Natürlich kann man hier nicht leben — Inhalt
Nilay will los. Am liebsten noch heute Nacht, von Berlin nach Istanbul. Seit Wochen verfolgt sie mit ihren Eltern die Nachrichten vom Taksim-Platz: die Bilder der Proteste, das Rufen nach Freiheit. Selim und Hülya sind außer sich. Sie selbst waren Kinder in den Straßen Izmirs. Dann kam der Putsch, im September 1980. Es folgten Jahre der Willkür, doch sie glaubten an eine Zukunft in der Türkei. Schließlich hatten sie sich und fanden Wege des Widerstands. Dreißig Jahre später zieht es ihre Tochter in das Land, das sie hinter sich ließen, in der Hoffnung, anderswo frei zu sein.
Mit großer Dringlichkeit und Hellsicht erzählt Özge İnan die Geschichte einer Familie, die nicht aufgibt. Eine Geschichte von Freundschaft und Verrat, von Liebe und Wut.
„Özge İnan erzählt von Menschen, die tausend Gründe hätten, keinen Widerstand zu leisten - und die dennoch nicht zu brechen sind. Ein so lebendig erzählter, beeindruckender Roman.“ Shida Bazyar
Liebe Özge İnan, Ihr Roman erzählt die Geschichte der Familie Kutlusoy - von Hülya und Selim, den Eltern, und ihren Kindern Emre und Nilay. Wer ist diese Familie? Und was hat Sie an ihr interessiert?
Von außen geben sie ein angepasstes Bild ab, genau die Migranten, die sich Deutschland wünscht: die Eltern legen Wert auf Bildung, gehen beide arbeiten, machen keinen Unterschied zwischen Sohn und Tochter. Aber Selim und Hülya haben, jeder für sich, einen Lebensweg voller Widersprüche hinter sich. Was Hülya alles aufgeben musste, welche Ängste Selim durchgestanden hat, die ganzen schweren Jahre sieht man ihnen nicht an. Politische Migration heißt, du bist doppelt fremd, denn zu Hause war man dir ja auch schon feindlich gesinnt. Du bist nicht gegangen, weil deine Heimat dich nicht versorgen konnte oder zerstört wurde, sondern, weil sie dich als Mensch nicht haben wollte. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft versteht das nicht. Hier hat man zur Heimat ein kompliziertes Verhältnis, sie ist einem nicht ganz geheuer und ist vielleicht irgendwie peinlich, aber sie wird einem nicht gefährlich. Im Zweifel verstehen das nicht mal die Kinder der migrierten Eltern, weil sie hier geboren wurden.
Diesen Erfahrungsverlust innerhalb einer Generation finde ich auf tragische Weise faszinierend. Hülya und Selim haben das alles ja auch für Nilay und Emre getan, aber heißt das, dass die beiden in ihrer Schuld stehen? Wie sieht diese Schuld überhaupt aus? Darum geht es in meiner Geschichte.
Ihr Roman beginnt im Jahr 2013 in Berlin. Nilay ist sechzehn, sie verfolgt die Nachrichten von den Protesten im Gezi-Park und entscheidet sich, nach Istanbul zu fahren. Dann springen wir nach Izmir ins Jahr 1980, als Nilays Eltern jung waren. Warum ist das Jahr 1980 für die Türkei so wichtig? Und was ist der Zusammenhang zwischen 1980 und 2013?
Am 12. September 1980 kam es in der Türkei zum letzten erfolgreichen Militärputsch. In den Jahren davor hatte sich die politische Unruhe so weit zugespitzt, dass die Armee der Meinung war, dass jetzt mal Schluss ist. Jede Art der politischen Betätigung wurde verboten, das öffentliche Leben kam zum Erliegen, Tausende wurden verhaftet. „Zwölfter September“ steht bis heute für diese Zeit der totalen staatlichen Gewalt. 2013, während der Gezi-Proteste, dachte zuerst niemand an 1980. Aber mit der Hoffnung, dass Gezi Erfolg haben könnte, kam die Angst. Die Straßenkämpfe und die brutale polizeiliche Antwort holten Erinnerungen hoch. Denn das Militär, das hatte man inzwischen gelernt, sieht nicht lange zu, wenn die Menschen aufbegehren.
Inwiefern ist ihre Geschichte auch für deutsche Leser:innen interessant?
Im Zentrum meines Buches steht die Elterngeneration. Die ist für die deutsche Gesellschaft deshalb interessant, weil hier eine Migrationsbewegung aus der Türkei stattgefunden hat, von der kaum jemand weiß. Bei türkischer Migration denkt man in der Regel an Gastarbeiter, vielleicht seit neuestem an den Brain-Drain seit dem Putschversuch 2016. Aber in den Achtziger- und Neunzigerjahren kamen in Europa tausende türkeistämmige Oppositionelle an, manche resigniert, manche voller Motivation, manche um ihr Leben rennend. Als hochpolitische Menschen haben die meisten sofort angefangen, sich auch hier zu engagieren. Wie die Gastarbeiter und deren Nachkommen spielten sie während der Baseballschlägerjahre eine Rolle im Kampf gegen Neonazis, gründeten Vereine und Publikationen, machten Musik und Kunst, gingen in die Politik. Ohne sie würde Deutschland heute anders aussehen. Das ist auch deutsche Zeitgeschichte.
Ihre Figuren stehen einem bei der Lektüre sehr lebendig und plastisch vor Augen – es ist, als kenne man am Ende all ihren Fragen, Wünsche, Probleme. Wie haben Sie sich diesen Figuren beim Schreiben genähert?
Ab einem bestimmten Punkt geht es von selbst, dann ist es, als würde man beim Schreiben die Figur befragen: Wie würdest du reagieren? Da muss man aber erst mal hinkommen. Bis dahin war es ein Entlanghangeln an der Geschichte, die ich erzählen wollte. Wer muss jemand sein, der diese Dinge erlebt hat? Wer muss jemand im Vorfeld gewesen sein, damit ihm diese Dinge überhaupt erst widerfahren? Wer muss die beste Freundin, die Schwester, die erste große Liebe dieser Person sein? So habe ich die Figuren entwickelt.
Auch Ihr Vater ist infolge des Staatstreichs im Jahr 1980 nach Deutschland geflohen. Ist der Roman die Geschichte Ihrer Familie?
Nein, meine Eltern haben größtenteils andere Dinge erlebt. Aber sie, ihre Freunde und Bekannten haben mir viel erzählt. Sie fühlten sich dabei nicht als Zeitzeugen, sie haben einfach Anekdoten aus ihrem Leben geschildert. Und ich habe zugehört. Das Buch ist so etwas wie der Median aller Geschichten, mit denen ich aufgewachsen bin. Das war für mich ein Wissensbestand, auf den ich relativ einfach zurückgreifen konnte. Was ich für den Roman dann doch erfragen musste, waren persönlichere Aspekte, die man an einem lustigen Abend mit Freunden – und deren Kindern – vielleicht eher nicht erwähnt. Und natürlich Profanes wie aus welchem Material die Schultaschen waren oder welche Waffen die Polizei benutzt hat.
Der schwierige Teil fing erst danach an. Wenn die politischen Umstände wenig Raum für persönliche Entfaltung lassen, nutzt man diesen Raum umso entschlossener, aber auch umso fröhlicher, denn auch das ist ja ein oppositioneller Akt. Man merkt das den Leuten heute noch an. All diese starken Charaktere zu kohärenten Figuren zusammenzuschmelzen, war eine Herausforderung, aber auch der größte Reiz an der Geschichte.
Moderation: Miriam Davoudvandi
tolles Buch, tolle Autorin ❤
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