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Gangsterswing in New York (City-Blues-Reihe 3)Gangsterswing in New York (City-Blues-Reihe 3)

Gangsterswing in New York (City-Blues-Reihe 3) Gangsterswing in New York (City-Blues-Reihe 3) - eBook-Ausgabe

Ray Celestin
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Roman

„Die Krimireihe von Ray Celestin hat ihren ganz eigenen Klang.“ - Kronen Zeitung (A)

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Gangsterswing in New York (City-Blues-Reihe 3) — Inhalt

New York 1947. Gabriel, der Manager des berüchtigten Copacabana-Clubs, plant seit Jahren seinen Ausbruch aus dem unerbittlichen Griff der Mafia. Er will seinen eigenen Tod vortäuschen und nach Mexiko verschwinden. Doch zehn Tage vor seiner geplanten Flucht stellt Mafiaboss Costello ihm eine schier unmögliche Aufgabe: Entweder Gabriel spürt zwei Millionen Dollar wieder auf, die dem Herrscher der Unterwelt gestohlen wurden, oder er wird bis an sein Lebensende gejagt. Auch Privatdetektivin Ida kommt nach New York, um ihrem ehemaligen Partner Michael Talbot zu helfen: Sein Sohn Thomas wurde wegen eines brutalen Vierfachmordes angeklagt. Ida und Michael wissen, dass Thomas unschuldig sein muss, doch offenbar verschweigt er ihnen etwas …

€ 18,00 [D], € 18,50 [A]
Erschienen am 06.04.2020
Übersetzt von: Elvira Willems
640 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-06165-0
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€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 06.04.2020
Übersetzt von: Elvira Willems
704 Seiten
EAN 978-3-492-99561-0
Download Cover
„Es ist eine wunderbare und höchst sachkundige geschriebene Hommage an den Jazz der 1920er Jahre mit seinen Protagonisten Louis Armstrong, Earl Hines und Cab Calloway.“
Südwest Presse
„Celestin verwebt zahlreiche Erzählstränge zu einer faszinierenden Mischung, die vor einer höchst lebendigen und vielfältigen Großstadt spielt.“
dpa-Meldung

Leseprobe zu „Gangsterswing in New York (City-Blues-Reihe 3)“

Sunday News
~ New York’s Picture Newspaper ~
City Edition Final
Sonntag, 3. August 1947
Lokalnachrichten
Haus des Grauens in Harlem

Vier Menschen in Absteige in Uptown Manhattan getötet
Schwarzer Veteran am Tatort verhaftet
Brutale Ermordung steht im Zusammenhang mit Voodoo
Leonard Sears – Leitender Kriminalreporter

Manhattan, 2. August – Nach einer Mordserie am späten Freitagabend in einem Hotel an der West 141st Street wurde Thomas James Talbot, 35, Mitarbeiter im New York City Hospital, heute Morgen des vorsätzlichen Mordes in vier Fällen angeklagt. Die [...]

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Sunday News
~ New York’s Picture Newspaper ~
City Edition Final
Sonntag, 3. August 1947
Lokalnachrichten
Haus des Grauens in Harlem

Vier Menschen in Absteige in Uptown Manhattan getötet
Schwarzer Veteran am Tatort verhaftet
Brutale Ermordung steht im Zusammenhang mit Voodoo
Leonard Sears – Leitender Kriminalreporter

Manhattan, 2. August – Nach einer Mordserie am späten Freitagabend in einem Hotel an der West 141st Street wurde Thomas James Talbot, 35, Mitarbeiter im New York City Hospital, heute Morgen des vorsätzlichen Mordes in vier Fällen angeklagt. Die Polizeibeamten, die aufgrund einer Anzeige wegen nächtlicher Ruhestörung herbeigeeilt waren, erwartete ein Blutbad. Überall im Hotel lagen Leichen. In einem Raum im hinteren Teil des Gebäudes entdeckten sie den blutüberströmten Talbot, der Geld und Drogen in den Händen hielt, die er seinen Opfern gestohlen hatte. Talbot, Dauergast des Hotels, floh vom Tatort, wurde aber nach kurzer Verfolgungsjagd festgenommen.
„Der grausamste Tatort, den ich je gesehen habe.“
Alle vier Opfer waren erstochen, einigen war die Kehle durchgeschnitten worden, andere waren verstümmelt worden und hatten aufgeschlitzte Bäuche. Auch im Empfangsbereich, in einem Korridor und in zwei Gästezimmern wurden Leichen gefunden. Police Captain John Rouse beschrieb den Tatort als „den grausamsten, an den ich in über dreißig Jahren als Polizeibeamter je gerufen wurde. Alle Opfer waren brutal angegriffen und kaltblütig ermordet worden.“ Das Tatwerkzeug, vermutlich ein Messer mit langer Klinge, zum Beispiel eine Machete, wurde noch nicht gefunden.
Voodoo-Utensilien
Talbot, Veteran des Zweiten Weltkriegs, der im Pazifikkrieg gedient hat, hatte seit einigen Wochen in der obersten Etage des Hotels ein Zimmer gemietet. Eine Durchsuchung seines Zimmers förderte unter seinen Besitztümern zahlreiche Gegenstände mit Verbindung zu Voodoo-Ritualen zutage – Amulette, Talismane, Knochen zum Wahrsagen, Schädel und Gewänder. Es wurden auch Flaschen mit bislang noch nicht identifizierten Flüssigkeiten gefunden und religiöse Gegenstände von den Pazifischen Inseln. Ähnliche Objekte fanden sich in einem Zimmer im zweiten Stock, wo zwei der Toten gefunden wurden, zusammen mit Literatur über den Temple of Tranquility – einen Voodoo-Kult in Harlem. Es bleibt zu klären, ob die Morde Teil eines Voodoo-Opferrituals waren oder ob Talbot und die anderen Anhänger des Kults, die ebenfalls in dem schäbigen Hotel lebten, einen Streit hatten, der tragisch ausging. Am Ende des Abends war Talbot der einzige Bewohner des Hotels, der noch lebte.
Vermisster Frachtarbeiter am Tatort gefunden
Unter den Toten war auch ein Weißer, Arno Bucek, 25. Bucek war vor sechs Wochen von seinen Eltern als vermisst gemeldet worden. In dem Zimmer, wo Buceks Leiche aufgefunden wurde, war die Polizei auch auf Talbot gestoßen. Man geht davon aus, dass Talbot versucht hat, aus Buceks Zimmer Rauschgift und Geld zu stehlen, als die Polizei eintraf. Noch ist nicht geklärt, was der heroinabhängige Bucek in einer schwarzen Absteige gemacht hat und wo er sich die sechs Wochen zwischen seinem Verschwinden und seinem Tod aufgehalten hat. Noch hat die Polizei die Theorie nicht ausgeschlossen, er könnte zum Zwecke ritueller Folterungen gefangen gehalten worden sein.
Erscheinen vor Gericht
Talbot erschien ungerührt und verwahrlost bei dem Vorführungstermin beim Untersuchungsrichter vor dem Strafgericht in Manhattan. Der stellvertretende Staatsanwalt Russell Patterson erhob Anklage wegen mehrfachen vorsätzlichen Mordes, und für die erste Anhörung zu den Beschuldigungen wurde ein Termin am 11. August festgesetzt.

Talbot erhob keine Einrede. Er kam zurück in Untersuchungshaft und wurde auf Rikers Island verbracht.
Liste der Opfer
Es folgt eine Liste der am Tatort aufgefundenen Opfer:
● Arno Bucek, 25, aufgefunden im Erdgeschoss. Getötet durch mehrere Schnittwunden im Leib.
● Lucius Powell, 29, aufgefunden im Flur des zweiten Stocks, vermutlich Mitglied des Temple of Tranquility, getötet durch mehrere Schnittwunden im Leib.
● Alfonso Powell, 32, aufgefunden im zweiten Stock, Bruder von Lucius, vermutlich Mitglied des Temple, getötet durch einen einzigen Schnitt durch die Kehle.
● Diana Hollis, 45, aufgefunden im Empfangsbereich des Hotels. Miss Hollis war Hotelangestellte, ihre Verletzungen wurden von Captain Rouse als „besonders brutal“ bezeichnet.

Weitere Berichte über dieses Verbrechen sowie mehr Fotos des grausamen Tatorts auf Seite 4.


Teil 1
November 1947

„Als Schlüssel zu den operationellen Problemen, mit denen die Behörden konfrontiert sind, muss man sich nur ansehen, wie vielschichtig das Leben auf der Insel Manhattan ist. Zwei Millionen Bewohner unterschiedlichster Herkunft, Ethnie, Religion und Hautfarbe sowie drei Millionen Pendler und Durchreisende sind hier auf den am meisten übervölkerten 59 Quadratkilometern der Welt zusammengezwängt. Nirgendwo finden sich Verbrechen in so frappierendem Ausmaß; nirgendwo nimmt das Verbrechen derart fantasievolle und vielfältige Formen an; und nirgendwo sonst kann ein Krimineller so leicht in der Menschenmenge abtauchen.“
Bericht des Bezirksstaatsanwalts, County New York, 1946–1948

1
Montag, der 3., 1:45 Uhr
Kommen Sie und werfen Sie einen Blick auf die Vampire. Sehen Sie zu, wie sie über dem Times Square kreisen. Sehen Sie zu, wie sie sich drängeln und zusammenströmen, während die Sterne über das nächtliche Firmament ziehen. Die Huren, Zuhälter und Rauschgiftsüchtigen, die Gauner und Nassauer, die Marihuanaschmuggler, die Messerstecher, die Aufschneider, die Nutten, die ihre betrunkenen Freier ausrauben, die Taschendiebe, die Besoffene bestehlen, die irgendwo auf einer Bank eingeschlafen sind, die Ausreißer, die, die die ganze Nacht feiern, und die Rumtreiber, Taugenichtse und Underdogs – von bunten Neonlichtern, flottem Jazz und dem Versprechen auf eine Eroberung ins Herz der größten Stadt der Welt gelockt. Aus den Absteigen in der Bowery, aus Drogennestern in Uptown, aus den Schwulenbars, die sich wie Lichterketten an den Kais von Chelsea und Brooklyn reihen, aus Nepplokalen und Bebop-Clubs, aus Taxiständen, aus Waschsalons, aus Bühneneingängen und Künstler-Lofts, aus einfachen Zimmern, in denen es nur kaltes Wasser gibt, und aus Penthousewohnungen in den Wolken, aus Brücken und Schnellstraßen, aus der Dunkelheit unter der Third-Avenue-Hochbahn, aus Tunneln, aus Gassen, aus Kellern, aus Gossen, aus Schatten, ja sogar aus dem Beton der Stadt selbst, ist die Dunkelheit gekommen und hat sich zu etwas Gefährlichem und Lebendigem geformt: Das Reich der Nacht hat sich erhoben.
Durch die Menschenmassen bewegte sich ein großer, dunkelhaariger Mann Mitte dreißig, den Kragen seines Trenchcoats hochgeschlagen, den Stetson tief ins Gesicht gezogen. Er verbarg ein gequältes Lächeln, ein Gesicht, das die Spuren eines Lebens im Gewimmel der Straßen von New York trug. Seine längst verstorbenen Eltern hatten ihn nach dem Erzengel Gabriel getauft, und er wandelte schon sein ganzes Leben lang ein wenig müde über die Erde, als drückte das Gewicht von zwei Flügeln auf seinem Rücken ihn nieder.
Er ging an Jazzclubs vorbei, aus denen Bebop in die Nacht drang, Sex-Shows mit beleuchteten Schildern – MÄDCHEN, MÄDCHEN, MÄDCHEN –, die die Gehwege beleuchteten wie einen Rummelplatz. Im Fensterglas der die ganze Nacht geöffneten Selbstbedienungsrestaurants erhaschte er hier und da einen Blick auf sein Spiegelbild, das sich verzerrte, wenn er sich weiterbewegte. Er ging im Zickzack um Werbeschilder vor zwielichtigen Kinos herum, ignorierte die Rufe der Koberer, die in den Schatten lehnten, und erreichte sein Ziel: 1557 Broadway, Horn & Hadart’s Automatenrestaurant. Er blickte an dem Gebäude hinauf und betrachtete die riesigen Buntglasfenster und das rote Neonschild, das zwei Stockwerke hoch aufragte.
Er verharrte, bevor er hineinging, und sah sich um. Wenn jemand ihn entdeckt hatte, könnte das seinen Tod bedeuten oder, was noch schlimmer wäre, den Tod des Mädchens. Und für das Mädchen nahm er das ganze Risiko auf sich. Reingehen, die Pässe holen, rausgehen. Verschwinden, bevor ihn ein zufälliger Blick traf und sechs Jahre Planung zunichtemachte.
Er trat ein und sah, dass das Lokal gerammelt voll war, dröhnender Lärm und Gäste, die in zwei Reihen vor den Automaten standen. Gabriel ließ den Blick durch den dichten Zigarettenrauch über die Menschenmenge schweifen und entdeckte den Fälscher allein an einem Tisch in der Nähe der Toiletten. Er kämpfte sich zu ihm durch und ließ sich auf den zweiten Stuhl sinken. Er bemerkte sofort, dass der Mann dem Tod nahe war – abgehärmte Züge, gelbe Haut, stumpfer Blick. Nicht zum ersten Mal überlegte Gabriel, warum der Fälscher die Übergabe mitten in der Nacht am Times Square vorgeschlagen hatte. Vielleicht wollte er sich in einem der Bordelle, die die Gegend sprenkelten wie Konfetti, ein letztes Mal flachlegen lassen. Dabei hatte der Mann ihm erklärt, er habe einen Platz im Nachtzug von der Penn Station gebucht und sei inzwischen so krank, dass er sowieso nicht schlafen könne.
Die Stimme des Fälschers war rau, und er sprach so leise, dass Gabriel die Ohren spitzen musste, um ihn über dem Lärm von Kaffeemaschinen, Münzschlitzen und Kellnerinnen, die Teller zu hohen Stapeln auftürmten, zu verstehen. Das Lokal gehörte zu den Orten, die den Lärm vervielfachten, die alle Geräusche in ein Klappern verwandelten und zwischen den Wänden hin und her warfen.
Der Fälscher trank einen Schluck von dem Kaffee, der vor ihm stand, und zuckte zusammen. Gabriel reichte ihm einen Umschlag. Darin war genug Geld, damit der Mann nach Toronto fahren, in die Klinik gehen und sich ausreichend Schmerzmittel verabreichen lassen konnte, um seine letzten paar Wochen auf Erden erträglich zu machen. Der Tod des Fälschers würde sein Schweigen besiegeln, deswegen hatte Gabriel ihn ausgewählt. Die Pässe waren der letzte Baustein seines Fluchtplans, und als er über einen Freund von einem Freund gehört hatte, dass der Fälscher auf dem Weg ins Jenseits war, war er nach Jersey gefahren, um ihn zu treffen, und hatte ihm ein Angebot gemacht.
Der alte Mann hievte seinen Koffer auf den Stuhl neben sich, öffnete ihn und kramte darin herum. Gabriel schaute hinüber, um zu sehen, was er auf seiner Reise in den Tod mitnahm – ordentlich gefaltete Kleidung, einen Kulturbeutel von PanAm, eine Reader’s-Digest-Ausgabe von Spinoza. Der Mann hatte die Ecken von einem Dutzend oder mehr Seiten umgefalzt, und Gabriel fragte sich, welche Weisheiten diese enthielten. Er fühlte sich an den Doc erinnert, der seine Bemerkungen gern mit Zitaten aus der Ethik spickte.
„Erkennen ist Freiheit“, sagte Gabriel.
Der Fälscher verharrte und blickte mit gerunzelter Stirn zu ihm auf. Gabriel zeigte auf das Buch. Der Fälscher nickte und setzte seine Suche fort. Er zog ein in knisterndes Papier eingewickeltes Päckchen aus dem Koffer und reichte es über den Tisch.
Gabriel öffnete es und holte die Pässe heraus. Sie waren von bester Qualität. Der alte Mann hatte seine jahrzehntelange Erfahrung und Kunstfertigkeit einfließen lassen; es waren schließlich die letzten Dokumente, die er je fälschen würde, das letzte Mal, dass er seine Kunst ausübte.
Gabriel schob die Pässe in seine Tasche und beglückwünschte den Fälscher zu seiner hervorragenden Arbeit. Doch als der Mann etwas erwidern wollte, bekam er einen Hustenanfall. Er zog ein Taschentuch aus dem Ärmel, das voller braun eingetrockneter Blutflecken war.
Während Gabriel darauf wartete, dass der alte Mann sich erholte, sah er sich um, um zu schauen, ob er jemanden kannte. Sein Blick landete auf den Automatenfächern, groß wie Schuhkartons, mit ihren Glastüren, die sich an den Wänden stapelten. Man warf Fünf-Cent-Stücke in den Schlitz, drehte einen Griff und konnte das Essen entnehmen – einen Teller überbackener Makkaroni, eine Tomatensuppe, eine Fischfrikadelle, ein Stück Limettenkuchen.
An einem Tisch ein Stück weiter kauften College-Kids von einem puerto-ricanischen Teenager in einer Lederjacke Marihuana ab. An anderen Tischen saßen müde dreinblickende Taxifahrer und Telegrammboten, Revuetänzerinnen, Drogenabhängige und Freier, die Außenseiter und komischen Käuze, die sich jeden Abend auf dem Times Square einfanden und sich in der Morgendämmerung wieder zerstreuten. Gabriel würde sie vermissen, wenn er fort war, auch wenn er genau wusste, dass sie so zynisch und opportunistisch waren wie die Stadt, die sie ihr Zuhause nannten. Er würde auch New York vermissen, sein Brausen, seine Energie, seine Ruhelosigkeit und die ruppige Art, mit der es einen anrempelte. Wie kein anderer Ort auf der Welt. Die Städte in Europa und Asien waren im Krieg stark dezimiert worden, jetzt stand New York allein da. Am dunklen Himmel der Upper Bay leuchtete die Fackel in der Hand der Freiheitsstatue heller auf.
Die Türen des Automatenrestaurants flogen auf, und eine Gruppe Touristen aus dem sogenannten Maisgürtel kam hereinspaziert. Sie sahen sich um, als hätten sie ein modernes Babylon betreten, und nach ein paar verlegenen Augenblicken drehten sie sich um und gingen wieder hinaus. Die Türen schwangen zu, und das Kondenswasser an den Fenstern verwandelte die Lichter und Schilder des Times Square in ein Prisma vielfarbiger Streifen, die Gabriel an Sternbilder, an Halluzinationen und an das Drip-Painting-Bild in seiner Wohnung erinnerten.
Er wandte sich dem alten Mann zu, der einen letzten Schluck von seinem Kaffee trank und nickte.
„Sind Sie froh, die Stadt zu verlassen?“, fragte Gabriel und überlegte, ob der Fälscher genau wie er gemischte Gefühle bezüglich seines Fortgehens hatte.
Der Fälscher sann über die Frage nach. „Froh, traurig – ein und dasselbe“, sagte er.
Gabriel fragte sich, ob diese Einsicht von Spinoza stammte.
Er half dem Mann auf die Füße und erbot sich, ihn zur Penn Station zu begleiten. „Sie tragen eine Menge Geld bei sich“, sagte Gabriel und hoffte, dass der Fälscher sich nicht bevormundet fühlte. „Auf den Straßen geht es ruppig zu.“
Sein Gegenüber schüttelte den Kopf.
Sie traten hinaus auf den Gehweg. Während sie drinnen gewesen waren, hatte leichter Nieselregen eingesetzt. Der Fälscher schlug den Kragen seines Mantels hoch und setzte sich eine Schiebermütze auf. Er bedachte Gabriel mit einem Blick, und Gabriel ahnte, was der Grund für das frostige Betragen des Mannes war: Er hatte gefälschte Pässe für sich selbst und ein dreizehnjähriges Mädchen bestellt. Keine Gelegenheit, ihm zu erklären, dass das Mädchen seine Nichte war, dass die beiden um des Mädchens willen davonliefen. Gabriel musste es aushalten, dass der Mann das Schlimmste von ihm dachte. Doch daran war er gewöhnt. Im Laufe seines Lebens war Gabriel Leichenbeseitiger gewesen, ein kleiner Gauner, privater Zielfahnder, Glücksspieler. All das hatte ihn Geringschätzung auszuhalten gelehrt. Im Augenblick führte er für die Mafia einen Nachtclub und löste für andere Probleme, wenn es nötig war. Das konnte er gut. Er besaß ein forsches Auftreten, das anderen Mafiosi fehlte, sowie den Charme und die Ruhe, die in heiklen Situationen von Vorteil waren. Doch seit ein paar Jahren zweigte Gabriel heimlich Geld ab, und in zehn Tagen, am Donnerstag, dem 13., würde die Mafia es herausfinden.
Während er dem Fälscher hinterherschaute, der den Broadway hinunter in Richtung Penn Station, Toronto und in einen vom Morphium geglätteten Rutsch ins große Unbekannte verschwand, kam ihm ein weiteres Zitat von Spinoza in den Sinn: Der freie Mensch denkt an nichts weniger als an den Tod. Er fragte sich, ob es auf einer der Seiten stand, deren Ecken der Mann umgeknickt hatte.
Er zündete sich eine Zigarette an und schob sich durch die Menschenmenge zum nächsten Taxistand. Soweit er sagen konnte, hatte er das Geschäft unbeobachtet abgewickelt. Auftrag ausgeführt, doch seine Besorgnis wurde kaum geringer. Er lebte seit Wochen wie in einer Wolke aus diesen Sorgen. Falls Gabriel und seine Nichte es zu dem Zeitpunkt, an dem sein Diebstahl entdeckt wurde, nicht nach Mexiko geschafft hatten, waren sie so gut wie tot. Ein Strand in Acapulco oder flache Gräber in einem Wald in Upstate New York.
Am nächsten Taxistand stellte er sich hinter einer schnatternden Schar reicher Zecher an, die Männer in glänzenden Anzügen, die Frauen in Nerz und Perlen. Weiter vorn taumelten Gruppen von Feiernden herum. Es war das erste Wochenende des Monats, und die Straßen waren voll von denen, die sich am Zahltag betranken. Gabriel sah sich in dem Gewühl um und entdeckte an der Mauer des Gebäudes gegenüber eine Anschlagtafel. Vor zwei Jahren war sie voller Plakate für Kriegsanleihen gewesen, jetzt flatterten daran zahllose kleine Zettel im Wind und weichten im Nieselregen auf – polizeiliche Bekanntmachungen, Fundsachen, Vermisste.
Gabriel starrte auf die Letzteren. Es waren Dutzende. Hauptsächlich Frauen, meistens jung, aus ganz Amerika, die zuletzt gesehen worden waren, wie sie in Städten, von denen er noch nie etwas gehört hatte, in einen Bus oder einen Zug gestiegen waren. Die zuletzt dieses oder jenes getragen hatten. Auf einigen Bekanntmachungen klebten Fotos. Einige der Frauen wirkten kaum älter als Gabriels Nichte. Er dachte an die Gauner, die durch die Penn Station und Bushaltestellen strichen und nach Ausreißern Ausschau hielten, leichte Beute, Frischfleisch, MÄDCHEN, MÄDCHEN, MÄDCHEN.
Er hörte ein Hupen, drehte sich um und sah, dass er am Kopf der Schlange angekommen war. Er sprang in das wartende Taxi.
„Wo soll’s hingehen, Kumpel?“, fragte der Taxifahrer.
„Ins Copa.“
Der Taxifahrer nickte und fädelte sich in den Verkehr ein, während Gabriel noch einen Blick auf die Aushänge warf und an die vielen vermissten Menschen auf der Welt dachte, die Verschwundenen. In zehn Tagen würden seine Nichte und er, so oder so, zu ihnen gehören.

2
Montag, der 3., 2:34 Uhr
Sie ließen den Times Square mit seinen regenbogenbunten Lichtern hinter sich und fuhren durch Midtown nach Norden. Sie kreuzten erst die 7th, dann die 52nd. Sie rollten an den Jazzclubs in der Swing Street vorbei, die noch vor Neonlicht, Musik und Bewegung pulsierten. Sie stießen auf die Madison Avenue, die ruhiger war und die späte Stunde respektierte. Die klassischen Fassaden der Büro- und Wohnblocks waren in Stille und Schatten getaucht, sahen fast aus wie Grüfte, als würde die Straße auf beiden Seiten von Krypten gesäumt. Gabriel stellte sich die ganze Stadt als Nekropole vor, Skelette hinter allen Türen.
Das Taxi bog in die 61st Street, wo es noch Zeichen von Leben gab: das Copacabana, das in einer ansonsten verstaubten Wohnstraße in der schrecklich vornehmen Upper East Side lag. Eine Menschenschlange wartete noch geduldig auf Einlass. Türsteher, Taxifahrer und Zecher waren schon auf dem Heimweg. Typisches Nachtclubleben. Das dumpfe Dröhnen der Musik ließ die Luft erzittern.
Sie hielten hinter dem Übertragungswagen, der am Eingang zur Copa-Lounge eine Tür weiter parkte. Gabriel sprang hinaus, zahlte das Taxi, blickte zu dem Schild hoch – Freier Eintritt, kein Mindestverzehr – und ging daran vorbei zum Eingang. Die Türsteher hakten das Seil auf und ließen ihn ein. Er nickte zum Dank.
Er trat in den Vorraum und ging die Treppe hinunter, und der Sound der Band legte einen Zahn zu, dann gingen die Türen zum Tanzsaal auf, und die Musik schlug ihm entgegen wie eine Druckwelle. Die Zwei-Uhr-Show steuerte gerade ihrem Höhepunkt entgegen; Carmen Miranda tanzte auf der Bühne in einem engen Satinkleid den Shimmy, auf dem Kopftuch eine halbe Obstschale. Hinter ihr brach eine Schar Samba-Sirenen, die Mirandas Bewegungen mit entnervender Präzision nachahmten, mit den Hüften die Herzen.
Der Club näherte sich seiner Kapazitätsgrenze – siebenhundert Menschen, verteilt auf mehreren Tanzflächen, Halbgeschossen und Terrassen. Auf den Treppen und Rampen, die alles miteinander verbanden, eilten Restaurantleiter und Kellner hin und her. Angefangen hatte das Copa als bescheidener Versuch, das glamouröse Nachtleben der Hotels von Rio de Janeiro in den kalten Norden zu transportieren, doch inzwischen war es so beliebt, dass sie die Räumlichkeiten ständig erweitern mussten. Sie hatten oben eine Cocktaillounge eröffnet, und WINS übertrug von dort eine Radiosendung – Der berühmte Nachtclub mit den Pin-up-Girls. Und Sie sind eingeladen! Dann war jemand auf die Idee gekommen, daraus einen Film zu machen, Copacabana, mit Groucho Marx und Carmen Miranda. Da der Film eine Filmmusik brauchte, war das Copa auch zu einem Lied geworden, Let’s Do the Copacabana. Zu diesem Lied tanzte Miranda jetzt. Der Club hatte die brasilianische Sängerin-Tänzerin-Schauspielerin für fünf Wochen gebucht, um Werbung für den Film zu machen, und das Lied war der Höhepunkt der nächtlichen Show. Während ihre Hüften zum unglaublich schnellen Dröhnen der Conga-Trommeln vibrierten, schweifte Gabriels Blick über die Menschenmenge.
An der Bar lieferten sich Frank Sinatra und Rocky Graziano mit zwei jungen Frauen, die Gabriel von den Theaterplakaten in der 42nd Street zu kennen glaubte, eine Art Limbo-Wettstreit. Er sah die Wirkung des Benzedrins in ihren Augen. Eine der jungen Frauen fiel auf den Teppich, und alle brachen in wildes Gelächter aus. Frank schlug Rocky auf den Rücken, als hätten sie etwas Bemerkenswertes erreicht, und vielleicht hatten sie das ja auch.
Hinter ihnen standen ein paar zweitklassige Filmstars und die Hälfte der Außenfeldspieler der Yankees, die seit ihrem World-Series-Gewinn vor einem Monat jeden Abend im Club waren. Männer aus der Mafiafamilie Bonanno lungerten mit ein paar Frauen herum, die ihre Ehefrauen, Freundinnen oder Geliebten sein konnten. Mitglieder der vier anderen Mafiafamilien New Yorks waren über den ganzen Raum verteilt. Auf einer der hinteren Terrassen, ganz oben, in der Dunkelheit, hinter ein paar Plastikpalmen und verspiegelten Säulen, entdeckte Gabriel Bürgermeister O’Dwyer, der mit einer ganzen Schar von Männern in Anzügen an einem Tisch saß und mit einem Sektquirl in einem trüben Mai Tai rührte.
Der Bürgermeister blickte auf und begegnete durch das Gewühl der Tänzer Gabriels Blick. Sie nickten einander zu. O’Dwyer war mit Unterstützung von Frank Costello gewählt worden, dem Boss der Mafiafamilie Luciano, dem nicht besonders geheimen Besitzer des Copacabana, dem Mann, für den Gabriel den Club leitete. Gabriel versuchte, die anderen Männer am Tisch des Bürgermeisters zu erkennen, doch es war zu düster. Einer von ihnen nahm eine Tablette aus einem Zigarettenetui und warf sie sich in den Mund.
Als die Band ein Crescendo erreichte, warf Gabriel einen letzten Blick durch den Saal und war nicht zum ersten Mal niedergeschmettert von dem, was er sah, von dem Gedanken, dass das hier alles war, was sie erreicht hatten, dass diese Dekadenz alles war, was der Frieden gebracht hatte, dass die Welt sich dafür in Stücke gerissen hatte, Millionen getötet worden waren und Schatten sich in die Wände eingebrannt hatten. Er fragte sich wie so oft, ob die Welt nicht in der großen Feuersbrunst umgekommen war und die Menschen ihre Existenz in einer Vorhölle fortsetzten, einer Nekropole, und er der Einzige war, der es bemerkte.
Die Band erreichte das Ende des Stücks in einer Lawine von Conga-Wirbeln und Bläsern. Aus der Menschenmenge stieg ein Grölen auf, und die Leute umarmten einander, manche küssten sich. Augen glänzten.
Miranda verbeugte sich.
Der Conférencier nahm das Mikrofon und erklärte, die Band werde eine Pause machen. „Und jetzt kommen Martin und Lewis, um euch zu unterhalten.“
Dean Martin kam mit einem Whiskey in der Hand auf die Bühne, Jerry Lewis mit den Händen in den Taschen. Martin bedankte sich beim Conférencier und zeigte, als dieser die Bühne verließ, mit erhobenem Finger auf ihn.
„Hinter jedem erfolgreichen Mann“, sagte er, „steht eine überraschte Schwiegermutter.“
Der Schlagzeuger spielte einen Trommelwirbel. Die Menschenmenge brach in Gelächter aus.
Gabriel kehrte dem Ganzen den Rücken und eilte auf eine Tür mit der Aufschrift Nur für Personal zu, durch die er in einen feuchten, grauen Flur trat. Die Tür fiel hinter ihm zu und sperrte den Lärm weitestgehend aus. Nach ein paar Ecken gelangte er zu seinem Büro, schloss die Tür auf und trat ein. Es war ein fensterloser Raum, so grau wie der Flur, in dem es das ganze Jahr nach Feuchtigkeit roch. Der Raum wurde dominiert von einem Tisch mit grüner Bespannung, an dem drei Männer Geld zählten. Sie stapelten das Geld, wickelten Banderolen um die Scheine, legten sie auf Tabletts, leckten Bleistifte an, kritzelten Listen. Die Buchführung war kompliziert, denn es gab eine Liste mit dem, was sie tatsächlich einnahmen, eine Liste mit dem, was dem Finanzamt gemeldet wurde, eine Liste mit dem, was an die offiziellen Besitzer ging, und eine Liste mit dem, was Costello und die Mafia behielten. Gabriel war vermutlich der Einzige, der bei der ganzen Operation den Überblick behielt.
Er schloss die Tür ab und ließ sich auf seinen Stuhl sinken. Es fühlte sich an, als würden die beiden Pässe ihm ein Loch in die Jacke brennen. Sechs Jahre Planung, und jetzt waren es noch zehn Tage und er erlag mehr denn je der Angst.
Er zündete sich eine Zigarette an und bemerkte, dass Havemeyer ihn beäugte, der älteste der Männer, die um den Tisch saßen und Geld zählten.
„Was?“, fragte Gabriel.
„Costello will dich sehen“, antwortete Havemeyer, ohne sich beim Zählen zu unterbrechen.
Panik dröhnte durch Gabriels Brust, strömte durch seinen Leib.
„Er war hier?“, fragte er.
Havemeyer schüttelte den Kopf. Er zählte das Bündel zu Ende, wickelte eine Banderole darum, legt es auf ein Tablett und hakte auf einer Liste etwas ab. Erst dann wandte er sich Gabriel zu und sah ihn an. Das limettenfarbene Cellophan seines Mützenschirms fing den Strahl der Deckenlampe ein und warf einen grelles Grün über sein Gesicht, sodass er aussah wie eine Figur aus einem der Comics, die Sarah überall in der Wohnung liegen ließ.
„Er hat angerufen“, sagte Havemeyer. „Hat bei Augie eine Nachricht hinterlassen.“
„Hat er gesagt, was er will?“, fragte Gabriel. Dann begriff er, dass das eine dumme Frage war. Die Stadt hatte Costellos Telefon verwanzt, und Costello hatte zwar einen Fernsprechexperten angeheuert, um die Wanze zu suchen, aber Geschäftliches besprach er immer nur persönlich.
„Was meinst du?“, fragte Havemeyer.
Gabriel versuchte, sich zu beruhigen. Vielleicht hatte Costello nur einen Auftrag für ihn, und alles war okay. Vielleicht war Costello ihm auch auf die Schliche gekommen, und sein Grab war schon geschaufelt.
„Schwitzt du?“, fragte Havemeyer.
Gabriel schüttelte den Kopf. „Draußen regnet es.“
Es sah so aus, als würde der alte Mann ihm das abkaufen, denn er nickte und machte sich wieder ans Zählen.
Einer der Männer trug ein Tablett mit Geldbündeln zum Tresor in der Ecke, ein gedrungenes Ding aus Gusseisen, dessen klobige Form Gabriel seit jeher an eine Bombe erinnerte. Ein anderer Mann öffnete die Tresortür, und die Dollarscheine wurden von der Dunkelheit in seinem Innern verschlungen. Falls alles eine Illusion war, falls sie tatsächlich in die Unterwelt hinabgestiegen waren, dann war diese Bombe der Kessel, der den Traum antrieb.
Sechs Jahre Planung, noch zehn Tage, und er war vom capo dei capi herbeizitiert worden.

3
Montag, der 3., 7:05 Uhr
Vier Stunden später traten Gabriel, Havemeyer und zwei Wachmänner aus dem Bühneneingang des Copa in die aschgraue Morgendämmerung. Die Wachmänner ließen die Rollläden vor dem Eingang herunterdonnern, dass der Lärm durch die Gasse hallte. Havemeyer zuckte zusammen. Mit roten arthritischen Augen sah er sich um. Gabriel fand, dass ein Mann in Havemeyers Alter keine Nachtschichten mehr in einem Club arbeiten sollte.
Die Wachmänner verschlossen die Rollläden mit Vorhängeschlössern und gaben Gabriel die Schlüssel, und dann ging jeder seiner Wege; die Wachmänner, um in Bovas Fitnesszentrum in Williamsburg zu trainieren; Havemeyer zu seinem Sofa in den Heights, denn seine Frau schlief gern lange; und Gabriel zu einem Treffen mit Frank Costello, dem „Ministerpräsidenten der Unterwelt“.
Er ging zur 5th, wo sich auf dem Gehweg Männer in Anzügen, Sekretärinnen, Verkäuferinnen, schwarze Hausangestellte drängten sowie Kinder, die Zeitungen feilboten. Der nächtliche Regen hatte einen Schimmer über die Stadt gelegt, das Pflaster war rutschig, die Luft trotz der Kälte klamm und dumpf. Gabriel winkte ein Taxi herbei, das ihn auf die andere Seite des Parks bringen sollte. Er konnte die Fahrt nutzen, um sich auf das Treffen vorzubereiten. Er musste einen entspannten, normalen und selbstsicheren Eindruck machen. Auf keinen Fall durfte er wirken, als stünde er kurz davor, mit einem riesigen Packen gestohlenen Mafiagelds zu verschwinden.
Er zündete sich eine Zigarette an und erinnerte sich an die Strände in Mexiko, die er während des Kriegs gesehen hatte. Er spürte die sengende Hitze der Sonne auf seiner Haut, das klare, weiße Licht, das der Sand reflektierte, das beruhigende Rauschen der Wellen. Für einen kurzen Moment war er nicht mehr in den trostlosen Straßen von New York im November.
Und dann war er wieder da.
Verfroren, müde und besorgt in der harten, grauen Morgendämmerung.
Sie fuhren an einem U-Bahnhof vorbei, aus dem Menschen strömten. An jedem Arbeitstag kam eine halbe Million Pendler durch Tunnel und über Brücken nach Manhattan. Gabriel überlegte, ob die Erde der Insel, die nur an wenigen Stellen zu sehen war, von dem Gewicht der vielen Menschen zusammengedrückt wurde und die Insel ein wenig einsank und ob der Fluss ein wenig höher gegen die Molen schlug.
Am Columbus Circle hielt das Taxi an einer roten Ampel. Gabriel stieg der warme, süße Duft von frisch gebackenem Brot in die Nase, und er entdeckte den Lieferwagen einer Bäckerei, der vor einem Lebensmittelladen vorgefahren war. Die Bäcker luden Bleche mit Brot aus, das mit Wachspapier zugedeckt war. Gabriel beneidete die Männer. Sie konnten das Brot vorzeigen, das sie in der Nacht gebacken hatten. Und was konnte Gabriel vorzeigen? Er und die fünfzig Leute, die unter ihm arbeiteten, hatten die Nacht damit verbracht, in einem Keller an der East 60th Street eine exotische Illusion von Rio heraufzubeschwören. Ein sinnliches Traumgespinst, das sich zur Morgendämmerung wieder auflöste und von dem nichts blieb als ein paar Hundert Kater, die überall in der Stadt ausgeschlafen wurden, und der letzte leise Widerhall der Congas in seinem Kopf.
Die Ampel sprang auf Grün, und das Taxi fuhr weiter nach Norden. Er zählte die Straßen ab, die an seiner Linken vorüberzogen, von der 60th bis rauf zur 71st. Zu seiner Rechten hing der Park in der Schwebe zwischen Herbst und Winter. Der Boden war mit Raureif überzogen, die Bäume hatten ihr Laub verloren, zeigten ihre schwarzen, staksigen Skelette, hier und da ein Vogelnest, ein in sich zusammengefallener Ballon, über den ein Kind in den Hundstagen des Sommers gewiss Tränen vergossen hatte.
Wieder setzte Regen ein und schlug hart gegen die Fenster des Taxis, zerteilte die Welt in durchscheinende Perlen. Sie fuhren vor den Majestic Apartments vor, einem zweitürmigen Art-déco-Gebäude an der 115 Central Park West. Irgendwann hatten die meisten Mafiabosse in der Stadt dort einmal eine Wohnung besessen. Jetzt war nur noch Costello übrig. Gabriel zahlte das Taxi und stieg aus. Nieselregen und Wind schlugen ihm entgegen. Er ging durch den Eingang, nickte dem Türsteher zu und betrat die Lobby, wo er von einem Schwall warmer, trockener Luft empfangen wurde.
„Ich bin mit Mr Costello verabredet“, sagte er zu dem Portier, der das mit einem Nicken quittierte und Gabriel bedeutete, hinaufzugehen. Um diese Tageszeit kam stets ein ganzer Strom von Menschen, die zu Costello wollten.
Der Aufzug brachte ihn die achtzehn Etagen hinauf, wo die Türen sich zu einem mit rotem Teppich ausgelegten Flur öffneten, an dessen Ende die Tür zu Apartment 18F lag. Jeder andere Mafiaboss hätte hier Wachmänner stehen gehabt, genau wie in der Lobby unten und draußen auf der Straße. Nicht so Costello.
Diese Offenheit hatte Gabriel an seinem Boss schon immer gefallen. Costello trug keine Waffe bei sich, er beschäftigte keine Leibwächter und hatte keinen Chauffeur, der ihn herumfuhr. Wenn Costello irgendwo hinmusste, nahm er sich ein Taxi, allein, unbewaffnet. Wie jeder andere New Yorker. Das gab der Stadt das Gefühl, Frank Costello wäre gar nicht so schlimm, er wäre – obwohl er capo dei capi war, Vorsitzender der Kommission, Anführer der fünf Familien, Chef sämtlicher Organisierter Kriminalität, verantwortlich für eine Armee von über zweitausend Männern – vor allem ein Junge aus dem Viertel, der es zu etwas gebracht hatte. Manhattans ureigener Gangster.
Unter seiner Führung hatte die Mafia mehr Geld verdient, mehr Einfluss errungen, mehr Macht erlangt als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in ihrer Geschichte. Dabei hatte er nie ihr Anführer sein wollen und die Aufgabe nur widerstrebend übernommen.
Gabriel klopfte an die Tür, und nach ein paar Sekunden öffnete Costellos Frau Bobbie ihm.
„Morgen, Gabby. Was macht die Kunst?“, fragte sie und beugte sich vor, um ihm einen Kuss zu geben.
Sie sprach mit hoher Kleinmädchenstimme, die sie sich über die Jahrzehnte bewahrt hatte.
„Ach, weißt du“, antwortete Gabriel, „sie stellt sich auf den Winter ein.“
„Du willst zu Frank?“
„Klar.“
Sie drehte sich um und führte ihn den Flur hinunter.
Bobbie war eine zierliche Brünette, hübsch und schlagfertig. Wie viele italienische Gangster hatte Costello eine Außenseiterin geheiratet, eine Jüdin von der 7th Avenue, unweit des Slums von East Harlem, in dem er aufgewachsen war. Auch das trug zu der Legende um Frank Costello bei – dass er die junge Frau von der richtigen Straßenseite geheiratet hatte. Bei seiner Heirat war er dreiundzwanzig gewesen, Bobbie fünfzehn.
„Wie läuft’s im Copa?“, fragte sie.
„Alles beim Alten.“ Er lächelte. „Lateinamerikanische Musik, chinesisches Essen, amerikanische Fieslinge.“
Sie lachte. Zwei Hunde kamen ihnen kläffend entgegen, ein Zwergpinscher und ein Zwergpudel, sie bellten und blickten finster drein. Bobbie kniete sich hin, um sie zu beruhigen.
„Wollt ihr wohl still sein, verdammt?“, sagte sie und packte sie an den Halsbändern. „Ich weiß nicht, was mit ihnen los ist.“
Die Hunde kläfften Gabriel weiter an, und Gabriel überlegte, ob sie in ihm wohl den Verräter in ihren Reihen erkannten. Ob Hunde, genau wie Angst, auch Verrat riechen konnten.
„Wie geht es Sarah?“, fragte Bobbie und scheuchte die Hunde den Flur hinunter.
Sie erkundigte sich immer nach Gabriels Nichte, und dann spürte Gabriel in ihrer Stimme stets einen Anflug von etwas. Bobbie und Costello waren kinderlos; vielleicht war das der Grund, warum sie die beiden Hunde so verwöhnten.
„Im Moment ist sie ganz verrückt nach Comics“, antwortete er.
„Ja“, sagte sie. „Sämtliche Kinder in der Stadt haben die Nase in einem Comic.“
„Ist mir noch nicht aufgefallen.“
„Du musst tagsüber öfter mal an die frische Luft.“ Sie schenkte ihm ein schlitzohriges Grinsen.
Sie traten ins Wohnzimmer. Der Anblick, der sich Gabriel dort bot, erinnerte ihn immer an ein Hotelrestaurant zur Frühstückszeit. An der hinteren Wand waren Tische aufgestellt, beladen mit Serviertabletts mit Schinken und Eiern, Feingebäck und Brot, Brotaufstrichen, Kaffeekannen und einem Samowar mit Tee. Zwei gelangweilt dreinblickende Dienstmädchen standen neben den Tischen und warteten darauf, dass jemand etwas bestellte. Auf Sofas und Chaiselongues, am Fenster, am Klavier, neben dem Kamin und den Spielautomaten saßen, standen oder lehnten überall im Raum prominente Persönlichkeiten und tranken, aßen, redeten, planten und intrigierten. Gabriel entdeckte Männer aus dem Rathaus, von der Wall Street, Gewerkschaftsmitglieder sowie Vertreter von sämtlichen New Yorker Mafiafamilien.
Woche für Woche lud Costello hierher zum Frühstück ein. Für viele der politischen Akteure der Stadt begann so der Tag. Es gehörte alles zu Costellos großem Plan – sich unter die oberen Zehntausend zu mischen, ihnen den einen oder anderen Gefallen zu tun, ihnen Geld zu leihen, die Grenze zwischen Rechtmäßigkeit und Gangstertum zu verwischen, sich so viele Freunde zu machen, dass es unmöglich war, vernichtet zu werden.
Bislang war sein Plan aufgegangen. Costello organisierte nicht nur die Verbrechen der Nation, sondern auch einen Großteil ihres Warenverkehrs. New York war Heimat der mächtigsten Wirtschaft, die die Welt je erlebt hatte. Die Hälfte der Ein- und Ausfuhren des Landes strömten durch seinen Hafen – und dieser Hafen wurde von der Mafia kontrolliert, sodass dieser Raum das Herz im Herzen der größten Stadt der Welt war, der Albtraum im Innern des Traums.
„Ich sehe nach, ob er Zeit hat“, sagte Bobbie. „Nimm dir Kaffee und etwas zu essen.“
Sie eilte durch den Trubel, und Gabriel zündete sich eine Zigarette an und überprüfte, ob seine Hände zitterten. Dann ging er zum Büfett, schenkte sich einen Kaffee ein und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Die Ausstattung war vergoldet, altehrwürdig, luxuriös, übertrieben. Möbel waren in Massen gekauft worden, um das riesige Apartment zu füllen und gemütlich zu machen. Im offenen Kamin knisterte ein Holzfeuer, darüber hing ein Howard Chandler Christy in einem vergoldeten Rahmen. Es gab ein goldenes Klavier, und in allen vier Ecken standen Glücksspielautomaten aus Costellos New-Orleans-Operation. Sie waren so frisiert, dass sie auszahlten – Costellos Vorstellung von Gastfreundschaft.
Trotz aller Pracht und dem luxuriösen Mobiliar wurde der Raum doch von den Fenstern dominiert, die einen ungehinderten Blick über Manhattan in seiner ganzen bleichen Herrlichkeit boten, wie es im morgendlichen Nieselregen flirrte. Nebenan lag das Dakota, gegenüber der Park, dahinter die noch mit altem Geld erbauten stolzen Türme der Upper East Side und auch Gabriels Wohnung. Im Süden ragten Reihe um Reihe die Wolkenkratzer von Midtown in die Regenwolken wie unzählige Messer.
Gabriel blickte hinunter in den Park. Der Regen hatte den nächtlichen Raureif fast ganz weggeschmolzen.
„Gabby“, sagte jemand.
Gabriel wandte sich um. Neben ihm stand John Bova, ein kleiner Loddel in der Mafiafamilie Luciano, Besitzer des Fitnessstudios, in dem Gabriels Wachleute trainierten. Bova hatte die Gestalt eines aus der Form geratenen Boxers und ein rotes, flächiges Gesicht, grotesk entstellt von einer breiten Narbe, die über die rechte Wange lief.
„Bova“, sagte Gabriel. „Du bist früh auf.“
Bova verharrte, unsicher, ob er auf den Arm genommen wurde. „Bist du hier, um den Boss zu sehen?“, fragte er neugierig.
„Nein“, sagte Gabriel. „Ich bin wegen des leckeren Frühstücks hergekommen.“
Wieder beäugte Bova ihn. Und wieder genoss Gabriel die Verwirrung des Mannes.
In der Familie Luciano gab es zwei Lager, dasjenige, dem Costello und Gabriel angehörten, und das andere, das von Vito Genovese angeführt wurde, dem capo bastone der Familie draußen in New Jersey, machthungrig und begierig darauf, den Thron zu übernehmen. Bova gehörte eigentlich zu Costellos Clique, war aber als Maulwurf für Genovese tätig. Costello und Gabriel wussten das, behielten ihn aber für den Notfall in der Nähe.
„Was ist mit dir?“, fragte Gabriel.
Bova zuckte die Achseln, doch Gabriel sah, dass es ihm nicht passte, dass sich das Gespräch plötzlich um ihn drehte. Der Mann war alles, was Gabriel an Mafiosi hasste: gewalttätig, selbstgefällig, egoistisch und bei Weitem nicht so clever, wie er dachte.
„Bin hier, um Kontakte zu knüpfen“, sagte Bova. „Du kennst doch den Spruch: Arme Männer stehen auf, um zur Arbeit zu gehen, reiche Männer stehen auf und machen Kontakte.“
Gabriel fragte sich, ob Bova Businessleitfäden zum Selbststudium gelesen hatte. Der Kerl hatte einen Stall voller abgehalfterter Prostituierter, die in rattenverseuchten Wohnungen rund um den Columbus Circle arbeiteten. Er setzte sie auf Drogen, schickte sie selbst bei Eiseskälte raus auf die Straße und schlug sie, wenn die Umsätze sanken. Dagegen waren fast alle anderen im Raum führende Mitglieder der Gesellschaft. Gabriel fragte sich, was für Kontakte Bova hier knüpfen wollte.
„Irgendeine Idee, wer der Itzig mit dem Ledergesicht ist?“, fragte Bova und zeigte auf einen sonnengebräunten, grauhaarigen Mann, der neben dem Samowar stand. Bova benutzte gern jüdische Beleidigungen, wenn Gabriel in der Nähe war.
Gabriel bedachte ihn mit einem Blick. Bova fing ihn auf.
„Nichts für ungut.“ Bova zuckte die Achseln, dann spielte ein hinterhältiges kleines Lächeln um seine Lippen.
„Das ist Jack Warner“, sagte Gabriel, „der Filmproduzent.“
„Warner wie in Warner Brothers?“
Gabriel nickte. Costello und Warner waren alte Freunde. Gabriel warf einen Blick auf den Mann, und ihm dämmerte, dass etwas im Busch war. In den letzten beiden Nächten waren ihm im Copa noch einige andere Filmproduzenten aus Los Angeles aufgefallen. Er machte sich im Geist eine Notiz, Costello danach zu fragen.
Die Tür am hinteren Ende des Raums ging auf, und Bobbie bedachte Gabriel mit einem Lächeln und winkte ihn herüber. Gabriel war erleichtert, dem übergewichtigen Luden zu entkommen.
„Du bist doch hier, um den Boss zu sehen“, sagte Bova. „Was tut sich?“
„Ich wünschte, ich wüsste es“, versetzte Gabriel und ging quer durch den Raum in Costellos Arbeitszimmer.

Ray Celestin

Über Ray Celestin

Biografie

Ray Celestin studierte Asiatische Kunstgeschichte und Sprachen in Großbritannien. Er ist Drehbuchautor für Film und Fernsehen und veröffentlichte bereits mehrere Kurzgeschichten. Auf seinen Debütroman Höllenjazz in New Orleans, der die britischen Bestsellerlisten und Feuilletons im Sturm eroberte,...

Pressestimmen
Südwest Presse

„Es ist eine wunderbare und höchst sachkundige geschriebene Hommage an den Jazz der 1920er Jahre mit seinen Protagonisten Louis Armstrong, Earl Hines und Cab Calloway.“

dpa-Meldung

„Celestin verwebt zahlreiche Erzählstränge zu einer faszinierenden Mischung, die vor einer höchst lebendigen und vielfältigen Großstadt spielt.“

Heilbronner Stimme

„Beste Unterhaltung, nicht nur für Jazzfans“

Schleswig Holstein am Wochenende

„›Gangster Swing in New York‹ ist ein klassischer Mafiaroman in bester amerikanischer Film- und Story-Tradition.“

Der phantastische Bücherbrief

„›Gangsterswing in New York‹ kombiniert gekonnt Cameo-Auftritte von realen Personen und fiktiven Charakteren in einer eng verwobenen und fantasievollen Handlung, die mit historischen Details vollgepackt ist, wobei die Recherchen offensichtlich sind und das New York der 1940er Jahre zu pulsierendem Leben erweckt.“

meine-news.de

„Fiktion und wahre Ereignisse verschwimmen hier und trotz der ein oder anderen chronologischen Freiheit bastelt Celestin einen tollen Roman daraus, der in einem packenden Finale mündet.“

Just for Swing Gazette

„Dies ist ein Roman mit Nachwirkungen, eine gelungene Melange aus Kriminal-, Zeit- und Jazzgeschichte, den man – einmal begonnen – nicht wieder aus der Hand legen kann.“

Isar aktuell

„Spannende Lektüre, nicht nur für Jazz- und Krimifans.“

Kronen Zeitung (A)

„Die Krimireihe von Ray Celestin hat ihren ganz eigenen Klang.“

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