Ich blieb in Auschwitz Ich blieb in Auschwitz - eBook-Ausgabe
Aufzeichnungen eines Überlebenden 1943–45
Ich blieb in Auschwitz — Inhalt
Ein einzigartiges Zeitzeugnis ...
1943 werden der junge niederländisch-jüdische Arzt Eddy de Wind und seine Frau Friedel nach Auschwitz deportiert. Als Häftling mit der Nummer 150822 erlebt Eddy den Terror der Nationalsozialisten am eigenen Leib: die Appelle in eisiger Kälte, die Zwangsarbeit in sengender Hitze, die Krankheiten, den Hunger, die willkürlichen Erschießungen und die Grausamkeiten, die das Lagerleben prägen. Kurz bevor die Russen das Lager im Januar 1945 befreien, wird seine Frau aus Auschwitz verschleppt, Eddy aber versteckt sich und bleibt zurück. Dies ist die Geschichte der beiden – sie wurde geschrieben im Lager von Auschwitz. Das erschütternde Dokument wurde 1946 in den Niederlanden veröffentlicht. Nun liegt es erstmals auf Deutsch vor.
Leseprobe zu „Ich blieb in Auschwitz“
Vorwort
1942 ging der jüdische Arzt Eddy de Wind als Freiwilliger nach Westerbork, ein Durchgangslager im Osten der Niederlande. Dort lernte er Friedel, eine junge jüdische Krankenschwester, kennen. Die beiden verliebten sich und heirateten im Lager. 1943 wurden sie in einem Güterzug nach Auschwitz deportiert und dort getrennt: Eddy landete in Block 9 und Friedel in Block 10, in dem medizinische Experimente durchgeführt wurden. Als die Russen im Herbst 1944 nach Auschwitz vorrückten, beschlossen die Nazis, ihre Spuren zu vernichten. Die Häftlinge, [...]
Vorwort
1942 ging der jüdische Arzt Eddy de Wind als Freiwilliger nach Westerbork, ein Durchgangslager im Osten der Niederlande. Dort lernte er Friedel, eine junge jüdische Krankenschwester, kennen. Die beiden verliebten sich und heirateten im Lager. 1943 wurden sie in einem Güterzug nach Auschwitz deportiert und dort getrennt: Eddy landete in Block 9 und Friedel in Block 10, in dem medizinische Experimente durchgeführt wurden. Als die Russen im Herbst 1944 nach Auschwitz vorrückten, beschlossen die Nazis, ihre Spuren zu vernichten. Die Häftlinge, darunter auch Friedel, wurden kolonnenweise in Richtung Deutschland getrieben. Es waren Märsche, die später als Todesmärsche bekannt geworden sind. Eddy versteckte sich und blieb in Auschwitz. Dort fand er eine Kladde und einen Stift und begann zu schreiben. Traumatisiert, wie er war, schuf er die Figur Hans als Erzähler seiner eigenen Geschichte. Das Grauen, das er erlebt hatte, war immer noch so unverarbeitet, dass er nicht die Worte finden konnte, es aus der Ich-Perspektive zu beschreiben. Dies ist Eddys Geschichte.
Melcher de Wind
Amsterdam, im Juni 2019
Ich blieb in Auschwitz.
Aufzeichnungen eines Überlebenden 1943 – 45
Wie weit ist es bis zu den blau verschwommenen Bergen? Wie groß ist die Ebene, die sich in der strahlenden Frühlingssonne ausbreitet? Ein Tagesmarsch für Nichtgefangene. Eine Stunde zu Pferd, bei schnellem Trab. Für uns ist es weiter, viel weiter, unendlich weit. Die Berge sind nicht von dieser Welt, nicht von unserer Welt. Denn zwischen uns und den Bergen liegt der Stacheldraht.
Unsere Sehnsucht, das wilde Pochen unserer Herzen, das Blut, das uns in den Kopf schießt – all das hilft uns nicht weiter. Denn zwischen uns und der Ebene befindet sich der Stacheldraht. Zwei Reihen Stacheldraht, über dem rote Lichter glimmen, zum Zeichen, dass der Tod auf uns lauert, auf uns alle, die wir hier gefangen sind, innerhalb dieses Quadrats, umschlossen von zwei Reihen Hochspannungsdraht und einer riesigen weißen Mauer.
Immer derselbe Anblick, immer dasselbe Gefühl. Wir stehen an den Fenstern unserer Blocks und schauen in die lockende Ferne, schwer atmend vor Anspannung und Ohnmacht. Uns beide trennen zehn Meter. Ich lehne mich aus dem Fenster, wenn ich auf die ferne Freiheit hinausschaue. Aber nicht Friedel, sie ist noch gefangener als ich. Ich kann mich im Lager nach wie vor frei bewegen. Friedel ist nicht einmal das vergönnt.
Ich lebe in Block 9, einem typischen Krankenblock. Friedel lebt in Block 10. Dort sind auch Kranke, aber nicht wie in meinem Block. Bei mir liegen Menschen, die durch Grausamkeit, Hunger und zu viel Arbeit krank geworden sind. Das sind noch natürliche Ursachen, die zu natürlichen, diagnostizierbaren Krankheiten führen.
Block 10 ist der Versuchsblock. Dort leben Frauen, geschändet von Sadisten, die sich Professoren nennen, so wie noch nie eine Frau geschändet worden ist, nämlich im Schönsten, was sie hat: in ihrem Frausein, der Möglichkeit, Mutter zu werden.
Das alles wissen wir, wenn wir auf die südpolnische Ebene hinausschauen, am liebsten durch die Wiesen und Sümpfe rennen würden, die uns von den blauen Beskiden am Horizont trennen. Aber wir wissen noch mehr. Wir wissen, dass nur ein Ende für uns vorgesehen ist, nur eine Befreiung aus dieser Stacheldrahthölle möglich ist: der Tod.
Wir wissen, dass der Tod hier in unterschiedlicher Gestalt zu uns kommen kann.
Als aufrechter Kämpfer, dem der Arzt etwas entgegenzusetzen hat. Selbst wenn dieser Tod unrühmliche Verbündete wie Hunger, Kälte und Ungeziefer hat, bleibt es ein natürlicher Tod, der sich als offizielle Todesursache angeben lässt.
Aber zu uns wird er kaum auf diese Weise kommen, sondern so wie zu den Millionen, die uns vorausgegangen sind: schleichend, unsichtbar, ja fast geruchlos.
Wir wissen, dass das bloß die Tarnung ist, durch die der Tod unseren Blicken entzogen wird. Wir wissen, dass dieser Tod uniformiert ist, denn am Gashahn sitzt ein Mann in SS-Uniform.
Deshalb haben wir solche Sehnsucht, wenn wir auf die blau verschwommenen Berge hinausschauen, die nur fünfunddreißig Kilometer weit weg sind, doch für uns ewig unerreichbar bleiben.
Deshalb lehne ich mich so weit aus dem Fenster zu Block 10 hinüber, wo sie steht.
Deshalb greift sie so fest in das Drahtgitter vor dem Fenster.
Deshalb lehnt sie den Kopf an das Holz, weil die Sehnsucht nach mir ungestillt bleibt – so wie unsere Sehnsucht nach diesen hohen, blau verschwommenen Bergen.
Das junge Gras, die braunen, zum Platzen reifen Kastanienknospen und die von Tag zu Tag herrlicher strahlende Frühlingssonne schienen neues Leben zu versprechen. Aber über der Erde lag die Kälte des Todes. Es war der Frühling des Jahres 1943.
Die Deutschen waren weit nach Russland hinein vorgedrungen, und noch hatte sich das Kriegsglück nicht gewendet.
Die Westalliierten hatten noch keinen Fuß aufs Festland gesetzt.
Der Terror, der in ganz Europa wütete, nahm immer heftigere Formen an.
Die Juden waren das Spielzeug der Eroberer. Sie spielten Katz und Maus mit ihnen. Nacht für Nacht knatterten Motorräder durch die Straßen von Amsterdam, Lederstiefel stampften, und geschnauzte Befehle hallten über die einst so friedlichen Grachten.
Im Lager Westerbork wurde die Maus dann oft wieder für kurze Zeit freigelassen. Die Menschen durften sich im Lager frei bewegen, Pakete wurden zugestellt, und Familien blieben intakt. Damit jeder brav seinen „Es-geht-mir-gut-Brief“ nach Amsterdam schickte und sich auch andere widerstandslos der „Grünen Polizei“ ergaben.
In Westerbork machte man den Juden vor, dass vielleicht alles gar nicht so schlimm würde. Dass sie jetzt zwar aus der Gesellschaft ausgeschlossen waren, aber irgendwann einmal aus ihrer Isolation zurückkehren könnten.
„Als de oorlog is gedaan
en we weer naar huis toe gaan …“
(„Ist der Krieg erst einmal aus,
gehen wir alle bald nach Haus …“)
So lautet der Anfang eines damals beliebten Liedes.
Die Juden verkannten nicht nur ihr zukünftiges Los; ja es gab sogar solche, die so mutig – oder so verblendet – waren, hier ein neues Leben zu beginnen, eine neue Familie zu gründen. Tag für Tag kam Dr. Molhuijsen, der Bürgermeister des Dorfes Westerbork, ins Lager, und an einem herrlichen Morgen – an einem der durchschnittlich neun schönen Tage im April – traten Hans und Friedel vor ihn hin.
Zwei Idealisten, er siebenundzwanzig und als einer der Lagerärzte bekannt, sie gerade mal achtzehn. In dem Saal, in dem er das Zepter schwang und sie als Krankenschwester arbeitete, hatten sie sich kennengelernt.
„Denn alleine sind wir nichts,
gemeinsam alles.“
Dies hatte er für sie getextet, und es gab ihre Gefühle genau wieder. Gemeinsam würden sie sich schon durchschlagen. Vielleicht gelang es ihnen ja, bis Kriegsende in Westerbork zu bleiben, ansonsten würden sie gemeinsam in Polen kämpfen. Denn irgendwann musste dieser Krieg doch einmal ein Ende haben. An einen deutschen Sieg glaubte niemand.
Ein halbes Jahr waren sie schon ein Paar. Sie wohnten im „Ärztezimmer“, einem Pappkarton, der von der großen Baracke mit hundertdreißig Frauen abgetrennt war.
Dort wohnten sie nicht allein; es war noch ein Arzt in diesem Raum untergebracht, und später mussten sie ihn sich mit zwei Ehepaaren teilen. Nicht gerade das ideale Umfeld für eine junge Ehe. Aber das alles hätte ihnen nichts ausgemacht, wenn die Transporte nicht gewesen wären: jeden Dienstag tausend Menschen.
Männer und Frauen, Alte und Junge, sogar Babys und Kranke: Nur ganz wenige, bei denen Hans und die anderen Ärzte nachweisen konnten, dass sie zu krank waren, um drei Tage im Zug zu liegen, durften bleiben. Und diejenigen, die Vorrechte genossen: Getaufte, Menschen aus Mischehen, „alte Lagerinsassen“, die schon seit 1938 dort waren, und solche, die zum Stammpersonal gehörten wie Hans und Friedel.
Es gab eine Mitarbeiterliste mit tausend Namen, doch aus den Städten kamen stets Neue, die protegiert werden mussten, manchmal auf Befehl der Deutschen, manchmal weil sie tatsächlich verdienstvolle Bürger waren, aber meist weil es sich um alte Bekannte der Herren vom Judenrat oder um „alte Lagerinsassen“ handelte, die Schlüsselpositionen innehatten. Dann wurde die Liste mit den tausend Namen überarbeitet.
So kam es, dass in der Nacht vom Montag, dem 13. September 1943, ein Angestellter des Judenrats Hans und Friedel mitteilte, sie hätten sich auf den Transport vorzubereiten. Hans zog sich hastig an und klapperte alle Instanzen ab, die in der Nacht vor dem wöchentlichen Transport mit Hochdruck arbeiteten. Dr. Spanier, der Chef des Krankenhauses, war aufrichtig erzürnt. Hans war schon ein Jahr im Lager. Er hatte hart gearbeitet, und es gab viele, die nach ihm gekommen waren und nie einen Finger gerührt hatten. Aber Hans stand nun mal auf der Mitarbeiterliste des Judenrats, und wenn der nichts ausrichten konnte, konnte der Gesundheitsdienst auch nichts daran ändern.
Um acht standen sie mit all ihren Habseligkeiten am Zug, der mitten durchs Lager fuhr. Es herrschte großes Gedränge. Die Männer des Ordnungsdiensts und der „Fliegenden Kolonne“ trugen das Gepäck zum Zug, und zwei Waggons wurden mit Proviant beladen. Die Pfleger vom Krankenhaus kamen mit Patienten an, meist alte Menschen, die nicht mehr laufen konnten. Bleiben durften sie trotzdem nicht, denn in einer Woche würden sie sich genauso wenig fortbewegen können wie jetzt. Dann waren da noch die, die zurückblieben. Sie standen hinter dem Kordon, ein paar Dutzend Meter vom Zug entfernt, und oft weinten sie mehr als diejenigen, die gingen. Vor und hinter dem Zug ein Wagen mit SS-Leuten zur Bewachung, die aber sehr freundlich waren, ja den Leuten sogar noch Mut machten, denn die Holländer sollten schließlich nicht mitbekommen, wie „ihre“ Juden in Wahrheit behandelt wurden.
Dann, um halb elf, die Abfahrt. Die Türen der Güterwaggons waren von außen verriegelt. Ein letzter Abschiedsgruß, ein letztes Winken durch die oben in die Waggons eingelassenen Luken, und schon waren sie unterwegs nach Polen, das genaue Ziel war unbekannt.
Hans und Friedel hatten Glück. Sie saßen in einem Waggon mit lauter jungen Leuten, frühere Freunde von Friedel aus der Zionistengruppe, der sie angehört hatte. Sie waren kameradschaftlich und kompromissbereit. Zu achtunddreißig befanden sie sich in einem Waggon. Das war noch wenig, und wenn sie sich ein bisschen klein machten, das Gepäck an der Decke aufhängten, bekamen sie alle einen Sitzplatz auf dem Boden.
Unterwegs ging es los. An der ersten Haltestelle kamen SS-Leute in die Waggons. Sie forderten Zigaretten, später auch Armbanduhren. Danach kamen Füller und Schmuck an die Reihe. Die jungen Männer lachten darüber, gaben ihnen ein paar einzelne Zigaretten und behaupteten, sie hätten keine mehr. Viele von ihnen waren deutscher Herkunft und hatten schon öfter mit der SS zu tun gehabt. Sie waren schon einmal lebend aus der Situation herausgekommen und würden sich auch jetzt nicht unterkriegen lassen.
Zu essen gab es nichts an diesen drei Tagen, die Vorräte im Zug sollten sie nie mehr zu Gesicht bekommen. Aber das machte nichts. Sie hatten noch genug aus Westerbork dabei. Ab und zu durften einige den Waggon verlassen, um den übervollen Fäkalienkübel zu benutzen. Sie freuten sich, wenn sie Spuren von Bombardements in den Städten sahen, ansonsten verlief der Transport ohne besondere Vorkommnisse. Am dritten Tag erfuhren sie das Ziel: Auschwitz. Es war nur ein Wort ohne jede Bedeutung – weder gut noch schlecht.
Nachts erreichten sie den Güterbahnhof von Auschwitz.
Der Zug hielt lange, so lange, dass sie ungeduldig wurden und sich endlich Klarheit wünschten, sich wünschten, endlich sehen zu können, was Auschwitz bedeutete. Die Klarheit sollte schnell kommen.
Bei Tagesanbruch setzt sich der Zug ein letztes Mal in Bewegung, um nach ein paar Minuten erneut auf einem von Flachland umgebenen Bahndamm zu halten. Dort standen Gruppen von zehn bis zwölf Männern. Sie trugen blau-weiß gestreifte Anzüge und ebensolche Mützen. Unzählige SS-Leute liefen seltsam geschäftig auf und ab.
Kaum war der Zug zum Stehen gekommen, stürmten die Männer in den Sträflingsanzügen zu den Waggons und rissen die Türen auf. „Das Gepäck rauswerfen, alles vor den Waggon.“ Sie erschraken sehr, denn sie begriffen, dass ihnen jetzt alles genommen würde. Hektisch wühlten sie noch kurz zwischen den Kleidern, um das Wichtigste zu retten. Aber die Männer waren bereits in die Waggons gesprungen und begannen, Gepäck und Menschen hinauszuwerfen. Nach kurzem Zögern standen sie draußen. Doch schon bald strömten SS-Leute von überallher auf sie zu und trieben sie zu einer Straße, die parallel zum Zug verlief. Wer nicht schnell genug war, den traten sie oder verprügelten ihn mit ihren Stöcken, sodass jeder zusah, sich so schnell wie möglich in die Schlangen einzureihen, die sich gerade bildeten.
Erst da begriff Hans: Sie wurden auseinandergerissen. Männer und Frauen wurden voneinander getrennt. Hastig küsste er Friedel. „Auf Wiedersehen“, und schon war es vorbei. Vor den langen Reihen stand ein Offizier mit einem Stock, und langsam marschierten alle auf. Der Offizier warf einen flüchtigen Blick auf jeden Einzelnen und zeigte mit seinem Stock nach links oder nach rechts. Nach links gingen alle alten Männer, Invaliden und Jungen, die aussahen, als wären sie unter achtzehn. Nach rechts die jungen und kräftigen Männer.
Hans erreichte den Offizier, beachtete ihn aber nicht weiter. Er hatte nur Augen für Friedel, die in wenigen Metern Entfernung in ihrer Reihe stand und darauf wartete, dass die Frauen drankamen. Sie lächelte ihm zu, als wollte sie sagen: „Keine Sorge, alles wird gut.“
Daher hörte er nicht, dass ihn der Offizier – ein Arzt – fragte, wie alt er sei. Der Arzt ärgerte sich, dass er keine Antwort bekam, und versetzte Hans einen derartigen Schlag mit dem Stock, dass er gleich nach links taumelte.
Da stand er zwischen den Unglücklichen, den alten Männern. Neben ihm ein Blinder und auf der anderen Seite ein debil wirkender Junge. Hans biss sich auf die Unterlippe vor Angst. Er wollte das Schicksal der Kinder und Alten nicht teilen, begriff, dass nur die Starken eine Überlebenschance hatten. Aber es war nicht möglich, zur anderen Reihe hinüberzulaufen, denn überall hielten SS-Leute Wache, das Gewehr im Anschlag.
Friedel kam zu den jungen Frauen. Ältere Frauen und sämtliche Frauen mit Kindern bildeten eine weitere Reihe. Auf diese Weise entstanden vier Reihen, ungefähr hundertfünfzig Frauen und ebenso viele Männer. Die anderen siebenhundert warteten in ihren eigenen Reihen am Straßenrand.
Dann kam der Stabsarzt zurück, schnauzte die Älteren an und fragte sie, ob Ärzte unter ihnen seien. Vier Männer sprangen nach vorn. Der Arzt wandte sich an Van der Kous, einen alten Amsterdamer Hausarzt: „Welche Krankheiten gab es in Holland im Lager?“
Van der Kous zögerte und erzählte etwas von Augenerkrankungen. Verärgert wandte sich der Arzt von ihm ab.
Da witterte Hans seine Chance
„Sie meinen vermutlich ansteckende Krankheiten. Es gab ein paar harmlose Fälle von Scharlach.“
„Flecktyphus?“
„Nein, keinen einzigen Fall.“
„Gut, dann alle zurück in die Reihe!“ Anschließend, an seinen Adjutanten gewandt: „Den nehmen wir mit.“
Der Adjutant winkte Hans zu sich und führte ihn ans Ende der Reihe mit jüngeren Menschen. Hans spürte, dass er einer großen Gefahr entronnen war. Und tatsächlich: Inzwischen waren Lastwagen gekommen, auf die die alten Männer und Frauen verladen wurden.
Da sah er zum ersten Mal, wie es bei der SS wirklich zuging. Die Menschen wurden gestoßen, getreten und geschlagen. Vielen fiel es schwer, auf die hohen Lastwagen zu klettern. Aber die Stöcke der Sturmmänner sorgten schon dafür, dass alle ihr Bestes gaben.
Eine alte Frau bekam einen Schlag auf den Kopf und blutete stark. Einige blieben zurück, sie schafften es einfach nicht auf die Wagen. Und wer herbeieilte, um ihnen zu helfen, wurde mit einem Tritt oder durch Anschnauzen verscheucht.
Dann fuhr der letzte Wagen vor. Zwei SS-Leute packten einen behinderten alten Mann an Armen und Beinen und warfen ihn auf die Ladefläche. Daraufhin setzte sich auch die Reihe der Frauen in Bewegung. Friedel konnte er nicht mehr sehen, wusste aber, dass sie in dieser Reihe mitlief. Nachdem sich die Frauen ein paar Hundert Meter entfernt hatten, gingen auch die Männer los.
Die Reihen wurden schwer bewacht. Auf beiden Seiten gingen Wachposten mit, das Gewehr im Anschlag. Auf etwa zehn Gefangene kam ein Posten. Hans lief ziemlich weit hinten. Er sah, wie sich die Posten links und rechts von ihm ein Zeichen gaben. Sie schauten sich kurz um, dann kam der von links auf Hans zu und verlangte dessen Armbanduhr. Es war ein schöner Chronograf. Er hatte ihn von seiner Mutter zum Staatsexamen bekommen.
„Die brauche ich beruflich, ich bin Arzt.“
Der Wachposten grinste kurz. „Scheiße, Arzt – ein Hund bist du! Her mit der Uhr!“ Der Mann packte ihn am Arm, um ihm die Uhr zu entreißen. Kurz wollte sich Hans wehren. „Aha, ein Fluchtversuch“, sagte der Mann und legte das Gewehr an.
Hans begriff, wie ohnmächtig er war. Er wollte nicht schon an seinem ersten Tag in Auschwitz „auf der Flucht erschossen“ werden. Deshalb gab er seine Uhr her.
Als sie die Gleise überquerten, sah er Friedel in der Kurve. Sie winkte, und er atmete erleichtert auf. Nach den Gleisen kamen sie an einem Schlagbaum vorbei, daneben Wachposten. Jetzt schienen sie das eigentliche Lagergelände erreicht zu haben. Es handelte sich um Lagerflächen für Baumaterial. Darauf standen Schuppen und riesige Holz- und Ziegelsteinhaufen. Kleine Transportwagen fuhren vorbei, handbetrieben. Wagen, die von Männern gezogen wurden. Manchmal säumten größere Gebäude die Straßen, Fabriken, darin war Motorenlärm zu hören. Dann kamen wieder Holz, Ziegel und Schuppen. Ein Kran, der Zementwannen hochhob. Überall war etwas los, überall wurde gebaut. Aber neben den Kränen und Transportwagen fielen vor allem die Männer in Sträflingskleidung auf. Hier war nichts motorisiert, hier wurde die Arbeit von Tausenden, Zehntausenden Händen verrichtet.
Strom ist praktisch, Elektrizität ist effizient, sie lässt sich über Hunderte von Kilometern hinweg anwenden; Benzin ist schnell und wirkungsvoll. Aber Menschen sind billig. Das sah man an den hungrigen Blicken, den nackten Oberkörpern; wie Taue standen die Rippen hervor, die den Rumpf gerade noch so zusammenhielten. Das sah man an den langen Reihen von Menschen, die Steine schleppten und in Holzschuhen oder oft barfuß vorwärtshumpelten. Sie trotteten geradeaus, ohne auf- oder sich umzuschauen, die Gesichter völlig ausdruckslos. Keinerlei Reaktion auf die Neuankömmlinge. Ab und zu folgte ihnen ein Traktor mit Anhängern voller Steine. Der Motor stampfte langsam: ein Dieselmotor. Hans musste an die Abende auf dem Wasser zurückdenken, wenn er in seinem Boot lag und die Frachter vorbeituckerten.
Was war das damals für ein Leben gewesen, was hatte es nicht alles in Aussicht gestellt! Er riss sich zusammen, spürte, dass er jetzt nicht grübeln durfte, sondern kämpfen musste. Vielleicht würde es dann eines Tages wieder so werden wie früher.
Dann standen sie vor dem Tor und sahen zum ersten Mal das Lager.
Es bestand aus großen Steingebäuden, die an Kasernen erinnerten, fünfundzwanzig ungefähr. Sie hatten zwei Stockwerke und ein Dach mit kleinen Speicherfenstern. Die Straßen zwischen den Gebäuden waren gut in Schuss. Es gab Trottoirs mit sauberen Steinplatten und kleine Rasenflächen. Alles war gepflegt, ordentlich gestrichen und glänzte in der strahlenden Herbstsonne.
Es hätte eine Mustersiedlung sein können, ein Lager mit Tausenden von Arbeitern, die ein großes, nützliches Werk verrichten. Über dem Tor, in schmiedeeisernen Buchstaben, das Motto des Konzentrationslagers. Eindrücklich, aber gefährlich: „ARBEIT MACHT FREI“ – eine Suggestion, die beruhigend auf die unendlich vielen Menschen einwirken sollte, die hier hereingekommen waren. Hier und durch viele ähnliche Tore anderswo in Deutschland.
Aber das war nur eine Illusion, denn dieses Tor war nichts anderes als das Höllentor, und statt „Arbeit macht frei“ hätte dort stehen müssen: „Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren.“
Denn das Lager war mit Hochspannungsdraht eingezäunt. Zwei Reihen Betonmasten, fein säuberlich geweißt, drei Meter hoch. Die Isolatoren hielten Draht: Stacheldraht. Der Draht wirkte unverwüstlich, schwer zu überwinden. Aber das, was man nicht sah, war noch viel schlimmer: 3000 Volt Hochspannung. Vereinzelt glomm ein kleines rotes Licht, um anzuzeigen, dass Strom hindurchfloss. Und alle zehn Meter warnte ein Schild mit einem Totenkopf und der Aufschrift in Deutsch und Polnisch: „Halt! Stoj!“ Im Abstand von hundert Metern hatte man kleine Wachtürme errichtet, auf denen sich jeweils ein SS-Mann mit einem Maschinengewehr befand.
Nein, von hier gab es kein Entkommen, außer es geschah ein Wunder. Das erzählten auch diejenigen, denen sie im Lager begegneten, denn innerhalb der Umzäunung war die Bewachung längst nicht mehr so streng; die SS-Leute hatten ihre Aufgabe überwiegend den Gefangenen übertragen. Gefangenen, die allerdings ganz anders aussahen als die Tausende da draußen bei der Arbeit. Sie trugen saubere gestreifte Anzüge aus grobem Leinen, die ihnen gut passten. Oft wirkten sie fast schon elegant mit ihren schwarzen Mützen und hohen Stiefeln. Um den linken Oberarm trugen sie eine rote Binde mit einer Nummer.
Das waren die Blockältesten: die Chefs der verschiedenen Häuser, die alles in ihren Blocks regelten, die Menschen mithilfe eines Schreibers verwalteten und das Essen ausgaben. Sie selbst aßen nicht gerade wenig, das sah man ihren Vollmondgesichtern an. Es waren ausnahmslos Polen und Reichsdeutsche.
Aber es waren auch ein paar Holländer darunter. Die wurden von den Blockältesten und SS-Leuten auf Abstand gehalten, denn die Neuankömmlinge hatten noch einige Kostbarkeiten dabei. Dennoch schafften es manche bis ganz nach vorn. Sie verlangten Uhren und Zigaretten, man werde ohnehin gleich alles verlieren. Aber die meisten glaubten das immer noch nicht und behielten alles in den Taschen. Hans gab einem Holländer eine Schachtel Zigaretten, was einem SS-Mann nicht entging. Er wurde geschlagen. Im Nu war der Holländer weggerannt, der hatte das rechtzeitig kommen sehen. Ein Mann stand da, klein, aber wie ein Herkules. Man hatte offensichtlich Respekt vor ihm.
„Also, Jungs, wann seid ihr aus Westerbork losgefahren?“
„Vor drei Tagen.“
„Was gibt es für Neuigkeiten?“
„Wisst ihr schon von der Landung in Italien?“
„Natürlich, wir lesen Zeitung. Wie läuft es in Holland?“
Was sollten sie jetzt darauf antworten? Sie wollten lieber wissen, wie es in Auschwitz lief, welche Zukunft sie dort erwartete. „Wer sind Sie?“, fragte einer der Neuankömmlinge.
„Leen Sanders, der Boxer. Ich bin schon seit einem Jahr hier.“
Die Neuankömmlinge waren zunächst einmal beruhigt. Man konnte hier also leben. „Sind noch viele von Ihrem Transport hier?“, fragte Hans, der bereits skeptisch wurde.
„Man darf hier nicht zu viele Fragen stellen, ihr werdet schon sehen“, erwiderte der Boxer. „Hören, sehen und schweigen.“
„Aber Sie machen doch einen sehr guten Eindruck.“
Leen lächelte wissend: „Ich bin nicht umsonst Boxer.“
„Was müssen wir hier tun?“
„Ihr werdet für Kommandos eingeteilt, die außerhalb arbeiten.“
Wieder sah Hans die Menschen vor sich, die Arbeitsmaschinen, die draußen reihenweise mit Steinen und Zement herumliefen, die ausdruckslosen Gesichter, toten Augen und ausgezehrten Körper.
„Was passiert mit den alten Menschen, die auf die Lastwagen gekommen sind?“
„Hast du nie englisches Radio gehört?“, fragte Leen.
„Doch.“
„Nun, dann dürftest du Bescheid wissen.“
Da wusste Hans Bescheid. Er dachte an Friedel, er hatte ihre Reihe aus den Augen verloren. Er dachte an seine Mutter, seinen Bruder, an alle, die er nach Auschwitz hatte fahren sehen. Er dachte an sein Studium, seine Arztpraxis, seine Ideale. Er dachte erneut an Friedel und ihre gemeinsamen Zukunftspläne – so wie jemand, der glaubt, bald sterben zu müssen.
Und trotzdem zweifelte er. Vielleicht hatte er ja Glück, vielleicht … Er war Arzt – ach nein, er versagte es sich, Hoffnung zu schöpfen, konnte aber nicht anders. Es war unfassbar, dass er hier sterben sollte, aber er schaffte es auch nicht mehr, an das Leben zu glauben.
Ein gebrüllter Befehl holte ihn ins Hier und Jetzt zurück. „Los, Marsch!“
Sie liefen über die Lagerstraße, zwischen den großen Blocks hindurch. Hier waren viele Menschen unterwegs. Bei einigen Blocks war über der Tür eine Glasplatte angebracht:
„Häftlingskrankenbau“
„Interne Abteilung“
„Eintritt verboten“
Dort saßen Männer in weißer Montur vor der Tür. Sie sahen gut aus. Auf dem Rücken des Kittels befand sich ein roter Streifen, auch an den Hosennähten. Das mussten die Ärzte sein. Sie würdigten die Neuankömmlinge so gut wie keines Blickes, aber Hans bemerkte, dass ihr nicht vorhandenes Interesse einen anderen Grund hatte als bei den Tausenden da draußen: Bei den Arbeitssklaven war es die Müdigkeit, die tiefe Erschöpfung, die jede geistige Anstrengung unmöglich machte. Bei diesen gut aussehenden Menschen war es so etwas wie Arroganz. Sie waren schließlich die Lagerprominenz. Und sie, die Neuankömmlinge, was hatten sie schon zu melden? Jeder durfte sie beschimpfen und auslachen.
Inzwischen hatten sie Block 26 erreicht. Er trug die Aufschrift: „Effektenkammer“. Leen erklärte, was das bedeutete: Hier würden alle „Effekten“, die Kleidung und andere Wertsachen eines jeden Häftlings, aufbewahrt. Oben vor den Fenstern könne man unzählige aneinandergereihte Papiersäcke sehen. In jedem Sack befinde sich das Eigentum einer Person. Bei der Entlassung aus dem Lager bekomme man alles zurück.
Ihre Kleidung sollte nicht aufbewahrt werden. Juden wurden nie entlassen, gegen sie lief kein Prozess. Sie hatten keine Strafe erhalten und konnten daher auch nicht freigelassen werden.
Und tatsächlich, zwischen Block 26 und 27 mussten sie sich ausziehen. Sämtliche Kleidung und alles, was sich darin befand, wurde auf einen Wagen verladen. Nur ihren Ledergürtel und ein Taschentuch durften sie behalten. Hans versuchte, ein paar seiner besten Instrumente zu unterschlagen, aber das wurde rasch bemerkt. Ein magerer Mann mit einer Binde um den linken Arm – „Lagerfriseur“ – kontrollierte jeden Einzelnen. Wer etwas zurückbehalten hatte, musste es nachträglich abgeben und wurde außerdem geschlagen. Hans fragte, ob er die Instrumente behalten dürfe. Der Mann grinste und steckte sich alles in die Tasche.
Hier standen sie nun und hatten alles verloren. Ein schleichender Prozess, doch jetzt war es so weit. Hier wurde umgesetzt, was Fritz Schmidt, Repräsentant des Generalkommissars für das Sicherheitswesen in der Zentralstelle für „jüdische Angelegenheiten“ Hanns Albin Rauter, einmal gesagt hatte: „Nackt sind die Juden aus Polen gekommen, nackt werden sie dorthin zurückkehren.“
Was Schmidt nicht dazugesagt hatte, war, wann die Juden gekommen waren – im 16. und 17. Jahrhundert – und dass sie nicht nackt gekommen waren, sondern oft große Schätze aus den Ländern, aus denen sie vertrieben worden waren, mitgebracht hatten. Auch über die historisch verbrieften Rechte niederländischer Juden, die ihnen Wilhelm von Oranien damals per Dekret zuerkannt hatte, hatte er kein Wort verloren.
Aber wieso hätte er auch über das Vermächtnis eines niederländischen Freiheitshelden sprechen sollen! Das konnte man von diesen Helden der Unterdrückung nicht erwarten, die nicht mit einem Gebet fürs Vaterland auf den Lippen sterben, sondern versuchen würden, ihr Leben durch feige Flucht zu retten.
Mit diesem Gedanken tröstete sich Hans. Ja, es sah nicht gut für ihn aus, trotzdem: Sein Los war zwar traurig, aber ihr Los stand fest. Sie würden auf jeden Fall zugrunde gehen, und dann würde von all ihren Siegen nur einer bleiben: der Sieg über die Juden. Langsam, aber sicher waren die niederländischen Juden in ihr Verderben gegangen.
1940: Die Juden werden aus allen öffentlichen Ämtern entlassen.
1941: Die Ausübung freier Berufe, die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, das Betreiben eines Gewerbes, der Besuch von Theater und Parks, sportliche Ertüchtigung, überhaupt alles, was das Leben schön macht, Vermögen, das 10 000 Gulden – später 250 Gulden – übersteigt, wird verboten.
1942: Beginn der Deportation, sogar das Leben an sich wird verboten.
Langsam, weil es die Niederländer nicht geduldet hätten, dass man „ihre“ Juden vernichtet – in einer Zeit, in der der Naziterror in Holland seinen Höhepunkt längst noch nicht erreicht haben sollte.
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