Lieferung innerhalb 1-3 Werktage
Bezahlmöglichkeiten
Vorbestellung möglich
Kostenloser Versand*
Blick ins Buch
Blick ins Buch

Der Stoff, aus dem wir sind

Fabian Scheidler
Folgen
Nicht mehr folgen

Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen

Taschenbuch (12,00 €) E-Book (11,99 €)
€ 12,00 inkl. MwSt.
sofort lieferbar
In den Warenkorb Im Buchshop Ihrer Wahl bestellen
Geschenk-Service
Für den Versand als Geschenk können eine gesonderte Lieferadresse eingeben sowie eine Geschenkverpackung und einen Grußtext wählen. Einem Geschenkpaket wird keine Rechnung beigelegt, diese wird gesondert per Post versendet.
Kostenlose Lieferung
Bestellungen ab 9,00 € liefern wir innerhalb von Deutschland versandkostenfrei
€ 11,99 inkl. MwSt.
sofort per Download lieferbar
In den Warenkorb Im Buchshop Ihrer Wahl bestellen
Geschenk-Service
Für den Versand als Geschenk können eine gesonderte Lieferadresse eingeben sowie eine Geschenkverpackung und einen Grußtext wählen. Einem Geschenkpaket wird keine Rechnung beigelegt, diese wird gesondert per Post versendet.
Kostenlose Lieferung
Bestellungen ab 9,00 € liefern wir innerhalb von Deutschland versandkostenfrei

Der Stoff, aus dem wir sind — Inhalt

Warum die Natur ganz anders ist, als wir glauben

Von den Rätseln der Natur und der Bewahrung der Erde

Ist die Welt nur eine Maschine? Sind wir nichts als biologische Roboter in einem seelenlosen Universum? In einer faszinierenden Reise durch die Geschichte der Wissenschaften zeigt Fabian Scheidler, dass sich diese Auffassung der Natur als tödlicher Irrtum erwiesen hat. Angesichts der ökologische Krise und der zunehmenden Macht der Technik weist das Buch Wege zu einem neuen Verständnis der Natur und unser selbst. Zugleich eröffnet es Perspektiven für neue Formen des Wirtschaftens und Zusammenlebens, die nicht auf Konkurrenz und Ausbeutung, sondern auf Verbundenheit mit dem Lebendigen beruhen.

„Dieses Buch ist ein großer Wurf.“ Ernst Ulrich von Weizsäcker

„Eines der wichtigsten Bücher zum Thema.“ Forum Wissenschaft

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 29.02.2024
304 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-32063-4
Download Cover
€ 11,99 [D], € 11,99 [A]
Erschienen am 01.03.2021
304 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99902-1
Download Cover

Leseprobe zu „Der Stoff, aus dem wir sind“

Einleitung

Die industrielle Zivilisation hat das Antlitz der Erde innerhalb der letzten zwei Jahrhunderte radikal verändert: An die Stelle von beinahe endlosen Wäldern und vielfältigen Kulturlandschaften sind Megastädte und Industriegebiete, Straßengeflechte und Containerhäfen, landwirtschaftliche Monokulturen und Abraumhalden getreten. Gewaltige Flussläufe wurden begradigt, umgeleitet und aufgestaut, Berge untertunnelt und gesprengt. Was auf der einen Seite als Triumph der Zivilisation über die Natur erscheint, als Beweis der Macht und Intelligenz des [...]

weiterlesen

Einleitung

Die industrielle Zivilisation hat das Antlitz der Erde innerhalb der letzten zwei Jahrhunderte radikal verändert: An die Stelle von beinahe endlosen Wäldern und vielfältigen Kulturlandschaften sind Megastädte und Industriegebiete, Straßengeflechte und Containerhäfen, landwirtschaftliche Monokulturen und Abraumhalden getreten. Gewaltige Flussläufe wurden begradigt, umgeleitet und aufgestaut, Berge untertunnelt und gesprengt. Was auf der einen Seite als Triumph der Zivilisation über die Natur erscheint, als Beweis der Macht und Intelligenz des Menschen, erweist sich auf der anderen Seite als Verhängnis: Der vermeintliche Sieg über die Naturgewalten hat den Planeten in eine der tiefsten Krisen seiner Geschichte gesteuert. Nie zuvor seit 66 Millionen Jahren, als die Dinosaurier von der Erde weitgehend verschwanden, starben so schnell so viele Tier- und Pflanzenarten aus. Das Klimasystem nähert sich gefährlichen Kipppunkten; werden sie überschritten, drohen ganze Erdregionen unbewohnbar zu werden. Ob die Gattung Homo diesen Prozess letztlich überleben wird, ist alles andere als gewiss.
Obwohl all dies im Prinzip seit Jahrzehnten bekannt ist, ist unsere Zivilisation offensichtlich unfähig, ihren Kurs zu korrigieren. Weder die immer drängenderen Warnrufe von Zehntausenden Wissenschaftlern noch die Millionen von Menschen, die für die Rettung des Planeten weltweit auf die Straße gehen, haben daran etwas Wesentliches geändert. Wie ich in meinem Buch Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation gezeigt habe, reichen die Gründe dafür tief in die ökonomischen, politischen und ideologischen Fundamente unserer Gesellschaft hinein.
Zu diesen Tiefenstrukturen gehört auch ein besonderes Verhältnis zu dem, was wir „Natur“ nennen. Für die Pioniere der mechanistischen Wissenschaft, die in der Frühen Neuzeit entstand und prägend für unsere Zivilisation werden sollte, bestand die Natur aus vom Menschen getrennten Objekten, die sich beliebig zerlegen, analysieren, neu zusammensetzen und kontrollieren ließen. Alles, so schien es, könne der Mensch ergründen und schließlich beherrschen. Doch tatsächlich haben sich, wie wir im Laufe dieses Buches sehen werden, genau diese Annahmen mittlerweile auf allen Ebenen als falsch erwiesen: Erstens zeigt sich der Stoff, aus dem wir sind, als immer rätselhafter, je tiefer die Wissenschaft in ihn eindringt; zweitens lässt er sich nicht in isolierte Objekte auftrennen; und drittens führt der Versuch einer totalen Kontrolle über die Natur geradewegs in den ökologischen Kollaps – und damit in einen zunehmenden Kontrollverlust.
Doch diese Erkenntnisse haben sich bisher in unserem alltäglichen Bewusstsein und Handeln nicht durchsetzen können. Wir sprechen noch immer selbstverständlich so, als sei die Natur etwas, das unabhängig von uns „da draußen“ existiert, eine „Umwelt“, die uns umgibt, während wir selbst einer anderen Sphäre angehörten: der „Zivilisation“. Wir tun so, als würden uns die Verwerfungen in der Biosphäre kaum mehr angehen als ein Film auf einer Leinwand, den wir bei Bedarf einfach abschalten können. Inzwischen bewegen wir uns die meiste wache Zeit in einer digitalen Technosphäre, in der die nicht menschengemachte Welt nur noch als Bild, als Datensatz vorkommt. Diese Trennung ist das Ergebnis eines jahrhundertelangen Prozesses, der nicht nur unser Denken und unseren Alltag durchzieht, sondern auch unsere ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen Institutionen.
Doch so hoch die Mauern auch sind, die wir durch Technik zwischen uns und der „Umwelt“ errichten, so sehr erweisen sie sich am Ende als Illusion. Durch Atmung und Stoffwechsel werden alle zwei Monate sämtliche Atome meiner Leber ausgetauscht, alle sechs Wochen die meiner Haut. Was eben noch „da draußen“ war, ist im nächsten Moment ein Teil von mir. Und umgekehrt. Der Stoff da draußen ist unser Stoff. Was wir ihm antun, tun wir letztlich uns selbst an. Die Ausbreitung von Pandemien wie Covid-19 zeigt das sehr anschaulich, schließlich stammt ein Großteil der neuen Erreger, die unsere Atemwege und Immunsysteme befallen, von wilden Tieren, deren Habitate zerstört wurden. Die Vorstellung, es gebe eine von uns getrennte Natur, mit der wir beliebig verfahren können, die wir abbaggern, aufheizen, zerlegen, neu zusammensetzen und kontrollieren können wie ein Bauingenieur seine Materialien, ist eine tödliche Täuschung.
Dieses Buch erkundet die Ursprünge jener Illusion der Trennung, die tief in der westlichen Zivilisation verankert ist. Dabei zeigt es, wie die modernen Naturwissenschaften, die oft herangezogen werden, um die technische Herrschaft über die Natur zu legitimieren, tatsächlich eine Welt entdeckt haben, die keineswegs auf Trennung, sondern auf Verbundenheit, nicht auf Herrschaft, sondern auf Selbstorganisation beruht. Diese Erkenntnisse können entscheidend dabei helfen, die ideologischen Verengungen unserer Weltsichten zu überwinden und Auswege aus der gegenwärtigen zivilisatorischen Sackgasse zu finden.

Der Stoff, aus dem wir sind
Die meisten von uns haben in der Schule gelernt, dass sich der Stoff, aus dem wir sind, im Innersten aus kleinen Kügelchen zusammensetzt: aus Atomen und Elementarteilchen. Im Chemielabor wurden uns Steckmodule von Molekülen gezeigt und im Physikunterricht Modelle, in denen sich Elektronen um einen festen Atomkern drehen wie Planeten um die Sonne. Fortgeschrittene dürfen das Standardmodell der Elementarteilchenphysik studieren, das die verschiedenen Partikel in einer Tabelle wohlgeordnet auflistet. Die Welt gleicht in dieser Sichtweise einem Lego-Bausatz mit sehr kleinen, fein säuberlich getrennten Bausteinen, aus denen sich alles zusammensetzen lässt, ob Planeten, Bakterien oder Menschen.
Doch diese so überschaubare und praktische Vorstellung von der Welt hat einen Nachteil: Sie ist vollkommen falsch. Seit den Revolutionen der Relativitätstheorie und der Quantenphysik vor einhundert Jahren hat die Physik erkennen müssen, dass im Inneren der Materie nichts Festes, Greifbares existiert, sondern nur schwingende Felder von Energie, die im Prinzip das ganze Universum durchziehen. Die scheinbar getrennten Dinge und Wesen sind tatsächlich in einem großen Gewebe miteinander verbunden. Die Felder, welche die Grundlage unserer Existenz bilden, verhalten sich so seltsam, dass sie unsere Vorstellungen von Raum, Zeit und Kausalität grundlegend herausfordern (Kapitel 1).
Zugleich gibt der Stoff, aus dem wir sind, noch aus anderen Gründen Rätsel auf. Denn aus ihm kann etwas entstehen, das sich auch auf der makroskopischen Ebene vollkommen anders verhält als die Kugeln und schiefen Ebenen aus dem Physikunterricht: Leben. Während eine Kugel, die ich sanft anstoße, eine abschüssige Ebene hinunterrollen wird, kann ein Mensch, den ich sanft berühre, einen ganzen Berg hinaufsteigen. Lebewesen agieren und reagieren vollkommen anders als nichtlebende physikalische Objekte, und aus diesem Grund hat eine Biologie, die versucht, Leben allein aus mechanischen Vorgängen zu erklären, bis heute enorme Schwierigkeiten, das Verhalten von lebenden Wesen angemessen zu verstehen, geschweige denn zu erklären. Allen gewaltigen technischen Fortschritten zum Trotz.
Das wohl hartnäckigste Rätsel dabei ist die Tatsache, dass Lebewesen, zum Beispiel Menschen, sich nicht nur vollkommen anders verhalten als andere physikalische Objekte, sondern auch ein Innenleben entfalten, das sich von außen nicht direkt beobachten lässt. Eine farbenblinde Hirnforscherin etwa, die alles über die Biochemie unseres Körpers weiß, kann trotzdem beim besten Willen nichts darüber in Erfahrung bringen, wie es ist, die Farbe Blau zu sehen, denn sie gehört jenem seltsamen Reich der Innenwelten an, das nicht aus messbaren und zählbaren Dingen besteht, sondern aus erlebten Qualitäten. Wenn ich einen Apfel esse, dann verwandelt mein Stoffwechsel ihn nicht nur in neues Leber- und Hautgewebe, sondern auch in Gedanken, Träume und Empfindungen. Der Apfel verbrennt zu Geist, zu Gefühl. Was ist das für eine seltsame Substanz, die zugleich Stoff und Nichtstoff, Innen- und Außenwelt, tot und lebendig ist?

Der große Graben
Es gibt zwei Wege, etwas über diesen Stoff zu erfahren. Zum einen unsere unmittelbare Wahrnehmung. Wir wissen, wie es ist, Farben zu sehen, Musik zu hören, etwas zu riechen, Schmerz oder Freude zu empfinden. Wir wissen, wie sich ein rauer Stein anfühlt und die Haut eines anderen Menschen. Wir wissen, was es heißt, sich an jemanden zu erinnern. Dieses weite Land, dieser Weltinnenraum, steht jedem offen. Um ihn zu betreten, brauchen wir weder Quantenphysik noch Molekularbiologie. Wir werden in ihn hineingeboren. Er wächst mit uns. Er ist unsere primäre Wirklichkeit.
Der andere Weg ist die Beschreibung der Welt, sofern man sie in Teile zerlegen und von außen vergleichen, vermessen, wiegen und zählen kann. Die Naturwissenschaften haben sich auf diesen zweiten Weg begeben. Beide Wege der Erkenntnis erschließen uns etwas über die Wirklichkeit, in der wir leben. Sie lassen sich auch nicht grundlegend voneinander trennen, denn selbst die anspruchsvollste Wissenschaft kann gar nicht anders, als auf der primären Wirklichkeit unserer Wahrnehmung aufzubauen.
Doch über die Jahrhunderte hat sich ein tiefer Graben zwischen diesen beiden Welten aufgetan, ein mittlerweile schier unüberbrückbarer Abgrund. Im Jahr 1970 schrieb der französische Biochemiker und Nobelpreisträger Jacques Monod die denkwürdigen Sätze: „Der Mensch muss endlich aus seinem tausendjährigen Traum erwachen und seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen. Er weiß nun, dass er seinen Platz […] am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.“ Der Graben, den Monod hier beschreibt, durchzieht die westliche Zivilisation auf allen Ebenen. Es ist die Spaltung von Natur und Kultur, Seele und Körper, Materie und Geist, Innensicht und Außensicht.
Während Monod den Menschen noch als eine einsame Insel in einem tauben Universum sah, auf der es zumindest für ihn selbst noch Musik und Empfindungen gibt, gehen manche, die meinen, im Namen der Wissenschaft zu sprechen, wesentlich weiter. Sie verkünden, dass wir nur biologische Maschinen in einem seelenlosen Universum seien und unsere Innenwelt nicht mehr als eine bunte, gefühlsduselige Fassade vor einer eiskalten Wirklichkeit sei. Einige Vertreter des Silicon Valley behaupten sogar, dass sich der menschliche Geist, da er ja lediglich aus Rechenoperationen bestehe, in wenigen Jahrzehnten auf Computer „uploaden“ lasse und den Körper überflüssig mache. Diese „transhumanistische“ Mythologie ist Teil einer langen Geschichte der Entfremdung des Menschen, die eng mit der Entwicklung unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems zusammenhängt.
Dieses Buch soll zeigen, dass diese Spaltung und Entfremdung sich nicht aus den Erkenntnissen der Wissenschaften selbst speist, sondern aus ihrer selektiven und verzerrten Interpretation. Es gilt scharf zu unterscheiden zwischen tatsächlichen Forschungsergebnissen und einer technokratischen Ideologie, die Wissenschaft missbraucht, um ein bestimmtes Weltbild zu verbreiten – und nicht zuletzt auch, um handfeste monetäre Interessen durchzusetzen.
Wenn wir die Forschung von diesem ideologischen Überbau befreien, dann erscheinen die Erkenntnisse von Physik, Chemie und Biologie der letzten Jahrhunderte in einem vollkommen anderen Licht. Statt uns eine tote Welt isolierter Objekte zu offenbaren, haben sie nämlich etwas ganz anderes zutage gefördert: ein Universum, das auf Verbundenheit, Selbstorganisation und Kreativität beruht. Weder sind wir isolierte Inseln des Empfindens und Denkens in einer tauben, sinnlosen Welt noch biologische Roboter, sondern Teil eines allesverbindenden kosmischen Selbstentfaltungsprozesses, der von der subatomaren Ebene über die Sphäre des Lebens bis in die Weiten des Universums reicht.
Diese neue Sicht wird auch von großer Tragweite dafür sein, wie wir mit der planetaren Krise umgehen, in die uns eine jahrhundertelange Ausbeutung der Natur einschließlich des Menschen gesteuert hat – eine Krise, die inzwischen nicht nur die Fortexistenz unserer Spezies gefährdet, sondern das gesamte Leben auf der Erde. Denn diese Krise beruht nicht zuletzt auf jener tiefen Spaltung zwischen einem entwurzelten, „total verlassenen“ Menschen und einer zum toten Objekt degradierten Natur.

Das mechanistische Weltbild und der Tod des Universums
Als die modernen Naturwissenschaften vor gut 400 Jahren in Europa entstanden, war noch nicht ausgemacht, in welche Richtung sie sich entwickeln würden. Der Astronom, Mathematiker und Philosoph Johannes Kepler (1571 – 1630), einer der Wegbereiter der neuen Wissenschaften, glaubte etwa, dass die Erde ein lebendes Wesen sei und eine Seele besitze, die „anima terrae“. Die Vorstellung einer toten, seelenlosen Natur war ihm wie vielen anderen Renaissance-Gelehrten fremd (Kapitel 4). Kepler nahm an, dass der gesamte Kosmos, einschließlich der Erde, ein zusammenhängendes Ganzes sei. Das Universum war in seinen Augen in musikalischen Harmonien geordnet, die sich in bestimmten Zahlenverhältnissen spiegelten.
Die Vorstellung eines toten und leeren Universums, wie es Monod später skizzierte, war zu keinem Zeitpunkt seit Kepler Konsens unter führenden Wissenschaftlern (ganz zu schweigen von der übrigen Bevölkerung und außereuropäischen Kulturen). Selbst Isaac Newton, der gemeinhin als Vollender des mechanistischen Weltbildes gilt, sah den gesamten Kosmos als eine Einheit, die zugleich geistig und materiell ist.
Trotz des Einspruches hochrangiger Forscher setzte sich jedoch in Europa seit dem 17. Jahrhundert nach und nach eine „mechanistische“ Konzeption der Natur durch. „Mechanistisch“ bedeutet hier die Vorstellung, dass alles in der Natur berechenbaren Gesetzen von Ursache und Wirkung folgt, wie man sie etwa beim Stoß von Billardkugeln finden kann: Eine Ursache A bringt durch einen Stoß eine vorhersagbare Wirkung B hervor. Diese Art zu denken wurzelt in einer grundlegenden menschlichen Erfahrung von Kausalität. Kleine Kinder etwa haben große Freude daran, herauszufinden, wie sie durch Schieben, Ziehen und Stoßen Dinge bewegen können. Wenn man etwas ihrem Blick zunächst entzieht und dann heimlich verschwinden lässt, suchen sie intuitiv nach einer mechanischen Ursache: Jemand oder etwas muss dieses Ding verschoben oder weggenommen haben. Diese Hypothese von Kausalität durch Berührung und Krafteinwirkung ist für einen bestimmten Bereich von Erscheinungen ausgesprochen hilfreich und plausibel, sie hat einen wichtigen evolutionären Sinn, vor allem, was die Tätigkeit mit unseren Händen und den Gebrauch von Werkzeugen angeht.
Kinder lernen aber mindestens ebenso früh auch noch eine ganz andere Art von Kausalität kennen, die ohne Berührung funktioniert und weit weniger vorhersagbar ist. Ich weine, und jemand kommt (manchmal aber auch nicht); ich bewege mich ruckartig, und die Katze verkriecht sich blitzschnell unter dem Sofa (manchmal aber auch nicht); ich lache, und jemand anders lacht mit (manchmal aber auch nicht). Das Kind lernt auf diese Weise, dass die Kausalität in der Welt der Lebewesen ganz anders funktioniert als in der Welt von Bauklötzen und Babyrasseln; dass Lebewesen nicht allein auf Stöße reagieren, sondern auch und vor allem auf Gesten, Zeichen und Laute. Und auch diese Erkenntnis hat einen fundamentalen, lebenswichtigen Sinn.
Die mechanistische Philosophie und Wissenschaft in ihrer reinen Form nun behauptet, dass diese zweite Form der Kausalität eine Illusion sei; dass also auch das Leben, genau wie die Welt der Bauklötze, in Wahrheit auf Stößen von Partikeln beruhe, die nur so klein seien, dass wir sie mit bloßem Auge nicht sehen können. Aus dieser Hypothese formulierten die frühen Mechanisten im 17. Jahrhundert ein umfassendes Forschungs- und Welterklärungsprogramm, das einen ebenso universalen Wahrheitsanspruch wie das Christentum geltend machte – wobei die neuen Gewissheiten nicht aus heiligen Schriften zu beziehen seien, sondern aus überprüfbaren Experimenten.
Doch je mehr die Wissenschaft über die Jahrhunderte in die Materie eindrang und sie in immer kleinere Teile zerlegte, desto mehr entzog sie sich ihr. Atome erwiesen sich nicht als feste Kügelchen, sondern als zusammengesetzt aus lauter noch kleineren Einheiten, die sich bei näherer Betrachtung in substanzlose Energie- oder gar Wahrscheinlichkeitswellen auflösten.
Währenddessen versuchten Biologen, das Leben als eine Art Uhrwerk zu verstehen, so wie man zuvor die Himmelsmechanik wie ein Uhrwerk studiert hatte. Doch die Prämisse, dass die Welt ausschließlich von mechanischen Ursachen bewegt sei, führte unweigerlich dazu, dass die Forscher das, was Leben ausmacht, nicht zu fassen bekamen. Die Eigendynamik, Spontaneität und Kreativität des Lebendigen blieben ebenso unerklärlich wie das Phänomen des Bewusstseins. War zuvor, in einem als lebendig verstandenen Kosmos, der Tod das große Rätsel, so schien nun, in einem Universum aus toter Materie, das Leben ein verwirrendes Mysterium.
Die Entdeckungsreisen und Irrfahrten der Physik und Biologie haben, das ist eine der wesentlichen Thesen dieses Buches, die Rätsel unserer Existenz keineswegs gelöst, sondern vertieft, präzisiert und in immer größerer Deutlichkeit hervortreten lassen. Das ist keineswegs nur eine Niederlage, sondern auch ein großes Verdienst. Denn sie zwingen uns, wenn wir sie ernst nehmen, dazu, unser Bild des Universums und unserer selbst grundlegend zu überdenken.

Naturwissenschaften in der modernen Megamaschine
Die Durchsetzung der mechanistischen Philosophie spielte sich nicht zufällig in der Zeit eines gewaltigen gesellschaftlichen Umbruchs ab: der Entstehung des kapitalistischen Weltsystems. Während Galileo Galilei am Anfang des 17. Jahrhunderts an den Fallgesetzen arbeitete und die Phasen der Venus mit seinem selbstgefertigten Teleskop studierte, eröffnete in Amsterdam die erste Aktiengesellschaft der Welt und wenig später die erste dauerhafte Wertpapierbörse. Zugleich schufteten Zehntausende indigener Zwangsarbeiter in den spanischen Silberminen Boliviens, um den rasant wachsenden Geldhunger Europas zu befriedigen. Ein beträchtlicher Teil dieses Silbers wiederum floss durch die Hände Genueser und Augsburger Bankiers in die boomende Rüstungsindustrie, die Kriege bisher unbekannter Zerstörungskraft ermöglichte. Galileo selbst verwandelte sein Haus in Padua in eine Art Militärakademie, wo er Offiziere in Kriegsführung, Geometrie und Festungsbau unterrichtete. Das von ihm entwickelte Fernrohr sollte ursprünglich vor allem militärischen Zwecken dienen. Und das Silbergeld, das er verdiente, stammte mit einiger Wahrscheinlichkeit aus den Minen Südamerikas.
Die Verbindung von endloser Geldvermehrung, staatlichem Expansionsdrang und rasanter technischer Entwicklung sollte diese moderne „Megamaschine“ zum dynamischsten und aggressivsten System der Weltgeschichte machen. Sowohl der Kapitalismus als auch die modernen Naturwissenschaften und ihre technischen Anwendungen haben seit dieser Zeit einen Siegeslauf um die Welt angetreten. In ihrem Zusammenwirken haben sie einem Teil der Weltbevölkerung nie dagewesenen materiellen Reichtum beschert. Doch zugleich befinden wir uns heute in einer ebenso beispiellosen globalen Krise: durch Klimachaos, ein rasantes Artensterben, die Plünderung von Böden, Wäldern und Gewässern und nicht zuletzt durch Atomwaffen. Keine Zivilisation in der Geschichte der Menschheit hat je ein solches planetares Zerstörungspotenzial entfaltet.
Obwohl immer wieder gesagt wird, dass wir in einer Wissens- oder gar Wissenschaftsgesellschaft leben, zeigt sich diese Zivilisation seltsam unfähig, adäquate Antworten auf diese epochalen Krisen zu finden. Klimawissenschaftlerinnen, Atomphysiker und Biologinnen, die seit Jahrzehnten auf einen Kurswechsel drängen, finden bei den politischen und ökonomischen Steuerleuten der Großen Maschine kaum Gehör. Ernsthafte Programme für einen grundlegenden und raschen Umbau der Gesellschaft sind nicht in Sicht. Stattdessen sehen wir Lippenbekenntnisse, Ablenkungsmanöver und bestenfalls einige lächerlich unzureichende kosmetische Reparaturen, während die Zerstörung der Biosphäre nicht nur ungebremst, sondern beschleunigt voranschreitet. Wissenschaft scheint nur so lange willkommen zu sein, wie sie Technologien bereitstellt, die der Geld- und Machtakkumulation dienen; sobald sie aber unbequeme Wahrheiten liefert, die Sand ins Getriebe streuen könnten, werden ihre Erkenntnisse ignoriert. Obwohl unser Leben immer mehr von Technik und Wissenschaft geprägt wird, erweist sich unsere Gesellschaft ausgerechnet, wenn es um unser Überleben geht, als strukturell irrational.

Die Ideologie des Getrenntseins
Der Hauptgrund für die Krise des Lebens auf der Erde ist die Ausbreitung eines Wirtschaftssystems, das ohne permanente Expansion, ohne endloses Wachstum nicht existieren kann. 400 Jahre nach der Gründung der ersten Aktiengesellschaft wird der Planet heute von einigen Hundert bürokratischen Monstern beherrscht und ausgebeutet, deren einziger Zweck die endlose Vermehrung von Geld ist. Koste es, was es wolle.
Die Macht dieses Systems gründet aber nicht nur in seinen wirtschaftlichen und politischen Strukturen, sondern auch in einer Ideologie, die dazu dient, diese Verhältnisse zu rechtfertigen und als Inbegriff der Natur erscheinen zu lassen. Und hier kommt die technokratische Mythologie ins Spiel. Obwohl die moderne Physik tatsächlich das mechanistische Weltbild längst überwunden hat, ist im Schulunterricht noch immer von kugelförmigen Elektronen die Rede, die um einen festen Atomkern kreisen – als habe es die quantentheoretische Revolution niemals gegeben. Nicht nur in Schul- und Lehrbüchern, sondern auch in zahllosen populärwissenschaftlichen Schriften und Filmen wird weiterhin der Eindruck vermittelt, die Welt bestehe in ihren tiefsten Schichten aus isolierten Objekten. Doch genau diese Sichtweise hat sich bereits vor 100 Jahren als fundamental falsch erwiesen. Wie es der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr, ein langjähriger Mitarbeiter von Werner Heisenberg, formulierte: „Wir haben festgestellt, dass die kleinsten Teilchen überhaupt nicht mehr die Eigenschaft von Materie haben, sondern dass die Materie verschwindet. Was bleibt, sind eigentlich nur Beziehungsstrukturen.“ Solche Einsichten haben allerdings bisher kaum Eingang in die populäre Vermittlung von Wissenschaft und ins allgemeine Bewusstsein gefunden.
Der Grund dafür ist offensichtlich: Die Ideologie des Getrenntseins, die behauptet, die Welt gleiche einem Baukasten, ist zu fundamental für unsere Wirtschaftsweise, als dass man sie einfach aufgeben könnte. Denn unser Wirtschaftssystem braucht genau diese Art von Welt, nämlich überall frei verfügbare und kombinierbare Ressourcen, die man ohne Rücksicht auf ihre Einbettung in ökologische Zusammenhänge herausreißen und anderswo verwerten kann. Es braucht außerdem atomisierte Menschen, die ebenfalls frei kombinierbar und einsetzbar sind und möglichst wenige soziale und kulturelle Beziehungen unterhalten, die ihre Verwertbarkeit beeinträchtigen könnten.
Daher ist es sehr nützlich zu behaupten, der Mensch sei von Natur aus ein verlassenes, beziehungsloses Geschöpf in einer seelenlosen, kalten Welt. Damit lassen sich nämlich die konkreten gesellschaftlichen Vorgänge verschleiern, die zu dieser Situation geführt haben. Der Triumphzug der modernen Megamaschine hat gewachsene soziale Beziehungen und Kulturen über Jahrhunderte zerstört, sowohl in Europa als auch in der kolonisierten Welt. Die „totale Verlassenheit“ Monods ist, wie wir in Kapitel 4 sehen werden, das Ergebnis dieses gewaltsamen, traumatisierenden Prozesses, nicht Teil einer unabänderlichen conditio humana.
In diesem Buch soll der dunkle Schleier, den die technokratische Ideologie über die Welt und das menschliche Dasein geworfen hat, gelüftet werden, und zwar mithilfe der Wissenschaften selbst. Was darunter zum Vorschein kommt, ist keineswegs eine trostlose Weltmaschine aus toten, isolierten Einzelteilen, sondern ein Kosmos voller Lebendigkeit und Verbundenheit. Mit jedem Atemzug sind wir mit unserer menschlichen, tierischen, pflanzlichen und mikrobiellen Mitwelt und sogar dem gesamten Universum existenziell verknüpft. Diese Verbundenheit und die damit einhergehende Verantwortung wiederzuentdecken, ist ein wesentlicher Teil des tiefen gesellschaftlichen Wandels, den wir brauchen, um der fortschreitenden Zerstörung unserer Lebensgrundlagen zu entgehen.

Fabian Scheidler

Über Fabian Scheidler

Biografie

Fabian Scheidler studierte Philosophie und Geschichte. Als Publizist schreibt er seit vielen Jahren über globale Gerechtigkeit und wurde mit dem Otto-Brenner-Medienpreis für kritischen Journalismus ausgezeichnet. Außerdem arbeitet er als Autor und Dramaturg für das Theater. 2015 erschien sein Buch ...

Fabian Scheidlers kluges Plädoyer für ein neues Naturverständnis

Herr Scheidler, „Der Stoff, aus dem wir sind“, was verbirgt sich hinter dieser Formel?

Das Buch handelt von unserem Verhältnis zu dem, was wir „Natur“ nennen, und das vor dem Hintergrund eines drohenden Kollapses globaler Ökosysteme. Wir betrachten die Natur oft als etwas, das getrennt von uns ist, das wir als Freizeitkulisse genießen,als Ressource ausbeuten oder als Umwelt schützen können. Dabei ist sie der Stoff, aus dem auch wir selbst sind, unser Körper, unser Geist, unsere Fähigkeit zu fühlen. Ich zeige in dem Buch, dass dieser Stoff ganz anders ist, als wir denken. Und dass der gesellschaftliche Wandel, den wir dringend brauchen, nicht ohne eine Veränderung unserer Sichtweise auf uns selbst und die übrige Natur zu haben ist.

Sie sagen, wir verstehen die Wissenschaften heutzutage falsch – was meinen Sie damit?

Die Naturwissenschaften sind vor 400 Jahren mit der Idee ausgezogen, dass die Welt eine Art Maschine ist, die sich vollständig berechnen und kontrollieren lässt. Diese Weltsicht ist in den letzten 100 Jahren spektakulär gescheitert, und zwar auch in der Physik und Biologie. Trotzdem wird uns in populären Darstellungen immer wieder suggeriert, wir seien nichts als biologische Roboter in einer maschinen-artigen Welt. Diese technokratische Ideologie ist im Kern anti-wissenschaftlich.

Ist Ihr Buch auch eine Antwort auf die Frage, warum wir die Klimakrise nicht in den Griff kriegen?

Ja. Solange wir glauben, dass wir durch Technik alles kontrollieren können,sind wir unfähig, die tieferlegenden Strukturen, die unsere Zukunft bedrohen, zu erkennen und zu verändern. Wir brauchen ein neues Verständnis der Natur, das nicht auf Herrschaft, Kontrolle und Ausbeutung beruht, sondern auf Kooperation mit komplexen lebenden Systemen.

Waren Sie überrascht von den Erkenntnissen, die Sie in diesem Buch zutage gefördert haben?

Die moderne Physik und Biologie zeigen uns eine Welt, die viel wunderbarer und rätselhafter ist, als es die technokratische Ideologie auch nur erahnen lässt. Je tiefer man in die Natur schaut, desto mehr zeigt sich, wie wenig wir wissen. Und dass das, was wir glaubten zu wissen, eigentlich ganz anders ist. Das zu vermitteln, ist wichtig, um uns von der gefährlichen Illusion zu befreien, wir könnten alles durchschauen und beherrschen. Ich spreche in diesem Zusammenhang auch von einer „Pädagogik des Staunens“.

Sie kündigen neue Perspektiven auf einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel an. Was sind das für Perspektiven?

Wir sind Gefangene eines Wirtschaftssystems, das mit den Grenzen der Biosphäre nicht vereinbar ist, weil es ständig wachsen muss und dazu die lebendige Natur in tote Waren verwandelt. Wir brauchen einen Umbau unserer grundlegenden Institutionen, in der Wirtschaft ebenso wie im Staat und in der Wissenschaft, damit sie dem Leben dienen und nicht der endlosen Geldvermehrung.

Und, glauben Sie, dass uns dieser Wandel als Gesellschaft gelingen kann?

Nur wenn sich große Teile der Bevölkerung einmischen. Es ist unverantwortlich, die Zukunft der Menschheit und des Planeten allein den Jugendlichen aufzubürden, die mit Fridays for Future auf die Straße gehen. Wir haben nur noch wenig Zeit. Überall, in der Politik, in den Behörden, in der Forschung, in den Schulen und Universitäten muss die Lösung der Erdkrise an oberster Stelle stehen. Dabei kann es nicht um Kompromisse zwischen Wirtschaft und Umwelt gehen. Auf einem toten Planeten gibt es auch keine Ökonomie mehr. Wenn diese Wirtschaft nicht zukunftsfähig ist, müssen wir sie grundlegend ändern. Dabei darf es keine Tabus geben.

Kommentare zum Buch
Kommentieren Sie diesen Beitrag:
(* Pflichtfeld)

Fabian Scheidler - NEWS

Erhalten Sie Updates zu Neuerscheinungen und individuelle Empfehlungen.

Beim Absenden ist ein Fehler aufgetreten!

Fabian Scheidler - NEWS

Sind Sie sicher, dass Sie Fabian Scheidler nicht mehr folgen möchten?

Beim Absenden ist ein Fehler aufgetreten!

Abbrechen