

(K)eine von euch - eBook-Ausgabe (K)eine von euch
Mein Leben als Rebellin in der orthodoxen Welt
— Inspirierende Biografie einer jüdischen Frau zwischen Glaube und Emanzipation(K)eine von euch — Inhalt
This is not an exit story!
Schon als Kind bekommt Yehudis Fletcher stets den gleichen Satz zu hören: „Yehudis, was hast du wieder angestellt?“ . In ihrer streng orthodoxen jüdischen Gemeinde fühlt sie sich oft als Außenseiterin: Sie stellt mehr Fragen, sie widersetzt sich öfter und sie wird häufiger getadelt. Als sie sexuelle Gewalt durch einen Rabbi erfährt, wird der Täter gedeckt – und sie kritisch beäugt.
Doch Yehudis verfolgt selbstbestimmt ihren eigenen Weg. Sie wird zur lauten Stimme gegen Missstände und Missbrauch in der jüdisch-orthodoxen Welt und unterstützt andere in schwierigen Situationen. Über zwei Zwangsehen mit Männern hinweg erkennt sie, dass sie Frauen liebt, und steht offen zu ihrer Beziehung.
Obwohl ihre Familie sich von ihr abwendet, ist sie nicht bereit, sich zu verleugnen – weder ihre Liebe noch ihre jüdische Heimat. Sie könnte gehen, aber sie bleibt. Mitreißend erzählt Yehudis Fletcher in ihrem Memoir von ihrem Kampf um Liebe, Selbstbestimmung und den Platz, der ihr zusteht.
Leseprobe zu „(K)eine von euch“
Prolog: Hände waschen
הַֽ֭אֱנוֹשׁ מֵאֱל֣וֹהַ יִצְדָּ֑ק אִ֥ם מֵ֝עֹשֵׂ֗הוּ יִטְהַר־גָּֽבֶר׃
Ist wohl ein Mensch vor G’tt gerecht,
ein Mann vor seinem Schöpfer rein?
Hiob 4,17
Ich war sechs Jahre alt und entschlossen, herauszufinden, ob es G’tt tatsächlich gibt.
Es war Freitagabend, das Ende der Woche und der Beginn unserer wöchentlichen Sabbatfeierlichkeiten, und ich stand frontal der Möglichkeit gegenüber, dass Er mich totschlagen würde.
Im Heiligtum im Zentrum der von meinem Vater, dem Rabbiner, geleiteten Synagoge – oder Schul, wie wir sie normalerweise [...]
Prolog: Hände waschen
הַֽ֭אֱנוֹשׁ מֵאֱל֣וֹהַ יִצְדָּ֑ק אִ֥ם מֵ֝עֹשֵׂ֗הוּ יִטְהַר־גָּֽבֶר׃
Ist wohl ein Mensch vor G’tt gerecht,
ein Mann vor seinem Schöpfer rein?
Hiob 4,17
Ich war sechs Jahre alt und entschlossen, herauszufinden, ob es G’tt tatsächlich gibt.
Es war Freitagabend, das Ende der Woche und der Beginn unserer wöchentlichen Sabbatfeierlichkeiten, und ich stand frontal der Möglichkeit gegenüber, dass Er mich totschlagen würde.
Im Heiligtum im Zentrum der von meinem Vater, dem Rabbiner, geleiteten Synagoge – oder Schul, wie wir sie normalerweise nannten – befanden sich keine Gemeindemitglieder mehr, denn sie hatten ihre Abendgebete beendet und waren bereit für das Essen.
Wie jeden Freitag war nebenan, im Saal der Schul, der Tisch für das Abendessen gedeckt. Das hässliche Gebäude mit Flachdach aus den 1960er-Jahren stand im krassen Gegensatz zu den hohen Buntglasfenstern und imposanten Säulen und Bögen der eigentlichen Synagoge. Woche für Woche saßen meine Eltern an der Stirnseite der beiden hölzernen Klapptische, die zu einem breiten Rechteck zusammengeschoben worden waren, und von mir und meinen sechs Geschwistern wurde erwartet, Platz zu nehmen neben einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Gläubigen, die nach dem G’ttesdienst zum Essen blieben. Einige waren Stammgäste, die immer wieder kamen. Andere waren hungrige Fremde aus anderen jüdischen Gemeinden, die sich eine warme Mahlzeit wünschten.
Der Zeitpunkt des Sabbats – Schabbes für uns – wird durch den Mond bestimmt, was bedeutet, dass sich das genaue Datum seines Beginns im Laufe des Jahres verändert. Immer jedoch beginnt er an einem Freitagabend zwanzig Minuten vor Sonnenuntergang und endet eine Stunde nach Sonnenuntergang am Samstag.
Es fühlte sich immer so an, als würde sich zu Beginn des Schabbes eine Decke des Friedens über uns breiten. Für die nächsten fünfundzwanzig Stunden spielte die Welt draußen keine Rolle mehr.
Wir durften nicht Auto fahren, keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, weder schreiben noch Radio hören, nicht den Lichtschalter betätigen oder telefonieren und auch nicht die Heizung oder irgendeine andere Art von elektrischem Gerät einschalten.
Stattdessen beschäftigten wir uns mit der Familie, mit Freunden, Spiritualität und Gebet. Die Entschleunigung durchdrang alles, und auch wenn andere es für eine Einschränkung halten mochten, mir gefiel es sehr.
Was mir nicht gefiel, war der bitterkalte Synagogenraum, in den wir uns für die Dauer des Schabbes zurückzogen. Meine Mutter löste das Problem, indem sie jede Woche Schlafsäcke auf Feldbetten und dünne orange-braune Matratzen für alle neun Familienmitglieder herrichtete, weil meine kleine Schwester und ich nicht alt genug waren, um jeden Freitagabend, Samstagmorgen und Samstagabend die drei Meilen von zu Hause zur Schul hin und her zu laufen, um an den drei G’ttesdiensten teilzunehmen, die die Anwesenheit meines Vaters und unserer Familie erforderten.
Der Saal hatte kalte, polierte Holzböden, über die wir uns gegenseitig schleiften, jeweils einer von uns in einen Schlafsack gewickelt, während ein oder zwei andere am Ende zogen und drehten und dann losließen, sodass wir durch die Luft geschleudert wurden. Zum Spielen war es ein großartiger Ort, zum Schlafen aber schrecklich, und mit der Zeit wurde es mir immer lästiger, so viel Zeit dort zu verbringen. Ich hasste die Kälte. Ich hasste es, wie verdammt eiskalt das Wasser war, das in den Damentoiletten aus den Wasserhähnen kam, und ich hasste es, meine Hände an den rauen, grünen Papierhandtüchern abzutrocknen, die zwischen den Fingern zu Schlamm wurden.
Das Freitagabendessen begann mit einem Segen über dem Wein, darauf folgte ein weiterer Segen über die zwei goldenen, geflochtenen Challa-Brote, die meine Mutter jede Woche backte und die mein Vater in Scheiben schnitt und an seine Gäste am Tisch verteilte. Doch bevor man Brot aß, musste man sich die Hände waschen. Nicht mit Seife und nicht, um Sauberkeit zu gewährleisten, sondern um die rituelle Reinheit zu gewährleisten. Die Handreinigung erfolgte je nach Anlass in einem speziellen Rhythmus, der jeweils durch religiöse Gesetze vorgegeben war. Es gab viele Gründe für das Waschen in unserem religiösen Leben, aber beim Brotbrechen wurde zweimal kaltes Wasser über die rechte und zweimal über die linke Hand gegossen. Dieses Wasser durfte nicht direkt aus einem Wasserhahn kommen; wir mussten es aus einem Becher gießen, der einen glatten Rand haben und ohne Ausgussschnabel sein musste.
Was geschehen würde, wenn man das Brot mit unreinen Händen aß, wurde mir nie im Detail erklärt. Es war nur eine von unzähligen Praktiken, von denen ich wusste, wann und wie sie auszuführen waren, eine von Tausenden Regeln, die ich auswendig aufsagen konnte. Diese Regeln infrage zu stellen, kam einem Sakrileg gleich. Aber ich habe sie infrage gestellt. Ich stellte sie die ganze Zeit in meinem Kopf infrage, schon als kleines Kind, und fühlte mich dabei wie eine Sünderin. Es war ein Gefühl, mit dem ich jeden Tag kämpfte, und genau dieses Gefühl der Unwürdigkeit trieb mich dazu, meinen Plan in die Tat umzusetzen. Wenn nichts passierte, wenn der Blitz nicht einschlug, war ich vielleicht doch kein so schlimmes kleines Mädchen. Und wenn doch? Nun, ich war der Meinung, dass es sich lohnte, dieses Risiko einzugehen.
Ich beschloss, zu testen, inwieweit G’tt sich für die kleinen Handlungen interessierte, die ich ausführte, für die kleinen Anforderungen, denen ich nachkam. An diesem Abend würde ich meine Hände nicht waschen. Ich würde das Brot unrein essen.
Ich hatte jedoch ein Problem. Ich konnte nicht lügen. Selbst wenn alles mit G’tt glattginge und er mich nicht totschlüge, würde meine Mutter es vielleicht tun, denn so gewiss, wie das Wasser, das aus diesen Toilettenhähnen kam, unter vier Grad Celsius haben würde, so sicher würde meine Mutter jeden von uns bei jeder Mahlzeit fragen: „Hände gewaschen?“
G’tt herauszufordern schien mir nichts auszumachen, aber meine Mutter anzulügen, widersprach meinem moralischen Kompass. Ich konnte sie einfach nicht anlügen. Also beschloss ich, mir die Hände zu waschen. Ich würde es aber in einer Fisher-Price-Spielzeugküche tun, deren schmutziges weißes Plastikspülbecken, abblätternde Fensterrahmen und Telefonhalterung ohne Spielzeugtelefon mir als List dienen würden. Ich würde mich unter dem vermeintlichen Wasserhahn „waschen“: für mich als Kind real und gerade ausreichend ritualisiert, um meiner Mutter zuzunicken: „Ja, ich habe mir die Hände gewaschen.“
Ich war zuversichtlich, dass mein Plan klappen würde, da man zwischen dem Händewaschen und dem Verzehren der Challa nicht sprechen durfte – ein Zeichen von Respekt gegenüber dem Brot und damit auch G’ttes Versorgung mit Nahrung. Jede durch Sprechen verursachte Verzögerung würde das Händewaschen ungültig machen. Ich musste mir also keine Sorgen machen, dass ich stottern oder rot werden könnte, wenn ich meine Halbwahrheit von mir gab.
Ich ging in meinem Kopf die Logistik durch. Die Spielzeugküche befand sich eine Etage über dem Hauptsaal, im Kinderzimmer, das unter der Woche mein Klassenzimmer war, am Ende des langen Korridors, der vom oberen Treppenende ausging. Ich stand da und schaute zu meiner Mutter auf, die sich in ihrem Stuhl ausruhte und diesen friedlichen Moment genoss, ehe die Gemeinde vom Gebet zurückkehrte. Das war meine Chance.
Ich musste nur noch herausfinden, ob meine Mutter mich liebte, und mir klarmachen, was ich verlieren würde, ehe ich etwas tat, was sie niederschmetternd finden würde.
„Mama“, sagte ich und schlich mich heran, wobei meine Schuhe auf dem polierten Boden quietschten.
Mama war still, ihr Gebetbuch lag offen in ihren Händen, ihre Augen waren fast geschlossen. Sie sah wunderschön aus.
„Mama“, wiederholte ich, fast wie eine Frage.
Diesmal öffnete sie die Augen. Zornige Augen. Bedauern stieg in meiner Kehle auf. Sie schrie nicht, es war eher ein Stöhnen, ein Ächzen zu dem G’tt, der ihre Gebete erhört hatte, als sie um Kinder bat, sie aber auch immer wieder daran erinnerte, wie dankbar sie für sie sein sollte.
Meine Mutter hatte ihren eigenen Ablauf der Dinge. Die Pause, bevor sie der Familie, den Gemeindemitgliedern und den Fremden das Essen reichte, was sie immer mit erstaunlicher Leichtigkeit tat, war ein Augenblick der Gemütsruhe. Woche für Woche zog sie in dieser Zeit die schwarzen Pantoletten aus, die sie und jede andere religiöse jüdische Frau ihres Alters trug – mit einem so kleinen Keilabsatz, dass er überhaupt keinen Sinn ergab –, und setzte sich auf den einzigen Sessel, den mein Vater für sie bereitgestellt hatte. Sie hielt ihr kleines Gebetbuch in der Hand, aus dem sie manchmal betete, und wärmte ihre bestrumpften Füße an einem der vielen Gasheizkörper, die den Raum nicht vor der beißenden Kälte schützen konnten. In diesen Augenblicken sah ich meine Mutter als Königin, gelassen und eingehüllt in eine Wolke aus Wärme und Gebet. Ich wünschte mir dieses Maß an Wissen und Gewissheit, die sie in ihrem Glauben hatte. Ich musste sie auch haben.
„Kannst du mich nicht fünf Minuten in Ruhe lassen?“, kam ihre müde, enttäuschende, wenn auch nicht ganz überraschende Antwort. Ich ließ sie in Ruhe und machte weiter.
Jeden Augenblick würde mein Vater mit seinen Gläubigen aus der Schul zurückkommen, und meine Gelegenheit würde sich bald einstellen. Noch einmal schaute ich auf meine strahlende Mutter, die immer noch an derselben Stelle saß, und folgte dem Flur im Erdgeschoss, vorbei an den kalten Damentoiletten, lief die Treppe hinauf, an der Hochzeitssuite oben vorbei und den Korridor hinunter ganz bis zum Ende. Ich erreichte die hölzerne Klassenzimmertür mit den Fenstern aus kreuz und quer verlaufendem bruchfestem Glas, durch das ich, weil zu klein, nicht richtig hindurchsehen konnte. Ich drückte die Klinke hinunter und öffnete die Tür zum Zimmer, einem schwarzen Abgrund voller Spielzeug, der mir zwar vertraut war, aber in der Dunkelheit unheimlich wirkte. Nur ein Nachtlicht im Flur warf einen schwachen Lichtstrahl durch die trübe Glasscheibe. Ich stolperte über die Gummikante der Matte, auf der ich im Unterricht mit meinen Klassenkameradinnen im Kreis saß, und fing mich wieder, wobei ich meinen Schatten an der Wand bemerkte. Dadurch fühlte ich mich weniger allein. Ich war mir der Uhr an der Wand sehr bewusst, die schneller und lauter tickte, als ich sie je zuvor gehört hatte.
Unten konnte ich die Gruppe hören, die vom Gebet zurückkehrte, und stellte mir vor, wie die Ruhe meiner Mutter ein Ende fand. Ich wusste, dass mein Vater uns alle bald zum Kiddusch rufen würde, dem Gebet, das über dem Wein gesprochen wird. Ich musste bis dahin unten auf meinem Platz sein, was bedeutete, dass ich vielleicht zwei Minuten Zeit hatte, um meine Aufgabe zu erfüllen. Nach dem Wein, wenn alle anderen ihre Hände waschen gingen, würde ich herumschlendern, als würde ich es ihnen gleichtun, und dann wie sie zu meinem Platz zurückkehren.
Im Klassenzimmer tastete ich mich durch die Dunkelheit voran, wieder quietschten meine Schuhe, als ich sie über die Fliesen schob, um nicht zu stolpern. Mein Kopf schmerzte. Ich bewegte meine kleinen Finger vor mir und schob meine Brille auf der Nase nach oben, dann krempelte ich meine Ärmel hoch, um sie vor dem Spielwasser trocken zu halten, das gleich aus den Spielhähnen strömen würde. Ich drehte sie beide voll auf und stellte mir vor, wie das Wasser kräftig herausschoss. Kurz hielt ich inne, weil es keinen Becher ohne Ausgussschnabel gab, aber ich hatte keine Zeit zu verlieren. Ich kam ohne zurecht und bewegte beide Hände unter dem Wasserstrahl aus Nichts. Zweimal mit der rechten Hand, zweimal mit der linken.
Als ich einen Schritt zurücktrat, stand die Luft um mich herum still. In mir rauschte die Ungeheuerlichkeit der Sünde, die ich gerade beging. Ich konnte die Hitze meines Blutes spüren, das durch meinen Körper pumpte. Ich drehte mich um, rannte aus dem Kinderzimmer, ließ die Tür weit offen und stürmte durch den Korridor zurück. Ich huschte in den Saal und verlangsamte beim Eintreten mein Tempo. Ich konnte mein Herz schlagen hören und fragte mich, ob auch die anderen es hören konnten. Meine Mutter hatte nicht bemerkt, dass ich fort gewesen war, und mein Vater, den es danach drängte, anzufangen, bedeutete mir, mich hinzusetzen. Wortlos. Ich fand einen Platz weit weg von ihm.
Ich war stolz auf meine Schlauheit. Tatsächlich drohte sich sogar ein Lächeln auf meinem Gesicht auszubreiten. Mein Experiment sollte meine Angst vor G’tt auf die Probe stellen und sie zu einem natürlichen Ende bringen. In meiner Familie wurde G’tt nicht nur verehrt, Er war die Grundlage für alles, was wir taten. G’tt war kein Glaubenssystem, Er war der Rhythmus unseres Heims, unseres Lebens. Ich hatte gelernt, dass mein Glück nur daran gemessen wurde, ob G’tt mit mir zufrieden war. Meine eigenen Erfahrungen oder Gefühle waren unerheblich. G’tt war der ultimative Elternteil, dessen Anerkennung ich brauchte. Da G’tt jedoch theoretisch war, konnte ich mir auch, wenn nötig, Seine Reaktionen und Seine Zustimmung vorstellen, wenn ich mich allein mit ihm unterhielt. Mit meiner Fisher-Price-Mutprobe hatte ich eine Grauzone gefunden, in der ich mir Seine Billigung vorstellen konnte.
Meine größte Sorge galt nun meinen Eltern. Wenn sie mich erwischten oder meine Geschwister es ihnen erzählten, müsste ich meine Halbwahrheit gestehen, und das machte mir Angst.
Als ich mich an den Tisch setzte, war ich mir sicher, dass ich jederzeit zur Rede gestellt werden konnte. Hatte ich mich etwas verspätet? Hatte ich ein bisschen zu lange gebraucht? Ich stellte mir vor, wie mein Vater meine List durchschauen und mich vor allen für eine Sünde bloßstellen würde, die ich nicht einmal zu Ende gebracht hatte. Würde er mich hungrig und frierend von seinem Tisch verbannen? Oder würde er, schlimmer noch, meine Sünde überhaupt nicht ernst nehmen, als würde es auf mich, die ich zu klein und unbedeutend war, überhaupt nicht ankommen?
Ich stellte mir vor, wie der alles sehende, allwissende G’tt mich bloßstellen würde, wie er den Boden unter meinem Sitz öffnen, mich verschlucken und zerstören würde. Meine eigene Auffälligkeit war mir unangenehm bewusst. Ich spürte, wie sich mein Gesäß auf dem Stuhl bewegte, dessen schwarze Vinylbespannung ein leichtes Furzgeräusch erzeugte, wenn jemand sich hinsetzte. Ich war mir sicher, dass mein Vater gemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte, als er mir das Zeichen gab, mich zu setzen. Ich weiß nicht, was er dachte, dass ich getan hatte, aber sein Blick machte mich nervös. Es wäre so einfach gewesen, nachzugeben, aufzustehen und beschämt davonzulaufen wie ein Kind. Aber ich wollte bleiben. Ich wollte glauben.
Bewaffnet mit meiner Halbwahrheit, meiner Halblüge, hörte ich ihm zu, wie er den Wein segnete, G’tt dankte und dann alle hinausführte, damit sie sich die Hände unter dem eisigen Wasser wuschen – in den Herren- und in den Damentoiletten, in den riesigen Waschbecken in der Industrieküche oder in dem kleinen Aluminiumbecken im Schrank des Hausmeisters. Alle zerstreuten sich in unterschiedliche Richtungen. Niemand schenkte mir auch in den besten Zeiten viel Aufmerksamkeit; an diesem Abend war ich ausnahmsweise einmal dankbar für meine Unsichtbarkeit. Ich passte auf und kehrte zum Tisch zurück, setzte mich neben alle anderen und war bereit, meine Sünde zu Ende zu bringen.
Jeder Augenblick, der verging, war eine Ewigkeit. Mein Vater nahm als Letzter seinen Platz ein. Stille. Er deckte die beiden geflochtenen Brote, golden von der Eimischung, mit der sie bestrichen waren, ab und hob beide an. Er sprach den Segen mit geschlossenen Augen, um zu verhindern, dass er beim Gebet etwas Unanständiges sah: „Gesegnet seist Du, G’tt, unser G’tt, König des Universums, der das Brot aus der Erde hervorbringt.“
Er begann zu schneiden – das rechte Brot vor dem linken, denn der Talmud, der Kanon der rabbinischen Lehren, die uns sagen, wie wir nach dem zentralen Text des Judentums, der Tora, zu leben haben, sagt uns, dass wir es so tun sollen –, und zwar auf seine eigenwillige Art, die mich schon damals ziemlich auf die Palme trieb. Immer noch sprach niemand. Meine Mutter liebte diese Zeit – die einzige Zeit, in der sie nicht gestört wurde. Ich glaube, mein Vater verlängerte sie für sie. Die Stille füllte meine Ohren überall dort, wo mein pochender Herzschlag noch Raum ließ. Der Brotkorb wurde am Tisch herumgereicht, zuerst an meine Mutter, dann an die Gäste, dann an die Kinder, in der Reihenfolge ihres Alters.
Ich saß als Zweitjüngste am Tisch neben meinen fünf älteren Geschwistern: Miriam und Dov Ber, den Zwillingen, einem Mädchen und einem Jungen im Alter von fünfzehn Jahren; meiner Schwester Lea und meinem Bruder Schmuel, die sieben und sechs Jahre älter waren als ich; unserem Bruder Elchanan, der damals neun Jahre alt war; dann gab es mich, die Sechsjährige, und meine kleine Schwester Debora, die drei war. Ich hielt meine Scheibe in der Hand und war mir bewusst, dass ich das Brot so schnell wie möglich essen sollte, um Verzögerungen und Respektlosigkeit zu vermeiden, da meine roten Wangen und mein rotes linkes Ohr mich verrieten. Ich wusste nicht, wer es erraten oder wer es sehen würde, weil ich verzweifelt versuchte, keinen Augenkontakt aufzunehmen. Was es bedeutete, meine Eltern herauszufordern, geschweige denn G’tt, war mir nicht bewusst, und die unbestimmte Möglichkeit, eine schreckliche biblische Strafe zu erhalten, war für mich genauso real wie die Zeichnungen, die ich ausmalte, in denen Männer in den Geschichten des Alten Testaments für ihre irreligiösen Handlungen vom Erdboden verschluckt oder vom Feuer aufgezehrt werden.
Mein Moment der Wahrheit war gekommen. Mohnsamen fielen aus der Brotkruste, als ich das Brot zum Mund führte. Ich kratzte sie mit den Zähnen ab, aber ich biss nicht hinein, noch nicht. Bis zu meinem ersten Bissen blieb meine Sünde unvollständig. Die Samen fühlten sich auf meiner Zunge rau an. Ich drückte meine Zähne auf beiden Seiten meiner Scheibe zusammen, biss hinein und zwang ein kleines Stück des teigigen Inneren in meinen Mund, vorbei an dem Kloß in meinem Hals. Meine Knie verkrampften sich, und ich riss mich hoch, um zu schlucken. Nichts passierte.
Ich nahm einen weiteren Bissen. Nichts. Und noch einen. Immer noch nichts.
Ich konnte hören, wie mein Vater mit unseren Gästen über den Wochenabschnitt aus der Tora sprach und ihnen die Bedeutung der Bibelstelle erläuterte, die er am nächsten Tag in der Synagoge vorlesen würde. Dann sah ich, wie meine Mutter Scheiben von Gefilte Fisch verteilte, ein Gericht aus pochiertem Schellfisch und Wittling, mit Klecksen des Lieblingsgerichts unserer Familie, Avocadopüree mit gekochten Eiern und Knoblauch. Sie hatte einen grünen Salat auf den Tisch gestellt und Schüsseln mit Mayonnaise und Chrein – einer Soße aus Meerrettich und Roter Bete –, um die sich meine Brüder stritten. Es war wie an jedem anderen Freitagabend. Niemand wusste etwas.
Ich hatte Brot mit unsauberen Händen gegessen, und nichts hatte sich geändert. Jetzt war ich unbesiegbar. Die Verbotsschichten fielen ab und wurden durch etwas ersetzt, das sich für mich als Sechsjährige wie eine unendliche Möglichkeit und Chance anfühlte. Ich hatte gerade erst mit der Schule begonnen, aber ich wusste schon, dass man rebellieren konnte – genau dort, wo ich saß.
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