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Gute Menschen Gute Menschen - eBook-Ausgabe

Frédéric Schwilden
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Roman

— Das Ende einer Ehe als Anfang zweier Leben
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Gute Menschen — Inhalt

Die letzten Wochen des Jahres: Jennifer ist erfolgreiche Juristin und will sich selbst verwirklichen. Jan ist engagierter Gymnasiallehrer und träumt von der Weltrettung. Ihre Beziehung gerät in die Krise. Als Jan vor Weihnachten zu seiner kranken Großmutter fährt, zieht Jennifer heimlich aus. Sie erfindet sich neu, während er die sinnstiftende Kraft der Nächstenliebe findet. Seitdem herrscht Funkstille. Werden sie sich weiterentwickeln und wiederfinden? Warum sprechen sie nicht miteinander? Ist das schon Ghosting oder ganz richtig?

Ein radikaler Liebesroman der GenY für Leser:innen jeden Alters

„Schwilden hat einen klugen, einen amüsanten, soziologischen Blick.“ Denis Scheck, SWR lesenswert

€ 23,00 [D], € 23,70 [A]
Erscheint am 01.08.2025
208 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-492-07356-1
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€ 19,99 [D], € 19,99 [A]
Erscheint am 01.08.2025
240 Seiten
EAN 978-3-492-61027-8
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Leseprobe zu „Gute Menschen“

1.
18. Dezember

Jennifer schloss die Tür. Sie ging die Treppe hinunter und wusste, dass sie nicht zurückkommen würde. Sie drehte den Schlüssel vom Ring ihres Anhängers und ließ ihn in den Briefkasten fallen. Auf dem Briefkasten standen seit sieben Jahren ihre Namen. Ihrer. Und Jans. Sie überlegte, ob sie Jennifer … durchstreichen oder mit dem Schlüssel abkratzen sollte. Es fühlte sich falsch an. Sie wollte kein Zeichen setzen. Sie wollte nur gehen. Nicht, weil etwas Schlimmes passiert war. Einfach weil sie den Drang verspürte, endlich sie selbst zu sein. [...]

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1.
18. Dezember

Jennifer schloss die Tür. Sie ging die Treppe hinunter und wusste, dass sie nicht zurückkommen würde. Sie drehte den Schlüssel vom Ring ihres Anhängers und ließ ihn in den Briefkasten fallen. Auf dem Briefkasten standen seit sieben Jahren ihre Namen. Ihrer. Und Jans. Sie überlegte, ob sie Jennifer … durchstreichen oder mit dem Schlüssel abkratzen sollte. Es fühlte sich falsch an. Sie wollte kein Zeichen setzen. Sie wollte nur gehen. Nicht, weil etwas Schlimmes passiert war. Einfach weil sie den Drang verspürte, endlich sie selbst zu sein. Einfach weil nicht zu gehen schlimm gewesen wäre.

Der Taxifahrer lud die letzten zwei Kartons in den Kofferraum. Schnee fiel vom Himmel. Sie legte zwei Kleidersäcke dazu und stieg ein.

Zur Reichenbachstraße, bitte, sagte sie, da beim Gärtnerplatz.

 Die nicht mal halb voll beladene V-Klasse fuhr los. Jennifer schnallte sich an und schaute nicht zurück. Sie zog den Ehering von ihrem linken Ringfinger und ließ ihn in die Manteltasche fallen. Die Haut, die der Ring verdeckt hatte, war dünner und blasser als an der rechten Hand. Mit deren Daumen und Zeigefinger rieb sie darüber und fühlte sich leichter. Obwohl es Dezember war, obwohl es schneite, machte sie das Fenster auf. Sie spürte Wind und schmelzende Schneeflocken auf ihrem Gesicht. Zuerst fiel ihr das Luftholen gegen den Fahrtwind schwer, aber dann war es ganz leicht. Sie saugte die kalte Luft in sich hinein wie jemand, der lange getaucht und gerade an die Oberfläche gekommen ist. Der Taxifahrer wechselte den Radiosender. Als sie auf der Höhe des Hotels Deutsche Eiche ausstieg, lief Thank God It’s Christmas von Queen.

Sie dachte: Alles an diesem Song war wahr.

Der Fahrer half Jennifer mit den Kartons. Sie gab ihm ein großes Trinkgeld und öffnete die Eingangstür des Hauses mit ihrem Fingerabdruck. Das Haus war frisch saniert. Jennifer stieg in den gläsernen Aufzug und fuhr ganz nach oben. Auch ihre Wohnungstür öffnete sie mit ihrem Fingerabdruck. Sie lebte jetzt auf 144 Quadratmetern generalsaniertem Altbau mit neu verlegtem Fischgrätparkett.

Zunächst war da ein längerer Flur. Links ging es ins Gästebad. Dann folgte das richtige Badezimmer. Die Wände des Bades waren mit marokkanischen Zementfliesen in einem hellen Korallenrot bedeckt. Die Duscharmaturen waren messingfarben. Sie kamen einfach aus der Wand. Da war keine Duschkabine. Von der Decke hing eine viereckige ebenso messingfarbene Regendusche. Der Belag darunter war leicht abschüssig, sodass das Wasser im Boden verschwinden konnte. Einen Duschvorhang gab es nicht. Da war noch eine Badewanne aus Gusseisen, die in der Farbe Teresa’s Green von der britischen Firma Farrow & Ball lackiert war.

Danach und ebenfalls links kam das Schlafzimmer, quadratisch und groß, von dem es auf den Balkon zum Innenhof ging. Im Innenhof war ein sorgsam angelegter Garten mit einer großen Rasenfläche und Bäumen. Besonders die Fotos aus dem Sommer, auf dem die Bäume ganz grün waren, hatten Jennifer gefallen. In einem steinernen Häuschen im Garten lagen Liegestühle und Sonnenschirme für die Bewohner des Hauses.

Jennifer schaute auf die Wände des Schlafzimmers. Sie dachte daran, dass sie im AD Magazin Blumen-Tapeten von Gucci gesehen und für wirklich albern befunden hatte. Sie hatte das Schlafzimmer in einem Ockerton an der Grenze zu eierschalenfarbenem Grau streichen lassen. Sie wollte dort vor allem Ruhe. Gegenüber dem Schlafzimmer lag das Wohnzimmer. Dort blickte Jennifer durch große Fenster zur Reichenbachstraße hinaus. Innen waren sie rundherum mit einem Rahmen aus Holz versehen, der in den Raum hineinragte, sodass man sich dort gemütlich hinsetzen und -legen konnte. Kunst wollte sie noch kaufen.

Geld war in ihrer Situation egal. Und sie war dankbar, dass es so war. Sie hatte in den vergangenen Jahren sehr gut verdient. Sie war bis zu ihrer Kündigung Partnerin einer Kartellrechtskanzlei gewesen. Die Anteile hatte sie verkauft. Und ihre Eltern waren vor zwei Jahren kurz nacheinander gestorben. Sie hatte etwas geerbt.

Jennifer war jetzt 35 Jahre alt, Single und hatte 1,5 Millionen Euro auf dem Konto. Sie hatten damals einen Ehevertrag gemacht. Jennifer hatte es spießig gefunden. Aber ihre Kollegen in der Kanzlei hatten ihr dazu geraten. Eine Anwältin ohne Ehevertrag, hatten sie gesagt, sei schon der größte Witz, den es gibt. Sie hatte nicht gedacht, dass sie ihn jemals brauchen würde.

Auch mit Geld war es nicht einfach gewesen, in München eine halbwegs schöne Wohnung zu finden. Eine mit Morgensonne im Schlafzimmer und Abendsonne im Wohnzimmer, eine, die ruhig, groß und nicht in den Neunzigern totrenoviert worden war. Plastikfenster konnte Jennifer nicht ausstehen. Und vor allen Dingen wollte sie keine Kompromisse mehr eingehen. Kein Mittelmaß. Keine Notlösung. Ihr Leben sollte nur noch so sein, wie sie es wollte.

Über einen Lieferdienst bestellte sie eine Flasche Roederer Cristal, einige Cola Zero und drei Schachteln Zigaretten. Morgen würde die Küche geliefert und aufgebaut werden. Der Kühlschrank war schon gekommen. Es war ein mintgrüner Retro-Kühlschrank von Smeg. Groß. Teuer. Schön.

Es klingelte. Jennifer wunderte sich, sie hatte die Bestellung erst vor sechs Minuten aufgegeben. Der Ton der Klingel war anders als der ihrer alten Wohnung. Es war mehr ein Läuten und kein fieses Dengeln. Sie hatte das Dengeln ihrer alten Wohnung gehasst. Sie öffnete die Haustür über die Sprechanlage, wartete und ging zur Wohnungstür. Die Türen des Aufzugs gegenüber öffneten sich, und zwei Männer in Arbeitskleidung standen darin, vor ihnen ein großes Paket von Vitra.

Ach ja, die Liege.

Jennifer lächelte und spürte ihr Herz schneller schlagen. Sie unterschrieb den Lieferschein. Die Männer trugen das Paket in das leere Wohnzimmer.

Da haben Sie ja noch was vor, sagte einer der beiden.

Ja, sagte sie.

Dann bedankte sie sich und verabschiedete sie.

Jennifer schnitt mit einem Schlüssel durch das Paketklebeband. Das Auspacken dauerte eine Weile. Es fühlte sich gut an. Und dann stand sie da. Unter dem Stuck, auf dem Fischgrätenparkett. Gegenüber dem stillgelegten Kachelofen. La Chaise von Charles und Ray Eames. 8361,40 Euro hatte sie dafür bezahlt. Lange hatte sie sich nicht so gut gefühlt.

Jennifer hatte diese Liege zum ersten Mal in einem Hotel in Mailand gesehen, in dem sie während einer Konferenz gewohnt hatte. Was sie sofort beeindruckt hatte, waren die Überflüssigkeit des Möbels und die harte Autorität, mit der es trotz seiner weichen Form den Menschen dazu zwingt, genau die vom Ehepaar Eames vorgesehene Liegeposition einzunehmen – egal ob man wollte oder nicht. Sofas passen sich mit der Zeit dem Körper ihres Besitzers an. La Chaise aber zwingt den Besitzer, sich so hinzulegen, wie das Plastik der Hartschale es vorgibt. La Chaise war in gewisser Weise ein faschistisches Möbel, das aber, weil man sich freiwillig seiner Diktatur unterwarf, nicht faschistisch wirkte.

Sie holte den Aschenbecher von der Terrasse und nahm auf dem Rückweg den weißen Hocker aus Kunststoff mit. Der war von einer holländischen Designfirma und sah ein bisschen wie ein Butt-Plug aus. Den stellte sie rechts neben La Chaise und darauf den Aschenbecher. Es klingelte wieder. Das war der Lieferdienst. Wieder gab sie ein großes Trinkgeld.

Und dann legte sich Jennifer auf La Chaise und zündete sich eine Zigarette an.

Die Gläser waren noch in einer Kiste. Sie trank den Champagner aus der Flasche, obwohl sie das eigentlich ablehnte und sich falsch dabei vorkam. Gerade bei Roederer Cristal schwang da so eine Puff-Daddy-Haftigkeit mit. Aber heute waren die Schlucke aus dieser Flasche eine Allegorie, dachte sie. Nicht, dass sie grundsätzlich in der Wohnung rauchen und aus Flaschen Champagner trinken wollte. Natürlich nicht. Das wäre zu prollig. Sie hatte die letzten Jahre so fremdbestimmt gelebt, dachte sie. Sie rülpste und lachte. Auch Rülpsen lehnte sie ab. Wirklich. Sie hasste Frauen, die so pseudoemanzipiert in einer Runde rülpsten. Aber in diesem Moment, so alleine, fand sie, lag da eben eine gewisse Komik drin und auch eine Selbstbestimmtheit.

Sie auf der neuen Liege, in einem Kleid aus Wolle, auf dem vorne Adidas stand, das aber in Wahrheit von Gucci war, rauchend, Champagner trinkend, barfuß, ohne Jan. Das war die Definition von Emanzipation, dachte sie. Auf dem Handy lief Making Plans For Nigel, ein Song von XTC.

Durch das Fenster schaute sie auf München. Es schneite immer noch. Ganz trockene, fein kristalline Flocken, die dicht und langsam vom Himmel fielen. Eigentlich schwebten sie mehr, als dass sie fielen. Der Schnee machte die Stadt still. Links war der Reichenbachplatz und rechts der Gärtnerplatz. Unten war das Geschäft des Goldschmieds, bei dem sie die Ringe hatten machen lassen. Sie fühlte einen Schmerz in sich, der wichtig war.

Es wurde Abend, und in der Ferne war der Himmel ganz rosa. Das ist so, weil das Christkind für Weihnachten bäckt, hatte Jans Großmutter immer gesagt. Sie dachte darüber nach, was sie an ihm gefunden hatte.

               Seinen Humor.

               Seine Haare.

               Seine Hände.

               Seinen Geruch, wenn er im Sommer von draußen kam.

               Seinen Geruch am Morgen an der Stelle zwischen Schulter und Hals.

               Seine Art, in allen Menschen erst einmal das Gute sehen zu wollen, egal, wie sie waren.

Sie konnte sich nicht erinnern, wann sich das geändert hatte. Wann er sich geändert hatte. Wann er angefangen hatte, ein Spießer zu werden. War das eine Folge seiner Verbeamtung gewesen? Oder eine Reaktion auf ihren Erfolg? Auf eine Art wurde er so, als sie anfing, wirklich Geld zu verdienen. War es so banal? Sie fand Geld absolut egal. Geld war eine Illusion, an die alle glaubten. Nicht mehr. Nicht weniger.

Sie fragte sich, ob sie sich auch verändert hatte. Dann dachte sie, dass das alles dämlich sei. Jeder Mensch ist in jeder Sekunde, in jedem Augenblick ein neuer Mensch. Der Mensch ist immer der Gedanke, den er in einem Moment denkt, dachte sie. Und Gedanken verändern sich in dem Moment, in dem man sie denkt. Deswegen fand sie es dumm, die Veränderung eines Menschen überhaupt als Sensation zu sehen. Veränderung ist Normalität.

Sie dachte noch einige Zeit wirres Zeug auf der Chaiselongue. Auf ihrem Handy liefen irgendwelche Songs, die sie nicht wahrnahm, weil sie ganz in ihrem Kopf war. Dann kam Anne, ihre älteste Freundin, zum Antrittsbesuch.

Sie kannten sich seit der fünften Klasse. Sie gingen damals auf das gleiche Gymnasium. Sie kamen beide aus Miesbach, einer Kleinstadt in Oberbayern. Sie hatten Tool und die Nine Inch Nails gehört und auf dem Dachboden von Annes Großvater, der einen Bauernhof hatte, geraucht. Während Jennifer schon immer ihr Leben lebte, jeden Morgen aufstand und das Leben als Fakt hinnahm, hatte Anne über alles nur Fragezeichen gesetzt. Sie war so irgendwie stehen geblieben. Wenn man in allem eine Frage sieht, gibt es nie eine Antwort.

Groß ist das ja hier bei dir. Und hell. Wahnsinn. Und was ist das denn? Ist das ein Stuhl oder Kunst?

Anne zeigte auf die Chaiselongue. Eames hatte sie schon mal gehört. Aber von Möbeln hatte sie keine Ahnung. Sie verdiente ganz okay, seit sie eine Stelle beim Finanzamt hatte, aber sie kaufte sich keine schönen Dinge. Seit sie zum ersten Mal Geld verdiente, lebte Anne nach dem genau gleichen Muster. Das ganze Jahr über ärmlich, um dann ihren ganzen Jahresurlaub auf einmal zu nehmen, in so ein Land wie Thailand, Peru oder Guatemala zu fahren und da mit dem Rucksack durchzulaufen und in stickigen Wanderunterkünften zu schlafen, um sich leicht berauscht von Höhenluft und frischen Früchten, die ihr irgendein Indio reichte, selbst zu finden.

Das hatte noch kein einziges Mal geklappt. Früher hatte sie sich von Job zu Job gehangelt, von Mann zu Mann. Immer wenn es für sie nicht passte, wie sie sagte, kündigte sie oder verließ den Mann, den sie kurz zuvor noch für die Liebe ihres Lebens gehalten hatte. Aber eigentlich hatte sie Angst, dass es noch etwas Besseres geben könnte. Sie wollte sich nicht festlegen. Aber irgendwann muss man sich ja festlegen. Sonst ist man sein ganzes Leben lang unglücklich.

Wie fühlst du dich, fragte Anne.

Ich weiß nicht. Ein bisschen angetrunken. Willst du auch einen Schluck?

Sie reichte Anne die Flasche.

Also mir geht es gut. Es ist richtig. Auch wenn es wehtut.

Sie zündete sich eine Zigarette an. Anne trank einen Schluck Champagner aus der Flasche. Sie saßen auf dem Boden vor der Chaiselongue. Rauch stieg in Spiralen nach oben.

Kadir will keine Kinder mehr, sagte Anne.

Er hat schon zwei, oder?

Dreizehn und siebzehn. Luke und Lea.

Was macht das mit dir?

Ich will Kinder haben.

Seid ihr nicht irgendwie eine Familie? Sind das nicht auch deine Kinder?

Sie kuscheln mit mir. Luke sagt manchmal Mum zu mir.

Dann hast du doch Kinder.

Das ist nicht dasselbe.

Was ist es dann?

Ich möchte ein Kind haben. Mit einem Mann, den ich liebe. Gibst du mir auch eine?

Sie gab Anne eine Zigarette.

Seit ich denken kann, will ich Kinder haben. Ich will bedingungslos lieben. Ich will für jemanden da sein. Ich will jemanden beschützen.

Aber kannst du das nicht auch mit ihm und seinen Kindern? Und es sind ja nicht mehr nur seine, wenn sie dich schon Mum nennen.

Das macht ja nur Luke. Und nur manchmal.

Und die Große.

Die will jetzt ein Piercing.

So wie du. Die will das wegen dir. Sie will dir ähnlich sein. Sie findet dich toll. Du übernimmst Verantwortung. Du bist für jemanden da. Ist das nicht eine Familie?

Ja, vielleicht.

Liebst du ihn?

Ja, natürlich. Es fühlt sich alles richtig an. Nur, dass ich eben ein eigenes Kind will. Und er nicht. Ich glaube, ich muss weg da.

Und dann? Hast du deswegen ein Kind?

Nein. Aber ich glaube, ich brauche einfach mehr Zeit für mich.

Der wievielte Mensch ist das, von dem du wegrennst, weil es nicht komplett das ist, was du haben willst? Der wievielte Mensch ist das, den du verlässt, weil du Zeit für dich brauchst?

Ich habe aufgehört zu zählen. Du hast Jan doch auch gerade verlassen.

Das ist das erste Mal in meinem Leben. Und es ist einfach so, dass er falsch für mich war. Aber Kadir ist richtig für dich. Das sagst du doch selber.

Ja.

Sie rauchten noch ein paar Zigaretten. Die Flasche war irgendwann leer.

Und jetzt musst du mir zeigen, wie man auf diesem Ding da sitzt.

Jennifer legte sich auf La Chaise. Ihr Körper wurde zu einer Verlängerung der Vorstellung des Ehepaar Eames. Sie lag seitlich in der Mitte des Raumes und sah wie eine vollkommene Skulptur aus. Dann stand sie auf und ging ins Badezimmer.

Anne legte sich währenddessen auf La Chaise. Sie trug eine Jeans mit Nieten an den Taschen. Sie fand die Liege unbequem. Sie rutschte ein wenig hin und her, ehe sie wieder aufstand.

War sie denn wenigstens günstig, fragte Anne.

Ursprünglich ja. Sie war ein Entwurf für einen Wettbewerb für günstige Möbel. Ich glaube, die Herstellung kostete fünfzehn Dollar damals.

Und heute?

Etwas mehr.

Anne verabschiedete sich. Jennifer winkte ihr hinterher. Sie war wieder allein. Aber nicht einsam. Sie zog sich die Socken aus und rutschte barfuß über das Parkett in einem Kreis um La Chaise. Nicht, weil das irgendetwas bedeuten sollte, sondern weil ihr danach war. Nach Bewegung. Nach einem Gefühl unter den Füßen.

Sie öffnete das Fenster und leerte den Aschenbecher. Das Bett war noch nicht da, es war für morgen angekündigt. Sie legte das Handy auf den Hocker neben der Chaiselongue und suchte in einer der Kisten nach der salbeifarbenen Kaschmirdecke. Sie putzte sich die Zähne und legte sich auf La Chaise. In ihrem Wollkleid von Gucci mit Adidas-Streifen, auf ihr die Kaschmirdecke. Dann schlief sie ein.

Sie wachte vor Sonnenaufgang auf. Es schneite immer noch. Tauben schliefen, den Kopf unter die Flügel gesteckt, auf dem gegenüberliegenden Dach. Kurz dachte Jennifer noch einmal an Anne. Die hatte sich gar nicht für sie interessiert. Anne war jemand, der jedes verletzte Eichhörnchen zum Tierarzt brachte. Aber an anderen Menschen hatte sie wenig Interesse. Eigentlich dachte Anne am liebsten über sich und ihre Gefühle nach, aber nie über die der anderen. Dabei tat sie immer so empathisch.

Jennifer ging durch die neue Wohnung. Strich mit den Fingern über die Fensterbretter aus Holz. Sie setzte sich in das große Panoramafenster zur Straße. Unten fuhr ein Räumfahrzeug über den Bürgersteig. Ein Mann in orangefarbener Arbeitskleidung saß darin. Er schaute hoch. Sie schaute runter. Sie winkte ihm. Er winkte ihr.

Jennifer dachte über den Brief nach, den sie für Jan geschrieben, aber dann doch nicht auf den Küchentisch gelegt hatte. Sie las ihn noch einmal.

Ich werde Dir wehtun. Ich will es nicht. Aber ich muss es. Damit wir beide frei sind. Ich weiß, dass wir nicht mehr die sind, die sich einmal geliebt haben. Ein Teil von mir wird Dich immer lieben. Aber dieser Teil reicht nicht, damit ich glücklich bin. Und ich meine auch, dass Du mich nicht mehr genug liebst, um selbst glücklich zu sein.

Das klingt so technisch. Und es ist total klar, dass man sich anders liebt als am Anfang. Aber wir beide wollen offenbar anders leben als so, wie wir es zusammen tun. Ich will raus. Ich will Geld ausgeben, ohne mich zu schämen. Ich will so leben, wie ich es für richtig halte. Ich will einen Kühlschrank haben, der schön ist, und nicht einen, der vernünftig ist. Und ich will, dass Du so lebst, wie Du es möchtest. Es gibt kein gemeinsames Leben, das uns glücklich macht.

In den letzten Monaten haben wir das beide gemerkt. Wir haben über Banalitäten gestritten. Unter der Woche, wenn ich spät nach Hause gekommen bin und Du gerade noch wach warst. An den Wochenenden. Es hat mich betroffen gemacht, dass es meistens um Geld ging. Nicht um Geld, das wir beide nicht hatten, sondern um Geld, das da war. Das fand ich noch schlimmer. Zu streiten, weil man nicht weiß, wie man morgen etwas zu essen bekommt, ist das eine. Aber zu streiten, weil es uns gut geht, war letztlich zu viel für mich.

Es macht mich bis heute traurig, dass Du meinst, mein Erfolg sei die logische Konsequenz des Misserfolgs anderer. Ja, meine Eltern haben mich unterstützt. Aber studieren musste ich selber. Anders als die Typen mit den Bootsschuhen und den über die Schultern geworfenen Pullovern kannten meine Eltern keinen dort. Ich kannte keinen dort. Meine Eltern spielten mit niemandem Golf. Sie waren nicht zusammen im Rotary Club. Meine Eltern waren fleißig. Dass sie mir etwas vererbt haben, ist ein Glück. Es war auch unser Glück. Die Wohnung, in der Du das jetzt liest, konnten wir uns alleine nicht leisten. Jetzt gehört sie uns. Du konntest auch so entspannt zu Ende studieren und promovieren, weil meine Eltern uns unterstützt haben. Dich. Und mich.

Wir beide haben uns verändert. Ich werde Dir deswegen nie einen Vorwurf machen. Und ich empfinde unsere Zeit bis heute als ein Geschenk. Das wird sie für immer bleiben. Und ich möchte auch, mit etwas Abstand und wenn Du es willst, in Deinem Leben vorkommen. Aber nicht als Deine Frau. Sondern als eine Freundin.

Vielleicht hast Du unendlich viele Fragen. Aber ich glaube, eigentlich bist Du ganz froh, dass ich Dir das jetzt schreibe. Ich glaube, Du wolltest auch woanders hin, Du hast Dich nur nicht getraut.

Du kannst in unserer Wohnung weiterwohnen. Sie gehört zur Hälfte Dir. Und ich brauche sie nicht. Das ist kein vergiftetes Angebot. Ich meine das so. Überleg Dir, wie Du leben möchtest. Es ist Dein Leben. Und Du kannst Dich entscheiden.

Deine Jennifer

Sie klappte den Brief zusammen und legte ihn zurück in das Kuvert, auf dem Jan stand. Dann weinte sie. Nicht aus Trauer, sondern weil sich etwas in ihr gelöst hatte. Sie wusste, jetzt fängt etwas an.

Es schneite noch immer. Eine junge Familie packte Koffer in einen Minivan. Zuletzt kam der Vater mit dem Kinderwagen. Er setzte das Kind in eine Babyschale auf dem Rücksitz. Den Wagen klappte die Mutter währenddessen zusammen und legte ihn in den Kofferraum. Die Mutter küsste das Kind. Dann küsste sie ihren Mann. Die Eltern stiegen ein. Sie fuhr, er saß hinten beim Kind. Das alles sah Jennifer durch die Fenster ihrer neuen Wohnung.



2.
19. Dezember

Oma, ich hab Brötchen mitgebracht, rief Jan durch die offene Tür in das Haus seiner Großmutter in Krefeld. Er streifte den Schnee unter den Sohlen seiner Schuhe an der Fußmatte, auf der Willkommen stand, ab. Er hängte seinen Mantel an die Garderobe mit dem verstaubten Spiegel und lief über die weißen Fliesen im Flur ins Wohnzimmer. Seine Großmutter saß in einem Rollstuhl und schaute durch das Bleiglas der Fenster in den Garten.

Mein Junge, ist das schön, dass du da bist, sagte sie in ihrem niederrheinischen Singsang.

Er fand das komisch, Junge genannt zu werden, aber auch schön. Er fühlte sich geliebt in diesem Moment. Im Gesicht und auf den Händen hatte seine Großmutter Altersflecken. Seit dem Beinbruch hatte sie zugenommen. Das letzte Mal Schwimmen musste ein Jahr her sein. Vorher war sie jeden Tag im Sommer mit dem Rad die Straße hinunter ins Freibad gefahren. Das hatte sie ihr ganzes Leben so gemacht. Aber seit dem Sturz konnte sie das nicht mehr.

Seine Tante hatte mithilfe der Nachbarn das Bett im Wohnzimmer aufgestellt. Das Wohnzimmer lag im Erdgeschoss. Seit dem Sturz war seine Großmutter nie wieder in den oberen Geschossen gewesen. Die Dusche im Erdgeschoss war für ein paar Tausend Euro barrierefrei gemacht worden. Das Haus hatte sie seit elf Monaten nicht mehr verlassen. Sowohl hinten als auch vorne musste man mindestens neun Stufen hinuntergehen, um rauszukommen.

Die Eichhörnchen, die haben’s gut. Die springen rauf und runter den ganzen Tag, sagte sie. Aufs Fensterbrett leg ich die Nüsse. Da haben die was zu knabbern. Manchmal kommen sie rein. Guck mal, wie schnell die sind.

Du siehst gut aus, Oma, sagte er.

Lüg mich nicht an, sagte sie und versuchte zu lachen. Dann hustete sie.

Ich lüge nicht. Deine Augen leuchten. Sie sind braun und jung.

Seine Großmutter begann zu weinen. Manchmal denk ich, ich will nicht mehr. Ich kann nicht aufstehen. Ich kann nicht gehen. Ich sitze hier und warte. Es ist auch irgendwann genug.

Er kniete sich vor ihren Rollstuhl und umarmte sie. Sie blieben eine Weile ineinander verschlungen. Er spürte ihre Tränen auf seiner Wange. Er roch Chanel No. 5 und Haarspray. Die Eichhörnchen liefen auf dem Fensterbrett vorbei. Ein Hase sprang aus der Hecke da unten im Garten. Seine Tante kam herein. Sie war seit einem Jahr Rentnerin. Davor hatte sie als Französisch- und Deutschlehrerin an einer Realschule in Krefeld gearbeitet.

Na, Mama, sagte sie. Hast du schon was gegessen?

Ich hab Brötchen mitgebracht, sagte er.

Hol mal den Schinken und die Butter raus, bitte, sagte seine Großmutter zu ihrer Tochter.

Ich helf dir, sagte Jan.

Seine Großmutter schaute weiter in den Garten.

Schön, dass du mal da bist, sagte Jans Tante.

Jan und seine Tante standen in der Küche. Er setzte einen Filter in die Kaffeemaschine. Aus der Dose schüttete er Pulver hinein. Sie holte Teller aus einem Schrank. Obwohl die letzte Katze vor vier Jahren gestorben war, gab es noch immer eine Klappe in der Tür zum Garten.

Wie geht es ihr wirklich, fragte Jan seine Tante.

So gut wie heute seit Monaten nicht. Vor einem Monat habe ich gedacht, das war es jetzt.

Was war denn?

Sie hat mit ihren toten Freundinnen Kaffeeklatsch gehalten. Sie saß da drüben am Esstisch ganz alleine und hat mit denen geredet. Mit drei verschiedenen Frauen, die nicht da waren.

So richtig geredet?

Ja. Auch mit der Mutter von Christian, dem ersten Mann von Linda. Und die Mutti hat gesagt, behalt das lieber für dich, Linda, aber bei mir ist es sicher. Und zwei Tage zuvor hat sie mich nachts angerufen und gesagt, es brennt bei ihr. Dass ich ihr helfen müsste, den Vati rauszutragen. Aber der Vati ist seit 1988 tot. Dann hab ich die Feuerwehr gerufen und bin losgefahren. Und natürlich hat es nicht gebrannt. Das ging fast eine Woche so. Sie hat wieder in den Achtzigern gelebt. Und dann hat sie irgendwann nur noch geschlafen und nichts mehr gegessen. Der Arzt hat dann die Medikamente verändert, und da wurde es besser.

Sie trugen die Teller und den Kaffee für das Frühstück hinüber. Seine Tante legte Käse und Schinken auf die Teller, dazu stellte sie ein Glas Marmelade.

Soll ich dir ein Bütterken schmieren, fragte seine Tante die Großmutter.

Das kann ich wohl noch alleine.

Seine Großmutter strich mit Mühe Butter vom Stück in der Butterschale. Vielleicht zwei Minuten machte sie das. Für Jan fühlte sich das unendlich lange an. Es zu sehen, schmerzte ihn. Seine Großmutter hatte auf ihn immer stark gewirkt. Viel stärker als seine Mutter. Stärker als alle Menschen, die er früher gekannt hatte eigentlich.

Sein Großvater war vor seiner Geburt gestorben. Deswegen kannte er seine Großmutter nur als alleinstehende Frau in diesem großen Haus in Krefeld. Sie hatte es immer alleine bewirtschaftet. Sie hatte Rasen gemäht, Hortensien gepflanzt, Bäume und auch die Hecken zurückgeschnitten, und sie war eben immer schwimmen gegangen. Sie war zu ihrem während des Zweiten Weltkriegs ausgewanderten Bruder nach Neuseeland geflogen und mit einer Kette aus Goldnuggets wiedergekommen. So war sie das ganze Leben gewesen. Selbstständig. Alleine. Aber nicht einsam. Bis jetzt.

Jetzt saß sie da und scheiterte daran, eine Brötchenhälfte mit Butter zu beschmieren. Das Brötchen fiel aus ihrer linken Hand, erst auf die Tischdecke, dann auf ihren Schoß. Das Messer fiel aus der anderen Hand. Beim Versuch, es aufzuheben, stieß sie die Kaffeetasse um. Der Kaffee war durch die Milch nicht heiß. Aber ihre Hose und Teile ihrer Bluse waren nass und braun.

Ich helf dir, sagte er und wollte fragen, wo er neue Kleidung holen könnte. Aber sie wollte das nicht. Sie weinte und schrie. Abwechselnd. Gleichzeitig. Sie schlug kraftlos mit der Hand auf den Tisch wie eine Dreijährige. Er hatte noch nie eine so hilflose Person gesehen.

Seine Tante sagte: Ganz ruhig, ich mache das schon. Er könne eine Zigarette im Garten rauchen.

Da stand er. Unten im Schnee auf der großen Rasenfläche, die inzwischen komplett vermoost war. Hinter ihm die Terrasse unterhalb des Hauses. Links war das Grundstück des ehemaligen Bahnvorstands. Die Weihnachtsbeleuchtung war eingeschaltet. Sieben rot-weiße Zuckerstangen leuchteten in dessen Garten. Eine Haushälterin brachte Müll heraus. Jan nahm sich eine Zigarette aus seiner Jacke und zündete sie an. Er drehte sich um und schaute auf das Haus seiner Großmutter.

Es war ein typisches Kaffeemühlenhaus vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Quadratisch, verklinkert, zwei Etagen, dazu ein Dachgeschoss und ein Keller. Als Kind war Jan oft an Ostern hier gewesen. Er erinnerte sich an ein, zwei Familienfeste. Wie er mit seiner Cousine gekifft hatte. Er musste fünfzehn gewesen sein. Sie hatte Jan mit ihrem Golf Cabrio vom Flughafen Düsseldorf abgeholt, und dann hatten sie im offenen Auto geraucht und Rauch in den Himmel geblasen. Er sah Pitti vor sich. Eine der fünf Katzen, die seine Großmutter nach dem Tod ihres Mannes gehabt hatte. Sie hatten Minka, Minko, Pitti, Miez und noch mal Minka geheißen. Pitti war ein Perserkater aus dem Tierheim gewesen. Sein Fell war bernsteinfarben, er war sehr scheu und hatte immer skeptisch geschaut. Einmal hatte er Jan gekratzt.

An einer Geburtstagsfeier, es muss der 75. Geburtstag seiner Großmutter gewesen sein, hatte sie die Schnittchen aus kleinen quadratischen Toastscheiben mit Räucherforelle, Lachs und Garnelen auf einem Silbertablett nach draußen auf den Tisch gestellt, bevor die ersten Gäste kamen. Und Pitti hatte sich auf das Silbertablett gesetzt und von den Garnelen gefressen. Seine Großmutter hatte ihn mit beiden Händen gepackt und in den Garten geworfen. Nicht gewaltvoll und bösartig, eher pragmatisch neutral. Sie hatte die Katzenhaare von den Schnittchen gepustet und zu Jan gesagt: Aber das bleibt unser Geheimnis. Er hatte keine Schnittchen gegessen an diesem Tag, aber permanent gegrinst, während er die Erwachsenen dabei beobachtete.

Und einmal, an Ostern, da hatte sie ihm einen Schokoladenhasen geschenkt, so groß, wie er damals war. Er muss fünf Jahre alt gewesen sein. Und eigentlich jedes Mal hatte es Weincremeschnitten und Mohrenköpfe von Heinemann und Sahnepudding von Dr. Oetker gegeben. Jan dachte das Wort Mohrenköpfe und fühlte sich schmutzig dabei. Dann dachte er an das Auto seiner Eltern. Wenn er in den E-Klasse-Kombi seiner Eltern gestiegen war, um wieder nach Hause zu fahren, hatte seine Großmutter ihm oft fünfzig Mark und später fünfzig Euro zugesteckt.

Jans Tante kam in den Garten. Sie sah, und das fiel ihm jetzt erst auf, schon immer sehr burschikos aus. Wie diese Frauen, die den Sommer in Cherry Grove auf Fire Island mit Chardonnay und Büchern von Gertrude Stein verbrachten. Sie trug Schuhe von Mephisto, ein Hemd und darüber einen dunkelgrünen Wollpullover mit V-Ausschnitt.

Die Mutti ist jetzt wieder frisch, sagte sie. Sie sah erschöpft aus. Sie hatte Augenringe.

Das ist auch nicht einfach für dich, oder?, fragte er.

Ausgesucht habe ich es mir nicht. Ich meine, ich komme natürlich gerne zu ihr. Aber in letzter Zeit ist das so viel. Ich habe meine letzten Urlaube deswegen abgesagt. Ich bin nur noch bei ihr. Linda ist ja in Hamburg. Klar, dass die nicht immer herfahren kann.

Ihr habt doch jetzt eine Pflegerin.

Das ist ein junges Mädchen aus Polen, sehr nett, aber auch sehr unfähig. Aber wie soll sie auch. Sie spricht kaum Deutsch, ist vielleicht neunzehn und ständig am Handy. Du musst ihr alles zwei, drei Mal sagen, bis sie es macht. Neulich kam ich abends, da standen noch die Sachen vom Frühstück, und sie saß am Tisch und hat irgendwelche Handyvideos geschaut. Sicher, die hat es auch nicht leicht. Aber wenn das von der Krankenkasse kommt, dann frag ich mich schon, wofür wir die ganzen Beiträge zahlen. Und das unser Leben lang.

Die Oma hat mir vorhin gesagt, sie will nicht mehr.

Ja. Und wenn etwas nicht klappt bei ihr, dann kann sie ganz schön wütend werden. Das bleibt dann an mir hängen. Ich hab mir meinen Ruhestand auch anders vorgestellt.

Warum bist du denn hiergeblieben?

Warum? Ich bin halt hiergeblieben.

Jans Tante war immer Tochter geblieben. Ihr ganzes Leben lang. Sie war nie weiter weggezogen. Sie war einfach immer bei ihrer Mutter gewesen. Jans Großmutter döste derweil in ihrem Rollstuhl. Seine Tante und er konnten sie durch die Fensterscheibe sehen. Ihre Augen waren zugefallen. Ihre Brust hob und senkte sich langsam. Er blieb noch eine Weile.

Sie tranken Kaffee. Später aßen sie Weincremeschnitten. Und dann fuhr er nach Düsseldorf in sein Hotel.

Sein Hotelzimmer war im fünfzehnten Stock. Er sah auf Eisenbahngleise und Überleitungen. S-Bahnen fuhren vorbei, ein ICE. Gegenüber war vor einer Laderampe eine weiße Stretch-Limousine geparkt, auf der VIP KLUB stand. Dazu stilisierte Frauenkörper mit großen Brüsten auf High Heels.

Zum Essen fuhr er mit dem Aufzug in das Hotelrestaurant einen Stock höher. Er bestellte sechs Austern und ein Steak Frites mit Sauce béarnaise. So altmodisch war sein Verständnis von gutem Essen. Er saß vor einem bodentiefen Fenster. Unten blinkte die Stadt. Jan spürte eine Angst. Er spürte das Verlangen, Alkohol zu trinken. Und er saß alleine und tauchte die letzten Pommes in die Béarnaise. Er wischte sich die Finger mit der Serviette ab und bestellte einen Espresso und noch ein Bier und noch ein Glas Champagner.

Die Kellnerin war vielleicht zwanzig. Sie hatte dunkle, lange Haare und rot lackierte Fingernägel. Sie war klein und dünn, sehr mädchenhaft. Er schaute ihr, als sie von seinem Tisch wegging, auf den Po. Und er spürte ein Kribbeln in seinem Penis. Und einige Zeit stellte er sich vor, wie er sie von hinten fickte, während er nach draußen schaute.

Er sah die Taxen vor dem Hotel. Er sah Züge und S-Bahnen. Und er bestellte noch ein Bier und noch ein Glas Champagner. Und er trank jedes der Gläser viel zu schnell aus. Mit jedem Schluck spürte er weniger Angst. Er konnte die Angst nicht benennen. Er kannte ihren Grund nicht. Aber sie war da. Dann zahlte er mit der Amex-Partner-Kreditkarte von Jennifer und gab fünf Prozent Trinkgeld.

Als er die Karte in sein Portemonnaie steckte, dachte er daran, wie er das erste Mal mit Jennifer geflogen war. Sie hatte die Flüge gebucht und ihn damit überrascht. Sie hatte ihm nicht gesagt, wohin es ging. Und am Flughafen München waren sie in die Lufthansa Lounge gegangen. Jan hatte sie fassungslos angeschaut. Ist das nicht teuer, hatte er sie gefragt. Sind da nicht nur so Businessclass-Idioten? Sie hatte gesagt, dass es bei der Firmenkreditkarte inklusive sei. Und dann hatten sie Gin Tonics geholt.

Daran musste Jan denken, als er die Kreditkarte berührte. Er spürte diesen Widerstand in sich von damals. Er hatte eigentlich nicht die Menschen dort abgelehnt. Sondern sich selbst.

In seinem Zimmer angekommen, legte er sich ins Bett. Er machte sich ein Drei-Fragezeichen-Hörspiel an. Er drehte sich hin und her. Er konnte nicht schlafen. Er trank noch ein Bier aus der Minibar. Und noch eins. Und dann schüttete er eine der kleinen Gin-Flaschen in eine Cola Zero. Er aß einen Kinderriegel und eine Tüte englische Chips. Er rauchte am Fenster. Er hörte die zweite Folge Drei Fragezeichen. Irgendwann drehte sich alles.

Und er begann zu träumen.

Er stand vor einer Marmorsäule, nur ein Tuch um die Hüfte gewickelt. Seine Haut war glatt und hell. Über ihm war blau-weißer Himmel. Der Boden war schachbrettartig gefliest. Er sah Pfeile auf sich zufliegen.

Als die erste Pfeilspitze Haut und Fleisch seines Brustkorbs durchstach und zwischen einer Rippe hindurch direkt in die Lunge vordrang, spürte er keinen Schmerz, sondern Erleichterung. Mit jedem weiteren Pfeil, der seinen Körper traf, wurde es besser. Es war, als würde alles von ihm abfallen. Alle Last, alle Sorgen, alle schlechten Gedanken. Es hatte etwas Orgasmisches.

Er schloss die Augen und genoss das Gefühl. Inzwischen steckten dreizehn Pfeile in ihm, in seinen Beinen, in seinem Hals, in der Brust, in den Armen, überall eigentlich. Nur sein Kopf wurde nicht getroffen. Das Blut, das über seinen Körper floss, wärmte ihn. Sein Blick färbte sich dunkler, dann schwarz, dann weiß, dann wachte er auf.

Als er aufwachte, hielt er in seiner Hand eine Erektion. Er dachte an den Arsch der Kellnerin und begann zu wichsen. Er ejakulierte auf seinen nackten Oberkörper und wischte mit der Bettdecke das Sperma ab. Eine Weile lag er einfach so da. Er spürte die Spermareste und seinen Schweiß erkalten. Er atmete laut und hustete. Sein Gesicht wurde von der Morgensonne orangefarben angestrahlt. Die Luft, die durch das geöffnete Fenster hineinkam, war feucht.

Ehe er aufstand, überflog er die Nachrichten auf seinem Telefon.

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Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Er hatte sich immer als politischer Mensch verstanden. Deswegen war er Lehrer geworden. Er wollte jungen Menschen etwas mitgeben, an ihrer Entwicklung arbeiten. Heinrich Böll war der Grund, warum er so dachte. Er hielt Ansichten eines Clowns und Die verlorene Ehre der Katharina Blum für zwei der wichtigsten Bücher der Welt. Er war einer dieser Menschen, für die das Wort sozialkritisch in Bezug auf Kunst positiv besetzt war.

Er überlegte, was Heinrich Böll wohl zu den Nachrichten des Tages gesagt hätte. Die Sache mit dem Mann, der den Kanzler Idiot genannt hatte, ließ ihn nicht los. Er hatte in seiner Klasse viel über Hass und Hetze gesprochen. Etwas, das er als wirkliches Problem empfand.

Einmal hatten ein arabischer und ein deutscher Schüler in Jans Klasse auf ein Blatt eine Regenbogenflagge gekritzelt und darüber ein Hakenkreuz. Darunter hatten sie Gegen die Verschwulung Deutschlands geschrieben. Sie hatten danach in der Klasse lange darüber gesprochen. Jan hatte einen Aufsatz über männliche Homosexualität im Rap anhand von Texten von Drake, PARTYNEXTDOOR, Lil Nas X und Frank Ocean schreiben lassen. Das hatte er damals richtig gefunden.

Aber die Sache jetzt: Ein Strafbefehl, weil ein Mann den Kanzler auf Telegram Idiot genannt hatte. Das kam ihm sonderbar vor. Jan dachte das Wort totalitär. Er erschrak bei dem Gedanken. Er dachte, er selbst würde so etwas nie sagen. Er dachte, aber man sollte es doch sagen können, oder?

Er dachte an seine Schüler. Er dachte daran, wie sie Heines Deutschland. Ein Wintermärchen besprochen hatten. An die Kritik darin gegenüber der Politik des Deutschen Bundes. Daran, dass Heine als Jude nicht als Anwalt arbeiten durfte. Er dachte an die Zensur und an den Verlag Hoffmann & Campe, bei dem das Buch schließlich zuerst erschienen war. Er dachte an den Verlag Kiepenheuer & Witsch, bei dem inzwischen die Memoiren der Kanzlerin und Bücher des Wirtschaftsministers erschienen. Früher hatte Kiepenheuer & Witsch Bret Easton Ellis und den Rammstein-Sänger verlegt. Kiepenheuer & Witsch ist staatstragend geworden, dachte Jan. Er dachte an Jennifer. Dann wieder an seine Klasse.

Jan hatte immer versucht, Politik und Kunst zu verbinden. Mit seinem Deutsch-Grundkurs der zwölften Klasse hatte er vor den Ferien Autobahn von Kraftwerk und Mit dem BMW von Fler verglichen. Er hatte sich davon erhofft, diese aus seiner Sicht jungen Menschen für deutsche Sprache zu begeistern. Das hatte er sich jedenfalls eingeredet. In Wahrheit wollte er von seinen Schülern und besonders den Schülerinnen für cool gehalten werden.

Funktioniert hatte das nicht. Er hatte gedacht, Fler sei cool. Aber dass ein Rapper wie Fler auch nur noch eine Art Bruce Springsteen, also Altherrenmusik, war, hatte er nicht bedacht. Er hatte geglaubt, was im Spiegel stand. Dass Gangsta-Rap die Musik der Jugend war. Aber seine Schüler hörten längst nur noch Musik von jungen Frauen, die Paula Hartmann oder Ikkimel hießen.

Jan duschte lange. Am Ende drei Minuten kalt. Er hatte in einem Artikel im New Yorker gelesen, dass das gut für das Immunsystem und die Fettverbrennung sei. Sechs Kilogramm weniger wäre schon schön, dachte er, als er sich im Spiegel sah. Nach dem Frühstück checkte er aus. Er hatte Kopfschmerzen und Sodbrennen. Er rauchte eine Zigarette vor dem Hotel, hatte Schluckauf und schob seinen Rollkoffer zur S-Bahnstation. Er ging an den Barbershops vorbei, an den Shisha-Bars. Obwohl er bisher mit jeder seiner Schulklassen an Projekten wie „Schule ohne Rassismus“ teilgenommen hatte, waren ihm diese Läden suspekt. Er war nur einmal in einem drin gewesen. Von außen dachte er immer, dass die Leute dort kriminell sein müssten.

Am Hauptbahnhof kaufte er sich eine taz, stieg in den Zug nach München, las mit Genuss einen Artikel über postkoloniale Theorien und dachte, nach den Ferien würde er den gerne mit seinen Schülern besprechen. Tatsächlich dachte er Schüler*innen.

Sein Telefon vibrierte in seiner Jackentasche. Er schaute auf das Display.

Eingehender Anruf

Ümit

Ümit hatte mit Jan studiert. Sie hatten sich beim Badmintonkurs an der Universität kennengelernt. Dann hatte Ümit eine Tochter bekommen. Mit einer Frau, die wohl psychische Probleme hatte. Nach der Geburt hatte sie angefangen, ihn aus dem Nichts zu schlagen, zu beschimpfen, ihm vorgeworfen, sie zu betrügen. Was Ümit nie gemacht hatte. Er trennte sich von ihr. Sie zerstach ihm die Autoreifen. Warf die Scheibe der gemeinsamen Wohnung ein. Am Ende bekam er das alleinige Sorgerecht zugesprochen, zog aus, und sie durfte sich ihm nicht mehr nähern.

Ümit hatte das Studium beendet. Aber als Lehrer wollte er doch nicht mehr arbeiten. Er hatte dann eine Ausbildung zum Beamten im gehobenen Dienst gemacht. Seitdem arbeitete er im Kultusministerium in München. Jan und Ümit hatten oft und viel über Politik geredet. Ümits Vater war ein typisch sozialdemokratischer Gastarbeiter gewesen. Und Jans Vater auch, nur ohne Gastarbeiter eben. Ümit und Jan waren beide Staatsdiener, aber sie sahen sich trotzdem als eine Art Opposition zum CSU-regierten Bayern. Sie waren beide Träumer.

Jan nahm den Anruf nicht an. Wegdrücken wollte er auch nicht. Er wartete. Das Vibrieren hörte auf. Und begann wieder von vorne.

Eingehender Anruf

Ümit

Wieder hörte das Vibrieren nach einigen Malen auf. Dann begann es erneut. Fünf Mal ging das so. Auf der Höhe von Ingolstadt ging Jan auf die Toilette. Sein Stuhl war wässrig.

Foto von Frédéric Schwilden

Über Frédéric Schwilden

Biografie

Frédéric Helmut Johannes Schwilden wird 1988 geboren und wächst in der Fränkischen Schweiz auf. Nach dem Abitur zieht er nach Berlin, studiert Gartenbau und wird Journalist. Anfangs schreibt er für den deutschen Rolling Stone über Popmusik. Später arbeitete er als Redakteur im Feuilleton der Welt am...

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