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Die Geschichte eines einfachen Mannes - eBook-Ausgabe Die Geschichte eines einfachen Mannes

Timon Karl Kaleyta
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Roman

„Das lustigste Buch, das jemals in deutscher Sprache geschrieben worden ist.“ - Caroline Wahl

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Die Geschichte eines einfachen Mannes — Inhalt

Aus dem Leben eines Taugenichts

Unser Erzähler ist vom Glück geküsst. Er, der Junge aus einfachem Hause, spürt, dass das Schicksal Großes mit ihm vorhat. Erst als Helmut Kohl 1998 die Wahl verliert, zeigt seine Zuversicht Risse. Wird nun alles schlechter? Nach dem Abitur macht er sich voller Euphorie und dennoch maximal besorgt auf die Reise nach ganz oben. Um ein Haar erlebt er mit seiner Band den großen Erfolg, beginnt beinahe eine steile akademische Karriere, fast findet er das Glück in der Liebe und tänzelt dabei ständig am Abgrund. Doch wenn man ihm glauben will – und nichts wünscht er sich mehr –, wird am Ende alles gut für ihn.
Timon Karl Kaleyta erzählt von einem, der auszieht, um die Welt für sich zu gewinnen. Irisierend, funkelnd, schöner als der schöne Schein!

"Pausenlos gelacht und immerzu gelitten - ich kann Timon Karl Kaleyta fühlen." - Christian Ulmen

"Timon Karl Kaleyta ist ein so überragend guter Liedtexter - muss der jetzt wirklich auch noch ein Buch schreiben? Ich meine: JA!"- Benjamin von Stuckrad-Barre

"Ein erstaunliches Buch! Mit schelmischer Selbstironie und Leichtherzigkeit gelingt Kaleyta eine anmutige Frechheit über unsere Klassengesellschaft." - Samira El Ouassil

"So wie Kaleyta davon erzählt, wie es immer nur so gut wie und fast und beinahe und dann doch eben nicht so richtig abging mit seiner Karriere, klingt die Geschichte wie eine exemplarische Universalgeschichte. Man wünscht sich unter jede seiner Wahrheiten einen Beat." - Peter Richter, SZ

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 01.04.2021
288 Seiten
EAN 978-3-492-99821-5
Download Cover
€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 31.03.2022
320 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31884-6
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Leseprobe zu „Die Geschichte eines einfachen Mannes“

„Aber dann war es aus für seine Phantasie mit der
Karriere, aus mit der Zukunft: Das war der Tod. Hier
die Einzelheiten von einem seiner traurigen Tage.“

Stendhal „Rot und Schwarz“


Kapitel I

Wie alles begann


Zu Tode betrübt und von allen Göttern verlassen fuhr ich am Morgen des 28. September 1998 wieder in die Schule. Kalt war es draußen, noch dunkel und windig, und ich saß, tief in mich zusammengesunken, von meinem jungen Leben so bitter enttäuscht, ganz vorn im dahinfahrenden Bus und ließ meine Stirn gegen die beschlagene Scheibe fallen. Wie konnte es nur [...]

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„Aber dann war es aus für seine Phantasie mit der
Karriere, aus mit der Zukunft: Das war der Tod. Hier
die Einzelheiten von einem seiner traurigen Tage.“

Stendhal „Rot und Schwarz“


Kapitel I

Wie alles begann


Zu Tode betrübt und von allen Göttern verlassen fuhr ich am Morgen des 28. September 1998 wieder in die Schule. Kalt war es draußen, noch dunkel und windig, und ich saß, tief in mich zusammengesunken, von meinem jungen Leben so bitter enttäuscht, ganz vorn im dahinfahrenden Bus und ließ meine Stirn gegen die beschlagene Scheibe fallen. Wie konnte es nur so weit kommen, fragte ich mich. Und wie würde es jetzt für uns alle nur weitergehen?

Ich starrte hinaus ins Nichts, in die herbstliche, regnerische Tristesse einer Ruhrgebietsvorstadt, die mir nunmehr bleiern und menschenfeindlich erschien, und ahnte bereits, wie dieser Tag für mich weitergehen würde – sie würden mich zum Gespött der Schule machen, so viel war sicher. Und obwohl der Dieselmotor des Omnibusses fast gewalttätig laut unter meinen Füßen grollte, sodass ich von den Gesprächen der mir größtenteils unbekannten Menschen nichts mithören konnte, fühlte es sich schon in dieser frühen Stunde des Tages so an, als würden sie alle mich anstarren, ihre Nasen über mich rümpfen und mich verlachen.

 

Die Schüler aller Klassen rannten wie wild geworden über die Gänge und den Hof, die Treppenhäuser hoch und runter, hin und her und wedelten dabei mit ihren SPD-Fähnchen. Das ganze Gymnasium hatte sich nach den vergangenen Wochen und Monaten endgültig in eine rot-weiße Trutzburg verwandelt, trunken in bis dato nicht gekannter Glückseligkeit, und ich versuchte, mir bloß so unbemerkt wie möglich meinen Weg zum Klassenzimmer zu bahnen. Von dem Moment an, da sie mich erblickt hatten, schütteten sie ihre Häme über mir aus, über mir, dem Unverbesserlichen, Ewiggestrigen, dem einzigen Menschen an dieser Schule, vielleicht in der ganzen Stadt, der bis zum Schluss an einen letzten großen Sieg von Helmut Kohl geglaubt hatte, der seinen historischen Fehler bis zur allerletzten Sekunde nicht hatte einsehen wollen, der vermutlich noch nicht einmal jetzt verstand, wie falsch er gelegen hatte.

„Wir haben es dir doch gesagt!“, rief da eine eigentlich so hübsche und liebe Mitschülerin, die ich lange Zeit heimlich begehrt hatte, in meine Richtung.

„Siehst du es endlich ein? Du stehst auf der falschen Seite der Geschichte!“, brüllte eine weniger schöne.

„Das Spiel ist aus“, kreischte mir ein hagerer Junge entgegen, den ich noch nie zuvor gesehen hatte.

Ihre Stunde war gekommen, jetzt war der Moment, mit dem Finger auf mich zu zeigen und mir ihren Triumph erbarmungslos unter die Nase zu reiben.

Ich verstand ihre Motivation, ich hätte es vermutlich nicht anders gemacht, und doch schmerzte mich jedes einzelne ihrer Worte sehr.

 

Nachdem ich die ersten Anfeindungen des Tages überstanden hatte, geriet gleich die erste Stunde zu einer einzigen Farce. Eigentlich stand der Leistungskurs Geschichte auf meinem Plan, doch anstatt gemäß Lehrplan zu unterrichten, warf Herr Junge, der Referendar, der uns seit ein paar Monaten zugeteilt war, den Unterrichtsstoff über den Haufen und ließ, nachdem er wie elektrisiert ins Klassenzimmer gestürmt war und seine Ledertasche aufs Pult geknallt hatte, den Emotionen freien Lauf. Er nutzte die Gelegenheit und hämmerte uns noch einmal ein, was dieses Wahlergebnis für unser Land bedeutete, um welche Ausnahmesituation, um welchen Epochenumbruch es sich dabei handelte.

„Sie müssen verstehen“, überschlug er sich beinahe und raufte sich die Haare, „sechzehn Jahre Helmut Kohl … sechzehn lange Jahre. Ein stranguliertes Land, eine gelähmte Gesellschaft, eine verkümmerte Politik … Das alles hat jetzt endlich ein Ende!“

 

Auch Herr Junge wusste indes von meinem einsamen Widerstand, auch er hatte natürlich mitbekommen, wie ich mit Beginn des Wahlkampfes, als man bereits Allerschlimmstes befürchten musste, auf meinem Etui so sichtbar wie möglich und explizit vor den Augen meiner Mitschüler einen kreisrunden Ansteckpin angebracht hatte, auf dem die Fahne der Bundesrepublik vor blauem Hintergrund im Wind wehte – und neben einem kleinen CDU-Logo war darauf in großen Lettern zu lesen: Ich bin für Kohl!

Ich weiß nicht, wo ich diesen Werbeartikel eigentlich aufgetrieben hatte, doch ich erinnere mich ganz genau, wie ich den fast zehn Zentimeter breiten Anstecker ein paar Wochen vor der Wahl kurz vor Ende der großen Pause an die Oberseite des Mäppchens heftete, wie ich ihn am Stoff meines Hemdes demonstrativ polierte, als handele es sich dabei um eine edle Brosche oder eine seltene Münze, und wie ich im Anschluss prüfend auf die nun spiegelglatte Oberfläche pustete, die unter den flackernden Neonröhren des Klassenzimmers regelrecht aufzuleuchten schien.

Es erfüllte mich mit einer enormen Genugtuung, dabei den Schrecken in den Augen meiner Klassenkameraden zu sehen, die aufflammende Angst, sie könnten entgegen aller Wahrscheinlichkeit doch noch einmal die Wahl verlieren. Ich genoss diesen Moment so gut es nur ging, faltete die Hände, tat, als würde ich über irgendetwas nachdenken, das Helmut Kohl zuletzt gesagt hatte, und setzte dabei ein Gesicht auf, als läge mir das Schicksal unseres Landes sehr viel ernsthafter am Herzen als all den blinden Erneuerern um mich herum.

 

Ich schämte mich jedenfalls nicht, für meine Überzeugungen einzustehen, ich wollte, dass jeder in der Schule von meiner Widerständigkeit erfuhr. Auch Herrn Junges Aufmerksamkeit hatte ich immer wieder auf meinen Pin lenken können, und so blinzelte er mir bei seinem flammenden Vortrag, den er – wie ich heute denke – gewiss wochenlang für den wahrscheinlichen Fall der Fälle vorbereitet und eingeübt hatte, nun unmissverständlich zu, ganz so, als wartete er nur darauf, dass auch ich endlich einknickte, vielleicht besser noch, dass ich aufstehen und mich in aller Demut zu meinem Irrtum bekennen würde. Doch anstatt ihm diesen Wunsch zu erfüllen, versank ich bloß immer noch tiefer in meiner Schulbank, war immer weniger imstande zuzuhören und fiel immer ungebremster in die Verzweiflung hinein. Was würde unter diesen Umständen wohl aus mir und meinem bisherigen Leben werden? Jetzt, da schon der erste Tag nach der Niederlage zu einer solchen Demütigung geraten war? Waren meine glücklichen, sorgenfreien Tage gezählt? Es fühlte sich sehr danach an. Nur, wie hatte es so weit kommen können?

*

Mein Leben bis zu diesem Tag, ich kann es nicht anders sagen, erinnere ich als eine einzige, nie endende Aneinanderreihung schöner und allerschönster Momente. Daheim mangelte es mir an nichts, nie litt ich Hunger oder anderes Leid, nie erfuhr ich auch nur irgendein erwähnenswertes Unrecht. Nein, jeder Tag kam im Grunde einer Verbesserung und nochmaligen Verbesserung des Vortages gleich, und hätte ich wählen müssen, kein Schicksal der Welt wäre mir lieber gewesen als mein eigenes.

Vom ersten mir in Erinnerung verbliebenen Moment empfand ich mein Leben als einen einzigen Segen, und das, obgleich meine Eltern nicht etwa Anwälte oder höhere Beamte, gar Diplomaten oder Unternehmer waren, für die Geld keine Rolle spielte, ganz im Gegenteil. Sie waren zwei einfache, unerbittlich für unser familiäres Auskommen schuftende Fabrikarbeiter, die tagein, tagaus von der schweren Arbeit erschöpft und von oben bis unten mit Ruß und Öl verschmiert nach Hause kamen, um es mir, ihrem einzigen Kind, nie auch nur am Allergeringsten mangeln zu lassen.

Große Teile dieser Kindheit und Jugend verbrachte ich in der Natur. In einem der Wäldchen nahe unserem bescheidenen Reihenhaus, in den schier unendlichen Kornfeldern des Bauern Müller, die gleich hinter unserem Haus begannen und jeden Sommer wie ein goldenes Meer unter meinem Fenster im Wind hin- und herwogten. In jeder freien Minute tobte ich mit meinen Schulfreunden in diesen Feldern herum, bis meine Mutter mich kurz vor Sonnenuntergang wieder in ihre Arme zurückrief – und dann saßen wir drei gemeinsam beim Abendbrot, das meine Mutter so liebevoll zubereitete, machten Scherze über die Ereignisse des Tages und lachten.

Und wenn ich nicht gerade frei wie ein Vogel durch die Natur streifte und mich dabei im Spiel und in Tagträumereien verlor, dann war es mir ein fast noch größeres Glück, meinem Vater, der ein meisterhafter Handwerker war, bei den kleineren und größeren Arbeiten im Haus zuzusehen und ihm im Rahmen meiner Möglichkeiten zur Hand zu gehen. Wenn er im Keller an seiner Werkbank Entzweigegangenes reparierte, als wäre nichts weiter dabei, wenn er nach der Arbeit oder an den Wochenenden in unserem Häuschen noch einen Raum tapezierte, Fliesen und Teppiche verlegte, Wände anstrich, Leitungen erneuerte und so fort. Mit staunenden Augen folgte ich ihm, wie er all diese Zaubereien aus dem Handgelenk schüttelte, und stellte mir vor, wie auch ich eines fernen Tages über dieselben Fähigkeiten verfügen würde.

Meine Eltern, die sich alle Aufgaben, so gut es eben ging, teilten, die genau wie ich in all den Jahren ohne Zweifel nicht glücklicher hätten sein können, erzogen mich dabei mit nichts als Sanftmut, Zuspruch und Verständnis, ganz gleich, was ich auch anstellte. Und das, obwohl sie selbst schwere Kindheiten hatten durchleben müssen, Kindheiten voller Entbehrungen, geprägt von eiserner Strenge, Zucht und Armut, die ihnen beiden den Besuch einer höheren Schule von Anfang an verunmöglicht hatten.

 

Kurzum, ich hatte, wie ich gar nicht entschieden genug betonen kann, ein ganz und gar unverschämtes Glück. Und zu diesem Glück in der Familie gesellte sich – als hätte es das Schicksal nicht schon gut genug mit mir gemeint – noch ein weiteres, das mir viel höhere Mächte hatten zukommen lassen: So war ich bereits in der Grundschule ein fast schon zu hübscher Knabe, mit feinen Gesichtszügen, leuchtenden Augen und zarten Gliedern, was zwangsläufig dazu führte, dass die Mädchen aus meiner Klasse mir beinahe wöchentlich heimlich kleine Geschenke in die Schultasche steckten, wenn sie nicht gar noch einen Schritt weiter gingen und persönlich bei uns zu Hause vorbeikamen, wo meine erstaunten Eltern diese Präsente für mich entgegennahmen, während ich mich verschämt in mein Kinderzimmer einschloss.

Ich war darüber hinaus ein ausgezeichneter, mit enormem Talent gesegneter Sportler. So ausgezeichnet, dass ich in der dritten Klasse für eine an dieser Schule bei den Bundesjugendspielen noch nie zuvor errungene Höchstleistung vom Rektor höchstpersönlich und vor allen anderen Schülern mit einer individuell angefertigten Urkunde in Form einer übergroßen, gerahmten, mir handschriftlich gewidmeten Fotografie unseres Schulgebäudes geehrt wurde. Und blicke ich heute zurück, so empfinde ich fast schon eine gewisse Scham gegenüber all jenen geplagten Seelen, die von Fortuna nicht so liebevoll geküsst worden sind wie ich.

Man könnte sagen, dass ich seit früher Kindheit nicht den leisesten Zweifel an einer ganz besonderen mir zugefallenen Befähigung hatte, ja, dass ich ganz fest davon ausging, dass das Schicksal Großes für mich vorgesehen hatte. Und da mir auch das Lernen keinerlei Schwierigkeiten bereitete und ich ohne große Anstrengung nur die besten Noten erhielt, war es kein Wunder, dass die mir so zugeneigte Grundschullehrerin bei meiner Entlassung ein paar aufrichtige Tränen weinte und meinen sich ungläubig die Augen reibenden Eltern noch einmal ins Gewissen sprach, mich auch tatsächlich auf das Gymnasium zu entsenden und künftig all meine Talente mit Hingabe zu fördern. Ja, auch sie sagte mir eine glänzende Zukunft voraus, auf dass sie einen Teil meines kommenden Erfolgs sich selbst auf die Fahnen würde schreiben dürfen.

 

Wenn es überhaupt eine Sache gab, nach der ich mich insgeheim sehnte, dann war es, so einfältig und undankbar das auch klingen mag, eines fernen Tages die nächsthöhere Stufe des Wohlstands zu erreichen. Es war ein Verlangen, von dem ich meine Eltern nie wissen ließ, das ich ausschließlich mit mir selbst auszumachen hatte: Schon früh nämlich schaute ich auf zu den Reicheren und Besserverdienenden, zu ihren großen Autos und stattlichen Villen, nicht mit Neid oder Missgunst, sondern mit sehnsüchtigem Interesse und wohlwollender Bewunderung. Ich empfand den Wohlstand des Bürgertums, das ich zwar damals noch nicht als solches hätte benennen können, das mir jedoch aus der direkten Anschauung meiner oft gut situierten Freunde auf dem Gymnasium bald bestens bekannt war, nicht etwa als unverdient, als etwas, das sie anderen weggenommen hatten. Nein, ich empfand ihn als etwas, das letztlich jeder sich aneignen konnte, wenn er nur hart genug dafür arbeitete oder – wie ich – mit genügend Talent und Glück beschenkt war.

Ab der Oberstufe ließ ich aus dieser Selbstgewissheit heraus die Zügel ein wenig schleifen. Nicht allzu sehr natürlich, nicht so, dass es hätte gefährlich werden können, ganz und gar nicht, sondern gerade so, dass ich zwar nicht mehr die allerbesten Noten schrieb, aber immer noch ohne Probleme gut durch die Jahre kam, sodass auch meine Mutter, die – den Worten meiner Grundschullehrerin Folge leistend – sehr auf mein schulisches Fortkommen achtete, zu keiner Zeit in Sorge geraten wäre.

Ich machte mir schlicht und ergreifend keine Gedanken um meine Zukunft, so mühelos war mir alles stets zugeflogen, so leicht war mir alles gefallen, so nahtlos hatte sich alles immer ineinander gefügt.

 

Da also mein Leben bis dato erschütterungsfrei verlaufen war, interessierte ich mich bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr für Politik auch nur insofern, als sie dafür sorgte, dass einfach alles beim Alten blieb. Genauer gesagt bestand meine einzige Sorge darin, dass sich auch nur das Geringste zum Schlechteren verändern könnte. Und so sollte man es mir nachsehen, wie ich finde, dass ich damals – anderthalb Jahre vor dem Abitur – bei der Bundestagswahl 1998 gerade nicht auf einen Umsturz, sondern auf eine fünfte Amtszeit von Helmut Kohl gesetzt hatte und all meine Hoffnung und Anstrengung darauf verwandte, dass es noch ein letztes Mal für ihn reichte.

Die Wochen vor der Wahl kamen für mich daher einem regelrechten Spießrutenlauf gleich. Niemand, nicht ein einziger meiner Mitschüler, hatte sich mit mir auf die Seite Kohls geschlagen, obwohl es uns unter ihm doch allen zweifelsfrei gut ging. Obwohl wir alle doch sehr viel mehr zu verlieren denn zu gewinnen hatten. Sie aber fieberten, und das machte mich schier wahnsinnig, auf etwas Neues hin, wollten Erneuerung, koste es, was es wolle. Die vergleichsweise wenigen Klassenkameraden aus einfachen Familien taten ohnehin, was ihre Eltern ihnen sagten, waren, wie alle bescheidenen Menschen im Ruhrgebiet, ohne darüber nachzudenken, Sozialdemokraten und konnten ihr nun heraufziehendes Glück einer Kanzlerschaft kaum fassen. Die Kinder aus besserem Hause hingegen nutzten ihre historische Chance, um ein erstes und letztes Mal gegen ihre Eltern aufzubegehren.

Ich war also mit meiner Agenda allein auf weiter Flur und kämpfte mit meiner unverhohlenen Unterstützung für Kohl einen aussichtslosen, mir nichts als Unverständnis und Häme, bisweilen auch Beschimpfungen und Ablehnung einbringenden Kampf. Nicht nur gegen meine Mitschüler, nein, natürlich auch gegen den gesamten Lehrkörper. Denn auch unter den Lehrern fand sich damals kein Einziger, der vor der Wahl nicht für die Sozialdemokratie, für Erneuerung und Umsturz geworben hätte, ganz so, als hätte ihr aufdringliches Engagement noch irgendjemanden bekehren müssen. Bei mir allerdings bissen sie auf Granit. So sicher war ich mir meiner Sache, so sehr empfand ich den Neuanfang mit einem mir unbekannten, unberechenbaren Mann als das falsche Signal, als unnötiges Risiko für das ganze Land, ja, als brandgefährliche Erschütterung der mir bekannten Welt. Doch es half alles nichts. Helmut Kohl hatte die Wahl verloren, und so ereignete sich die erste große Erschütterung meines Lebens am 27. September des Jahres 1998.

*

Ich ließ den Rest dieses schrecklichen Schultages einfach über mich ergehen – letztlich waren die Schmähungen nicht mehr als die Geister, die ich selbst gerufen hatte. Und als meine Mitschüler nach Unterrichtsende vollgepumpt mit Enthusiasmus aus der Schule hinausströmten, hinein in eine Welt, von der sie sich nun so viel erhofften, blieb ich stur sitzen. Ich wollte allein sein mit meiner verletzten Seele, ließ meinen Kopf auf den Tisch fallen, atmete schwer aus und versuchte, mich irgendwie von den Strapazen zu erholen.

Ich muss dabei kurzzeitig eingeschlafen sein, da legte sich mir mit einem Mal ganz zart, als wollte sie mich nicht erschrecken, eine Hand auf die linke Schulter. Es war Herr Junge, der wohl gespürt hatte, dass ich hier irgendwo in meine Trauer versunken herumsitzen würde.

„Na, mein Lieber“, sagte er.

Ich fuhr hoch und drehte mich zu ihm hin. Mir war etwas Speichel aus dem Mundwinkel gelaufen und auf den Hemdsärmel getropft, während ich schlief, und nun wischte ich mir hastig mit dem Handrücken über Mund und Wange.

„Herr … Herr Junge“, antwortete ich, denn natürlich war mir unangenehm, dass er mich in all meiner Hilflosigkeit antraf.

„Was machen Sie denn noch hier?“, fragte er aufrichtig besorgt, und ich muss hinzufügen, dass ich persönlich nicht das Geringste gegen den in jeder Hinsicht fairen Herrn Junge einzuwenden hatte – bis auf seine politische Naivität natürlich.

„Alles in Ordnung?“

Ich zögerte mit einer Antwort, ich wusste überhaupt nicht, wo ich hätte anfangen sollen.

„Ich … Ich wollte nur noch ein bisschen für mich sein“, stotterte ich.

Herr Junge entdeckte die Federmappe, die vor mir auf der Schulbank lag und an der noch immer, wohl aus Trotz, mein CDU-Pin leuchtete. Plötzlich war er mir sehr unangenehm, und ich bedeckte ihn, als hätte Herr Junge ihn nicht längst schon gesehen, mit derselben Hand, mit der ich mir einen Augenblick zuvor noch den Mund abgeputzt hatte.

„Ach, bemühen Sie sich nicht“, sagte er. „Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, jetzt nicht mehr.“

Ich beschaute mir noch einmal nachdenklich den Anstecker, dann löste ich die Nadel aus dem Kunstleder und schloss die Spange wieder. Ich wog ihn in der Hand und machte dabei einen kritischen Gesichtsausdruck.

„Er wiegt fast gar nichts“, sagte ich vor mich hin. „Leicht wie eine Feder.“

„Er ist aus einfachem Blech“, sagte Herr Junge. „Er hat keinerlei Wert.“

„Vermutlich haben Sie recht. Er ist nichts mehr wert …“

Erst jetzt nahm er seine Hand von meiner Schulter.

„Wissen Sie was“, sagte er, „ich mag Sie. Wirklich. Sie sind ein wunderbarer junger Mann.“

Ich sah ihn fragend an.

„Wie meinen Sie das, Herr Junge?“

Der Referendar dachte nach.

„Da steckt so etwas Ungezügeltes in Ihnen, ich weiß es nicht so recht zu bestimmen. Irgendetwas unterscheidet Sie von den anderen hier … Das habe ich gleich gespürt, wenn ich so ehrlich sein darf.“

„Etwas, das mich unterscheidet? Sie meinen den Anstecker?“

„Nein, nein“, sagte Herr Junge entschieden. „Es ist mehr als das. Der Pin ist nur eine Jugendsünde, den habe ich von Anfang an nicht ernst genommen.“

Er stieß ein heiteres Kichern aus.

„Ach so …“, sagte ich. „Und glauben Sie wirklich, dass sich jetzt alles ändert, wie die Leute sagen?“

Herr Junge setzte gerade zu einer Antwort an, da klopfte es am Türrahmen, und der Hausmeister schlurfte herein, dessen Namen ich nicht kannte, dessen Namen vermutlich niemand von uns Schülern kannte, obwohl wir ihn jeden Tag mit seinem klappernden Schlüsselbund durch das Gemäuer huschen sahen.

„Ich mach hier bald zu“, sagte er ausdruckslos.

Ich schaute ihn ein paar Momente lang an, er sah unglücklich aus, noch unglücklicher als sonst. Hatte seine Trauer etwa denselben Grund wie die meine? Hatte vielleicht auch er, ohne es mit jemandem teilen zu können, seine geschundenen Daumen für eine fünfte Amtszeit von Helmut Kohl gedrückt? Hatte er gar am Vortag für Kohl abgestimmt, was das Schicksal mir verwehrt hatte, da meine Volljährigkeit, als hätte eine böse Macht ihr Spiel mit mir treiben wollen, erst ein paar Tage später erreicht sein würde?

„Na, dann wollen wir mal los, oder?“, unterbrach Herr Junge meine Überlegungen und gab mir einen sanften Stoß in die Seite.

Ich nahm meine Schultasche, und gemeinsam schlenderten wir aus dem Klassenzimmer hinaus, den langen Flur hinab und traten vor das Gebäude.

 

„Kommen Sie, ich fahre Sie nach Hause, Sie haben es heute schon schwer genug gehabt“, sagte der Referendar in leicht scherzendem Ton.

Er deutete auf die gegenüberliegende Seite der viel befahrenen zweispurigen Straße, die unser Schulgebäude vom Rest des dazugehörigen Schulzentrums abtrennte. Auf der einen, der schönen, Seite lag unser Gymnasium mit einer angeschlossenen Stadtbücherei, hellen Klassenräumen, gepflegten Backsteinfassaden und einem herrlich begrünten Schulhof mit allen Möglichkeiten der Pausenunterhaltung – auf der anderen Seite lagen, in meiner Erinnerung in undurchdringlichen Smog gehüllt, düster, grau und lebensfeindlich, die Gebäude der Real-, Haupt- und Sonderschule.

„Mein Auto steht drüben hinter der Sporthalle, heute Morgen war alles besetzt, wir müssen ein wenig laufen.“

Ich erschrak. „Bei … bei der Sporthalle, Herr Junge?“

Überrascht nahm er meine Angst wahr.

„Aber was stimmt denn nicht damit?“, fragte er.

Ich zögerte, denn eine Antwort darauf war nicht einfach.

Noch gar nicht erwähnt habe ich nämlich bisher, dass meine so leidenschaftliche Unterstützung für Helmut Kohl nicht ausschließlich unbestimmter Natur war. Ich war nicht nur von der diffusen Angst getrieben, dass alles sich irgendwie würde verändern können, das war lediglich mein Bauchgefühl. Nein, es gab auch einen ganz konkreten Grund, einen handfesten, und ich fürchte, der Vollständigkeit halber muss ich auch davon berichten.

Wie gesagt trennte lediglich eine zweispurige Straße die Welt meines Gymnasiums von der aller übrigen Schulen, und wäre es in jener Zeit nach mir gegangen, dann hätte diese Straße durchaus noch etwas breiter und viel befahrener sein können, man hätte von mir aus auch auf jeglichen Fußgängerübergang verzichten können. Ja, man hätte sogar eine hohe Mauer an ihrer statt hochziehen können, denn meine Angst vor der anderen Straßenseite war, um nur das Mindeste zu sagen, allgegenwärtig.

Von dort drüben nämlich drohte tägliche Gefahr. Wie aus einer verstoßenen, vergessenen Sphäre kamen die Schüler der anderen Schulen regelmäßig in unsere schöne, heile Welt herüber. Wie die Untoten betraten sie mit ihren gewaltbereiten Körpern unser Schulgebäude, um uns immer wieder aufs Neue aufzusuchen, Gewalt anzudrohen und anzutun, uns zu bestehlen und zu erniedrigen. Sie hatten es auf unsere so wehrlosen Körper abgesehen, die ihnen nichts als Unterwerfung entgegenzusetzen hatten. Sie machten uns verständlich, dass sie, zumindest solange wir alle noch zur Schule gingen, am längeren Hebel saßen.

Im besten Fall konnte man unter ihrem Radar hindurchtauchen, indem man ständig auf der Hut war, ihnen frühzeitig aus dem Weg ging, den Blick senkte, ihnen nicht in die Augen sah und vor allen Dingen auch sonst nie durch unnötige, unbedachte Aktionen auf sich aufmerksam machte. Denn war man erst einmal aufgefallen, stand man gar unter besonderer Beobachtung, und das konnte schnell passieren, verschärfte sich die Gefahr immens, sprang aus der Welt der Schule in die der Freizeit über, auf die öffentlichen Orte, auf das Schwimmbad und so weiter, wo man ihnen jederzeit über den Weg laufen konnte, und ich sah in all den Jahren mehr als eine Handvoll Nasen brechen, vernahm dabei dieses dumpfe Knacksen und sah sodann Bäche fassungsloser Tränen über gymnasiale Gesichter rinnen.

Helmut Kohl aber war in erster Linie ein Vertreter von uns Gymnasiasten – so viel hatte ich verstanden. Kohl wollte uns schützen vor dem Zugriff von außen. Er stand ganz eindeutig auf meiner Seite, wohingegen Kohls Widersacher nicht das Geringste von der realen Welt mit ihren real existierenden Problemen kapierten. Sie wollten eine Welt, in der es zwischen den sanften Seelen wie mir und den gnadenlosen Schlägern nicht einmal mehr eine Straße als Hindernis gab. Sie wollten, dass es überhaupt keine unterschiedlichen Schulen mehr gab, dass alle auf eine Schule gingen – und das schien mir die denkbar größte Katastrophe für Leib und Leben zu sein. Die Sozialdemokraten konnten, das war mir vollkommen klar, dafür nur einen einzigen Grund haben – pure Menschenfeindlichkeit.

Und wenn ich eingangs gesagt habe, dass mein Leben bis zur Wahlnacht 1998 glückseliger und angstfreier nicht hätte sein können, so war das – zumindest in diesem Punkt – ein kleines bisschen gelogen. Denn in all den Jahren auf dem Gymnasium verging kein einziger Tag, an dem ich nicht Angst vor der gegenüberliegenden Straßenseite gehabt hätte. Und manchmal, wie um mich selbst ein bisschen ins Gruseln zu versetzen, steigerte ich mich regelrecht in die Vorstellung hinein, ich würde aus irgendeinem Grund vom Gymnasium geworfen und müsste fortan gegenüber zur Schule gehen, verdammt bis in alle Ewigkeit – und wie man sich selbst manchmal beim Ausmalen düsterster Szenarien durchaus einer gewissen Lust nicht erwehren kann, so erging es mir auch mit dieser Vorstellung: Ich genoss sie mit schauriger Leidenschaft, wohl wissend, dass mir dieses Los erspart bleiben würde, war ich doch dafür letztendlich ein zu guter Schüler.

All das aber konnte ich meinem Lehrer in diesem Moment unmöglich erklären, also antwortete ich auf seine Frage mit einem Kopfschütteln.

 

Zum Glück passierte uns diesmal nichts auf dem Weg über die Straße, und auch auf dem Hof der Haupt-, Real- und Sonderschule kam es zu keiner einzigen gefährlichen Begegnung – vermutlich waren auch hier die Schüler nach Schulschluss in großer Vorfreude auf eine bessere Zukunft aus der Schule geeilt, um diesen besonderen Tag in aller Freude mit ihren Familien zu begehen. Ich stieg in Herrn Junges Ford Fiesta, schnallte mich an, wir fuhren los.

„Ich erzähle Ihnen jetzt ein Geheimnis“, sagte Herr Junge nach ein paar Minuten, da er das Auto in Richtung meines Elternhauses lenkte, wohin ich ihm den Weg anzeigte. „Ich glaube nicht, dass sich für uns etwas ändert, beziehungsweise für Sie. Alles wird beim Alten bleiben, ich bin mir da sogar ausgesprochen sicher.“ Er machte eine Pause. „Das ist doch Ihre größte Sorge, richtig?“

„Aber“, sagte ich, „vorhin vor der Klasse haben Sie doch was ganz anderes behauptet. Da haben Sie uns alle eingeschworen, und Sie haben über mich gelacht … Und jetzt sagen Sie mir, dass Sie selbst gar nicht daran glauben? Haben Sie uns in Wahrheit nur was vorgespielt?“

Der junge Referendar kicherte in sich hinein.

„Ach, wissen Sie“, seufzte er, „mit der Wahrheit ist es so eine Sache …“

Ich schaute ungläubig zu ihm rüber, während er um eine Ecke bog und in den zweiten Gang schaltete. Die Kupplung des Fiesta knarzte laut auf.

„Sagen Sie mir lieber“, fuhr er fort, „was haben Sie eigentlich mit Ihrem Leben vor? Wissen Sie das schon?“

„Nein, Herr Junge“, schüttelte ich den Kopf. „Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.“

„Das sollten Sie aber. Ich habe das Gefühl, in Ihnen steckt eine ganze Menge. In meinen Augen fahren Sie, wenn ich so sagen darf, mit angezogener Handbremse. Lassen Sie los. Ich glaube, dann hält Sie nichts mehr auf“, sagte er. „Und ich erzähle Ihnen noch ein Geheimnis. Sind Sie bereit?“

„Aber nur, wenn es kein gefährliches Geheimnis ist!“, gab ich etwas verschüchtert zurück.

Herr Junge schaute mich an, mindestens einen Moment zu lang für die Tatsache, dass er den Wagen zu lenken hatte, und legte seine Hand verschwörerisch auf mein linkes Knie.

„Jedes Geheimnis ist gefährlich und gleichzeitig ungefährlich. Es kommt darauf an, wer von dem Geheimnis weiß und was man daraus macht … Also, wollen Sie es hören?“

Ich nickte.

„Wenn Sie es weit bringen wollen, wenn Sie an die Fleischtöpfe wollen, dann passen Sie jetzt gut auf. Sie müssen zu den Leuten, die bereits dort sind, wo Sie hinwollen. Immer und immer wieder müssen Sie deren Nähe suchen, und, das ist ganz wichtig, Sie müssen diesen Leuten unter allen Umständen das Gefühl vermitteln, dass Sie keine Bedrohung für sie sind. Verstehen Sie das? Sie müssen sich immer klein und demütig geben, als könnten Sie keiner Fliege was zuleide tun, als läge Ihnen nichts ferner, als sich in den Vordergrund zu spielen, als hätten Sie das Wort Karrierismus noch nie gehört.“

„Karrie… was? Wie, bitte?“, fragte ich.

„Sie müssen in jeder Situation absolut glaubhaft so tun, als hätten Sie keinerlei Ambitionen, als bewunderten Sie die Leute über Ihnen geradezu. Loben Sie sie, himmeln Sie sie an, seien Sie überfreundlich, hilfsbereit und stellen Sie sich immer ein bisschen dumm und begriffsstutzig dar, das mögen diese Leute. Aber arbeiten Sie im Hintergrund wie ein Besessener. Und dann, eines Tages, kommt Ihre Stunde – bis zu diesem Moment hat Sie noch niemand als Bedrohung wahrgenommen, niemand hat Ihren Aufstieg bemerkt, weil er so kleinlaut daherkam, und plötzlich, über Nacht, haben Sie Ihre Konkurrenten links und rechts überholt und ihre Plätze eingenommen, und alle reiben sich die Augen … Ergibt das Sinn für Sie?“

Ich hatte den Ansteckpin aus meiner Hosentasche gezogen und knibbelte geistesabwesend daran herum.

„Haben Sie mir überhaupt zugehört?“, fragte er lauter.

„Ja, natürlich, Herr Junge“, ich war jetzt wieder voll da. „Aber woher wissen Sie das denn alles?“

Der Referendar schwieg bedeutungsvoll.

„Dort drüben“, rief ich plötzlich aus, „dort die Reihenhäuser, da wohne ich!“

Er brachte den Fiesta in aller Ruhe zum Stehen. Dann atmete er laut aus und schaute sich um.

„Hier wohnen Sie also, ja? Das ist doch sehr hübsch. Dieses kleine Häuschen, die Weizenfelder. Und gegenüber gleich ein Sportplatz. Wie idyllisch.“

„Ich kann nicht klagen, Herr Junge. Ich war immer sehr glücklich“, sagte ich.

„Was machen eigentlich Ihre Eltern?“

„Sie sind einfache Arbeiter. Sie arbeiten in der Fabrik.“

„Ach, das ist schön, wissen Sie, meine Eltern sind schon vor langer Zeit …“, aber da redete Herr Junge mit einem Male nicht weiter und hielt einen Moment inne. „Gut, Sie kommen also aus der Arbeiterklasse … Dann will ich es Ihnen nur umso deutlicher sagen. Erwarten Sie nichts von der Politik. Niemals! Besondere junge Menschen wie Sie müssen sich durchsetzen. Gebrauchen Sie Ihre Ellenbogen, wo Sie nur können – Sie haben jedes Recht dazu, Ihnen bleibt kaum etwas anderes übrig als Rücksichtslosigkeit, merken Sie sich das“, erklärte er mir. „Das ist Ihr schärfstes Schwert!“

Ich nickte.

Herr Junge reichte mir seine Hand.

„Sie haben aber sehr weiche Hände, hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?“, fragte er.

„Finden Sie?“

„Unbedingt.“

Ich schaute verlegen auf den Anstecker in meiner linken Hand.

„Kann ich den vielleicht bei Ihnen lassen? Ich brauche ihn nicht mehr.“

„Selbstverständlich, ich werde ihn für Sie entsorgen. Und nehmen Sie es nicht so schwer mit der Wahl. Vergessen Sie sie einfach. Es wird sich nichts ändern, das versichere ich Ihnen.“

Ich öffnete die Tür, stieg aus dem Wagen und drehte mich noch einmal zu Herrn Junge um.

„Ich will es hoffen, Herr Junge, ich will es so sehr hoffen.“

*

Erstaunlicherweise schien sich auf fast beängstigende Weise zu bewahrheiten, was Herr Junge an diesem Tag prophezeit hatte – in den folgenden Wochen und Monaten änderte sich nicht das Allergeringste, und auch meine lieben Eltern, die kurz nach der Wahl genauso aus dem Häuschen gewesen waren wie alle anderen, denen gegenüber ich aber aus Rücksicht nichts von meiner Gesinnung zu erkennen gegeben hatte, sprachen schon wenig später kaum noch ein Wort von ihrem neuen Kanzler. Und je mehr Zeit verging, desto unbeschwerter und sorgenfreier wurde ich wieder, ganz so, als wäre überhaupt nichts geschehen.

Meine Eltern arbeiteten weiterhin hart, drehten für ein bisschen Wohlstand jede Mark zweimal um, meine Mutter bereitete pünktlich das Essen vor, und als ich rund anderthalb Jahre später ohne größeren Zwischenfall und ohne besondere Anstrengung ein – wie ich fand – durchaus ordentliches Abitur abgelegt hatte, waren auch die allerletzten Zweifel von mir abgefallen, das Schicksal könne es am Ende vielleicht doch nicht gut mit mir meinen. Ich hatte mein Vertrauen zurückgewonnen.

 

Besonders der Abend des großen Abschlussballs war zu einem fulminanten Erlebnis für mich geworden. Der Blick in die Gesichter meiner gerührten Eltern erfüllte mich mit nie gekanntem Stolz, und auch Herr Junge suchte noch einmal das Gespräch. Den ganzen Abend über hatte er nach mir Ausschau gehalten und nur auf den richtigen Moment gewartet, dann nutzte er die Gelegenheit, um sich zu mir zu gesellen, als ich gerade ein paar Momente verschnaufte und abseits des Trubels auf einem Stuhl Platz genommen hatte, um ein wenig zu resümieren.

„Darf ich mich kurz zu Ihnen setzen?“, fragte er mich.

„Aber sehr gern, Herr Junge.“

„Es ist ja doch alles gut gegangen, nicht wahr?“

Ich lachte laut auf, als hätte er mich bei einer groben, aber an sich harmlosen Ungehörigkeit ertappt.

„Allerdings, Herr Junge, allerdings.“

Und dann lachten wir gemeinsam.

„Und wissen Sie schon“, fragte er nun fast ein bisschen schüchtern, „was Sie nun mit Ihrem Leben anfangen wollen?“

Ich zögerte, denn eigentlich fand ich die Frage banal, wenn nicht gar obszön – was sollte das denn bedeuten? War das nicht sogar die ganz und gar falsche Frage, was man „mit seinem Leben anstellen wollte“? Sprach aus einer so falsch herum gestellten Frage nicht eine vollkommen mutlose Geisteshaltung, eine, die immer davon ausging, dass man in der Schuld stand, tätig zu werden, anstatt einfach darauf zu vertrauen, dass alles, was kommen musste, auch kommen würde? Sprach nicht aus seiner Frage schon eine viel zu mickrige Vorstellung vom Leben?

„Ja, das weiß ich in der Tat“, antwortete ich der Einfachheit halber.

„Wunderbar. Und wollen Sie es mir verraten?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Dafür ist es noch zu früh, ich möchte mich ausschließlich an meinen Taten messen lassen, verstehen Sie?“

Herr Junge, der mittlerweile kein Referendar mehr war, sondern ein verbeamteter Studienrat, zeigte sich beeindruckt.

„Alle Achtung“, sagte er.

Ich lächelte ihn an und nahm einen Schluck Sekt aus einem Plastikglas, das vor mir auf dem Tisch stand.

„Ich möchte Sie auch gar nicht lange stören“, sagte er dann, erhob sich von seinem Stuhl und deutete eine Verbeugung an. „Wissen Sie“, fügte er noch hinzu, „eines Tages möchte ich von Ihnen und Ihren Taten in der Zeitung lesen … Wollen Sie mir das versprechen?“

„O ja“, antwortete ich, „das werden Sie, Herr Junge, machen Sie sich keine Sorgen …“, und dann trennten sich unsere Wege für immer.

*

Ich sah in der Folge nicht den geringsten Grund, etwas zu überstürzen, und verbrachte meine Zeit vor allem mit Tagträumereien darüber, was wohl irgendwann einmal über mich in der Zeitung zu lesen sein würde. Ich konnte mir ganz unterschiedliche Gründe dafür vorstellen, wie und warum ich es zu Berühmtheit bringen würde – es gab ja unendlich viele Möglichkeiten, und je nach Lust und Laune spielte ich sie, während die Tage, Wochen und Monate nur so an mir vorbeirauschten, immer wieder durch.

Ja, bei allem Übermut und athletischen Tatendrang war ich immer schon ein sehr träumerischer Junge gewesen, hatte – während ich in der Natur herumstreunte, auf Baumkronen kletterte und über Wiesen rannte – ganz tief in mich hineingehorcht und meiner Phantasie freien Lauf gelassen. Und nun, da ich etwas älter war, da ich alle schulischen Aufgaben erfüllt hatte und mich von jeglichem Zwang befreit fühlte, nutzte ich die Angebote der Natur abermals zu ausgedehnten Spaziergängen – ich stand spät auf, machte mich in aller Seelenruhe fertig, trat hinaus in den Tag und schaute bis zum Abend nicht mehr auf die Uhr. Es war vielleicht, wenn ich so sagen darf, die schönste Zeit meines Lebens, und wenn es in diesen Tagen überhaupt etwas gab, das mich ein wenig betrübte, dann vielleicht nur, dass Vincent, einer meiner zwei engsten und liebsten Freunde, den ich seit Kindertagen kannte, gleich nach dem Abitur die Stadt in Richtung München verlassen hatte. Er hatte mir selbstverständlich erklärt, was genau er da nun ins Werk setzte, aber ich konnte es mir beim besten Willen nicht merken, und überdies war ich natürlich auch einfach sauer auf ihn, dass er mir so Hals über Kopf den Rücken zugekehrt hatte.

 

Erst nach gut einem halben Jahr begannen meine Eltern zaghaft damit, mich nach meinen weiteren Plänen zu befragen, woraufhin ich zunächst nur mit einem freundlichen Lächeln und einer abweisenden Handbewegung reagierte, sobald ihr Insistieren aber dringlicher wurde, mit sanft erhobener Stimme oder ersten kleineren Wutausbrüchen. Ich wusste ja, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sich das Richtige für mich ergeben würde. Also ging es für mich nur darum, meine Eltern bei Laune zu halten, bis sich alle angeblich so dringenden Probleme durch eine weitere Fügung urplötzlich in Luft auflösen würden.

Und um mich beizeiten selbst noch einmal zu vergewissern, dass auch wirklich alles in Ordnung war und kein Grund zur Sorge bestand, holte ich aus der Schublade meines Schreibtisches regelmäßig das in Klarsichtfolie abgeheftete Abiturzeugnis hervor, setzte mich auf einen kleinen Schemel am Fenster meines Dachzimmers, legte die Füße bequem auf den Sims und beschaute mir jedes Detail ganz genau. Ja, dieser Abschluss war eine Meisterleistung gewesen, keine Macht der Welt konnte ihn mir je wieder nehmen.

 

Und dann, fast über Nacht, tauchte in mir die Frage auf, was genau ich eigentlich falsch machte? Plötzlich zerbrach ich mir beinahe täglich den Kopf, saß vor dem Fenster, das Kinn in die Hände gestützt, blickte über die Felder und suchte nach einer Antwort auf die Frage, warum das Glück, sosehr ich auch darauf wartete, mir nicht mehr zur Seite stand. Und immer regelmäßiger kamen meine Eltern am Abend schon mit verschränkten Armen gemeinsam in mein Zimmer und versuchten, mich zur Rede zu stellen.

„Aber du hast doch ein so tolles Abitur gemacht, mein Sohn“, schluchzte meine Mutter beinahe.

„Ich verliere bald die Geduld! Wie lange willst du hier noch tatenlos rumsitzen!“, erhob mein Vater die Stimme. „Mit deinem Abschluss bekommst du doch jeden Ausbildungsplatz der Welt!“

Ich schwieg zunächst, als hätte ich die beiden gar nicht gehört, dann platzte es aus mir heraus.

„Seid ihr verrückt geworden?! Ich mache doch keine Ausbildung!“, brüllte ich so laut und verächtlich wie möglich durchs Haus. Sie mussten den Verstand verloren haben, wenn sie auch nur eine Sekunde lang geglaubt hatten, ich würde mit meinem Abitur in der Tasche jetzt unmittelbar irgendeiner unsinnigen Arbeit nachgehen. Diese Vorstellung war geradezu grotesk.

 

Jetzt erst bemerkte ich, wie sehr ich meinen lieben und vor allen Dingen so schlauen Freund Vincent doch vermisste. An ihn nämlich, den Sohn mittlerer Beamter, konnte ich mich in jeder Notlage wenden, ihn konnte ich immer um Rat fragen. Vincent, der schon in frühen Jahren immer über alles Bescheid wusste, der sich in allem auskannte, der sich meinem Empfinden nach für wirklich alles brennend interessierte, der schon zu Schulzeiten andauernd allein durch die Gegend reiste und von sich selbst immer sagte, er würde wegen seines Ordnungssinns und seiner Disziplin auch einen hervorragenden Soldaten abgeben, wäre er nicht so ein Feingeist und Pazifist. Vincent verlor nie die Nerven, war von vorbildlicher Verlässlichkeit, und allein mit ihm Zeit zu verbringen gab mir das gute Gefühl, vielleicht selbst auch von vergleichbarem Charakter zu sein. Und jetzt merkte ich also, wie sehr seine Abwesenheit meine Unruhe verstärkte.

Auch mein Schlaf geriet zusehends schlechter, ich begann mit den Zähnen zu knirschen, wie mir mein schmerzender Kiefer am Morgen bedeutete. Häufig wachte ich schweißgebadet aus den immer gleichen sorgenvollen Albträumen auf und fand kaum die Kraft, morgens überhaupt aus den Federn zu kommen. Und spätestens als in den Vereinigten Staaten aus heiterem Himmel die Türme des World Trade Centers einstürzten, kam ich zu der schmerzvollen Erkenntnis, dass etwas Grundsätzliches ins Wanken geraten war, dass mich – stellvertretend für uns alle – das Glück verlassen hatte, ja, dass einfach alles, woran ich glaubte, vielleicht für immer seine Gültigkeit verloren hatte.

Man hörte es ja auch überall: „Nichts wird mehr so sein, wie es mal war“, hieß es rund um die Uhr auf jedem Fernsehsender, im Radio und in den Gesprächen meiner Eltern – und mir war, als würden sie alle ganz allein mich damit meinen. Nichts war mehr so, wie ich es kannte, schlimmer noch, die Hiobsbotschaften rückten sogar immer dichter an mich heran.

Denn dass sich nun, wie sich schon bald herausstellte, das Glück nicht bloß von mir abgewandt hatte, sondern ausgerechnet Personen in meinem nächsten Umfeld zufiel, Menschen, die es sehr viel weniger verdient oder nötig gehabt hätten, gab mir den Rest.

 

Getroffen hatte es nämlich ausgerechnet meinen anderen besten Freund, Sebastian, den hoch aufgeschossenen, hellblonden, strahlenden Sohn eines Zahnchirurgen aus der Nachbarstadt.

Ich hatte Sebastian, der wie ich ein begabter Fußballer gewesen war, einige Jahre zuvor in einer Auswahlmannschaft kennengelernt und mich schnell mit ihm angefreundet. Er war im Vergleich zu mir zwar gewiss nicht behüteter, aber doch in ungleich größerem Luxus aufgewachsen, denn in den goldenen Siebziger- und Achtzigerjahren der Bundesrepublik hatte sein Vater so viele Zähne und Kiefer aufgebohrt und daran herumgemacht, dass die Familie bald gar nicht mehr wusste, auf welchen Konten im In- und Ausland sie das ganze Geld noch würde verstecken können. Das Glück des Vaters und das seiner Patienten war viele Jahre lang ein gegenseitiges gewesen und hatte darin bestanden, dass die gesetzlichen Krankenkassen ganz einfach bezahlten, was kaputtgegangen war. Und so gingen die Menschen damals mit einem Lächeln zum Zahnarzt und gönnten dem Herrn Doktor den dunkelblauen Jaguar, den ich so liebte, die Sorglosigkeit der Familie sowie die üppige, von oben bis unten mit carrarischem Marmor und Jugendstilmöbeln ausgestattete Villa am Stadtpark, in der ich meinen Freund stets gern besuchte, wenn es die Zeit mir erlaubte.

Da die wirklich goldenen Jahre für Zahnärzte im Ruhrgebiet jedoch längst vorbei waren und Sebastians Vater bereits alles Geld der Welt verdient hatte, waren er und seine Frau die meiste Zeit gar nicht mehr vor Ort, sondern vergnügten sich in ihren Ferienhäusern in Südeuropa oder fuhren auf einem Kreuzfahrtschiff durch die Karibik – und bald wurden ihre Besuche in der Heimat so rar, dass Sebastian mehr oder weniger allein auf dreihundert Quadratmetern lebte, nur hin und wieder noch von den Eltern besucht, und irgendwann, später, würden sie dem kargen Ruhrgebiet vollends „Adieu“ sagen und einen Bauernhof in der Eifel beziehen.

 

Als hätte es also das Schicksal mit meinem lieben Freund nicht schon gut genug gemeint, stellte sich nun zu allem Überfluss auch noch heraus, dass Sebastian im Begriff war, ein erfolgreicher Musiker zu werden. Seit Jahren schon hatte er mit ein paar Freunden an einem Musikprojekt gearbeitet und sich im Keller seines Elternhauses ein stetig wachsendes Tonstudio aufgebaut. Ich indes hatte diese Entwicklungen immer mit einer gewissen Abschätzigkeit betrachtet, ja, ich muss zugeben, dass ich dem Unterfangen nie die allergeringsten Erfolgsaussichten beigemessen und es für pure Zeitverschwendung gehalten hatte. Oder um noch deutlicher zu werden: Als Sebastian und seine Freunde begannen, erste Konzerte zu spielen, kam ich um das mir so unangenehme Gefühl nicht herum, sie würden sich damit regelrecht lächerlich machen. Ich war also die meiste Zeit froh, nicht daran mitzuwirken, mich nicht in diese brotlose Kunst zu versteigen, und machte mir einen Spaß daraus, ihre Anstrengungen mit der gebotenen Distanz beschämt zu beobachten.

Mit einem Mal aber rannten ihnen die Plattenfirmen regelrecht die Türe ein, es passierte alles so schnell, ich konnte unmöglich darauf reagieren, und nur kurze Zeit später unterschrieb Sebastian als Chef und Produzent des Ganzen einen richtigen Plattenvertrag. Alles deutete nun darauf hin, dass eine große, von noch mehr und noch schöneren Erfreulichkeiten gesegnete Zukunft auf ihn wartete.

 

Der Neid brannte wie Feuer in mir, und ich war fortan von der Vorstellung besessen, es ihm, so schnell es nur irgendwie ging, gleichzutun. Ja, ich wollte all das selbstverständlich auch: Geschäftstermine, Honorarverhandlungen und Vorschüsse, Veranstaltungen, Konzerte, Relevanz und Ansehen. Und je häufiger ich Notiz davon nahm, was sich in Sebastians Leben nun abspielte, desto mehr geriet ich in Rage über die Tatsache, dass es ausgerechnet ihm widerfahren war, ihm, der doch bereits so viel besaß, und nicht mir, der es doch erst noch zu Wohlstand bringen musste.

Aber was sollte ich tun? Ich hatte zwei Optionen: Ich konnte in Selbstmitleid versinken und meine Wut über diese Ungerechtigkeit in mich hineinfressen, oder aber ich nutzte die Gelegenheit dazu, endlich einmal selbst etwas in Angriff zu nehmen. Aber wie? Irgendetwas, das stand fest, musste sich ändern. Es wurde ja langsam auch Zeit.

 

Eines Morgens erwachte ich ungewöhnlich früh. Die Sonne stand noch ganz tief, es war gerade einmal sechs Uhr, aber draußen war es schon ungemein warm, wie ich durch das weit geöffnete Fenster meines Kinderzimmers ahnte. Irgendetwas lag in der Luft, ich konnte es spüren, also sprang ich unter die Dusche und zog mir im Anschluss leichte Sommerkleidung über – ich wollte heute einfach sehr viel früher nach draußen, noch bevor meine Eltern in die Fabrik aufbrachen. In großen Sätzen sprang ich die Treppe hinunter, dass es nur so polterte. Ungläubig drehte sich meine Mutter in der Küche um, doch ich war bereits halb zur Haustür hinaus. „Warte nicht mit dem Essen auf mich, Mutter! Es könnte heute spät werden“, rief ich ihr zu, und sie verstand, so nehme ich an, an diesem Tag die Welt nicht mehr ganz, schien doch mit einem Male nichts mehr übrig von dem gerade noch so verunsicherten, antriebslosen jungen Mann der letzten Monate, ihrem einzigen Sohn.

Ich spazierte hinaus in den Tag. Vor mir lagen die Kornfelder des Bauern Müller, und ich verspürte plötzlich den unbändigen Drang, mich, anstatt daran vorbeizulaufen und wehmütig über sie hinwegzuschauen, kurzerhand in sie hineinzustürzen. Als Kinder hatten meine Freunde und ich dem Bauern jeden Sommer wieder Teile seiner Ernte platt getreten, einfach so, weil wir es liebten, unter den uns weit überragenden Ären Verstecken zu spielen und Gänge zwischen sie hineinzutrampeln, auf denen wir uns ganze Tage lang durch das schier unendliche Weizenmeer hindurchbewegten. Eine Kindheit von besonders schlichter Schönheit war das, dachte ich einmal mehr, als ich vor dem Kornfeld stand, eine von fast allen elterlichen Verboten befreite – denn erlaubt war damals so gut wie alles und verboten so wenig wie nichts.

Nirgendwo war in dieser Herrgottsfrühe eine Menschenseele zu sehen, nur weit entfernt, am anderen Ende des Feldes, zog ein Mähdrescher einsam seine Runden. Ob es der Bauer Müller höchstpersönlich war? Früher war er nicht besonders gut auf uns zu sprechen gewesen, denn wenn wir nicht gerade seine Ernte zerstampften, sprangen meine Freunde und ich in die auf dem gemähten Feld abgestellten Anhänger, die bis obenhin mit purem Korn beladen waren, und als wären sie mit Goldtalern und Diamanten gefüllte Geldspeicher, versuchten wir darin herumzuschwimmen, was allerdings nicht gerade dergestalt funktionierte, wie wir es uns ausgemalt hatten.

Zum ersten Mal tat ich nun wieder ein paar Schritte vom Feldweg ab, direkt zwischen die goldenen Halme hinein, die mich zwar nicht mehr überragten, aber doch nichts von ihrem Zauber eingebüßt hatten. Das Korn war, so entschied ich, reif zur Ernte, und alles roch süßlich nach Stroh. Ich breitete meine Arme aus und streichelte mit den Händen sanft über die Köpfe der Ären. Ich wollte sie unter keinen Umständen zerstören.

Erst nach einer ganzen Weile blieb ich stehen und legte mich rücklings auf den Boden, und mir war, als hätte ich das irgendwo schon einmal gesehen. So lag ich nun da, gedankenverloren, mit weit ausgestreckten Armen wie eine vom Sockel gestoßene Statue, und blickte in den blauen Himmel hinauf. Ich schloss die Augen und lauschte dem Gezwitscher der Vögel und dem Gesumme der unzähligen Insekten, das mir bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht aufgefallen war, und die Geräusche des Mähdreschers blieben weit entfernt und bargen für mich keinerlei Gefahr. Die Sonne leuchtete an diesem besonderen Tag so lichterloh, dass sie mir durch die dünne, weiche Haut über den Pupillen ein warmes Glühen auf die Netzhaut warf.

Was hatte Herr Junge damals zu mir gesagt? Dass ich mir nehmen sollte, was ich vom Leben erwartete? Dass gerade ich, ein junger Mann aus einfachem Hause, jedes Recht der Welt hatte zu fordern, wonach es mich verlangte? Hatte ich das richtig in Erinnerung? Dass mir jedes Mittel erlaubt sei? Es war überhaupt das erste Mal, dass ich über unser Gespräch wieder nachdachte. Was, wenn er mir damals etwas mitteilen wollte, das mir heute von Nutzen sein könnte? Auch über Ellenbogen hatte er irgendwas gesagt und dass ich den Menschen, von denen ich was wollte, etwas vorspielen sollte: Ich durfte täuschen, tarnen und tricksen, ich sollte den Platz von jemand anderem einnehmen, wenn ich „an die Fleischtöpfe“ wollte, bis dahin sollte ich allen nach dem Mund reden, schmeicheln, mich verbiegen, mich ihnen demütig zu Füßen werfen. Das hatte er gesagt.

Mein Herz schlug schneller, immer schneller und schneller bis zum Halse, sodass ich ins Schwitzen geriet, und schon bald war mein Hemd regelrecht durchtränkt.

Ich riss die Augen auf und starrte direkt in die Sonne, die mittlerweile im Zenit genau über mir stand. Mein Körper sträubte sich, wollte mich dazu zwingen, den Blick von ihrem gleißenden Licht abzuwenden, aber nun übernahm ich die Kontrolle und blickte, in vollem Besitz meiner geistigen und physischen Kräfte, minutenlang einfach so ins Zentrum der Sonne hinein.

Noch etwas hatte Herr Junge gesagt: „Ihr Name wird eines Tages in der Zeitung stehen!“ – Und es lag nun an mir, dafür Sorge zu tragen, Herrn Junge auch diesen Wunsch zu erfüllen.

Ich machte einen Satz und sprang aus der Horizontalen direkt in den Stand – wie viele Stunden waren mittlerweile vergangen? Es hätten zwei, fünf oder zehn Stunden sein können, ich hatte keine Ahnung. Ich blickte an mir hinunter, klopfte mir Staub und Pollen aus der Kleidung und rannte los, hinaus aus dem Feld, am Haus meiner Eltern vorbei und die Straße hinunter und weiter, ohne mich auch nur noch ein einziges Mal umzusehen oder auf eine Ampel zu achten, immer weiter in Richtung Stadt und dann weiter und immer weiter. Ich lief gewiss schon eine ganze Stunde, ohne dass ich an Intensität eingebüßt hätte, aus der einen Stadt hinaus und in die nächste hinein, die Sonne war mittlerweile im Begriff unterzugehen, und dann noch einmal weiter, bis ich unter dem bellenden Rasseln meiner Lunge den Stadtpark erreichte, an dessen herrlicher Allee sich das Haus meines Freundes Sebastian befand.

Es war aber auch wirklich ein schönes Haus. Eine herrschaftliche, frei stehende Villa in bester Lage, in der die handverlesenen Eliten der hiesigen Bürgerschaft wohnten, die Notare, Anwälte, Ärzte und Bauunternehmer, allesamt in Gründerzeitbauten links und rechts der Prachtstraße – und nun stützte ich mich, direkt vor seinem Haus, der Jaguar stand in der Einfahrt, Sebastian war also zu Hause, auf meine Oberschenkel und versuchte zu Atem zu kommen. Die Kleidung klebte mir wie nasse Seide am Körper, und als ich schließlich wieder ein wenig zu Kräften gekommen war, stieg ich die Steintreppen hinauf, klingelte, und nur wenige Augenblicke später hörte ich Sebastian schon in großer Eile die mit dunkelrotem Samt überzogene Treppe herunterrauschen.

Mit Schwung riss er die schwere Eingangstür auf. Er trug eine weiße Leinenhose und war oberkörperfrei, in der Hand hielt er eine eiskalte Flasche Coca-Cola, von der das Kondenswasser tropfte, und in seinem Gesicht stieg eine große Freude auf, als er mich so abgekämpft und zerzaust bei sich vor der Tür stehen sah.

„Ach!“, rief er und nahm einen großen Zug durch den Strohhalm, und noch im selben Moment versagten mir die Knie.

Ich sank auf den kühlen Marmor, fiel Sebastian regelrecht vor die Füße und weinte Tränenbäche vor ihn hin. Eine Lawine der Emotionen entlud sich vor den Augen meines Freundes, all die Enttäuschungen und Ängste der letzten Monate brachen aus mir heraus, in einer Mischung aus Vorwurf, Selbstanklage und unverständlichem Schluchzen. Die Tränen nahmen einfach kein Ende, und so klagte ich ihm mein ganzes Leid, bis hin zu dem mir gewiss für immer unerfüllt bleibenden Wunsch, eines Tages, genau wie er, ein großer und erfolgreicher Musiker werden zu dürfen – und dann brach ich vollständig zusammen und lag regungslos und mit einer Wange auf dem Marmor vor ihm.

Sebastian stellte die Cola auf einem antiken Sideboard ab, beugte sich zu mir herunter und streichelte mir über den Kopf, der vom Weinen ganz heiß geworden war.

„Es wird ja alles gut“, sagte er in all der Empfindsamkeit, die ihn auszeichnete wie kaum etwas anderes. „Hörst du? Du musst dir keine Sorgen mehr machen. Ich habe verstanden.“

Vorsichtig half er mir auf, griff mir unter die Arme, führte mich in das kühle Wohnzimmer, von wo aus ich durch das Fenster zum Garten den Swimmingpool funkeln sehen konnte, und goss mir aus einer Karaffe, in der Eiswürfel und frisch aufgeschnittene Zitronenscheiben schwammen, ein großes Glas Wasser ein, das er mir an den Mund führte.

„Hier, trink das erst einmal, du Armer.“

Er holte eine Schüssel eiskaltes Wasser aus der Küche, tauchte ein kleines Handtuch ein und legte es mir in den Nacken.

 

Eine halbe Stunde lang sprachen wir kaum ein Wort. Und als ich mich endlich ein wenig erholt hatte, nahm er mich bei der Hand, schritt mit mir über die enge Treppe in das Kellergewölbe hinab, das in den Zwanziger- oder Dreißigerjahren einmal als Bunkeranlage geplant und mit massiven Schutztüren versehen worden war, hinein in sein Musikstudio, das sicher die Hälfte des Untergeschosses einnahm und durch zwei große Oberlichter hell geflutet wurde. Ich kam aus dem Staunen nicht raus, als ich nun erstmals mit eigenen Augen sah, was Sebastian sich hier geschaffen hatte und wie einladend und gleichzeitig imposant alles geraten war.

Auf breiten nussbraunen Holzdielen lagen, wohl um den Raumklang zu verbessern, gewiss wertvolle Perserteppiche. Und wie ein Altar stand dort ein schlichter, aber großer Schreibtisch, auf dem ein gigantisches Mischpult und dahinter mehrere Bildschirme und Lautsprecher installiert waren.

Überall standen Instrumente herum, Gitarren, Bässe, Keyboards, ein Schlagzeug, denn eigentlich war Sebastian gelernter Schlagzeuger, dazu eine ganze Reihe mir unverständlicher Geräte mit einer Vielzahl an Knöpfen und Reglern. Mir erschien all das wie Alchemie, von der ich nicht das Geringste verstand – keinen einzigen Knopf hätte ich dort unten bedienen können, ohne etwas kaputt zu machen –, und doch war dieser Raum für mich eine Verheißung.

„Und … das … das gehört alles dir?“, staunte ich.

„Ja“, sagte Sebastian.

„Und jetzt?“, fragte ich. „Was passiert jetzt?“

„Jetzt wollen wir mal schauen, was ich für dich tun kann …“

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus, und Sebastian rückte mir einen Stuhl zurecht. Ich war eingeschüchtert, unsicher, doch Sebastian versuchte, mir all meine Scheu zu nehmen, indem er wie selbstverständlich so tat, als hätten wir schon unzählige Male zusammen Musik gemacht. Er schaltete nacheinander die Geräte und Apparate an. Überall klickte und brummte es nun, an allen Ecken leuchteten Lämpchen und kleine Dioden auf, immer wieder legte Sebastian, wie einer Choreographie folgend, irgendeinen Schalter um – das gesamte Tonstudio war nun elektrifiziert.

„Es ist wie ein Wunder, Sebastian“, sagte ich und blickte ihn mit aufgerissenen Augen von der Seite an.

 

Es war in gewisser Weise die Erfüllung eines Traums, denn ich hatte in den letzten Monaten, als ich Sebastians drohenden Erfolg zu ahnen begann, natürlich ein paar zaghafte Versuche gewagt, doch noch irgendwie auf den fahrenden Zug aufzuspringen, hatte, wenn ich ihn auf Konzerte begleitete, es immer wieder als verhuschte Frage in den Raum geworfen, ob ich nicht vielleicht auch einmal würde mitwirken dürfen, denn was sollte es schon sein, das sie konnten, was ich nicht genauso gut oder noch besser in kürzester Zeit hätte lernen können? Aber jedes Mal war ich mit meiner Frage gegen eine gläserne Decke gestoßen, immer wieder erntete ich beschwichtigende oder gar abwimmelnde Antworten, so ausdauernd, dass ich am Ende die Hoffnung verloren hatte – und nach und nach war in mir das so scheußliche Gefühl der Minderwertigkeit aufgekommen, ein Gefühl, mit dem ich nichts weiter anzufangen wusste, als es in Missgunst zu verwandeln.

 

Nun aber saß ich aufgeregt wie ein kleines Kind neben Sebastian. Ich beobachtete jede seiner Bewegungen, aus denen ich mir kaum einen Reim machen konnte – wo hatte Sebastian all das bloß gelernt? Er war schon ganz in die Arbeit versunken, lächelte konzentriert vor sich hin und strich sich dabei immer mal wieder seine goldenen Haare aus der Stirn, dann blickte er mit einem Mal zu mir herüber.

„So, was wollen wir denn für eine Musik machen?“

Ich erschrak, rutschte hektisch auf meinem Stuhl herum, als würde ich nachdenken, legte meinen Kopf in den Nacken, fasste mir mit den Fingern an die Nasenwurzel und murmelte vor mich hin.

„Na ja …“, stammelte ich. „Vielleicht … Also, ach … Wie wäre es denn mit …“, aber je intensiver ich nachdachte, desto weniger wusste ich etwas Sinnvolles zu antworten, etwas, mit dem ich mich nach Möglichkeit nicht gleich im ersten Moment würde lächerlich machen.

„Irgendeine grobe Idee?“, setzte er nach.

Ich überlegte noch angestrengter, wusste noch weniger zu sagen, dann zwinkerte Sebastian mir zu.

„Du weißt es nicht, oder? Du weißt gar nicht, was du für Musik machen willst!?“, lachte er nun.

Ich schüttelte nur den Kopf.

„Na gut. Und, sag mal, spielst du zufällig irgendein Instrument?“, fragte Sebastian ganz höflich, während er weiter aufmerksam auf die Bildschirme blickte.

„Ich … äh“, versuchte ich meine Verunsicherung zu verbergen, „Also, ich glaube nicht …“

Sebastian schaute mir eindringlich in die Augen.

„Ach, schon gut, mein Lieber, schon gut. Ich glaube, für jemanden wie dich müssen wir uns etwas ganz anderes ausdenken. Etwas ganz Neues, verstehst du?“

„Wenn das geht?“, fragte ich zurück.

„Aber natürlich. Es gibt immer etwas, das noch niemand gemacht hat. Das ist doch das Tolle!“

„Aber“, wandte ich ein, „ist nicht eigentlich alles schon mal von jemandem erfunden worden?“

Sebastian grübelte kurz.

„Vielleicht ja“, sagte er dann. „Vielleicht aber auch nicht. Wer weiß … Was meinst du, wollen wir es gemeinsam herausfinden?“

Ich nickte verstohlen, und Sebastian lachte sein gutmütiges Lachen.

„Pass auf, ich will es dir beweisen.“ Und dann begann er, als hätte auch an ihm jemand einen Schalter umgelegt, an den Tasten seines Keyboards herumzuspielen, immer abwechselnd mit der Maus auf dem Computer zu klicken, an Rädchen zu drehen und daraus Geräusche hervorzubringen. Und schon bei den ersten Tönen verspürte ich in mir eine neue, unbekannte Erregung.

 

Aus den Lautsprechern drangen verschiedenste Klänge, mal spitze, in den Ohren stechende elektronische Töne, mal sphärische Soundflächen. Sebastian nahm sie auf, veränderte sie und nahm weiter auf. Er verschob sie am Bildschirm ineinander und verwob sie, sodass ich bald Raum und Zeit vergaß und mich ganz in diesen Klängen und in Sebastians Virtuosität verlor. Ja, es war plötzlich, als beobachtete ich mich von außen, als blickte ich mit fremden Augen auf mich herunter, sah mich mit Sebastian im Studio arbeiten, neue Musik erfinden, obwohl ich nicht viel mehr tat, als ihm bei all dem tatenlos zuzusehen und hin und wieder zustimmend mit dem Kopf zu nicken. Genauso hatte ich mir das immer ausgemalt.

„So“, sagte Sebastian plötzlich, „und jetzt gehst du ans Mikrophon …“

Seine Worte rissen mich aus der Glückseligkeit. Er sprang auf, baute einen Mikrophonständer auf, verkabelte alles und schloss Kopfhörer an.

„Los!“

„Aber … ich …“, versuchte ich, etwas einzuwenden, während ich mich mit wackligen Beinen erhob und zum Mikrophon schritt. „Was soll ich denn machen?“

Sebastian lachte.

„Singen natürlich!“

„Aber was? Was soll ich singen?“, fragte ich zurück, während mir heiß und kalt wurde vor Angst – ich empfand plötzlich eine ungeheure Scham vor Sebastian, eine panische Angst, mich nun vollkommen unmöglich zu machen. Was, wenn sich herausstellte, dass ich überhaupt kein Talent besaß, wenn ich mir nur etwas vorgemacht hatte? Was, wenn Sebastian all den Aufwand nur betrieben hatte, um mir genau das jetzt vor Augen zu führen?

„Egal was“, sagte Sebastian. „Einfach irgendwas!“

 

In letzter Sekunde riss ich mir noch einmal die Kopfhörer runter, entschuldigte mich, rannte die Stufen empor und verschwand kurzatmig im Bad, wo ich mir, einem Impuls folgend, den Finger in den Hals steckte und mich übergab. Mehrere Male würgte ich den gesamten Mageninhalt hoch, bis nur noch Galle kam, dann wusch ich mir das Gesicht mit eiskaltem Wasser. Vor dem Spiegel schlug ich mir mit beiden Händen ein paarmal viel zu fest gegen die Wangen, dann verließ ich das Bad, stakste die Treppen wieder nach unten und stellte mich ans Mikrophon.

Sebastian startete die Aufnahme erneut, das Herz pochte mir wild in der Brust, und sofort setzte mein Fluchtreflex wieder ein – zum Weglaufen aber war es zu spät, außerdem war ich an diesem Tag schon genug gerannt. Also harrte ich aus, wartete bang auf meinen Einsatz. Mein Kopf war vollkommen leer. Irgendwas, hatte Sebastian gesagt, sollte ich singen, einfach irgendwas, und als er euphorisch das Zeichen gab, sprach ich plötzlich, als hätte der liebe Gott es mir in diesem Moment eingeflüstert, mehrmals hintereinander die Zeilen: „In der neuen Zeit. Komme ich nicht weit“, gefolgt von „Halten Sie sich fest. Grüße aus Triest“.

Gebannt wartete ich auf Sebastians Reaktion, und als ich nach ein paar Augenblicken die Freude in seinen Augen erblickte, fiel alle Angst von mir ab. Die Last auf meinen Schultern hatte sich in Luft aufgelöst, und mich ergriff eine Woge der Selbstberauschung, die mich nun jede Hemmung ihm gegenüber vergessen ließ. Sebastian klickte weiter auf dem Bildschirm herum, lachte vor Begeisterung, schlug sich auf die Schenkel, veränderte dieses und jenes am Arrangement und an meiner Aufnahme, ich erfand noch einmal schnell und intuitiv ein paar weitere Zeilen, und binnen kürzester Zeit, am Ende waren vielleicht drei oder vier Stunden vergangen, war unser erstes gemeinsames Stück vollständig im Kasten. So einfach also war das alles.

 

Es stellte sich letztlich heraus, dass ich zwar tatsächlich über keinen musikalischen Sachverstand verfügte, über keine mühsam erlernte Fertigkeit, dass ich dafür aber mit einer Art vorbewussten Phantasie gesegnet war und einer sehr anregenden Stimme – eine Stimme, die mir, als ich sie zum ersten Mal auf der Aufnahme hörte, gleich ausgesprochen gut gefiel und mir in ihrer Mischung aus Zartheit und Individualität fast wie ein Spiegel meiner selbst vorkam. Ein ganz eigener Zauber ging von ihr aus, sodass ich Sebastian noch in dieser Nacht Dutzende Male aufforderte, das Stück wieder und wieder abzuspielen, so oft, bis Sebastian schließlich eingestand: „Das ist ein wirklich besonderes Stück. Wirklich etwas sehr Neues.“

„Findest du?“, fragte ich zurück. „Findest du wirklich? Ist es mir wirklich gelungen?“

„Aber ja“, antwortete er und lachte.

Und als ich mich schließlich kurz vor dem Morgengrauen, hundemüde und überglücklich, in einem der vielen Gästezimmer in Sebastians Haus zu Bett legte, folgte ein so traumloser und erholsamer Schlaf, wie ich ihn schon seit anderthalb Jahren nicht mehr geschlafen hatte.


KAPITEL II

In den Fängen des Systems


Genau genommen interessierte mich nach dieser intensiven Erfahrung der künstlerischen Arbeit das eigentliche Produkt, das Lied, dem Sebastian den Titel Die neue Zeit gegeben hatte, schon am nächsten Morgen kaum mehr. Und schon wenige Tage später hatte ich es sogar vollständig aus meinem Kopf verdrängt. Mit der Musik, das war schnell klar, wollte ich es vorerst nicht weiter versuchen, zu lang und unsicher schien mir der Weg zum Erfolg zu sein und zu merkwürdig war, bei Lichte betrachtet, auch dieses Stück geraten. Aber ich hatte eine wichtige Lektion gelernt.

Mir genügte einerseits die grundsätzliche Einsicht, dass man sich im Leben nehmen konnte, wonach es einem verlangte, dass man bloß ungeniert oder emotional genug die eigenen Bedürfnisse artikulieren musste, und schon war alles möglich. Ja, manchmal, das hatte ich jetzt wirklich gelernt, wurde einem eben nicht einfach alles hinterhergetragen, manchmal musste man selbst tätig werden. Andererseits, und das war vielleicht noch wichtiger, brachte der Abend mit Sebastian in mir die Gewissheit zurück, dass ich mich selbstverständlich in jeder mir bis dato unbekannten Disziplin beweisen konnte – die gelungene Aufnahme war nur der Beleg dafür. Jetzt griff ich nach den Sternen.

 

Nun, da ich verstanden hatte, wie es im Leben lief, vor allem aber, weil ich unter keinen Umständen schon jetzt anfangen wollte, richtig zu arbeiten, war klar, dass mein weiterer Weg mich an die Universität führen würde. Natürlich, ich musste meinen bislang so erfolgreichen Kurs weiterverfolgen und die Angebote wahrnehmen, die dieses Land jemandem wie mir machte. Und dass ich darauf nicht eher gekommen war, verblüffte mich, ehrlich gesagt.

Aber was sollte ich studieren? Diese Frage hatte ich mir bislang kein einziges Mal gestellt, und eine Antwort darauf war, wie ich sehr bald feststellen musste, gar nicht so einfach zu finden. Ich zermarterte mir tagelang den Kopf, dachte mal in die eine Richtung, dann wieder in die andere. Doch jedes Mal fiel mir ein bedeutender Grund ein, warum dieses oder jenes gewiss ganz interessant, aber eindeutig nicht das Richtige für mich war.

 

Ich wollte meinen Eltern, die sich auch weiterhin große Sorgen um meine Zukunft machten, zwar so schnell wie möglich von meinen neuen Plänen erzählen und konnte es gar nicht erwarten, sie von ihren Qualen zu erlösen, trotzdem wollte ich die Entscheidung nicht ausschließlich ihnen zuliebe überstürzen – also schrieb ich meinem Freund Vincent, bei dem ich mich ohnehin schon viel zu lange nicht mehr gemeldet hatte, eine kurze Nachricht:

Vincent, mein lieber Freund! Wie geht es Dir in München? Sag mir rasch, was Du studierst! Es interessiert mich wirklich sehr.

Aufgeregt wartete ich, gewiss zwei, drei oder vielleicht sogar fünf Minuten, schaute wie gebannt auf das Display meines Telefons, denn plötzlich fühlte ich mich der Lösung meines Problems ganz nah. Wenn Sebastian vor allen Dingen ein Mann der Emotion, des Gefühls, ja, des Affekts, der musikalischen Eingebung, des Geschicks und des reinen Moments war, dann war Vincent ein Mann des Geistes. Präziser gesagt, einer des Verstandes, der Logik, der kühlen Analyse, des Weitblicks und der Vorausschau – während ich von Sebastian in jeder Notlage Verständnis und Zuspruch erwarten durfte, wies Vincents Rat weit über die aktuelle Situation hinaus.

Ich spürte eine in mir aufbrausende Spannung, eine Vorfreude auf die Zukunft, denn was für Vincent, meinen klugen Freund Vincent, gut war, würde doch gewiss auch für mich selbst nicht das Falsche sein.

Kunstgeschichte. Ich studiere Kunstgeschichte, schrieb Vincent mir prompt zurück. Das habe ich Dir schon zehnmal gesagt.

Kunstgeschichte! Richtig, und jetzt erinnerte ich mich auch daran, warum ich es mir nie hatte merken können: Kunst und – schlimmer noch – Kunstgeschichte interessierten mich überhaupt nicht, mit Kunst hatte ich mich in der Tat noch keinen einzigen Tag meines Lebens beschäftigt, und meinetwegen konnte es gerne so bleiben.

Ach so, schrieb ich Vincent enttäuscht zurück.

 

Eine so wichtige Entscheidung sollte vielleicht nicht unbedingt anderen nachgemacht werden, merkte ich bald – vielmehr war es doch sicherlich so, dass jeder für sich das Richtige finden musste. Ich konnte und durfte mich nicht immer auf Vincent verlassen, sondern musste meinen eigenen Weg gehen, auf mein eigenes Herz hören, so anstrengend das auch sein mochte. Und vermutlich war es am Ende eine Mischung ganz unterschiedlicher Empfindungen und Motivationen, die mich wenige Tage später, als ich gerade mit meiner Mutter beim Frühstück saß, wie als würde ich mich selbst zu meinem Glück zwingen wollen, eine Art Entscheidung fällen ließ.

„Mutter“, sagte ich und biss in mein mit Marmelade bestrichenes Toastbrot, „heute ist ein großer Tag.“

Sie schaute aufmerksam zu mir rüber.

„Heute fahre ich zur Universität. Heute schreibe ich mich ein. Ich werde Student. Was sagst du nun?“, fragte ich sie mit einem gewissen Stolz, schlug mit der Hand auf den Küchentisch und verschluckte mich beinahe an einem Krümel.

Meine Mutter rang einen Moment um Fassung. Und auch wenn gar nicht stimmte, was ich sagte, auch wenn es nur so aus mir herausgebrochen war, um einen bösen Bann zu brechen, steckte doch eine große Wahrhaftigkeit in meinen Worten, eine Wahrheit, die von einer Mutter nicht unbemerkt bleiben konnte.

„Und was wirst du studieren“, fragte sie.

Ich zögerte einen Moment und lächelte milde.

„Es soll eine Überraschung werden, Mutter“, log ich, doch es war keine feige Lüge, keine niederträchtige, wie sich leichterdings feststellen lässt. Ich empfand die kleine Ungenauigkeit vielmehr als Notwendigkeit, ja, als eine Art Zauberformel, die, einmal ausgesprochen, kein Zurück mehr erlaubte.

Das Gesicht meiner Mutter sprach Bände, es war das reine Glück darin zu sehen.

„Ich werde euch später von allem berichten“, schob ich nach, „jetzt muss ich mich schnell auf den Weg machen, ich darf keine Zeit mehr verlieren.“ Und dann fasste ich sie noch einmal bei ihren warmen, rauen, aber noch immer sehr zarten Händen, drückte sie ganz fest, um ihr Zuversicht mit in den Tag zu geben, gab ihr einen Kuss auf die Stirn, packte meine Sachen und machte mich auf den Weg zur Bochumer Universität, die mit dem Bus allerhöchstens eine halbe Stunde von unserem Haus entfernt war.

 

Noch etwas vorsichtig, vor allen Dingen aber hochaufgeregt tat ich bald die ersten Schritte auf den weiten Anlagen des Universitätsgeländes. Ich hatte die Gebäude schon häufig beim Vorbeifahren aus dem Auto heraus gesehen, war bislang allerdings noch nie hier gewesen, ja, es war fast so, als begriff ich die eigentliche Bedeutung dieses so gigantischen Komplexes in diesem Moment zum allerersten Mal. Fast vierzigtausend Studenten zählte die Hochschule und hier eilten sie nun überall an mir vorbei, mit Büchern unter dem Arm, Ideen im Kopf, die Zukunft im Blick. Sicher hatte ein jeder von ihnen gerade in diesem Augenblick einen tollen Einfall, eine neue Entdeckung gemacht, und vermutlich rannten sie gerade zu einem Professor, zu einem Mitstudenten, zu ihrer Freundin oder ihrem Geliebten, nur um ihnen diesen neuen Gedanken schnellstmöglich mitzuteilen und ihn gemeinsam weiterzuentwickeln. Ich spürte einen besonderen Zauber auf mich übergehen – ich wollte sofort und auf der Stelle genau ein solcher Student sein, wollte mich, so schnell es nur ging, einschreiben, und führte zu diesem Zweck auch sämtliche Ausweisdokumente und vor allem mein Abschlusszeugnis in einem Mäppchen mit.

Ich spazierte über den Campus, passierte nacheinander die majestätisch aufragenden Institutsgebäude der Ingenieurswissenschaften, der Wirtschaftswissenschaften, der Rechts- und Naturwissenschaften und so weiter und imaginierte mich probeweise in die Rolle eines erfolgreichen Anwalts hinein, stellte mir vor, wie ich als Chemiker Karriere bei einem großen Pharmakonzern machen würde oder als Architekt Wolkenkratzer und Brücken baute. Alles hatte ganz eindeutig seine Vor- und Nachteile.

 

Weil mir noch immer ein paar Stunden bis zu meiner endgültigen Entscheidung blieben, war ich besonders froh, als ich beim Umherirren auf den botanischen Garten der Universität stieß, der am Rande des Geländes mit Blick über das Ruhrtal gelegen war. Ein bisschen Ruhe im Grünen, dachte ich, konnte in dieser so entscheidenden Situation eigentlich nur von Vorteil sein.

Es blühten dort Blumen in allen Farben – es war, als dränge ich in eine fremde Welt ein, in der alle Geräusche und Störsignale von außen durch das Rascheln der Bäume, durch das Rauschen und Plätschern der Wasser und durch das Singen und Pfeifen der Vögel vollkommen verschluckt wurden. Mit einem Male waren mir all meine Sinne betäubt, sodass nichts mich erschrecken konnte, und trotzdem war meine Aufmerksamkeit wie ein Bogen gespannt und ich in jede Richtung empfangsbereit.

Ein sanfter Wind blies durch das Grün.

Ich lief noch weiter hinein in den Garten, so lang unter Bäumen hindurch, über kleine Hecken hinweg und achtlos über Stock und Stein, dass ich fast fürchtete, nie wieder herauszufinden. Dann plötzlich entdeckte ich, zu meiner großen Überraschung, nachdem ich durch eine Art bewucherten Torbogen geschritten war, etwas, das ich instinktiv als chinesischen Garten identifizierte. Eine kleine hölzerne Bogenbrücke führte da über einen Wasserlauf, der in einen Teich voller Seerosen mündete, und ging man über sie hinweg, stand man schon inmitten eines prächtigen, weiß getünchten Rundmauerwerks mit einem altertümlichen Brunnen in seiner Mitte und aufwendig gestalteten Ziegelwänden von typisch chinesischer Architektur.

Ich glaubte, vollkommen allein zu sein an diesem Ort, der so faszinierend exotisch auf mich wirkte, da hörte ich das von jedem Kummer befreite, laute Lachen einer Frau. Ich wandte meinen Blick zur Seite, und unter einem Wasserpavillon in der Mitte des Teichs saßen auf einem Bänkchen ein Mann und eine Frau von vielleicht dreißig Jahren, beide gehüllt in strahlend weiße Kittel. Zwei Ärzte, wie ich gleich erkannte, die hier offenbar ihre Mittagspause genossen. Um den schmalen Hals der Frau, die ihre Haare zu einem strengen Pferdeschwanz geflochten hatte, hing ein Stethoskop. Ihr Kollege, der ihr, wie ich vermutete, wohl kurz zuvor einen Witz erzählt haben musste, rauchte indes eine Zigarette und zog nun voller Eleganz und mit der ganzen Kraft seiner Lunge den Rauch in sich ein, sodass die Glut im Schatten des Pavillons hell aufleuchtete.

Ich war elektrisiert davon, in welcher Seelenruhe und Glückseligkeit sie einfach nur dasaßen. Ich beobachte sie einige Minuten lang, denn es war zu verlockend, ihnen bei ihrer Unbekümmertheit zusehen zu dürfen. Die beiden kamen mir in diesem Augenblick wie die glücklichsten Menschen der Welt vor – über jeden Zweifel und alles Grübeln erhaben, frei von jeder Sorge der Zivilisation, ganz und gar mit sich und der menschlichen Natur im Reinen. Nichts schien ihrem Glück etwas anhaben zu können, dachte ich vor mich hin, und fragte mich, wo ich so etwas schon einmal gesehen hatte? Es kam mir alles so seltsam vertraut vor, und dann fiel es mir ein: Natürlich, Sebastians Vater hatte, so lange ich ihn kannte, genau diese Ruhe, diese Selbstsicherheit und diese Eleganz ausgestrahlt. Er war ein solcher Mann, er war ein Arzt! Außerdem hatte er auch immer geraucht! Genau so.

Und obwohl mir nicht wirklich wohl war bei der Vorstellung, weil ich doch mein Leben lang vor allem auch ein recht schüchterner, fast schamhafter Junge gewesen war, der die unaufgeforderte Kontaktaufnahme scheute, konnte ich mich der Kraft, die mich nun antrieb, nicht widersetzen. Eine Kraft, die mir den Befehl erteilte, hier und jetzt mit ihnen in Kontakt zu treten.

Ich wehrte mich nicht länger und ging den mit groben Steinen gepflasterten Weg um den Teich herum, näherte mich mit immer schneller schlagendem Herz dem Steg zum Wasserpavillon. Einen Augenblick lang tat ich so, als ob ich mir von hier aus bloß den Teich und die Architektur des Gartens beschauen wollte, dann wandte ich zunächst meinen Kopf, dann meinen ganzen Körper in ihre Richtung und räusperte mich.

„Guten Tag, entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie störe … Sie genießen gerade Ihre Mittagspause?“, fragte ich, so höflich ich konnte.

Die beiden schauten zeitgleich zu mir herüber und unterbrachen ihr fröhliches Gespräch.

„Verzeihen Sie, dass ich frage“, entschuldigte ich mich ein zweites Mal, „aber Sie beide arbeiten vermutlich hier an der Universität?“

„An der medizinischen Fakultät, ja.“

„Sie sind Ärzte, nicht wahr?“

„Allerdings.“

„Können Sie mir vielleicht sagen, wie es sich anfühlt, ein Arzt zu sein?“, fragte ich nun.

„Nun, es ist der schönste und wichtigste Beruf der Welt“, erklärte die Frau und drückte dabei kurz die Hand ihres Kollegen.

„Ja, so ist es wohl“, sagte der Mann, „aber wissen Sie, unter uns gesagt ist der Beruf des Arztes eine Besonderheit, eine Abnormität. Auf der Schule haben Sie vermutlich gelernt, dass es sehr viele Berufe gibt, und jeden Tag werden es angeblich mehr. Jeden Tag entstehen neue Märkte und unzählige neue ›Berufe‹ in neuen Branchen und so weiter … Aber wissen Sie was? Es stimmt nicht, in Wahrheit gibt es gar keine Berufe, es gibt nur einen einzigen Beruf, der diesen Namen verdient, und das ist der des Arztes. Alles andere sind lediglich Ersatzhandlungen.“

Ich schaute abwechselnd dem Mann, dann der Frau ins Gesicht.

„Aber“, fragte ich unsicher, „wie kann das sein? Wie meinen Sie das: Es gibt keine Berufe? Kann man denn nicht auch an dieser Universität unzählige Berufe studieren?!“

„Schauen Sie“, erklärte er weiter und lachte, „es ist doch so, die Zeiten ändern sich, alles ist im Wandel, das eine kommt, das andere geht, und kaum schlägt man die Augen zu, ist alles, was gestern noch galt und für die Ewigkeit gedacht war, nicht mehr das Kleinste wert. Finden Sie nicht auch?“

„Aber ja, genau so ist es! Ich habe es selbst schon erlebt!“

„Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein und so weiter … Haben Sie Gryphius gelesen?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Das sollten Sie aber. Auf nichts ist mehr Verlass, außer auf den Arzt natürlich, denn sind Sie Arzt, dann sind Sie es mit Leib und Leben. Nicht nur zu einer bestimmten Uhrzeit, nicht nur im Dienst, Sie sind es in jeder Minute des Tages und auf jedem noch so entlegenen Fleck dieser Erde. Und Sie bleiben es bis zu Ihrem letzten Atemzug. Rechtsanwälte gibt es nur, sofern es gerade ein funktionierendes Rechtssystem gibt, noch dazu eines, in dem Sie sich haben ausbilden lassen. Wechselt die Staatsform, sind Sie der Erste, der einen Kopf kürzer gemacht wird. Sind Sie ein Ökonom, ein Wirtschaftsweiser oder Ähnliches, werden Sie daran nur Ihre Freude haben, solange es den Kapitalismus noch gibt. Und wer weiß das schon zu sagen, nicht wahr? Ganz zu schweigen von den Informatikern, den Maschinenbauern …“

Die junge Frau stieß urplötzlich ein spitzes Quieken aus.

„Oder den Philosophen …“, kicherte sie, und ich stieg augenblicklich in das Kichern mit ein. Und dann überkam es mich.

„Wissen Sie was?“, rief ich aus. „Ich studiere ebenfalls Medizin, ja, ich werde Arzt, so wie Sie“, erklärte ich und wartete ihre Reaktion gar nicht mehr ab. Ich machte auf dem Absatz kehrt, von mir selbst überrascht und vielleicht ein bisschen zu hastig und zu überstürzt, machte nur eine leichte Verbeugung, bedankte mich heiß, aber flüchtig für die Lektion, lief mit festem Schritt über die Rundbrücke und mit immenser Freude und Zuversicht auf den Campus zurück, wo ich mich zu orientieren suchte.

Wahllos sprach ich Studenten an, um den Weg zur Universitätsverwaltung zu erfragen, dann endlich stand ich vor einer riesigen Drehtür, durch die in hoher Frequenz junge Menschen ein und aus gingen. Ich musste mich konzentrieren, um nicht den Überblick zu verlieren, dann entdeckte ich ein großes provisorisches Schild, auf dem in einladenden schwarzen Lettern geschrieben stand: Zu den Immatrikulationen. Meine Vorfreude stieg weiter, und während ich die Treppen hinunter ins Kellergeschoss nahm und mich dabei zwischen fremden Menschen hindurchwühlte, schossen mir die Ereignisse der letzten Wochen durch den Kopf – jetzt sollten mich Sebastian und Vincent mal sehen, Herr Junge und all die anderen, die ganze Welt sollte herschauen und staunen, was sich gerade ereignete.

Auch auf den Gängen der Verwaltung war es ungeheuer voll, überall saßen und standen junge Männer und Frauen und warteten darauf, sich einschreiben zu dürfen. Wie beim Einwohnermeldeamt musste ich an einem Automaten eine Nummer ziehen, und schnell war klar, dass ich – wie alle anderen auch – warten musste. Weil aber der Wissensdrang in mir bereits voll entbrannt war, ich gar nicht mehr abwarten konnte, bis es endlich los ging mit dem Medizinstudium, verließ ich die Enge des Verwaltungsgebäudes noch einmal, ging in die nicht weit gelegene Universitätsbuchhandlung und stöberte voller Vorfreude durch den Fachbereich Medizin. Jeder sollte sehen können, welcher Disziplin ich ab sofort angehörte, also blätterte ich demonstrativ in den Publikationen herum und versuchte, mir auf diese Weise bereits den einen oder anderen Wissensvorteil gegenüber meinen Mitstudenten zu verschaffen. Ein Buch gefiel mir dabei besonders: die mehr als tausend Seiten starke Publikation Medizingeschichte. Institutionalisierung – Themenbereiche – Methoden – Theorien – Problemfelder – Aufgaben. Ich kratzte mein Geld zusammen und nahm das Buch für fast fünfzig Euro gleich mit, sicher würde es einen guten Eindruck machen, wenn ich bei der Einschreibung Fachliteratur mit mir führte.

 

Fast zwei Stunden später erschien endlich auch meine Nummer auf der Anzeigentafel, und ich betrat einen stickigen, kargen Raum, in dem eine Dame mittleren Alters und grober Statur an ihrem Schreibtisch vor einem EDV-Bildschirm saß. Ich setzte mich ihr ein wenig nervös gegenüber und legte den schweren medizinhistorischen Band vor ihr ab.

„Ich grüße Sie“, sagte ich.

„Guten Tag.“

„Ich möchte mich immatrikulieren.“

„Haben Sie alle Unterlagen dabei?“, fragte sie.

„Ja, also, ich denke schon“, antwortete ich.

„Wofür möchten Sie sich bitte einschreiben?“

Ich richtete mich so gerade auf wie nur möglich. „Medizin!“, sagte ich stolz. „Ich möchte Arzt werden.“

Die Dame sah nun zum ersten Mal hoch. Beinahe drohend schaute sie mir in beide Augen gleichzeitig, und für ein paar Momente bestand eine immense Spannung zwischen uns. Hatte ich irgendetwas falsch gemacht? Ich wurde unruhig.

„Junger Mann, Sie können sich hier nicht für Medizin einschreiben, das ist Ihnen doch klar?“

„Ähh …“, stammelte ich. „Aber wo kann ich mich denn für Medizin einschreiben?“

„Nir-gend-wo“, sagte die Dame.

Ich war einen Moment wie versteinert, fing mich dann wieder. „Aber warum nicht?“

„Einschreiben kann man sich nur für zulassungsfreie Fächer“, erklärte sie zusehends genervt.

„Ach!“

Ich verstand kein Wort, hoffte insgeheim, die Dame würde einem großen Irrtum aufsitzen und sich gleich bei mir entschuldigen.

„Aber das hier ist doch die Universität? Und dies ist mein Abitur, sehen Sie?“ Ich tippte auf meine Klarsichtfolie.

„Für Medizin hätten Sie sich schon vor sechs Monaten über die offiziellen Wege anmelden müssen. Sie können sich in genau einem Jahr um einen Studienplatz für Medizin bewerben. Dafür brauchen Sie allerdings ein exzellentes Abitur. Das haben Sie, nehme ich an?“

Ich schaute in meine Unterlagen, auf dem Zeugnis war eine Abschlussnote von 2,6 vermerkt.

„Nun ja, ich weiß nicht. Sagen Sie es mir doch bitte …“, antwortete ich.

„Zeigen Sie mal her“, sagte sie widerwillig und warf einen Blick auf mein Zeugnis. „Nein. So wird das nichts mit dem Medizinstudium. Suchen Sie sich lieber gleich was anderes aus.“

Mir schwanden die Sinne.

„Und an einer anderen Universität?“

„Nun, Sie können theoretisch an einer Privatuniversität Medizin studieren, da spielt Ihr Abitur meines Wissens keine Rolle.“

„Toll!“

„Das Studium kostet allerdings viele Tausend Euro pro Jahr.“

Ich sackte zusammen. Das war ausgeschlossen, viele Tausend Euro pro Jahr hatte ich einfach nicht.

„Kein Medizin also“, murmelte ich vor mich hin.

„Nicht für Sie jedenfalls. Nein.“

Ich schüttelte traurig den Kopf.

„Und jetzt?“

„Wie ich sagte, studieren können Sie sämtliche zulassungsfreien Fächer, aber wir müssen uns jetzt ein wenig beeilen, draußen warten noch sehr viele andere junge Leute. Leute wie Sie …“

„Was sind denn die zulassungsfreien Fächer?“, fragte ich eilig. „Jura vielleicht?“

„Nein.“

„Hmm, Architektur?“

„Auch nicht.“

„Aber was denn dann?“, rief ich nun vollkommen ratlos.

„Geisteswissenschaften“, sagte die Dame. „Vor allem die Geisteswissenschaften.“

„Das heißt, die alle hier wollen sich für Geisteswissenschaften einschreiben?“

„Leider ja.“

Ich sah nervös auf die Uhr, dann fiel es mir wieder ein.

„Kunstgeschichte!?!“, rief ich aus. „Kann ich Kunstgeschichte studieren?“

Die Dame zog jetzt ein fast mitleidendes Gesicht.

„Leider nein, mit Ihrem Abitur … In diesem Semester … Nicht einmal das … Es tut mir leid.“

Was war hier los?

Mechanisch legte sie mir eine Liste aller zulassungsfreien Fächer vor. Zu meiner Überraschung war es eine sehr lange Liste, es gab tatsächlich die unterschiedlichsten Disziplinen.

„Wählen Sie einfach zwei Fachbereiche aus. Und dann geht’s schon los.“

Schweren Herzens fuhr ich die Einträge mit dem Zeigefinger von oben nach unten ab: Anglistik, Anthropologie, Germanistik, Geschichte, Klassische Philologie, Linguistik, Philosophie, Politik, Romanistik, Theologie, Sozialpsychologie, Soziologie etc. pp. Doch nichts davon inspirierte mich auch nur annähernd so sehr wie die Vorstellung, mit Stethoskop um den Hals in einem chinesischen Garten zu sitzen und Mittagspause zu machen. Wie sahen denn Anthropologen und Linguisten in ihrer Mittagspause aus? Konnte man sie auf der Straße überhaupt als solche erkennen?

„Und?“, drängte die Dame zur Eile und tippte dabei auf ihre Armbanduhr.

„Na ja“, stammelte ich, „also dann studiere ich, warten Sie, äh, Germanistik und … Wie heißt das? Soziologie, wenn es Ihnen recht ist.“

„Ganz wie Sie wollen“, erwiderte sie, füllte etwas in ihre EDV-Maske ein, druckte ein paar Formulare aus, und schon unterzeichnete ich die Dokumente. Alles ging ganz kurz und schmerzlos.

„Wussten Sie, dass es nur einen einzigen Beruf auf der Welt gibt?“, sagte ich mehr zu mir als zu ihr.

„Entschuldigung, was sagten Sie?“ Offenbar hatte sie nicht wirklich hingehört.

„Ach, nichts …“

Ich lief ein zweites Mal zur Buchhandlung, tauschte den medizinhistorischen Band um, nahm die fünfzig Euro entgegen, und schon saß ich wieder im Bus, der mich zurück in mein Elternhaus brachte. Wie ein Häufchen Elend, meiner Träume entledigt saß ich abermals ganz vorn hinter der Fahrerkabine und starrte mit geballter Faust in der Tasche aus dem Fenster.

Ein schrecklicher Verdacht beschlich mich: Hatte ich mich heute lächerlich gemacht? War es so? Oder schlimmer noch: War dieses ganze Dilemma eventuell meine Schuld? Und wie als wollte ich mir die kaum mehr zu übersehenden Fehlentscheidungen meines Lebens vor Augen führen, als wollte ich mich selbst bestrafen, holte ich zu Hause noch einmal das Abiturzeugnis aus seiner Schutzhülle und ging hoch konzentriert sämtliche Benotungen und Punktzahlen der letzten zwei Schuljahre durch. Peinlich genau prüfte ich jede einzelne Note in jedem Fach und jedem Halbjahr. Wo waren mir durch meine Sorglosigkeit entscheidende Punkte durch die Lappen gegangen? Wo wäre problemlos mehr drin gewesen? Und wie ich so las und analysierte, stieg eine unendliche Wut in mir auf. Es war eindeutig: Die Schuld an all dem Unglück trug ganz allein ich.

*

Ein paar Wochen später begann das Semester. Aber weil sich selbst schwerste Enttäuschung mit der Zeit genauso verlässlich in Gleichgültigkeit verwandelt wie vermeintlich vollendetes Glück, beging ich den Tag meiner ersten Vorlesung mit dem Mut der Verzweiflung. Ja, ich hatte mir zuletzt mit aller Kraft einzureden versucht, dass die beiden Ärzte aus dem chinesischen Garten wohl zwei Verrückte gewesen waren, die gar nicht wussten, wovon sie sprachen. Und weil mir ohnehin keine andere Wahl blieb, als mich den Umständen zu ergeben, hoffte ich einfach darauf, dass am Ende doch alles besser werden könnte als befürchtet.

Ich hoffte vor allem, dass uns die Professoren mit einem feurigen Appell begrüßen und auf unser neues Leben einschwören würden, dass sie streng mit uns sein würden und uns etwas Wichtiges zu sagen hatten, etwas, das mir dabei half, mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken.

Nach einigem Suchen fand ich das richtige Auditorium – von außen war es ein scheußlich anzusehendes hohes Gebäude. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und schaute an der Fassade empor, es war noch eine halbe Stunde Zeit bis zur Begrüßungsvorlesung. Ich hielt ein paar Momente inne, atmete kräftig durch, rückte meine Kleidung zurecht, sprach mir selbst noch einmal Mut zu und dann schritt ich zum Hörsaal und erschrak bis ins Mark.

 

Das riesige Auditorium, in dem bestimmt zweitausend Menschen Platz fanden, war zum Zerplatzen gefüllt. Sämtliche Sitze waren bereits belegt, größtenteils saßen sich die Studenten auf dem Schoß – kein einziger freier Platz war mehr zu finden. Schlimmer noch, auch auf sämtlichen Treppenaufgängen und inmitten der Stuhlreihen drängten sich die Leute in einer Weise, dass man die Stufen nicht einmal mehr hätte passieren können. Letztendlich stand ich im Türrahmen des Hörsaales und konnte, indem ich mich auf die Zehenspitzen stellte und einen ganz langen Hals machte, gerade so die jahrmarktartigen Zustände in seinem Inneren erahnen.

„Entschuldigung, ist das hier etwa die Einführungsvorlesung für Soziologie?“, fragte ich einen jungen Mann neben mir, der ebenfalls seinen Hals streckte, denn noch hatte ich die Hoffnung, dass es sich um eine Verwechslung handelte. Vielleicht fand ja hier ein Konzert statt oder ein Gewerkschaftskongress. Vielleicht hatte ich mich im Gebäude geirrt – denn so konnte doch keine Vorlesung abgehalten werden, so konnte doch der Professor, wie ich es mir vorgestellt hatte, unmöglich schon am ersten Tag auf mich aufmerksam werden.

„Ist es“, murrte der junge Mann und drehte sich interesselos weg.

Nach den Ereignissen bei der Immatrikulation hatte ich natürlich geahnt, dass ich nicht der einzige Student der Geisteswissenschaften sein würde, aber das hier übertraf meine schlimmsten Befürchtungen. Wie viele junge Menschen mit Abitur konnte es geben? Und diese Auftaktveranstaltung war schließlich nur die eines einzigen Fachbereichs, ein Studium, von dem ich bis vor einigen Wochen noch nicht einmal gehört hatte – und es gab noch so viele andere Studiengänge, ich hatte die Liste ja mit meinen eigenen Augen gesehen. Was sollte eine Gesellschaft mit so vielen Geisteswissenschaftlern nur anfangen? Das Herz sackte mir in die Hose, um mich herum Geschrei und unerträglich lautes, fast hysterisches Geraune. Fiel diesen Studenten denn nicht auf, in was für einer grotesken Situation sie sich befanden? War dieses Trauerspiel nicht auch für sie das jähe Zerplatzen all ihrer Träume? Mir schien, als nähmen sie gar keine Notiz davon, geschweige denn von mir, als hätten sie mit nichts anderem gerechnet, als wäre ihnen schon längst alles im Leben egal geworden. Statt auf wissbegierige, lebenshungrige junge Männer und Frauen stieß ich auf vom Leben und von sich selbst in höchstem Maße enttäuschte Menschen. Menschen, die von sich noch kein einziges Mal in den höchsten Tönen gesprochen hatten.

 

Ich stand also in der hinterletzten Reihe, hatte es nicht einmal ansatzweise in das Auditorium hinein geschafft und war somit das letzte Glied einer Kette, die sich unentwirrbar verklumpt hatte. Verzweifelt blickte ich mich um, versuchte noch einmal, Blickkontakt aufzunehmen, mein Leid zu teilen, Hoffnung zu schöpfen und ein menschliches Band herzustellen – aber niemand ließ sich auch nur annähernd darauf ein. Es war, als blickte ich in die Gesichter einer aussortierten Generation.

Von einem Moment auf den anderen wurde es ruhiger, und ich schloss daraus, dass der Professor den Saal betreten hatte. Wenn ich mich ganz lang machte, konnte ich von meinem Platz aus sogar halb den oberen Rand der großen dreiteiligen Tafelkonstruktion erkennen, vor der er – wie ich vermutete – nun stehen musste.

Ein lautes knarzendes Piepen und Rauschen tönte aus den Lautsprechern, und obwohl ich mich schon so weit abgeschlagen vom Geschehen befand, drängten von hinten noch immer Studenten nach, sodass ich körperlich weiter bedrängt wurde und mit der Zeit sogar in eine noch schlechtere Situation geriet.

Ich schnappte lediglich Informationsfetzen auf. Ich glaube, es ging fast ausschließlich um Organisatorisches.

„Und pro Modul in den Aufbauseminaren, für die es nur begrenzte Teilnehmerkapazitäten gibt, können Sie dann laut geltender Studienordnung zehn Kreditpunkte sammeln, sofern Sie …“, vernahm ich einmal recht deutlich. „Bei zu großer Anmeldezahl entscheidet das Los!“

 

Die Stimme des Professors überschlug sich immer wieder und stockte dann nervös, wenn er einmal mehr zu laut, zu nah und zu unbeholfen in das Mikrophon geächzt hatte – auch ihn überforderte die Situation, und mir tat das alles nicht nur für mich selbst leid, sondern auch für den Herrn Professor. Was musste das von dort unten nur für ein entsetzlicher Anblick sein?

Irgendwo tief in der Masse hörte ich eine zarte Mädchenstimme weinen. Ich hätte die junge Frau in diesem Moment gern in den Arm genommen, sie getröstet, sie gehalten – aber was bitte hätte ich ihr sagen können, wie hätte ich ihr in dieser Situation Mut zusprechen können, ohne sie zu belügen?

Noch vor Ende der Veranstaltung suchte ich das Weite und setzte mich vor dem Institutsgebäude auf eine Bank. Direkt gegenüber, es waren nicht mehr als zweihundert Meter Luftlinie, lag die medizinische Fakultät. Dort gehöre ich hin, dachte ich wehmütig, das ist meine wahre Bestimmung. Und doch war es anders gekommen. Durfte ich meinen Eltern überhaupt davon erzählen, was dieses Studium bedeutete und für was genau sie letztlich ihr Geld zum Fenster rauswarfen, in dem festen Glauben, dass mich ein Studium später einmal zu irgendetwas befähigte?

Ich verspürte nicht einmal mehr Wut, nur eine tiefe, durchdringende Scham, und schlug mir die Hände vors Gesicht, in dem Versuch, meine Identität für immer dahinter zu verbergen. Niemand sollte mich hier so sitzen sehen – schon gar nicht die beiden Ärzte aus dem botanischen Garten. Vor ihnen schämte ich mich am meisten.

*

Im Studium selbst wurde alles leider noch sehr viel schlimmer. Egal, welche Art von Veranstaltung ich besuchte, stets war es ein entwürdigender Kampf, überhaupt nur in die kleinen Seminarräume hineinzugelangen, geschweige denn etwas zu lernen. Eine ganze Generation zum Abitur gezwungener Menschen war hier in die Simulation einer Universität gestopft worden, und nun mussten alle Beteiligten, Studenten wie Dozenten, so tun, als würden sie nicht bemerken, dass all das in einer Katastrophe enden musste. Selbst in den Seminarräumen, in denen – der Idee nach – in kleinem Rahmen inhaltliche, auf Lektüre der Texte basierende Diskussionen angedacht waren, selbst in diese Seminare mussten die Dozenten Lautsprecheranlagen hineinrollen, um die bis zum letzten Platz vollgestopften Räume zu beschallen.

Es herrschte allenthalben Lethargie. Zwar las ich brav, anders als die allermeisten meiner Mitstudenten, jede uns aufgetragene Literatur, bereitete mich gewissenhaft vor und versuchte auf diesem Wege zumindest irgendetwas zu lernen, aber insbesondere die ersten Monate gerieten zu einem Martyrium. Täglich starrte ich sehnsüchtiger zu den Medizinern hinüber, sah immer wieder, wie bildhübsche, mit sich selbst zufriedene Studentinnen dort ein und aus gingen und ihrem Traum nacheiferten, und verhedderte mich dabei zusehends in einem Geflecht aus Hass und Ressentiment. Einerseits wandten sich diese Gefühle natürlich gegen das kranke Bildungssystem und gegen meine Mitstudenten – andererseits aber galt dieser Hass mir selbst, denn ich hatte mir dieses Versagen ganz allein selbst zuzuschreiben – mein einstiger Glanz war verblasst, nun gehörte ich nur noch dem Heer der Mittelmäßigen an.

 

In einer Sklavenmoral gefangen schrieb ich also brav die Klausuren und Hausarbeiten und schwieg mich ansonsten im Gespräch mit meinen Eltern und anderen über die Zustände an der Universität aus, als zum Ende des zweiten Semesters aus heiterem Himmel die Lektüre eines Textes meine Wut zum Überkochen brachte. Stein des Anstoßes war das angeblich so bedeutende Buch Die feinen Unterschiede des französischen Soziologen Pierre Bourdieu – zunächst las ich darin durchaus mit Interesse, doch dann packte mich, während ich in die Materie vertieft am Schreibtisch saß, eine regelrechte Raserei. Was bildete sich dieser „Professor aus Paris“ da eigentlich ein?

Ich war entsetzt, sprang von meinem Stuhl auf und warf das Buch mit voller Wucht in eine Ecke meines Zimmers – ich war in der Zwischenzeit bei meinen Eltern ausgezogen und teilte mir mit einem ruhigen, in sich gekehrten Theologiestudenten eine kleine Wohnung im Zentrum der Stadt, nicht weit von der Universität gelegen. Ich schleuderte das schwere Buch so heftig gegen die Wand und stieß dabei wohl einen derart hysterischen Schrei aus, dass mein so umsichtiger Mitbewohner nur wenige Augenblicke später anklopfte, um nach dem Rechten zu schauen:

„Ist alles in Ordnung?“, fragte er mich, als er den Kopf zaghaft durch den Türspalt steckte.

„Ganz und gar nicht! Nicht im Geringsten! Mir reicht es jetzt endgültig!“, rief ich ihm laut entgegen und griff mir dabei mit beiden Händen, an denen ich sämtliche Finger fast spastisch auseinandergespreizt hatte, links und rechts an den Kopf, als stünde ich unmittelbar davor, den Verstand zu verlieren.

„Aber was ist denn passiert?“

Ich zeigte auf das Buch in der Ecke, dessen Einband durch den Aufprall eingerissen war.

„Dieses Buch da ist eine Frechheit! Es ist pures Gift! Es stehen nur Lügen darin. Offensichtliche Lügen, und an der Universität wollen sie, dass wir es lesen!“

„Aber das gibt es doch nicht?“, fragte er nur noch verängstigter.

„Doch“, zischte ich ihn an und hatte einen Moment lang sogar die Sorge, ich würde ihm, in einer Art Übersprunghandlung, gleich an die Gurgel gehen. „Lass mich jetzt bitte allein! Ich muss nachdenken!“

Mein Mitbewohner schloss die Tür, ich startete meinen Computer und setzte ohne Zögern eine E-Mail an den zuständigen Dozenten, Professor Dietrich, auf. Etwas Vergleichbares hatte ich bisher noch nie getan, insbesondere weil uns die Professoren zu Beginn jeder Veranstaltung zu verstehen gaben, dass es überhaupt keinen Sinn hatte, ihnen zu schreiben, da sie, wie wir ja selbst sehen würden, keinerlei Kapazitäten hätten, um Einzelfragen zu beantworten. Aber vielleicht war dieses Verbot meine Chance.

Nach dem Betreff BETRUG – SEHR WICHTIG – BOURDIEU!!! schrieb ich:

Sehr geehrter Herr Professor,

mit zunächst großem Interesse habe ich, wie Sie uns aufgetragen hatten, das Buch Die feinen Unterschiede von Pierre Bourdieu gelesen. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass jedes Wort darin unwahr ist, ja, schlimmer noch: Dieses Buch ist bösartig und gefährlich. Ist das
im Sinne der Universität, wenn ich in diesem Fall
ÜBERHAUPT von einer Universität sprechen kann?!?

Ich würde mich sehr freuen, wenn wir einmal in Ruhe darüber reden könnten.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr Student

 

Gleich am nächsten Morgen, es war noch keine 10 Uhr, erhielt ich Antwort und einen Termin – vielleicht hatte ich den Herrn Professor in einem schwachen Moment erwischt, mag sein. Vielleicht hatte es ihm aber auch einfach nur geschmeichelt, dass einer seiner Studenten einmal nicht nur irgendeine Banalität oder etwas Organisatorisches erfragte, sondern dass sich ausnahmsweise mal jemand mit einer inhaltlichen, ihm unter den Nägeln brennenden Frage an ihn wandte.

 

Für meinen ersten persönlichen Kontakt mit einem Professor zog ich mein bestes Jackett und mein schönstes Hemd an – ich wollte einen besonders guten Eindruck machen, wenigstens das. Denn irgendwie mochte ich Professor Dietrich, obgleich ich so gut wie nichts über ihn wusste. Es lag etwas Gütiges in der Art, wie er in das knarzende Mikrophon sprach, etwas Mitleidendes, Bedauerndes, und ich hatte immer das Gefühl gehabt, in einer besseren Welt hätte er gewiss ein ausgezeichneter Dozent und ich sein begabter Meisterschüler sein können.

Einigermaßen aufgeregt betrat ich also das Institut und ging die drei Stockwerke ins Kellergeschoss, wo sich die Räumlichkeiten der Soziologie befanden – auch an diesem Tag wimmelte es natürlich wieder nur so vor Menschen.

Ich öffnete die Tür zum Vorzimmer, wo mich seine Sekretärin kühl in Empfang nahm, dann klopfte ich bei Professor Dietrich an und wurde sogleich hereingerufen. Mir zitterten ein wenig die Knie, doch meine Nervosität legte sich rasch, da ich bemerkte, dass der Professor ausgesprochen leger, fast schon vulgär in seinem Bürostuhl lümmelte und dabei ein üppiges Mettbrötchen verspeiste.

„Kommen Sie ruhig rein“, nuschelte er durch die rosa Masse hindurch, und ich glaube, ein kleines Bröckchen flog ihm dabei aus dem Mund.

„Nehmen Sie doch Platz, entschuldigen Sie, ich habe heute noch nichts gegessen, so viel Stress, so viel zu tun, Sie wissen schon. Es brennt überall.“

Ich zog mir den Stuhl heran, nickte dabei und setzte mich vor seinen Schreibtisch.

„Sie also sind der aufgebrachte junge Mann, wie kann ich helfen?“

„Ach, wenn Sie so fragen, weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll …“, sagte ich. „Die Zustände an dieser Universität sind, nun ja, eine einzige Katastrophe!“

„Was Sie nicht sagen …“, antwortete er und biss noch einmal beherzt in das Brötchen.

„Eine universitäre Lehre, so wie ich sie mir vorgestellt habe, ist überhaupt nicht denkbar. Es ist, als wäre man in einer Irrenanstalt gelandet.“

Professor Dietrich putzte sich die Finger an einer Serviette ab und nahm einen großen Schluck Wasser.

„Wir sind Abertausende von Studenten in den Geisteswissenschaften“, fuhr ich fort. „Ein Dialog ist unmöglich. Erkenntnisgewinn ist unmöglich. Was soll das denn alles bringen? Für welchen Beruf soll mich das qualifizieren? Und merken Sie nicht, dass sich einfach kein einziger Student auch nur im Geringsten für das Studium interessiert?“

„Doch, natürlich“, antwortete der Professor, „das habe ich schon gemerkt. Sie erzählen mir hier nichts Neues …“

„Niemand liest die Texte, die wir besprechen sollen. Niemand. Wissen Sie das?“

„Auch das, ja.“

„Und wir können nichts dagegen tun, Herr Professor?“

Der Herr Professor schien seine Kräfte zu sammeln.

„Nein, uns sind die Hände gebunden“, sagte er schließlich und machte dabei eine Geste, als wären seine Handgelenke stramm übereinander gefesselt worden.

„Wissen Sie, ich sehne mich nach Herausforderungen. Nach Strenge, nach Professoren, die Unmenschliches verlangen, nach klaren Hierarchien und hohen Standards. Ich sehne mich nach Drohung und Strafe, nach Versagensangst, schlaflosen Nächten und nach dem erhebenden Gefühl, es am Ende tatsächlich geschafft zu haben – aber all das gibt es hier weit und breit nicht. Es ist, als wäre einfach allen alles komplett egal …“

„Sie sind mir schon ein sehr besonderer Student“, unterbrach mich Professor Dietrich.

„Und wissen Sie noch etwas?“, fuhr ich fort. „In der Literaturwissenschaft gibt es Professoren, die bestehen darauf, dass wir sie duzen! Was ist mit der Welt nur passiert? Ich verstehe das einfach nicht!“

Er schüttelte den Kopf und murmelte etwas mir Unverständliches, dann nahm er sein silbernes Zigarettenetui und steckte sich eine Zigarette an. Offensichtlich hatte ich mit meinem Einstieg sein Interesse geweckt.

„Wollen Sie auch eine?“

„Ich rauche eigentlich gar nicht“, antwortete ich ein bisschen empört.

„Das sollten Sie aber. Fangen Sie am besten gleich damit an. Wissen Sie, noch vor einem Jahr durfte man hier sogar in den Hörsälen und auf den Gängen rauchen – können Sie sich das vorstellen? Wie schnell die Menschen doch Anordnungen befolgen, nicht wahr? Eigentlich wollen sie überhaupt gar nichts anderes tun. Und bald dürfen wir überhaupt nirgendwo mehr rauchen. Dann haben wir hier nicht nur viel zu viele Studenten auf viel zu wenig Platz und Lehrpersonal, es darf zum Ausgleich nicht einmal mehr geraucht werden.“

„Herr Professor“, entgegnete ich nun, „wenn das so ist, fange ich noch heute damit an. Geben Sie mir bitte auch eine Zigarette.“

Der Professor reichte mir sein Etui. Ich nahm eine Zigarette heraus und steckte sie mir an. Qualmend saßen wir uns nun gegenüber.

„Aber jetzt sagen Sie mal, junger Mann, Sie wollten doch über Bourdieu sprechen. Oder hatte ich das falsch verstanden?“

„Allerdings“, sagte ich, „genau. Also, hören Sie zu, Pierre Bourdieu ist ein Lügner, ein Scharlatan, ein gefährlicher Demagoge.“

„Pierre Bourdieu? Ein Demagoge? Der große französische Soziologe, der weitsichtig und scharfsinnig wie kaum ein Zweiter über soziale Ungleichheit geschrieben und geforscht hat?“

„So kann man es natürlich auch sagen …“, murmelte ich.

„Wie kommen Sie denn darauf?“, sagte er und lachte.

„Bourdieu behauptet, dass es für den einfachen Mann nahezu unmöglich wäre, sich über sein Schicksal zu erheben. Ja, er sagt, man wäre auf ewig und für alle Zeit gezwungen und verdammt, in seiner Klasse und unter Seinesgleichen zu bleiben, weil uns die Klasse in die Art und Weise, wie wir sprechen und leben, eingeschrieben ist. Er sagt, niemand könnte seine Herkunft je abschütteln! Das ist eine absurde Frechheit!“

„Es ist zunächst einmal eine soziologische Hypothese!“

„Eine Hypothese, die verboten gehört!“, rief ich. „Merken Sie denn nicht, dass diese Hypothese, wie Sie es nennen, die Menschen verunsichert und in die Schranken weist? Wie soll denn ein einfacher Mann den Glauben daran bewahren, im Leben alles erreichen zu können, wenn einem in der Universität, in der ohnehin schon katastrophale Zustände herrschen, zu allem Übel noch beigebracht wird, dass man es gar nicht erst zu versuchen braucht? Ist das der Sinn der Soziologie, dass sie dem Menschen das Träumen austreibt?“

„Sie lesen Bourdieu falsch, junger Mann, aber immerhin lesen Sie ihn“, sagte der Herr Professor. „Das Gegenteil ist richtig, Pierre Bourdieu versucht, mit seinen Überlegungen zur Klassengesellschaft doch gerade die versteckten Machtstrukturen offenzulegen, sodass sie idealerweise – irgendwann in der Zukunft – überwunden werden können.“

„Irgendwann in der Zukunft? Wann soll denn dieses Irgendwann Ihrer Meinung nach sein? In einhundert Jahren? So viel Zeit habe ich nicht, so lang lebt doch keiner! Und in der Zwischenzeit soll ich mich mit den Zuständen in der Welt abfinden? Soll brav soziologische Bücher lesen, mich mit den Gegebenheiten arrangieren, mich im Rahmen meiner Möglichkeiten bucklig schuften und mich schon an den kleinen Dingen des Lebens freuen? Ist es das, was Sie meinen?“

„Bewusstmachung der Probleme ist der erste Schritt zu ihrer Überwindung. Natürlich hat es, um bei Bourdieu zu bleiben, das Kind eines Pariser Staatssekretärs leichter im Leben als das maghrebinische Migrantenkind aus der Banlieue oder der einfache Arbeiter aus Toulouse – auf nichts anderes versucht Bourdieu hinzuweisen, und darauf, wie sich diese unterschiedlichen Startbedingungen im Leben manifestieren und verfestigen. Im Geschmack, in der Art zu sprechen, ja, sogar in der Art, die Zukunft zu denken et cetera.“

„Ha!“, rief ich aus. „Verfestigen! Sie sagen es! Aber das könnte Bourdieu so passen. Nein, Bewusstmachung heißt Akzeptanz, heißt, zufrieden sein mit dem, was man hat – für mich liegt darin die ganze Perversion der ›soziologischen‹ Analyse. Die Perversion dieses ganzen Studiengangs. Die Soziologie will, dass wir die Zustände letztlich auch an dieser Universität akzeptieren. Sie will, dass alles so bleibt, wie es ist!“

Der Professor schwieg, vielleicht dachte er ernsthaft darüber nach, was ich gerade vorgebracht hatte.

„Wissen Sie was, ich sollte eigentlich gar nicht hier sein!“, entfuhr es mir nun. „Ich gehöre überhaupt nicht hierher! Ich hätte nämlich Arzt werden können. Alles hätte ich werden können. Werden müssen! Ich komme aus einfachem Haus, ganz recht, aber eigentlich bin ich der Beweis, dass Bourdieu und seine Soziologie irren. Ich bin das Gegenbeispiel! Es kommt eben nicht darauf an, woher man kommt, sondern nur, wie sehr man bereit ist, sein Glück einfach zu akzeptieren. Verstehen Sie doch, Herr Professor, ich bin der lebende Beweis dafür, dass das Leben ein Geschenk ist, ein fröhliches Spiel, dass alles erlaubt und kein Weg versperrt ist! Eigentlich …“

Professor Dietrich schaute mich fragend an.

„Dass ich jetzt hier bin, in den entsetzlichen Geisteswissenschaften, ist nicht die Schuld der Gesellschaft, nicht die Schuld eines Systems, es ist meine eigene Schuld, ganz allein meine! Ich hatte mal alles, was es brauchte. Mehr als das, mehr als genug! Sagen Sie das Ihrem Bourdieu, sagen Sie das Ihren Studenten und Ihrem Dekan, in Gottes Namen, aber hören Sie auf, den Leuten mit ihrer Wissenschaft einzureden, es gäbe natürliche Hindernisse im Leben!“, redete ich mich nun immer heftiger in Rage, wusste aber weder eindeutig zu sagen, wie genau es zu diesem für mich so untypischen Ausbruch gekommen war, noch ob das Lächeln, das sich nun auf das Gesicht des Professors geschlichen hatte, eher Anerkennung oder Mitleid ausdrücken sollte.

Ich zog noch einmal an der Zigarette, stand auf und drückte sie über den schweren Schreibtisch gebeugt entschieden in seinem Aschenbecher aus.

„Wissen Sie was, Herr Professor, ich werde Ihnen beweisen, dass Pierre Bourdieu mit seiner Schwarzmalerei falschliegt – ich werde mich von diesem Studium, von der Soziologie und den Zuständen in den sogenannten Geisteswissenschaften, nicht unterkriegen lassen. Ach was, ich werde mich von überhaupt niemandem mehr unterkriegen lassen. Ich nicht! Guten Tag und vielen Dank für Ihre Zeit.“

 

Ich verließ das Institut und einen ratlos dreinblickenden Professor Dietrich und suchte als Erstes den nahe gelegenen Supermarkt auf, um mir meine ersten eigenen Zigaretten zu kaufen. Denn mit einer Sache hatte der Professor zweifelsfrei recht gehabt: Ich würde anfangen müssen zu rauchen, und zwar noch auf der Stelle.

Schnell schrieb ich Vincent in meiner Wut eine Nachricht.

Ich rauche jetzt!

Sehr gut. Nur zu, antwortete er gleich.

Timon Karl Kaleyta

Über Timon Karl Kaleyta

Biografie

Timon Karl Kaleyta ist Schriftsteller, Kolumnist und Drehbuchautor. Sein hochgelobter Debütroman „Die Geschichte eines einfachen Mannes“ stand auf der Shortlist des aspekte-Literaturpreises und wurde mit dem Fuldaer Literaturpreis ausgezeichnet. Bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in...

Pressestimmen
Caroline Wahl

„Das lustigste Buch, das jemals in deutscher Sprache geschrieben worden ist.“

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