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Ella und Laura - eBook-Ausgabe Ella und Laura

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Von den Müttern unserer Väter

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Ella und Laura — Inhalt

Eine bewegende Familiengeschichte über drei Generationen

August Zirner und Ana Zirner beginnen etwa zeitgleich damit, sich für die Geschichten ihrer Großmütter zu interessieren. Beide empfinden eine zaghafte „Jewish Identity“, hinterfragen diese jedoch kritisch: Nutzen wir sie aus, um ein „reines Familiengewissen“ vertreten zu können? Und was kann uns noch gegeben werden von den starken Frauen, die uns vorangegangen sind? Sie blicken nach Wien, in die Zeit zwischen den Weltkriegen. Ella Zirner-Zwieback leitet das noble Modekaufhaus „Maison Zwieback“ in der Kärntnerstraße. Sie gilt als Grand Dame des Wiener Großbürgertums. Gleichzeitig lebt dort auch das Mädchen Laura Wärndorfer. Die Stoffe der Spinnerei von Lauras Vater werden in Ellas Kaufhaus verarbeitet. Die beiden Damen begegnen sich jedoch erst viel später, im Jahr 1942 in New York. Laura hat Ellas Sohn Ludwig geheiratet. Beide hatten aufgrund ihrer jüdischen Familien emigrieren müssen. Bei ihren Recherchen stellen Ana und August fest, dass es einzig die Bilder in ihren Köpfen sind, denen sie Glauben schenken können. Und so beginnen sie, die Welten ihrer Großmütter mit Fantasie zum Leben zu erwecken. Bis schließlich Laura und Ella selbst zu sprechen beginnen …

€ 13,99 [D], € 13,99 [A]
Erschienen am 30.09.2021
352 Seiten
EAN 978-3-492-60018-7
Download Cover
€ 14,00 [D], € 14,40 [A]
Erschienen am 01.06.2023
352 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31893-8
Download Cover

Leseprobe zu „Ella und Laura“

Warum sollten wir unsere Großmütter verkaufen?

August

„Der würde sogar seine Großmutter verkaufen.“ Ich habe mich immer wieder gefragt, was der Satz bedeutet. Was soll das heißen, seine Großmutter verkaufen? Soweit ich mich erinnere, ist das ein Satz, den man über einen Komiker sagen würde, der einen schlechten Witz über seine Großmutter machen oder pietätlos über sie sprechen würde, um eine Pointe zu landen. Aber wieso beschäftigt er mich derart?

In meinem Arbeitszimmer hängt ein großes Gemälde meiner Großmutter Ella Zirner-Zwieback, einflussreiche und [...]

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Warum sollten wir unsere Großmütter verkaufen?

August

„Der würde sogar seine Großmutter verkaufen.“ Ich habe mich immer wieder gefragt, was der Satz bedeutet. Was soll das heißen, seine Großmutter verkaufen? Soweit ich mich erinnere, ist das ein Satz, den man über einen Komiker sagen würde, der einen schlechten Witz über seine Großmutter machen oder pietätlos über sie sprechen würde, um eine Pointe zu landen. Aber wieso beschäftigt er mich derart?

In meinem Arbeitszimmer hängt ein großes Gemälde meiner Großmutter Ella Zirner-Zwieback, einflussreiche und große, gefürchtete Geschäftsfrau in Wien in den Jahren 1906 bis 1938. 1906 hatte sie das große Kaufhaus Maison Zwieback von ihrem Vater Ludwig Zwieback geerbt und es dann achtzehn Jahre lang gemeinsam mit ihrem Ehemann Kommerzienrat Alexander Zirner geführt. 1924 starb dieser, und von da an führte sie das Kaufhaus alleine weiter. 

Die Beerdigung des Kommerzienrats war ein ziemlich großes gesellschaftliches Ereignis. Der berühmte Wiener Architekt Friedrich Ohmann wurde beauftragt, die Grabstätte zu entwerfen. Das Projekt verlangte ihm fast zwei Jahre Arbeit ab, doch bis heute steht das Grab auf dem Zentralfriedhof in Wien. Interessant ist, dass Friedrich Ohmann zur gleichen Zeit auch an den Plänen für ein Kaffeehaus arbeitete: das von meiner Großmutter in Auftrag gegebene Café Zwieback in der Weihburggasse 4. Dort befindet sich jetzt das Café Sluka, restauriert im Stil und nach den Entwürfen von Ohmann und meiner Großmutter Ella. Anders als bei der Grabstätte am Zentralfriedhof tauchen im Kaffeehaus die Namen Zwieback oder Zirner jedoch nirgends auf. Möglicherweise hat der Name am Zentralfriedhof mehr Bestand. „Es lebe der Zentralfriedhof und alle seine Toten!“, singt Wolfgang Ambros immerhin.

Ella war anscheinend eine recht extravagante Frau und hatte wohl auch außereheliche Beziehungen. So pflegte sie unter anderem mit ihrem ehemaligen Klavierlehrer, dem Komponisten Franz Schmidt, ein inniges Verhältnis. Tja, und irgendwie – vielleicht beim vierhändigen Klavierspiel – entstand schließlich mein Vater Ludwig. Das war ebenfalls im Jahr 1906.

1938 gelang es meiner Großmutter Ella und ihrem Sohn Ludwig, Wien zu verlassen. In der Enteignungsakte der NSDAP steht:

Die Hausbesitzerin, die Jüdin Ella Zirner, muss baldigst ersetzt werden, weil sie unablässig durch Verkaufsideen und nicht zweckmäßig erscheinende Realisierungspläne die Arisierung beziehungsweise die ruhige Abwicklung der Geschäfte ihrer arischen Untermieter stört.

Wer also war meine Großmutter Ella Zirner-Zwieback, die 1970 in New York verstarb? Und warum sollte ich sie verkaufen?


Familienstammbäume interessieren mich nicht

Ana

„Vielleicht suche ich in der Vergangenheit nach einem Stück von mir selbst, das ich noch nicht kenne“, sage ich zu August. Als ich mit ihm darüber spreche, ob wir gemeinsam ein Buch schreiben wollen, hat er mir die provokante Gegenfrage gestellt, warum wir unsere Großmütter verkaufen sollten. Wir sitzen im Café Tomaselli in Salzburg, und ich trinke meine dritte Melange. Kaum ausgesprochen, kommt mir mein Satz unglaublich platt vor. Aber irgendwo muss ich ja anfangen.

Wir wagen heute also einen ersten Blick auf den Grund dieses Buchs, das wir gemeinsam schreiben. Für mich steht außer Frage, dass ich es schreiben will. Nur warum, da bin ich mir noch nicht ganz sicher. Bisher haben mich Familienstammbäume nicht interessiert. Von der Vergangenheit bleiben ein paar ausgeblichene und vergilbte Schwarz-Weiß-Bilder von Menschen in altmodischer Kleidung, die steif für alte Kameras posieren. Wir bewahren sie pflichtbewusst in staubigen Kisten auf dem Speicher auf, aber dass diese Menschen meine Verwandten sind, ist mir, so brutal das klingt, ziemlich egal. Meine Familie, das sind meine Eltern und meine Geschwister. Nicht einmal Tanten oder Großeltern habe ich bisher ernsthaft dazugezählt.

Aber in den letzten Jahren begegnete ich immer wieder einem mir bis dato unbekannten Gefühl. Vielleicht hängt es mit meinem Alter zusammen, vielleicht damit, dass ich mich selbst immer besser kennenlerne oder dass ich mein eigenes Verhalten verstehen will. Das Gefühl ist noch recht nebulös, hat aber etwas mit dem Bewusstwerden über eine Verbundenheit mit meinen Vorfahren, mit einer Suche nach Zugehörigkeit zu einer Kultur, auch im historischen Sinn, zu tun. Es erwacht in mir ein zaghaftes Interesse an dem vergilbten Band, das mich mit den mir vorangegangenen Menschen in meiner Familie verbindet. Dem möchte ich nun nachgehen.

Eine zentrale Figur dieses Bandes ist meine Großmutter Laura, die Mutter meines Vaters. Dass ich viel Ähnlichkeit mit ihr habe, ist anscheinend eine Tatsache. Jedenfalls bin ich in dieser Gewissheit aufgewachsen. „Ihr hättet so viel Spaß zusammen gehabt“, sagte man mir immer wieder. Als Laura starb, war ich noch nicht einmal ein Jahr alt. Aber ich bin überzeugt, dass ich mich an sie erinnern kann. Es ist keine konkrete Erinnerung, eher eine Mischung aus Gefühl und Geruch. Weich, süßlich-herb, etwas fremd und streng und zugleich tiefgründig und warm. Und auf unkonventionelle Art liebevoll.

Es ist nicht so, als hätte ich mich noch nie gefragt, ob ich zu dieser oder jener Frage vielleicht Antworten in meiner familiären Vergangenheit finden könnte. Besonders dann, wenn es um die Frage nach meiner historisch-kulturellen Zugehörigkeit geht. Dann scheint es mir auf einmal wichtig zu betonen, dass ich auch jüdische Vorfahren habe. Beispielsweise, als ich in Jerusalem einem alten Rabbiner meine „jüdische Familiengeschichte“ erzählen wollte. Ich musste in dem Moment still und heimlich feststellen, dass ich mir nicht einmal ganz sicher bin, ob ich überhaupt wirklich eine „jüdische Familiengeschichte“ habe. Trotzdem habe ich wirkungsvolle Geschichten meiner Vorfahren zum Besten gegeben und von Antisemitismus, Enteignung und Emigration aus Österreich erzählt. Meine Erzählungen, so stellte ich selbst peinlich berührt fest, waren kaum mehr als Anekdoten, die ich selbst hie und da aufgeschnappt hatte und die über die Jahre von meiner Fantasie angereichert worden waren. Da begann ich endlich, mich ernsthaft zu fragen, ob meine Schilderungen inzwischen mehr einer „guten Story“ als meiner wahren Familiengeschichte entsprachen.

Als ich meinem Vater davon erzähle, lässt er verschmitzt einen seiner Lieblingssätze vom Stapel: „There’s no business like Shoah-business.“ Er sagt das so oft, dass es verdächtig ist. Ob nun bewusst oder nicht, wir praktizieren es sicher alle, zumindest ein bisschen, dieses Business. Gruselig.

Ashes to Ashes

August

„Sagen Sie ihm, dass er für die Träume seiner Jugend soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird. (…) Dass er nicht soll irre werden, wenn des Staubes Weisheit, Begeisterung, die Himmelstochter, lästert.“ Diese inständige Bitte, die Marquis Posa in Schillers Don Carlos an Königin Elisabeth richtet, hat es dem jungen Schauspieler, der in Amerika aufgewachsen ist und der durch Erziehung und Schule von Schiller vollkommen unberührt war, schwer angetan. Ich spreche natürlich von mir selbst. Es war für mich immer wichtig, von irgendwoher eine Flamme der Begeisterung zu bekommen. Feuer als Element fand ich zwar einerseits bedrohlich, als menschliche Eigenschaft jedoch hat es mich immer sehr angezogen. Ich liebe feurige Reden. Ich liebe feurige Gespräche. Das geht so weit, dass mir irgendwann auch klar war, dass ich nach meinem Tod verbrannt werden möchte. Am liebsten wäre mir, meine Asche könnte im Wind verstreut und sozusagen ins All gepustet werden. Was bleibt am Ende – was bleibt, wenn wir sterben? Erinnerungen, Gedanken, Asche. Was bleibt vom Feuer? Asche.

Zwei Bilder haben meine Weltsicht sehr geprägt. Eigentlich zwei Szenen der Komikertruppe Monty Python. Zum einen der 1500-Meter-Lauf für Taube. Sieben Wettkämpfer stehen in den Startlöchern, es fällt ein Schuss, und nichts verändert sich. Die sieben Wettläufer verharren in der Startposition. Und dann natürlich das 200-Meter-Freistilschwimmen für Nichtschwimmer. Es fällt ein Schuss, fünf Wettschwimmer springen ins Wasser. Das war’s.

Meine Großmutter Ella (Elise) Zwieback wurde am 12. Oktober 1878 in Wien geboren. Mit achtundzwanzig brachte sie meinen Vater zur Welt. Gestorben ist sie am 5. April 1970 in New York, da war sie einundneunzig Jahre alt. Mein Vater starb neun Monate später mit vierundsechzig Jahren. Die Beisetzung der Urne meiner Großmutter fand am 5. November 1970 in Wien statt. Zu dem Zeitpunkt war mein Vater schon schwer krebskrank. Nur durch Zufall hatte er vom Tod seiner Mutter erfahren. Der Mann, der meine Großmutter in New York gepflegt hatte, hieß Georg Schüller; er brannte mit ihrem verbliebenen Geld nach Spanien durch. Mein Vater, ehemaliger Geschäftspartner und Anteilseigner der Firma Zwieback und somit auch des Maison Zwieback, hatte sich nie sonderlich fürs Geschäftliche interessiert, woraufhin Ella ihn anscheinend „enterbte“. Die beiden verloren sich aus den Augen, sodass mein Vater nach New York reisen und mit dem Taxi von Standesamt zu Standesamt fahren musste, um endlich die Asche seiner Mutter zu finden. Wahrscheinlich brachte er im Sommer 1970 die Urne mit der Asche nach Wien, wo sie im Familiengrab beigesetzt wurde. Kurz darauf fiel mein Vater in die letzte Phase seiner Krebserkrankung und starb am 9. Februar 1971.

Warum also schwimme ich so lange vor meiner eigenen Biografie davon? Ich bin eigentlich ein guter Schwimmer. Und warum habe ich nicht hingehört, bei all den Hinweisen auf die Katastrophe, die meine Eltern hautnah erlitten haben? Denn taub bin ich auch nicht, wenn ich auch immer wieder feststelle, dass mir das Zuhören schwerfällt.

Es sollte nun also ein Startschuss fallen. Ein gemeinsames Buchprojekt! Vater und Tochter wollen über ihre jeweilige Großmutter schreiben. Für beide sind diese relativ unbekannte Personen, Projektionsflächen. Eine Komplikation bringt mit Sicherheit eine Schnittstelle in der ganzen Geschichte mit sich, denn die eine Großmutter ist gleichzeitig meine Mutter.

Ein Startschuss sollte fallen, doch ich bin zu früh ins Wasser gesprungen. Ich wollte gewissermaßen am Ende anfangen, nämlich bei der Asche meiner Mutter und ihrem Urnenplatz am Grundlsee in der Steiermark. Es sollte eine kleine Reise dorthin stattfinden. Doch schon der erste Schritt schlug fehl, denn die Grabstätte, die Nische in der Urnenwand am Grundlsee, war nicht mehr da! Sie war von der Friedhofsverwaltung Bad Aussee aufgelöst worden. Abgesehen davon, dass das bereits ein skurriler thematischer Einstieg in die Geschichte gewesen wäre, war es von mir aber auch regelrecht übergriffig, schließlich hatten Ana und ich verabredet, dass ich mich aus ihrer Recherche heraushalte. Und nun wusste ich nicht, wie ich aus der Geschichte wieder herauskommen konnte. Die ursprüngliche Aufgabenverteilung, nach welcher Ana ausschließlich über Laura und ich ausschließlich über Ella schreiben würde, bekam gleich zu Beginn einen unfreiwilligen Dämpfer.


Lauras Urnenplatz

August

Die ganze Sache wäre also von vornherein fast schiefgegangen. Ein kompletter Fehlstart! Mein väterlicher Vorsatz, immer erst auf das zu hören, was meine Kinder wollen und suchen, und danach erst – wenn überhaupt! – erzieherisch einzugreifen, hat überhaupt nicht funktioniert. Okay, meine Kinder sind inzwischen alle erwachsen, dennoch, jetzt gleich als Co-Autor versagt zu haben, ist bitter. Der Co-Autor ist nämlich nicht nur Vater der Co-Autorin, sondern auch noch Sohn der einen Großmutter, also der einen der beiden Protagonistinnen, um die es in diesem Buch gehen soll. Tatsächlich bin ich einer der Enkel und einer der Söhne. Enkel der Ella, Sohn der Laura, also Sohn von Anas Großmutter. Genau genommen habe ich also in den Themenkreis von Ana hineingegrätscht! Was ist geschehen? Wie konnte das geschehen?

Ein paar Monate, bevor meine Mutter starb, erzählte sie mir etwas schelmisch, sie hätte eine kleine Eigentumswohnung am Grundlsee in der Steiermark gekauft. Die Wohnung sei vierzig mal fünfzig Zentimeter groß. Ich war darüber ziemlich irritiert; einerseits fand ich es schön, dass meine Mutter sich um eine Eigentumswohnung gekümmert hatte, noch dazu am Grundlsee, wo sie so gerne die Sommerferien verbracht hatte, andererseits war ich über die Größe der Wohnung doch etwas erstaunt und fragte nach, was es damit auf sich hatte. Daraufhin erklärte mir meine Mutter, die Wohnung sei eben groß genug für ihre Urne, denn sie hätte die Absicht, nach ihrem Tod verbrannt zu werden. Weiter erfuhr ich, dass sie mit dem katholischen Pfarrer am Grundlsee gesprochen und er ihr eröffnet hätte, dass am Grundlsee eine Urnenwand errichtet werden soll. Paradoxerweise hieß der damalige Pfarrer Professor Doktor Steinwender. Meine Mutter war damals die Erste, die sich um einen Platz in der Wand gekümmert hatte, „ihr“ Platz war der erste rechts oben. Und dort kam die Urne meiner Mutter dann auch hin, versehen mit einer rosaroten Marmorplatte, auf der in goldener Schrift eingraviert stand:

Laura Zirner

geborene
Laura Beata Waerndorfer
1915–1984

 

Ich habe die Urnenwand gelegentlich besucht, meistens alleine, manchmal musste ich den Marmorstein von Efeu befreien. Ich muss zugeben, dass mir die Urnenwand nicht übermäßig viel bedeutet hat und ich andere Orte fand, um an meine Mutter zu denken. Trotzdem fand ich es irgendwie gut, dass es einen Ort gab, zu dem Freunde oder Verwandte gehen konnten, wenn sie an meine Mutter denken, sich ihr nah fühlen wollten. Und so entstand irgendwann die Idee, dass Ana und ich unsere gemeinsame Arbeit an diesem Buch mehr oder weniger angesichts der Asche meiner Mutter beginnen wollten. Möglicherweise war das aber auch nur mein Wunsch. Jedenfalls verabredeten Ana und ich uns zu einem ersten Brainstorming am Grundlsee in der Steiermark.

Kurz vor Antritt der Reise erfuhr ich von einer Freundin meiner Mutter, dass der Urnenplatz leer sei. Sie hätte die Urnenwand zwar besucht, aber Laura gar nicht gefunden. Das konnte ich nicht glauben, und ich rief umgehend bei der katholischen Kirche am Grundlsee an. Ich wollte sichergehen, dass Ana wenigstens noch den Ort, an dem die Asche ihrer Großmutter beigesetzt ist, besuchen konnte. Ich wurde mit der Friedhofsverwaltung verbunden, und eine Dame teilte mir mit: „Es tut mir wirklich sehr leid, Herr Zirner, aber Ihre Frau Mutter liegt jetzt im Sammelgrab bei den Soldaten.“

„Wie bitte? Das kann nicht sein.“

„Ja, Herr Zirner, wir haben versucht, Sie zu erreichen, und den Erlagschein an Ihre Adresse geschickt, bekamen jedoch nur zur Antwort, dass der Adressat verzogen sei.“

Es stellte sich heraus, dass die Friedhofsverwaltung eine Adresse von mir in der Kartei führte, die ich tatsächlich schon sehr lange nicht mehr bewohnte. „Da wohne ich seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr, aber meine Adresse ist doch nicht so schwer zu ermitteln.“

„Bitte, Herr Zirner, wir haben viertausend Gräber zu verwalten, wir können nicht hinter jedem hertelefonieren. Wir haben auch einen Aushang gemacht, aber Sie haben sich nicht gemeldet. Tut uns sehr leid. Aber, Herr Zirner, beim Sammelgrab gibt es auch die Möglichkeit, ein Kerzerl anzuzünden!“

In meiner Vorstellung lag meine Mutter jetzt bei den Soldaten, an einem Ort also, der ihr sicher nicht recht gewesen wäre, und meine Vorstellung, was für Soldaten das gewesen sein mussten und in welchem Krieg sie gedient hatten, ließ mich einen leichten Ekel empfinden. Auf keinen Fall wollte ich dort eine Kerze anzünden. Insofern war ich nun wirklich „verzogen“.

Irgendwie schuldbewusst, weil ich es versäumt hatte, die Friedhofsgebühren zu bezahlen und Laura jetzt „bei den Soldaten“ liegen musste, rief ich den Grundlseer Pfarrer an. Herr Professor Doktor Steinwender war inzwischen verstorben, doch ich erreichte seinen Nachfolger. Das unappetitliche Gefühl, das ich hatte, weil die Urne meiner Mutter in der Nähe eines Soldatenfriedhofs liegen musste, hatte sich noch verstärkt, und ich wollte den Herrn Pfarrer um seelsorgerischen Rat fragen. Vielleicht konnte er mir ja auch die Urne meiner Mutter aushändigen, damit ich mich selbst darum kümmern konnte? Ich hatte das Bedürfnis, die Asche meiner Mutter zu befreien, und entwickelte die naive Vorstellung, ein Elektroboot mieten zu können und die Asche meiner Mutter im Wind über den Grundlsee verwehen zu lassen, sie endgültig von irgendeinem Gefäß, von irgendeiner Enge zu befreien.

Der Herr Pfarrer fand meinen Anruf, glaube ich, etwas lästig. Er gab mir zu verstehen, dass es mein Problem sei, dass meine Mutter nicht mehr war, wo sie meiner Meinung nach hingehörte, denn offensichtlich hatte ich sie ja zu selten besucht, um das überhaupt zu bemerken. Er sagte mir aber auch, dass er es für möglich halte, die Urne zu exhumieren und mir auszuhändigen. Er forderte mich auf, mit dem Totengräber Kontakt aufzunehmen. Ich sollte auch noch einmal an die Friedhofsverwaltung schreiben und mein Anliegen schildern. Der Totengräber war sehr freundlich und pragmatisch und sagte, dass er gerne bei nächster Gelegenheit die Urne meiner Mutter suchen könnte, der Name stünde ja schließlich auf der Urne. Im Sammelgrab befänden sich circa fünfzig Urnen, und wenn sie in den letzten zwei Jahren beigesetzt worden sei, stünde sie sicher in einer der oberen Reihen. Ich schöpfte schon Hoffnung, als mich kurze Zeit später eine E-Mail der Friedhofsverwaltung erreichte, die sinngemäß in etwa so lautete:

Es tut uns sehr leid, lieber Herr Zirner, aber die Urne Ihrer Mutter kann nicht mehr exhumiert werden. Nach dem Öffnen der Urnenwand werden die Urnen in biologische Urnen umgefüllt. Das haben wir auch mit Ihrer Frau Mutter gemacht. Auf den Biournen steht leider nichts mehr drauf, und deshalb kann man nicht mehr sagen, wer drinnen ist. Im Sammelgrab befinden sich um die sechzig Urnen.

Dort verrottete nun also die Urne meiner Mutter. Das Gefühl, eine biodegradable Mutter zu haben, tröstete mich ein wenig, und ich kann nur hoffen, dass die andern sechzig Bewohner des Sammelgrabs ebenso sympathisch waren wie meine Mutter.

Die Situation war nun so trostlos, wie sie eben war. Aber vor allem wurde mir klar, dass ich meiner Tochter ihre ganz persönliche Anfangsgeschichte geklaut hatte. Mit meiner Ambition, sie auf diese Art mit ihrer Großmutter – meiner Mutter – bekannt zu machen, habe ich ihr gleichsam ihren unvoreingenommenen Blick genommen.

Als Ana und ich dann endlich in der Steiermark ankommen, stehen wir beide ein bisschen ratlos vor dem Sammelgrab. Auf einem gusseisernen Kreuz steht:

Obwohl eure Namen
uns nicht mehr bekannt,
sind sie doch geschrieben
in Gottes Hand.
In Gemeinschaft habt
ihr Ruhe gefunden
und bleibt damit
eurer Heimat
verbunden.

 

Genau gegenüber von ebenjenem Sammelgrab steht auf einem Runenkreuz schlicht:

SS-Mann
Heinrich Bahr

Ana Zirner

Über Ana Zirner

Biografie

Ana Zirner, Jahrgang 1983, ist freiberufliche Autorin, Bergsportlerin und Bergwanderführerin, die insbesondere durch ihre langen Solotouren in den Bergen auf sich aufmerksam machte. Aufgewachsen im Bayerischen Voralpenland, zieht es sie immer wieder in die Berge, wo sie leidenschaftlich gern...

August Zirner

Über August Zirner

Biografie

August Zirner, geboren 1956 in Illinois, USA, ist ein US-amerikanisch-österreichischer Schauspieler und Musiker, der in über 140 Filmproduktionen mitgewirkt hat. Er kam als einziges Kind österreichischer Emigranten jüdischer Herkunft in den Vereinigten Staaten zur Welt und besitzt bis heute die...

Veranstaltung
Lesung
Donnerstag, 15. Mai 2025 in Meckenbeuren
Zeit:
20:00 Uhr
Ort:
Kulturschuppen,
Schenkendorfstrasse 21
88074 Meckenbeuren
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Lesung
Freitag, 16. Mai 2025 in Starnberg
Zeit:
19:00 Uhr
Ort:
Villa Bayerlein – VHS StarnbergAmmersee e.V.,
Bahnhofsplatz 14
82319 Starnberg

Kartenreservierung: kontakt@kunstraeume-am-see.de

 

In Kooperation mit Villa Bayerlein – VHS[...]

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Lesung
Samstag, 24. Januar 2026 in Isny im Allgäu
Zeit:
19:00 Uhr
Ort:
Schloss Isny,
88316 Isny im Allgäu
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