welt, einfach so, ohne Fanfare. Ich kann das nicht. Wie unfair, dass sie so laut leidet, während mir in diesem Moment nichts wehtut.

Ich war noch nie bei einer Beerdigung wie dieser. Als ich ein Kind war, sind wir nur zweimal hier oben gewesen, zu Besuch, um meinem A’gong Obst vorbeizubringen und uns im Anschluss vor seinem Grab zu verbeugen. Andererseits war keine Beerdigung, auf der ich war, wie eine andere. Als vor zwei Jahren meine Oma starb, standen wir zwischen Winter und Frühling in einer dem Anlass angemessenen Kälte auf einem niedersächsischen Friedhof, hielten uns still an den Händen und blickten dem schweren Sarg hinterher, der in ein tiefes Loch gelassen wurde. Vielleicht blühten schon ein paar Krokusse. Manche von uns weinten ein bisschen, aber niemand jaulte, und nichts war auch nur ansatzweise neonfarben. Nach der Zeremonie machten wir uns auf den Weg zum gemeinsamen Kuchenessen. Ich ging mit meinem jüngsten Cousin zwischen den Grabsteinen hindurch und fragte ihn, wie er es fand. Er zuckte mit den Schultern. Dann strich er sich eine Strähne aus dem Gesicht und fragte mich, ob ich auch ein Kaugummi will. Es war ganz anders, und trotzdem ist alles richtig, wie es ist. Oma gehört auf einen Friedhof in Niedersachsen, neben eine Kapelle. Und A’bu gehört auf diesen Berg in Shaoxing, inmitten wilder Bambuswälder. Zum Glück ist jetzt nicht der richtige Moment, mich zu fragen, wo ich selbst hingehöre. Es ist der Moment, langsam Kreise um die Grabstelle zu ziehen.

Dreimal gehen wir an dem steinernen Altar vorbei, wir alle halten eine rote Nelke in den Händen. Auf einmal wird es unübersichtlich, nackte Schultern schieben sich an verschwitzten Hemden vorbei, Sätze und Wörter und Klagen in mindestens zwei verschiedenen Dialekten fliegen durcheinander, ich verstehe „Vorsicht!“, „Das brauchen wir nicht“, „Ich mach das“. Dann platzieren viele Männerhände die Urne in der kleinen Öffnung zwischen den Steinen, A’bus Portrait lehnt neben der offenen Grabstelle. Wieder hält jemand einen Regenschirm über das Bild und die Urne, ein anderer bedeckt sie mit einem roten Tuch aus Polyester. Der Mann, der das Grab mit seinem Meißel geöffnet hat, tritt nach vorne. Er trägt einen kleinen, dreckigen Eimer voll Mörtel in der Hand. Irgendwie mag ich ihn nicht. Das Grab wird geschlossen, die Urne verschwindet.

Ich warte, bis ich dran bin. Mit dem Beten habe ich Routine, die Choreografie kenne ich mein Leben lang. Ich stelle mich vor den Altar und senke meinen Blick. Ich lege die Handflächen vor der Brust aneinander und verbeuge mich, dreimal. Anschließend das Gleiche auf den Knien, eins, zwei, drei, jemand hat ein Kissen auf den sandigen Boden gelegt. Zuletzt beuge ich mich tief über die Erde, in meinen Handflächen bleiben ein paar Kieselsteine kleben, und meine Stirn berührt den Sand. Sand ist gar nicht so anders als Asche, denke ich, bloß weniger fein, eher körnig. Eins, zwei, drei. Dreißig Augenpaare beobachten mich. Mein Blick bleibt an den Fugen hängen, in denen der Mörtel trocknet. Es tut doch ein bisschen weh – die Vorstellung von A’bu ohne einen Körper, den ich anfassen, festhalten oder einfach nur ansehen kann. Trotzdem ist mein Schmerz nicht bereit für Publikum. Ich würde gern weinen und allen zeigen, dass auch mir so viel wehtut, aber ich kann nicht weinen während einer Choreografie. Ich stehe auf und mache Platz für den Nächsten.

Ma weint auch nicht, das macht die Sache leichter. Seit ich ein kleines Mädchen war, habe ich versucht, ihr alles nachzumachen, jedenfalls in China: das Beten, das Essen, den Shanghai-Dialekt. Sie war wie mein Kompass in dieser Welt – wenn ich die Dinge gemacht habe wie Ma, dann habe ich sie richtig gemacht. Und nun weint Ma nicht. Sowieso sieht sie nicht sehr traurig aus. Ein wenig erschöpft und ernst, ja, aber Ma wird schon immer nachgesagt, dass sie von Natur aus einen sehr ernsten Ausdruck habe. Daran muss ich jedes Mal denken, wenn sie mich darauf hinweist, ein sehr ernstes Kind gewesen zu sein. Ich weiß nicht, ob sie sich für mich und die anderen Mühe gibt, nicht zu traurig auszusehen, oder ob ihre Trauer auch einfach keinen Platz hat in diesem Moment.

„Sie war alt. Das hier ist der leichte Tod, der richtige“, hat sie zu mir gesagt, als sie mir vor zwei Wochen mitteilte, dass A’bu gestorben ist, und ich habe ihr mit allem, was ich hatte, zugestimmt, indem ich „Hm“ sagte.

Ma hat die meiste Zeit der vergangenen dreißig Jahre 8.569 Kilometer entfernt von ihrer Mutter verbracht, Luftlinie. Wenn wir alle paar Jahre das Geld für die Flugtickets zusammenhatten, saß sie viele Sommernachmittage dicht neben A’bu auf dem Sofa und ließ sich von ihr den Arm kneten. Ich bin mir sicher, dass sie nie über das Warum geredet haben, das Warum-bist-du-gegangen. Es gibt darauf keine einfache Antwort, auch das klassische In-der-Hoffnung-auf-ein-besseres-Leben passt nicht so recht. Die meisten Menschen haben Hoffnung auf ein Leben, das besser ist als das ihrer Eltern. Ma hätte in China ein besseres Leben haben können, aber sie wollte vor allem ein anderes.

Wenn ich sie frage, warum sie etwas tut, sagt Ma oft, „Ich bin eben ein komischer Mensch“, und dann lacht sie. Einmal habe ich A’bu gefragt, was Ma für ein Kind war, und sie sagte, „Sie hat immer Fisch gegessen, wie eine Katze.“

Ich weiß nicht, was Ma für ein Mensch war, bevor sie meine Mutter wurde, aber ich denke, dass sie irgendwie nicht hineingepasst hat in die Wege, die man ihr vorgab. Sie wollte nicht aussehen wie alle anderen, und sie wollte nicht tun, wozu man ihr riet. Das sind keine idealen Voraussetzungen für das Leben in einem Staat, der dich nicht in Ruhe lässt. Während ich Stufe für Stufe den Berg hinuntersteige, male ich mir aus, welcher Mensch Ma nicht geworden ist. Da sind bestenfalls verschwommene Bilder: Ma als Lehrerin. Ma, ausgelassen, mit ihren Freundinnen beim Drachensteigen an einem Sonntag im Zhongshan-Park. Ma ohne die deutsche Sprache. Ma als Ehefrau eines chinesischen Professors, der sich beim Zeitunglesen mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken reibt. Ma als Mutter einer anderen Tochter. Und Ma, die jeden Morgen um halb sieben mit A’bu Gymnastik auf dem kleinen Trainingsplatz ihres Wohnblocks in Changning macht. Ich male aus und male über den Rand. Es gibt mehr Fotos von Ma, auf denen sie in einem deutschen Schrebergarten sitzt, als Fotos von ihr in Shanghai neben ihrer Mutter.

 

Als wir wieder im Tal ankommen, ist es Mittag. Auf einem großen Parkplatz haben Leute aus der Nachbarschaft zwei weiße Pavillons aufgespannt und ziehen dünne Plastikfolien über die Tische. Dahinter brodelt es aus großen Töpfen, ein Mann mit einer weißen Schürze hebt ab und zu ein paar Deckel an und hält seine Nase in den Dampf, ein anderer verteilt in Plastik eingeschweißte Geschirrsets aus Porzellan auf den Tischen. Das Arrangement ist einfach, aber auch hier ist alles genau richtig. Ich habe keine Lust mehr auf die immer gleichen Restaurants mit den schweren Vorhängen und dem goldverzierten Dekor, in denen wir an runden Tischen sitzen und gläserne Platten hin und her drehen. Ich will genau hier sein, wo es keine Wände gibt, wo wir Bier und ekelhaften Schnaps trinken und lachen und Garnelenschalen neben unsere Schälchen spucken. Manchmal streift mir jemand im Vorbeigehen kurz mit der Hand über die Schultern, und ich kenne kaum eine liebevollere Berührung.

Wir gehen in kleinen Grüppchen von Tisch zu Tisch, Da Jiujiu mit seiner Frau und ihrem Sohn, Da Ayi mit ihrem Mann, meine Cousine mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn, und so weiter. Alle stoßen miteinander an, sie wünschen sich ein langes Leben und Gesundheit. Ich gehe auch, gemeinsam mit Ma, wir bewegen uns als Einheit, wir heben oft unsere Gläser, und ich bin froh, dass das Bier so leicht ist.

Irgendwann sehe ich meinen Cousin neben einem Elektroroller stehen, rauchend, inspizierend. Er winkt mich zu sich, ich gehe dankbar zu ihm hinüber.

„Können wir den kurz ausleihen?“, fragt er, und ein junger Mann mit blondierten Strähnchen nickt.

Ich springe hinten auf, und wir fahren in Richtung Altstadt. Mit einer Hand halte ich mich am Roller fest, mit der anderen an meinem Cousin. Er trägt ein Armband mit dicken, hölzernen Perlen, wie ein Mönch, und in der feuchten Luft wellen sich seine Haare wie meine. Er war schon immer mein Lieblingscousin und seit er seinen Vater verloren hat, will ich ständig in seiner Nähe sein. Früher, wenn ich in den Sommerferien zu Besuch war, hat er mich zum Basketballspielen mitgenommen. Unsere wenigen Versuche, miteinander Englisch zu sprechen, sind damals schnell gescheitert. Er hat dann einfach Chinesisch mit mir geredet, und ich habe mich bemüht, ihn zu verstehen, ohne die Vokabeln zu kennen. Meistens mussten wir aber gar nicht reden. Wir saßen nebeneinander auf Parkbänken oder an Esstischen oder schlenderten durch Einkaufszentren, wo er uns Softdrinks kaufte und eine Schale voller dampfender Huntun. Seit er ein eigenes Auto hat, holt er mich vom Flughafen ab oder bringt mich hin, wenn ich nach Deutschland zurückfliege. Ich erkenne den Wagen sofort, weil er metallic-blau ist und weiße Flammen über den Kotflügeln kleben. Ich habe nie darüber nachgedacht, wie viel wir uns bedeuten, bis er mir bei seiner Hochzeit vor vier Jahren in den Armen lag, in mein Seidenkleid weinte und ihm dabei dicke Tränensäcke wuchsen. Wir standen auf einer bunt beleuchteten Bühne, von den vielen Tischen starrten uns glänzende Gesichter an, und im Hintergrund lief irgendwas von Céline Dion. Jetzt fahren wir zusammen auf dem Roller durch Shaoxing, und ich fände es schön, in seine Lederjacke hineinzuweinen.

Mit den vielen Brücken, Kanälen und verwinkelten Gassen erinnert dieser Stadtteil an früher. A’bu muss hier als kleines Mädchen entlanggerannt sein, in Schwarz-Weiß, denn es gibt keine Farben vor 1930. Ich weiß so wenig über ihr Leben, wir haben lange keine gemeinsame Sprache gesprochen, und als ich Chinesisch lernte, half das nicht viel, weil A’bu da bereits schwerhörig war und ohnehin nur Shaoxing-Dialekt sprach. Was ich über ihr Leben weiß, haben mir andere erzählt, die weiteren Umstände kenne ich aus Geschichtsbüchern, Jahreszahlen reihen sich dort aneinander, als wäre nichts dabei.

Von 1927 bis 1949 war in China Bürgerkrieg. Von 1937 bis 1945 wurde dieser Krieg durch die Invasion japanischer Truppen unterbrochen. Die japanischen Soldaten begingen schwere Kriegsverbrechen. Sie mordeten, plünderten, brannten Dörfer nieder, vergewaltigten. Chinesische Kriegsgefangene und Zivilisten wurden für Menschenversuche missbraucht. Von 1958 bis 1961 herrschte die Große Chinesische Hungersnot. Schätzungen über die Opferzahlen variieren stark, die Angaben reichen von 15 bis 76 Millionen Toten. Von 1966 bis 1976 proklamierte Mao Zedong die Große Proletarische Kulturrevolution. Während dieser politischen Kampagne ließen mindestens 400.000 Menschen ihr Leben, Millionen wurden Opfer von Folter, wurden in Gefängnisse und Arbeitslager deportiert. In diese Zeit fiel auch die Landverschickung von Hunderttausenden jungen Menschen, die ihre Familien verlassen und aus den Städten in abgelegene Dörfer ziehen mussten, um dort jahrelang zu arbeiten.

Das alles geschah, während A’bu am Leben war. Ansehen konnte ich ihr das kaum. Für mich war ihr Körper einfach ein alter Körper, faltig und robust, mit blau schimmernden Adern unter einer Haut wie Seidenpapier. Ich kann mich noch gut erinnern. An ihre kräftigen grauen Haare und die gespaltenen Ohrläppchen, an den kleinen Buckel über ihrem rechten Schulterblatt, an die Oberlippe, die sich über den Tassenrand zum heißen Wasser schob, und besonders an ihre Hände.

Viele Stunden habe ich neben A’bu gesessen und sie meinen Arm kneten lassen. „Dick“, sagte sie dann meistens, oder „dünn“, und es klang wie eine Diagnose. In der Regel war ich zu Beginn eines jeden Besuchs zu dünn und gegen Ende endlich etwas dicker. Im Sommer, wenn ich meine Arme nicht in Wollpulloverärmeln verstecken musste, strich A’bus Jadearmreif über meine Haut, kühl, glatt und schwer, und ich bildete mir ein, der Stein könnte meinen aufgeheizten Körper wieder auf Normaltemperatur senken. Nichts fühlt sich an wie Jade im Sommer.

Einmal fragte ich Ma, warum A’bus Ohrläppchen gespalten sind. „Sie haben ihr die Ohrringe rausgerissen“, sagte sie. Damals war ich sehr jung, und mir fehlte der Mut, nach den Details zu fragen. Heute läuft ein Soldat durch meine Gedanken, er nähert sich einer jungen Frau, im Hintergrund tanzen rote Flammen. Dann schalte ich den Gedanken aus. Vielleicht ist es gut, dass es von manchen Geschichten keine Bilder gibt.

 

„Wir sind da.“ Mein Cousin stoppt den Roller vor einer niedrigen Mauer. Wir haben nicht darüber gesprochen, wohin wir fahren, trotzdem bin ich nicht überrascht von unserem Ziel. Ich steige ab und schaue auf die Hütte, in der A’bu früher lebte. Hier wohnt schon lange niemand mehr. Wo mal das Dach war, klaffen jetzt viele Löcher, Schieferziegel liegen lose nebeneinander. Auf den Grundstücken nebenan sind die Häuser höher, besser erhalten und bewohnt. Links ragen lange Bambusstangen aus einem geöffneten Fenster, daran weht ein rotes Hemd zwischen Unterhosen im Wind. Auf einer Außentreppe ohne Geländer wachsen Zwiebeln in Emailleschalen.

Wir gehen auf den kleinen Hof und bleiben vor einem Brunnen stehen. Jemand hat den massiven Deckel aus Stein etwas beiseitegeschoben, ich beuge mich über das Loch, aber sehe nur Schwarz. Ich erinnere mich an einen Eimer und an meinen Ekel vor Bettpfannen.

„Hier haben wir doch früher manchmal Wasser fürs Klo geholt“, sage ich, nachdem ich mir den Satz zurechtgelegt habe, und mein Cousin nickt.

Er hebt einen kleinen Stein vom Boden auf und wirft ihn in das schwarze Loch, in Brunnen muss man immer Steine werfen. Dann zückt er sein Smartphone. Ich gehe ein paar Schritte auf die Hütte zu und schaue durch ein Fenster ohne Scheibe. Als Kind fand ich das Haus gruselig. Es war sehr dunkel, und in der Mitte des einzigen Raumes stand ein Tisch, an dem ich unter den aufmerksamen Blicken der erweiterten Verwandtschaft weißen Reis aus einem schönen Schälchen aß. Andere Gerichte lehnte ich ab, Ma war das unangenehm. Manchmal versuchte sie, mir etwas Fisch unterzujubeln, sie legte ein grätenloses Stück auf den Reis. Ich fand es entsetzlich, wie sich die Reiskörner langsam mit der dunklen Sojasoße vollsogen, und führte meine Stäbchen vorsichtig am Fisch vorbei, um nach ein paar schrumpeligen Bohnen zu greifen. „Das Kind isst wie eine buddhistische Nonne“, sagte jemand mit einem Kopfschütteln, und die Tischgesellschaft lachte.

Geblieben ist von diesem Ort fast nur Schutt, neben mir lehnt ein Wischmopp an der Wand, als könnte er hier noch irgendwas ausrichten. Die breiten Streifen aus blauem Stoff fransen an den Enden aus. Jemand könnte alte Mao-Uniformen zerrissen haben oder die Anzüge, die Reinigungskräfte beim Säubern der Straßen tragen, um daraus den Mopp zu basteln, wer weiß.

„Es ist viel kleiner, als ich es in Erinnerung hatte“, sagt mein Cousin leise, ohne den Blick von seinem Smartphone abzuwenden. Ich fahre mit den Fingerspitzen über die bröckeligen Dachziegel.

„Ich will eine mitnehmen“, sage ich.

Mein Cousin schaut auf. „Ja, ein Erinnerungsstück. Ich will auch eine.“ Er greift an mir vorbei und nimmt ebenfalls eine Ziegel vom Dach. „Wir sollten Fotos machen, das Haus ist bald nicht mehr da.“ Er sagt das mit Gewissheit, weil es kein schweres Gerät bräuchte, um diesen Ort völlig verschwinden zu lassen. Weil in ein paar Nächten schon ein etwas stärkerer Wind alles davontragen könnte. Oder vielleicht ziehen wir die falsche Ziegel vom Dach, und die Hütte stürzt in sich zusammen wie bei Jenga.

Ich stelle mich vor die hölzerne Tür, fast muss ich mich ducken, um mit dem Kopf nicht an die Dachbalken zu stoßen. Wahrscheinlich sehe ich sehr albern aus mit diesem Stück Schiefer in der Hand, als präsentierte ich eine steinerne Urkunde. Mein Cousin macht ein paar Fotos von mir, dann tauschen wir.

Das alles dauert nicht länger als zehn Minuten, mehr gibt es nicht zu sehen oder zu tun. Eigentlich würde ich gern noch länger bleiben, mich auf die Mauer setzen und auf die Hütte gucken, aber manchmal ist es besser, das Leben einfach weitergehen zu lassen.

Wir haben A’bu nach Hause gebracht, wir haben geweint, getrunken, uns an den Händen gehalten und Demut gespürt. Wir haben alles richtig gemacht. Trotzdem habe ich das Gefühl, etwas vergessen zu haben. Was fehlt? Dreimal drücke ich noch auf den Auslöser meiner Kamera: der Brunnen, der Wischmopp und das verblasste Wandbild eines Singvogels. Dann steige ich wieder hinter meinen Cousin auf den Roller, mit einer staubigen Ziegel in der Hand. Plötzlich fühle ich mich wie eine Diebin. Darf man etwas wegnehmen von dem Ort, an den es gehört? Ich habe kein rotes Papier mehr in den Schuhen, und niemand spannt einen Schirm über meinen Kopf.


jade (一)

A’bu mochte schöne Dinge. Sie mochte die glänzende Halskette aus Naturperlen, auch wenn sie in den letzten Jahren ihres Lebens auf die Hilfe ihrer Töchter angewiesen war, um den kleinen Drehverschluss im Nacken zu öffnen und zu schließen. Sie mochte die schwarze Handtasche, die sie nur für festliche Anlässe aus dem Karton mit dem raschelnden Papier nahm. Und sie mochte den Kamm aus geschliffenem Büffelknochen, den sie sich mit regelmäßigen Bewegungen durch ihre gewellten Haare zog.

A’bus Jadearmreif war grün-braun gefleckt und wie von einem matten Film überzogen. Im Vergleich zu den gängigen hellgrünen Modellen erschien er mir immer sehr bescheiden. Sie trug ihn mit großer Selbstverständlichkeit, ich hatte nie den Eindruck, dass er sie störte. Wann sie den Armreif bekommen hat oder von wem, weiß ich nicht. Ob sie ihn für ein schönes Ding gehalten hat, ob er für sie Schmuck war, also ein Gegenstand, der sie schmückte, weiß ich auch nicht. Er war einfach immer da, wie eine Verlängerung ihres Körpers. Ich kenne A’bu nur mit Jade. Ich erinnere mich nicht, dass sie den Armreif jemals abgenommen hätte. Nicht beim Schlafen, wenn sie sich die Hände über der Decke auf die Brust legte, und nicht beim Waschen, wenn Ayi die rosa Plastikschüssel mit heißem Wasser aufgoss und A’bu sich den klapprigen Bambushocker ins Badezimmer zog, um sich daraufzusetzen und ihren Körper mit einem Lappen abzureiben.

Die ganze Familie hat sich in Ayis Wohnzimmer versammelt, die Sitzgelegenheiten reichen nicht aus, wir kennen das und streiten uns um die unbequemsten Plätze. Der Bambushocker knatscht unter Ayis Gewicht, ich sitze mit einer halben Pobacke auf der Ecke des Sideboards und versuche, nicht an den Flatscreen oder die große Porzellanvase zu stoßen. Ma hat sich hinter den krabbenroten Ledersessel gestellt und knackt Wassermelonenkerne mit den Schneidezähnen, manche kaut sie auch ganz und spuckt die Schalen in ihre linke Faust. „Ich stehe lieber“, sagt sie, und weil alle um ihre Sportlichkeit wissen, wird ihre Aussage nicht angezweifelt. Da Ayi müsste eigentlich im Sessel sitzen, weil sie nun die Älteste ist, aber sie ist auch die Bescheidenste und die Sturste in der Familie, sogar noch sturer als Ma und ich. Deswegen lehnt sie nun mit umgebundener Schürze im Türrahmen. Ich betrachte den Kopf meines jüngsten Onkels von der Seite, im Profil sieht er aus wie Ma. Er spürt meinen Blick an der Schläfe und ruft: „Schau nur, wie weiß die Haare deines Xiao Jiujiu geworden sind, weiß wie Schnee!“

„Das steht dir aber gut“, sage ich, es klingt wie eine höfliche Floskel, aber ich meine es wirklich so.

Er steckt sich eine Zigarette an, eigentlich raucht er seit Jahren nicht mehr in geschlossenen Räumen, aber Trauer erfordert Ausnahmen und Erinnerung erfordert Qualm, der sie über den Fliesenboden tragen kann. Ohne Qualm läge sie auf dem Boden wie eine Reißzwecke, mit der Nadel nach oben.

Wir träumen uns ein paar Jahre zurück und erinnern uns an ständige Alltäglichkeit. Zwischen den Jahren gibt es kaum Unterschiede, wir sind alle jung, immer, in jedem Bild. Wie wir an dem kleinen, quadratischen Holztisch mit der Glasplatte zu Mittag aßen und danach drei Schritte weiter im Sofa versanken, im Fernsehen lief ein Historiendrama, die Heldin sprang in flatterndem Gewand zwischen Baumwipfeln umher, A’bu saß an ihrem Platz, drehte den Kopf in alle Richtungen und guckte zufrieden auf ihre große Familie.

„Wie ihr der Spinat zwischen den Zähnen hing, wisst ihr das noch“, sagt Xiao Jiujiu, und niemand antwortet, weil alle wissen, dass es keine Frage war.

„Wie man sich ganz nah an ihr gutes Ohr beugen musste und die Sätze hineinschreien.“

„Wie wir uns über ihre gesunde Verdauung freuten, wenn sie pupste.“

„Wie sie den rechten, krummen Zeigefinger hob, wenn sie etwas sehr Wichtiges zu erzählen hatte.“

Wir wissen noch.

Für mich altert dieser Ort nicht, diese Wohnung mit uns in ihr. In jeder meiner Erinnerungen sind wir dieselben, und auch A’bu bleibt mit uns, sogar jetzt, in ihrem Fehlen. Neben der Eingangstür hängt Ayi jedes Jahr einen Kalender auf, der das gregorianische Datum und das Datum des Mondkalenders zeigt. 2017, 2014, 2011, 2010, 2007, 2005, 2003, 2001, 1997, 1994, 1990. Jeden Morgen reißt sie eines der dünnen Blätter ab, nur die Farbe der Zahlen und Zeichen ändert sich. Von einem Jahr auf das andere kann sich draußen so viel verändern: Es gibt eine neue Bushaltestelle und einen frisch begrünten Mittelstreifen, die Nachbarin parkt neuerdings ihren Buick SUV auf dem schmalen Weg vor dem Haustor und macht so das Wenden noch unmöglicher, der Osmanthus trägt seit meinem letzten Besuch keine Blüten mehr – aber in dieser Wohnung bleibt alles gleich. Die Einrichtung, die Abläufe, die Familie als Mobile. Ich fürchte, ich kann nur einen einzigen „Wisst ihr noch“-Satz bilden, er lautet: „Wisst ihr noch, die ganze Zeit?“. Aber würden sie wissen, was ich meine? Sie waren die ganze Zeit hier, für sie ist es normal, dass die Dinge sich verändern. Ich hingegen wollte uns konservieren, all diese Jahre, sodass wir miteinander ewig auf Werkseinstellung laufen: 2017, 2014, 2011, 2010, 2007, 2005, 2003, 2001, 1997, 1994, 1990.

Am letzten Freitag haben wir Geld und Feuer gemacht. Ma, ihre Schwestern und ich saßen in der Nachmittagssonne, die sich mehr nach Herbst anfühlte als nach Frühling. Wir kauten auf Zahnstochern herum, tranken losen grünen Tee aus hohen Gläsern und falteten das silberne Geld für die Toten.

Ich habe A’bu früher gern beim Geldmachen beobachtet. Immer, wenn wir den Ahnen gedachten, mussten wir ihnen Geld schicken. Heute kann man die fertigen Schiffchen kaufen, damals hat A’bu sogar das Silberpapier selbst gemacht. Sie stand vor dem niedrigen Marmortisch in Ayis Wintergarten und legte hauchdünne Silberblättchen auf hellgelbe Papierbögen, dann zog sie ein längliches Stück Holz darüber. A’bu versilberte Papier, und dann faltete sie es.

Ma, ihre Schwestern und ich haben einen Schritt übersprungen, wir kauften das Silberpapier. Im Tausch gegen ein wenig Bequemlichkeit ist das okay. Trotzdem verläuft irgendwo eine Grenze, und ohne von ihr gewusst zu haben, waren wir uns alle einig, nicht alles auf einmal überspringen zu dürfen. Also falteten wir, und dann steckten wir die Schiffchen in große Tüten. Irgendwann stand Da Ayi auf, verschwand in der Küche und faltete dort Huntun fürs Abendessen.

Draußen auf dem Hof legten die Onkel derweil Backsteine aufeinander und bildeten eine sichere Unterlage für das Feuer. Sie hoben eine große Messingschale auf die Steine, und dann legten wir die wenigen Kleider, die A’bu besaß und die niemand mehr als Andenken behalten wollte, in die Schale hinein. Xiao Jiujiu machte ein Feuer, und ich lernte, dass beim Verbrennen von Kleidern schwarzer Rauch aufsteigt. Ein paar Meter daneben verbrannten wir die Tüten mit dem Silbergeld.

Ma hat A’bus Daunenjacke mit den Knotenknöpfen behalten, die so klein ist, dass sie einem Kind passen würde. Und die gepunktete weiße Seidenbluse, die sie ihr vor vielen Jahren geschenkt und zuvor selbst getragen hatte. A’bu zog die Bluse zu festlichen Anlässen an und bekam immer viele Komplimente dafür. Das Lob hat A’bu gut gefallen und Ma stolz gemacht.

Nach den Klamotten verbrannten wir ein buntes Haus aus Pappe, dreistöckig und mit aufgedruckten Gottheiten und Phönixen. Es hatte sogar eine Zufahrt mit Sonnenschirmen und einem Parkplatz, obwohl A’bu nicht Auto fahren konnte. Es war beinahe so groß wie ich. Wir schickten ihr das alles nach, es soll ihr niemals an etwas fehlen, nicht in dieser Welt und auch nicht in einer anderen. Und ich wünschte, ich könnte auch durch das Feuer gehen, hin und her, wann immer ich möchte. Ich bin es nicht gewohnt, dass eine Reise unmöglich ist.

Ich stand ein paar Schritte vom Feuer entfernt, verschränkte meine Hände auf dem Rücken wie eine alte Frau und stellte mir vor, wie A’bu das Haus bezieht. Ich musste lachen, so absurd war die Vorstellung. A’bu hatte nie eine eigene Wohnung oder ein eigenes Zimmer. Ihre Dinge lagen immer zwischen denen ihrer Töchter und sie selbst genauso. Seit ich denken kann, lebte sie abwechselnd bei ihnen, zuletzt stand ihr Feldbett in dem winzigen Anbau neben Ayis Schlafzimmer, keine drei Schritte von Ayis Ehebett entfernt. Um ihr Bett herum türmten sich über die Jahre immer mehr Geschenkkartons auf, die sie zu verschiedenen Anlässen von Nachbarn und Bekannten bekommen hatte. Die meisten davon hatte sie niemals geöffnet, sondern schenkte sie mit den besten Wünschen weiter. Im Gegenzug kamen neue dazu. Auf den Verpackungen bewarben geschwungene Zeichen exzellente Inhalte: exzellente grüne Rosinen aus Xinjiang, exzellente Butterkekse (Import), exzellente Mondkuchen mit roter Bohnenpaste. Lauter exzellente Geschenke am Kopf- und Fußende des schmalen Feldbetts, auf dem A’bu schlief wie eine Statue. Manchmal, wenn sie Mittagsschlaf machte, schaute ich vorsichtig durch die leicht geöffnete Tür, und ich fand, dass meine ruhende A’bu ein Gemälde war und die Geschenkkartontürme um sie herum ein großer Rahmen. So soll es bleiben, dachte ich, während das Papierhaus vor mir zu grauen Fetzen zerfiel. Nicht das Feuer als letztes Bild, sondern der geborgenste Schlaf.

 

Meine Cousine hält mir einen Teller geschnittenes Obst unter die Nase. Ich greife wahllos zu, dann stellt sie den Teller auf den Tisch, und aus allen Richtungen schnellen Hände auf ihn zu. Ich beiße in eine Orangenspalte, sauge den wenigen Saft zwischen den Zähnen durch und wünschte, es wäre Birnenzeit.

„A’bu hat das Silberpapier früher selbst gemacht, so mit der Hand, oder?“, frage ich meine Cousine, die sich breitbeinig neben mich auf einen Plastikschemel setzt. Ich frage, obwohl ich weiß, wie es war.

„Ja, so viel Arbeit. Früher war Geldmachen noch viel unbequemer.“

„Stimmt“, ruft Xiao Jiujiu zu uns rüber und hebt dabei sein Glas. Er ist angetrunken. „Danken wir den Vorfahren für ihre harte Arbeit! Ohne sie würde es uns jetzt niemals so gut gehen!“

Alle, die ein Glas haben, heben ihr Glas. Der älteste Cousin trinkt eigentlich keinen Alkohol, jetzt kippt er sich einen winzigen Schluck Huangjiu in den Rachen. Ich kenne niemanden, der so viele Jobs hat wie er. Er arbeitet als Koch, nebenbei fährt er wichtige Leute in Limousinen von Termin zu Termin, außerdem vermittelt er Sachen an Leute – Wohnungen, Jobs, manchmal vermittelt er sogar einen einsamen Menschen an einen anderen, glaube ich –, und abends spielt er Majiang und betrachtet währenddessen Aktienkurse auf seinem Handy. Er ist immer sehr müde. Die Müdigkeit hat sich um seinen Körper gewickelt wie ein nasses Handtuch. Irgendwann schiebt Ayi die Teller mit dem restlichen Obst zum Schutz vor den Fliegen unter einen Schirm aus rosa Spitze.

„A’bu hätte jetzt den Tisch gewischt“, sagt die Cousine.

„Oberflächen sauber zu halten, war schon als Kind ihre Aufgabe im Haushalt“, sagt Ayi.

„Und später war es meine“, sagt Ma.

„Wisst ihr noch, dieses Geräusch?“, versuche ich es nun doch, und alle wissen noch, natürlich.

Es klang, als würde etwas kaputtgehen, aber es ging niemals etwas kaputt. A’bu war auf einem Ohr fast taub. „Ist doch gar nicht schlecht“, hat Ma manchmal gesagt, „immerhin muss sie nicht mehr das Geschwätz der Leute hören.“ Denn die Leute schwätzen viel.

Wahrscheinlich hat sie nicht einmal das Geräusch gehört, Jade auf Glas. Sie ging nur sehr gewissenhaft mit dem Lappen ihrer Aufgabe nach. Trotzdem war der Tisch hinterher nie ganz sauber, meistens blieb irgendwo ein kleines Stück Frühlingszwiebel zurück oder ein Reiskorn. Immer, wenn sich der Armreif auf die Tischplatte senkte, machte es kling, und dann schleifte er an A’bus dünnem Handgelenk hinter dem Lappen her über die Glasplatte. Obwohl mir das Geräusch so vertraut war, schreckte jedes Mal etwas in mir zusammen, kling, drrrrrrrr, kling – was, wenn er doch mal brechen würde? Ayi wischte den Tisch noch einmal, wenn A’bu nicht hinsah. A’bu konnte zuletzt auch nicht mehr so gut sehen, aber allen war es wichtig, dass sie eine Aufgabe hatte.

Mein Gesicht ist warm, es glüht ein bisschen, seit ich den Dingen beim Verbrennen zugesehen habe. Die Kleider, das Papphaus, das Silbergeld – das Feuer hat alles woandershin getragen, so, wie es auch A’bu woandershin getragen hat.

„Was ist eigentlich mit dem Armreif, hat den jemand behalten?“, frage ich Ma.

„Nein, der ist immer noch bei ihr“, sagt sie. „Er liegt in der Urne auf dem Berg.“

Lin Hierse

Über Lin Hierse

Biografie

Lin Hierse, geboren 1990 in Braunschweig, hat Asienwissenschaften und Humangeographie studiert. Sie lebt in Berlin und ist seit 2019 Redakteurin der taz. Dort erscheint auch ihre Kolumne poetical correctness. „Wovon wir träumen“ ist ihr erster Roman.

INTERVIEW mit Lin Hierse

Im Mittelpunkt deines Buches steht die Erzählerin und ihre Beziehung zu ihrer Mutter. Warum ist das Tochtersein so besonders für diese junge Frau?

Ich denke, Tochtersein ist für alle Frauen eine sehr prägende und intime Erfahrung. Die Erzählerin in meinem Buch ist die Einzige, die annähernd verstehen kann und will, wer ihre Mutter ist und wer sie vor ihrer Einwanderung von China nach Deutschland war. Sie versucht, die Rolle der engsten Vertrauten zu erfüllen, zu der ihre Mutter jederzeit sagen könnte „Du weißt ja, wie das ist“. Natürlich klappt das nicht immer.

Während ihre Mutter sich bewusst entschieden hat, China zu verlassen, muss sich die Erzählerin, die in Deutschland geboren ist, immer wieder mit der Frage nach der Zugehörigkeit auseinandersetzen. Ist das schmerzlich für sie?

Schmerzlich ist für sie sicher die Erfahrung, dass ihre Position – als Person „zwischen den Kulturen“, wie es oft heißt – ständig von anderen erzählt wird. Auch was die Frage nach Zugehörigkeit betrifft: Du gehörst ein bisschen hierher und ein bisschen nach da, aber eigentlich bist du immer im Zwischenraum. Sie übernimmt diese Vorstellung einer dauernden Unvollständigkeit auf eine Art sogar selbst, aus Mangel an Alternativen. Aber das reicht ihr nicht. Sie will ganz sein.

Der Titel spricht vom Träumen. Was hat es damit auf sich?

Träume spielen auf mehreren Ebenen eine Rolle für das Buch. Die Erzählerin steht über ihre Träume in Verbindung mit verstorbenen Familienmitgliedern. Deren Geister besuchen sie in ihren Träumen. Außerdem verschwimmen die Erinnerungen ihrer Mutter an das Leben in China auf eine traumähnliche Art. Je weiter es in die Vergangenheit rückt, desto schwerer fällt es ihr, die damaligen Umstände wiederzugeben. Die Erzählerin versucht, diese Geschichten zu retten. Und letztendlich geht es auch um Träume im Sinn von Lebensträumen. Was wünschen wir uns vom Leben

Kommentare zum Buch
Wovon wir träumen
Jochim Tarwitt am 22.08.2023

Ein wunderbares Buch.Lin Hierse nimmt uns an der Hand und wir sind direkt dabei,ìn dieser Geschichte. Ich möchte nicht das dieses Buch schnell endet. Hoffe sie schreibt noch viele Bücher. Danke Joachim Tarwitt Berlin 22. August 2023

Peter Franke am 03.07.2023

Ich finde das Buch sehr eindrucksvoll, weil es viele Situation darstellt, die ich auch immer wieder erlebt und empfunden. Als Mann, Jahrgang 1950, geboren in Beijing mit chinesischer Mutter und deutschem Vater, aufgewachsen dann in einer deutschen Großstadt und späteren mehrfachen China Aufenthalten . Das war anderes, als was Lin Hierse von der Protagonisten schreibt aber hinsichtlich der Beziehung zu China vieles sehr ähnlich. Sie beschränkt sich in ihrem Roman auf das Verhältnis Tochter und Mutter. Gern hätte ich gewusst, welche Rolle denn der Vater als "Deutscher" in der ganzen Entwicklung gespielt hat und welche Beziehung denn die Eltern zueinander hatten und wie sich die auf die Protagonistin auswirken? Vielleicht schreibt Frau Hierse über diese andere Hälfte der Erfahrungswelt der Protagonistin ja demnächst einen weiteren Roman.

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