Lieferung innerhalb 1-3 Werktage
Bezahlmöglichkeiten
Vorbestellung möglich
Kostenloser Versand*

Buchempfehlungen

Persönliche Buchtipps unserer Kolleginnen und Kolleginnen aus dem Verlag

Sonntag, 04. September 2022 von Piper Verlag


Buchtipps 2023

Die Fortsetzung seines Weltbestsellers „Der Junge im gestreiften Pyjama“

„John Boyne ist ein Schriftsteller, der sich mit jedem Roman neu erfindet. Mit „Als die Welt zerbrach“ hat er sich allerdings etwas ganz Besonderes vorgenommen: eine Fortsetzung seines Weltbestsellers „Der Junge im gestreiften Pyjama“ (den man indes nicht kennen muss, um den neuen Roman zu verstehen).

Im Mittelpunkt steht eine alte Dame in London,deren Lebensgeschichte sich als so faszinierende wie tiefgründige Reflexion über die Frage nach der Unausweichlichkeit einer Schuld liest, die sie einst als Mädchen auf sich geladen hat." Felicitas von Lovenberg

Blick ins Buch
Als die Welt zerbrachAls die Welt zerbrach

Roman

Die lang erwartete Fortsetzung des Weltbestsellers „Der Junge im gestreiften Pyjama“
1946. Drei Jahre nach dem katastrophalen Ereignis, das ihre Familie zerriss, fliehen eine Mutter und ihre Tochter von Polen nach Paris. Blind vor Sorge und Schuldgefühlen ahnen sie nicht, wie schwer es ist, der Vergangenheit zu entkommen.

Fast achtzig Jahre später führt Gretel Fernsby in ihrem Londoner Villenviertel ein ruhiges Leben, Welten entfernt von der traumatischen Kindheit. Als eine junge Familie in die Wohnung unter ihr zieht, hofft sie, dass die eingespielte Hausgemeinschaft nicht aus dem Gleichgewicht gerät. Doch der neunjährige Henry weckt Erinnerungen, denen sie sich nicht stellen will.

Gretel steht plötzlich vor der Wahl zwischen ihrer eigenen und Henrys Sicherheit. Gewinnt die Verantwortung, oder macht sie sich mitschuldig, wie damals? Wenn sie jetzt eingreift, riskiert sie, Geheimnisse preiszugeben, die sie ein Leben lang gehütet hat …

Psychologisch höchstpräzise erzählt John Boyne davon, wie sich eine nicht eingestandene Schuld zu einer zerstörerischen Kraft entwickelt, die mit jedem verstreichenden Lebensjahr schwerer wiegt.

Teil 1

Die Tochter des Teufels

London 2022/Paris 1946


1

Wenn jeder Mensch, wie Voltaire behauptet, die Schuld an all dem Guten trägt, das er nicht getan hat, dann habe ich fast ein Leben lang damit verbracht, mich selbst davon zu überzeugen, dass ich keine Schuld an all dem Schlechten trage. Dies zu tun war eine angenehme Art, die Jahrzehnte der selbst auferlegten Verbannung aus der Vergangenheit zu ertragen und mich als Opfer historischer Amnesie zu betrachten, freigesprochen von Mittäterschaft, von keiner Verantwortung belastet.

Die letzte Episode meines Lebens beginnt und endet jedoch ganz trivial mit einem Teppichmesser. Meines war ein paar Tage zuvor kaputtgegangen, und da ich ein solches Werkzeug in der Küche für nützlich hielt, stattete ich dem Haushaltswarenladen um die Ecke einen Besuch ab und kaufte ein neues. Bei meiner Rückkehr fand ich den Brief eines Maklers vor, der mich und alle anderen Bewohner von Winterville Court höflich darüber informierte, dass die Wohnung im Erdgeschoss – jene unter meiner – demnächst verkauft werde. Mr Richardson, der vorherige Eigentümer von Apartment eins, hatte gut dreißig Jahre dort gelebt und war kurz vor Weihnachten gestorben. Seitdem stand die Wohnung leer. Seine Tochter lebte als Logopädin in New York und hatte meines Wissens nicht vor, nach London zurückzukehren, weshalb ich mich bereits mit der Vorstellung abgefunden hatte, mich demnächst in der Lobby mit einem fremden Menschen unterhalten zu müssen, womöglich sogar Interesse an seinem oder ihrem Leben zu heucheln und Details über mein eigenes preiszugeben.

Mr Richardson und ich hatten das perfekte nachbarschaftliche Verhältnis gepflegt, schließlich hatten wir seit 2008 kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt. In den ersten Jahren nach seinem Einzug hatten wir uns eigentlich gut verstanden, und er war gelegentlich zu uns heraufgekommen, um mit meinem inzwischen verstorbenen Mann Edgar eine Partie Schach zu spielen, aber irgendwie hatten er und ich es nie bis zum Du geschafft. Er redete mich mit „Mrs Fernsby“ an, ich nannte ihn „Mr Richardson“. Das letzte Mal, dass ich seine Wohnung betreten hatte, war vier Monate nach Edgars Tod gewesen, als ich eine Einladung zum Abendessen von ihm angenommen hatte. Allerdings entpuppte sich diese als amouröser Annäherungsversuch, den ich zurückwies. Er nahm mir die Ablehnung übel, und wir wurden zu Fremden, soweit das eben möglich ist für zwei Menschen, die im selben Haus wohnen.

Unser Haus im Stadtteil Mayfair wird offiziell als „Mehrfamilienhaus“ geführt, aber das ist in etwa so, als würde man Windsor Castle als den Wochenendbungalow der Queen bezeichnen. Jede der Wohnungen in unserem Gebäude – es gibt insgesamt fünf, eine im Erdgeschoss und je zwei in den beiden Etagen darüber – erstreckt sich über einhundertvierzig Quadratmeter allerfeinster Londoner Wohnlage, hat drei Schlafzimmer, zweieinhalb Bäder und einen Blick über den Hyde Park, der den Kaufpreis auf zwei bis drei Millionen Pfund treibt, wie ich aus sicherer Quelle weiß. Einige Jahre nach unserer Hochzeit hatte Edgar überraschend eine beträchtliche Summe Geld von einer unverheirateten Tante geerbt, und obwohl er es vorgezogen hätte, in eine ruhigere Gegend außerhalb Londons zu ziehen, war ich nach einigen im Stillen eingeholten Erkundigungen zu dem Entschluss gekommen, unbedingt in Mayfair wohnen zu wollen – und nicht bloß in Mayfair, sondern genau in diesem Haus, sofern möglich. Aus Geldgründen hatte dies lange unwahrscheinlich geschienen, aber dann, eines Tages, wie ein Deus ex Machina, war Tante Belinda von uns gegangen, und alles änderte sich. Ich hatte Edgar immer erklären wollen, warum ich so versessen darauf war, hier zu wohnen, aber irgendwie tat ich es nie. Heute bereue ich das.

Mein Mann war ein Kindernarr, aber ich wollte höchstens eins, und so kam 1961 unser Sohn Caden zur Welt. Seit einigen Jahren, in denen der Wert der Wohnung stetig gestiegen ist, ermutigt mich Caden dazu, sie doch zu verkaufen und mir etwas Kleineres in einem weniger exklusiven Stadtteil zu suchen. Er tut das vermutlich, weil er fürchtet, dass ich hundert werden könnte, und weil er einen Teil seines Erbes gern jetzt schon hätte, solange er noch jung genug ist und ihn genießen kann. Er war dreimal verheiratet und ist jetzt zum vierten Mal verlobt, allerdings habe ich es aufgegeben, mich mit den Frauen in seinem Leben näher zu beschäftigen. Kaum hat man sie kennengelernt, so mein Eindruck, werden sie entsorgt, und ein moderneres Modell wird installiert, dessen Marotten man erst zeitaufwendig herausfinden muss, fast wie bei einer neuen Waschmaschine oder einem Fernseher. Als Kind ist Caden mit seinen Freunden ähnlich skrupellos umgesprungen. Wir telefonieren regelmäßig, und er besucht mich alle zwei Wochen zum Abendessen, aber unser Verhältnis ist kompliziert und leidet teilweise unter dem Schaden, den es durch meine einjährige Abwesenheit genommen hat, als er neun war. Um ehrlich zu sein, bin ich einfach kein Kindertyp, und besonders kleine Jungen finde ich schwierig.

Bei meinen potenziellen neuen Nachbarn war meine Sorge nicht so sehr, dass sie Lärm machen könnten – die Wohnungen sind trotz einiger Schwachstellen hier und da sehr gut gedämmt, außerdem habe ich mich über die Jahre an die Palette seltsamer Geräusche gewöhnt, die durch Mr Richardsons Decke zu mir nach oben gedrungen sind –, aber ich hasste die Aussicht, dass mein geordnetes Leben aus dem Tritt geraten könnte. Am liebsten wäre mir jemand gewesen, der sich für die über ihm wohnende Frau gar nicht interessierte. Ein kranker alter Mensch vielleicht, der fast nie das Haus verließ und zu dem jeden Morgen der Pflegedienst kam. Oder eine junge Karrierefrau, die freitagnachmittags ins Wochenendhaus verschwand, sonntags erst spät wiederkam und ihre Zeit ansonsten im Büro oder Fitnessstudio verbrachte. Im Haus hatte kurzzeitig das Gerücht kursiert, dass ein bekannter Popmusiker, der in den Achtzigerjahren den Höhepunkt seiner Karriere erlebt hatte, die Wohnung als möglichen Alterssitz ins Auge gefasst hätte, aber glücklicherweise wurde daraus nichts.

Jedes Mal, wenn der Makler draußen hielt und Kunden ins Haus führte, um ihnen die Wohnung zu zeigen, zuckten meine Vorhänge, und ich machte mir Notizen zu meinen möglichen Nachbarn. Unter den Interessenten waren: ein vielversprechendes Ehepaar Anfang siebzig mit leisen Stimmen, das Händchen haltend fragte – ich lauschte im Treppenhaus –, ob denn Tiere im Haus erlaubt seien, und enttäuscht wirkte, als die Antwort Nein lautete; zwei Homosexuelle um die dreißig, garantiert unverschämt reich, jedenfalls nach ihrer zerfetzten Kleidung und dem insgesamt ungepflegten Eindruck zu schließen, die aber erklärten, dass der Space vermutlich etwas klein für sie sei und sein Narrativ sie nicht anspreche; und eine junge Frau mit schlichtem Gesicht, die nichts über ihre Absichten verlauten ließ, außer dass jemand namens Steven die hohen Decken sicher toll fände. Natürlich hoffte ich auf die beiden Schwulen – Schwule sind gute Nachbarn und Nachwuchs ist bei ihnen unwahrscheinlich –, doch sie zeigten sich von allen leider am wenigsten begeistert.

Nach ein paar Wochen schließlich brachte der Makler keine Interessenten mehr vorbei, die Anzeige verschwand aus dem Internet, und ich nahm an, dass man sich einig geworden war. Ob es mir gefiel oder nicht, eines Morgens würde ich aufwachen, vor dem Haus einen Umzugswagen sehen, und jemand oder eine Gruppe von Jemands würde einen Schlüssel ins Haustürschloss stecken, um die Wohnung unter mir zu beziehen.

Oh, wie ich die Vorstellung hasste!


2

Mutter und ich flohen Anfang 1946 aus Deutschland, nur wenige Monate nach Kriegsende, ein Zug brachte uns aus den Trümmern von Berlin nach Paris. Ich war fünfzehn, wusste wenig vom Leben und tat mich immer noch schwer damit, dass die Achsenmächte besiegt worden waren. Vater hatte immer mit solch einer Überzeugung von der genetischen Vorherrschaft unserer Rasse und dem unvergleichlichen strategischen Talent des Führers gesprochen, dass der Sieg stets eine Gewissheit gewesen war. Und doch hatten wir aus irgendeinem Grund verloren.

Die mehr als tausend Kilometer weite Reise quer über den Kontinent stimmte nicht gerade optimistisch für die Zukunft. Die Städte, durch die wir kamen, waren gezeichnet von der Zerstörung der letzten Jahre. In den Gesichtern der Leute auf den Bahnhöfen und in den Waggons sah ich keine Freude über das Ende des Kriegs, sondern bloß seine Wunden. Überall spürte man Erschöpfung und die zunehmende Einsicht, dass Europa nicht einfach in den Zustand von 1938 zurückkehren konnte, sondern vollständig neu aufgebaut werden musste, genau wie der Lebensmut seiner Einwohner.

Die Stadt meiner Geburt lag fast vollständig in Schutt und Asche, und vier unserer Eroberer teilten nun die Beute unter sich auf. Zu unserem Schutz hatten wir uns in den Kellern der wenigen wahren Getreuen versteckt, deren Häuser noch standen, bis man uns die gefälschten Papiere beschafft hatte, die uns die sichere Ausreise aus Deutschland ermöglichten. In unseren Pässen stand nun der Name Guéymard, dessen Aussprache ich immer wieder übte, damit es so französisch wie möglich klang. Mutter musste ich ab sofort Nathalie nennen, nach meiner Großmutter, ich aber blieb Gretel.

Täglich kamen neue Details über die Vorgänge in den Lagern ans Licht, und Vaters Name wurde zum Inbegriff von Verbrechen abscheulichster Natur. Obwohl niemand behauptete, wir seien genauso schuldig wie er, glaubte Mutter, es würde uns ins Unglück stürzen, sollten wir uns den Behörden stellen. Ich stimmte ihr zu, weil auch ich Angst hatte, aber der Gedanke, man könnte mich zur Mittäterin an den Gräueltaten erklären, schockierte mich. Es stimmte, dass ich seit meinem zehnten Geburtstag Mitglied im Jungmädelbund gewesen war – wie aber auch jedes andere Mädchen in Deutschland. Es war schließlich Pflicht, genau wie der Eintritt ins Deutsche Jungvolk es für alle zehnjährigen Jungen gewesen war. Allerdings hatten mich weit mehr als die Parteiideologie die regelmäßigen Freizeitaktivitäten mit meinen Freundinnen interessiert. Und nach unserem Umzug an jenen anderen Ort hatte ich mich nur ein einziges Mal auf der anderen Seite des Zauns aufgehalten, an dem Tag, als mein Vater mich mit ins Lager genommen hatte, um mir seine Arbeit zu zeigen. Ich redete mir ein, nur Zuschauerin gewesen zu sein, nichts weiter, dass mein Gewissen rein sei, aber die Frage nach meiner Mitschuld an den Taten, deren Zeugin ich geworden war, ließ mich nicht los.

Als unser Zug Frankreich erreichte, machte ich mir plötzlich Sorgen, dass unser Akzent uns verraten könnte. Die kürzlich befreiten Bürger von Paris waren, so rechnete ich mir aus, nach ihrer beschämend raschen Kapitulation 1940 sicher nicht gut auf Menschen zu sprechen, die redeten wie wir. Meine Sorge erwies sich als begründet, denn bei der Zimmersuche wies man uns in fünf verschiedenen Pensionen einfach ab, und das, obwohl wir mehr als genug Geld für einen längeren Aufenthalt vorweisen konnten. Erst als sich eine Frau an der Place Vendôme gnädig zeigte und uns die Adresse einer nahe gelegenen Unterkunft mitteilte, deren Vermieterin keine Fragen stelle, fanden wir Unterschlupf. Ohne sie wären wir vermutlich die wohlhabendsten Obdachlosen der ganzen Stadt geworden.

Das Zimmer, das wir mieteten, lag im östlichen Teil der Île de la Cité. In jenen frühen Tagen blieb ich am liebsten in der Nähe und beschränkte mich darauf, in endlosen Schleifen die kurze Strecke vom Pont de Sully bis zum Pont Neuf abzuspazieren, stets ängstlich darauf bedacht, keine der Brücken zu überqueren, die mich auf unbekanntes Terrain geführt hätten. Ab und zu dachte ich an meinen Bruder, der so gern Forscher geworden wäre, und daran, mit wie viel Freude er die unbekannten Straßen durchstreift hätte, aber wie immer in solchen Momenten schob ich die Erinnerung an ihn rasch beiseite.

Mutter und ich lebten schon seit zwei Monaten auf der Île, als ich endlich den Mut aufbrachte, mich zum Jardin du Luxembourg zu wagen. Beim Anblick der Pflanzenpracht hatte ich das Gefühl, im Paradies gelandet zu sein. Was für ein Unterschied, dachte ich, zu unserer Ankunft an jenem anderen Ort, wo uns die trostlose Ödnis fast erdrückt hatte. Hier atmete man den Duft des Lebens; dort erstickte man am Gestank des Todes. Wie benommen ging ich vom Palais zur Fontaine Médicis und von dort in Richtung des zentralen Bassins, wandte mich allerdings ab, als ich eine Bande kleiner Jungen sah, die Holzboote ins Wasser setzten und sie von der leichten Brise zu ihren Kameraden auf der anderen Seite treiben ließen. Ihr Lachen und aufgeregtes Geplapper klangen nach der bedrückenden Stille der Not, an die ich mich gewöhnt hatte wie eine verstörende Musik. Es schien unfassbar, wie ein und derselbe Kontinent solche Extreme von Schönheit und Hässlichkeit in sich vereinen konnte.

Eines Nachmittags, als ich auf einer Bank neben dem Boulodrome Schutz vor der Sonne suchte, überwältigten mich plötzlich Trauer und Schuldgefühle, und mir liefen die Tränen übers Gesicht. Ein hübscher Junge, vielleicht zwei Jahre älter als ich, blieb mit besorgter Miene vor mir stehen und fragte, was los sei. Ich sah auf und spürte sofort ein leises Sehnen in mir, wünschte mir, er würde mich in die Arme schließen oder mir erlauben, meinen Kopf an seine Schulter zu lehnen. Doch als ich antwortete, fiel ich zurück in alte Sprachmuster, mein deutscher Akzent überwältigte mein Französisch, und der Junge wich einen Schritt zurück, offene Verachtung im Gesicht, ehe er all seiner Wut auf mich und meinesgleichen freien Lauf ließ und mir heftig ins Gesicht spuckte. Dann marschierte er davon. Seltsamerweise minderte seine Tat meine Sehnsucht nach Berührung keineswegs, sondern verstärkte sie noch. Nachdem ich mir die Wangen abgewischt hatte, rannte ich ihm nach, packte ihn am Arm und bot ihm an, mit mir ins Dickicht der Bäume zu gehen, wo er mit mir machen dürfe, was immer er wolle.

„Du darfst mir wehtun, wenn du willst“, flüsterte ich und stellte mir mit geschlossenen Augen vor, wie er mich hart ohrfeigte, mir die Faust in den Magen stieß, mir die Nase brach.

„Warum willst du das?“, fragte er, in seiner Stimme eine Unschuld, an die man angesichts seiner Schönheit kaum glauben mochte.

„Damit ich spüre, dass ich am Leben bin.“

Er wirkte erregt und angewidert zugleich und blickte sich nach möglichen Zuschauern um, ehe er zu dem Wäldchen hinübersah, auf das ich gezeigt hatte. Kurz fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen und betrachtete die Rundung meiner Brüste, aber als ich nach seiner Hand griff, empfand er dies offensichtlich als Beleidigung und nannte mich eine Putain. Dann rannte er aus dem Park und verschwand in der Rue Guynemer.

Bei gutem Wetter lief ich schon frühmorgens durch die Straßen und kehrte erst in unsere Wohnung zurück, wenn Mutter schon zu betrunken war, um mich nach meinem Tag zu fragen. Die Eleganz, die ihr in ihrem früheren Leben zu eigen gewesen war, verblasste mittlerweile. Aber sie war immer noch eine attraktive Frau, und ich fragte mich, ob sie sich insgeheim nach einem neuen Mann sehnte, jemandem, der für uns beide sorgen könnte. Allerdings wirkte es auf mich nicht so, als wäre sie auf Liebe oder auch nur Gesellschaft aus, eher schien sie mit ihren Gedanken allein bleiben zu wollen, während sie von Bar zu Bar zog. Wenn sie trank, wurde sie still. Sie saß mit ihrer Weinflasche stets in einer düsteren Ecke und kratzte an unsichtbaren Kerben im Holz der Tischplatte herum, immer darauf bedacht, auf keinen Fall eine Szene zu machen, wegen der man sie hätte hinauswerfen können. Einmal kreuzten sich unsere Wege, als gerade die Sonne über dem Bois de Boulogne unterging. Sie schwankte auf mich zu, griff meinen Arm und fragte mich nach der Uhrzeit, wobei sie gar nicht zu bemerken schien, dass sie mit ihrer eigenen Tochter sprach. Als ich antwortete, lächelte sie erleichtert, da die Bars noch ein paar Stunden offen sein würden, und ging dann in Richtung der verführerisch hellen Lichter weiter, die auf der Île funkelten. Ob sie wohl merken würde, fragte ich mich, wenn ich plötzlich aus ihrem Leben verschwände?

Wir schliefen im selben Bett, und ich hasste es, neben ihr aufzuwachen und ihren stinkenden Atem zu riechen, eine widerliche Mischung aus Alkohol und Schlaf. Sobald sie die Augen öffnete, setzte sie sich kurz verwirrt auf. Dann kehrten die Erinnerungen zurück, sie schloss die Augen wieder und ließ sich, wenn es ihr gelang, erneut in den Zustand der Besinnungslosigkeit hinabgleiten. Wenn sie das unsägliche Tageslicht schließlich nicht länger ignorieren konnte und sich unter der Decke hervorquälen musste, wusch sie sich flüchtig im Waschbecken, zog sich ein Kleid über und ging aus dem Haus, glücklich, den neuen Tag genau so zu verleben wie den davor und den davor und den davor.

Unser Geld und unsere Wertsachen bewahrte sie in einem alten Ranzen hinten im Schrank auf, und ich musste mitansehen, wie unser kleines Vermögen langsam schwand. Eigentlich ging es uns gut – dafür hatten die wahren Getreuen gesorgt –, aber Mutter weigerte sich, mehr Geld für unsere Unterbringung auszugeben, und schüttelte somit jedes Mal den Kopf, wenn ich vorschlug, dass wir uns eine eigene kleine Wohnung in einem günstigeren Stadtteil suchen sollten. Es schien, als folgte sie in ihrem Leben jetzt einem einfachen Plan: sich die Albträume wegzutrinken. Solange sie ein Bett zum Schlafen und eine Flasche Wein hatte, war ihr der Rest egal. Was für ein Unterschied zu der Frau, in deren Arme ich mich in meinen ersten Lebensjahren so gern geworfen hatte, jene bezaubernde Dame der gehobenen Gesellschaft, die wie ein Filmstar stets die angesagteste Frisur und die feinsten Kleider trug.

Diese beiden Frauen hätten verschiedener nicht sein können. Sie hätten sich gegenseitig verachtet.


3

Jeden Dienstagmorgen überquere ich den Hausflur, um meine Nachbarin Heidi Hargrave zu besuchen, die in Apartment drei wohnt. Heidi wird im Dezember neunundsechzig, am Tag von Mariä Empfängnis, was ein reichlich ironisches Datum ist, da sie ihre leiblichen Eltern nie kennengelernt hat und sofort nach der Geburt adoptiert wurde. Heidi ist die einzige Bewohnerin von Winterville Court, die ihr gesamtes Leben hier verbracht hat. Von der Entbindungsstation kam sie direkt nach Mayfair, wo der Hyde Park für sie in ihrer Kindheit ein einziger großer Spielplatz war. Als Teenagerin wurde sie schwanger, heiratete aber nie, und nach dem Tod ihrer Adoptiveltern erbte sie ihr Vermögen.

Obwohl dreiundzwanzig Jahre jünger als ich, ist sie weit weniger fit, und das körperlich wie geistig. Sie hat dreißig Jahre lang am Londoner Marathon teilgenommen, bis sie mit dem Laufen aufhören musste, weil sie am linken Fuß eine schmerzhafte Läuferferse entwickelte, wegen der sie noch heute nachts eine Schiene trägt und regelmäßig Kortisonspritzen bekommt. Ein schwerer Schlag für eine so aktive Frau, und ich frage mich, ob dies zu dem schleichenden Verfall ihrer geistigen Kräfte beigetragen hat. Schließlich stand sie zuvor voll im Leben und war eine hoch angesehene Augenärztin, aber jetzt neigt sie im Gespräch zum Abschweifen. Ihr Zustand ist Gott sei Dank nicht so schlimm wie bei Demenz oder Alzheimer, aber sie agiert mitunter etwas wirr, vergisst, worüber wir gerade eigentlich reden, verwechselt Namen und Orte oder springt so abrupt zum nächsten Thema, dass man kaum mitkommt.

An diesem Dienstagmorgen blätterte sie gerade einige alte Fotoalben durch, als ich kam, und ich hoffte, sie nicht zusammen mit ihr ansehen zu müssen. Ich selbst besitze keine solchen Alben, und ich habe auch nie recht verstanden, warum Menschen sich die Wohnung mit Familienbildern vollstellen. Bei mir stehen nur zwei: ein silbergerahmtes Foto von Edgar und mir, aufgenommen an unserem Hochzeitstag, und ein Bild von Caden bei seinem Abschluss an der Uni. Und auch diese beiden habe ich wohlgemerkt nicht aus emotionalen Gründen aufgestellt, sondern weil man es so von mir erwartet.

Davon abgesehen versteckt sich in einem Fach meines Kleiderschranks ganz hinten eine antike Seugnot-Schmuckschatulle aus Obstholz mit polierten Messingkanten und funktionierendem Schloss, die ich 1946 auf einem Markt in Montparnasse gekauft habe. Ich bewahre ein einziges Foto darin auf, und obwohl ich es mir seit mehr als fünfundsiebzig Jahren nicht angeschaut habe, glaube ich mich gut an das Bild zu erinnern. Ich bin darauf zwölf Jahre alt, und meine Augen sind zum Fotografen gerichtet, mit dem ich nach Kräften kokettiere, denn hinter der Kamera steht Kurt, den Finger auf dem Auslöser, den Blick auf mich geheftet, während ich versuche, meine Leidenschaft für ihn zu verbergen. Er steht ganz aufrecht da, in Uniform, und ich bin hin und weg von seiner schlanken, muskulösen Statur, den blonden Haaren und blassblauen Augen. Ich spüre sein zögerliches Interesse und bin wild entschlossen, es anzufachen.

„Schau mal, Gretel“, sagte Heidi und zeigte mir das Bild eines intelligent aussehenden Mannes am Strand, die Hände in die Hüften gestemmt, im Mund lässig eine Holzpfeife. „Das ist Billy Sprat. Tänzer und russischer Spion.“

„Ach ja?“, sagte ich und schenkte uns Tee ein. Ich fragte mich, ob diese Geschichte wohl ihrer Fantasie entsprungen war – vielleicht hatte sie gestern Abend einen alten James-Bond-Film gesehen und war im Agentenfieber –, allerdings konnte es angesichts der Zeit, aus der das Foto stammte, durchaus der Wahrheit entsprechen. Damals scheint es in England vor russischen Spionen nur so gewimmelt zu haben.

„Billy war ein Freund von meinem Vater. Sie haben ihn dabei erwischt, wie er dem KGB Informationen verkauft hat“, fügte sie aufgeregt hinzu. „Der Geheimdienst wollte ihn schon hochnehmen, aber Billy hat gemerkt, dass seine Tarnung aufgeflogen war, und ist nach Moskau abgehauen. Aufregend, nicht wahr?“

„O ja“, stimmte ich zu. „Und wie.“

„Man hätte darauf bestehen sollen, dass er sich hier vor Gericht verantwortet. Es gibt nichts Schlimmeres als Verbrecher, die ohne Strafe davonkommen.“

Ich erwiderte nichts und sah zum Kaminsims, auf dem eine eckige Uhr aus glänzendem Messing stand, daneben ein paar kleine Porzellanfiguren, die Heidi zu ihren Schätzen zählte.

„Mochtest du die Russen früher?“, fragte sie und nippte an ihrer Tasse. „In den Sechzigern fand ich ja, dass die Idee vom brüderlichen Teilen was hatte. Aber als sie dann angefangen haben, ihre Atomraketen in unsere Richtung zu drehen, fand ich die Sache nicht mehr so toll. Einen weiteren Krieg braucht ja wohl keiner, oder?“

„Ich halte mich aus der Politik raus“, antwortete ich und strich Butter auf zwei warme Scones, von denen ich eins Heidi gab. „Ich habe gesehen, was Krieg mit den Menschen macht.“

„Stimmt, du warst ja damals schon auf der Welt.“

„In den Sechzigern?“, fragte ich. „Ja. Du aber auch, Heidi.“

„Nein, ich meinte, davor. Im Krieg. Im … Wie heißt der noch?“

„Im Zweiten Weltkrieg.“

„Genau.“

„Ja.“ Wir hatten uns schon öfter über den Krieg unterhalten, sogar sehr oft, aber ich hatte selten im Detail aus meiner Vergangenheit erzählt, und wenn doch einmal, waren die Sachen meist erfunden. „Aber ich war damals noch ein Mädchen.“

Heidi legte das Album beiseite und drehte sich mit einem schelmischen Blitzen in den Augen zu mir. „Irgendwas Neues von unten?“

Ich schüttelte den Kopf. In Momenten wie diesem war ich froh über ihre plötzlichen Themensprünge.

„Noch nicht“, sagte ich und wischte mir mit einer Serviette die Krümel vom Mund. „Im Süden nichts Neues.“

„Da werden doch wohl keine Farbigen einziehen?“, fragte sie, worauf ich die Stirn runzelte. Heidis zunehmende Verwirrung äußert sich bisweilen auf verstörende Weise darin, dass sie Ausdrücke verwendet, die mittlerweile zu Recht als unangemessen gelten und die sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte wohl nie benutzt hätte. Ich vermute, es ist die Sprache ihrer Jugend, die sich in den sich langsam auflösenden Teilen ihres Gehirns breitmacht. Es ist erstaunlich: Sie kann nicht enden wollende Geschichten aus ihrer Kindheit erzählen, aber sobald man sie fragt, was sie letzten Mittwoch gemacht hat, senkt sich der Nebel.

„Es könnten alle möglichen Leute einziehen“, erwiderte ich. „Wir werden es erst wissen, wenn sie da sind.“

„Viele Jahre hat ein wunderbarer Mann da gewohnt.“ Sie strahlte jetzt. „Ein Historiker. Er hat an der University of London gelehrt.“

„Nein, Heidi, das ist Edgar, den du meinst. Mein Mann. Er hat zusammen mit mir gleich gegenüber gewohnt.“

„Ach ja.“ Sie zwinkerte mir zu, als teilten wir ein Geheimnis. „Du hast recht. So ein Gentleman. Und immer elegant gekleidet. Ich habe ihn nie ohne Hemd und Krawatte gesehen, glaube ich.“

Ich musste lächeln. Es stimmte, dass Edgar stets sehr viel Wert auf sein Äußeres gelegt und sich selbst an Feiertagen nur ungern „leger“ angezogen hatte. Wegen seines Menjoubärtchens hatten manche behauptet, er sähe aus wie Clark Gable. Ein durchaus gerechtfertigter Vergleich.

„Ich wollte ihn mal küssen“, fuhr sie mit Blick zum Fenster fort, und an der Art, wie sie es sagte, merkte ich, dass sie vergessen hatte, mit wem sie sprach. „Natürlich war er deutlich älter als ich, aber das war mir egal. Er hatte eh kein Interesse. Hat mich abblitzen lassen. Weil er seine Frau liebe, wie er gesagt hat.“

„Ach wirklich?“, sagte ich leise und stellte mir die Szene vor. Es überraschte mich nicht, dass Edgar sich nie die Mühe gemacht hatte, mir von dem Zwischenfall zu erzählen.

„Er hat mich sehr höflich zurückgewiesen, und ich war ihm dankbar dafür. Mein Verhalten war ganz und gar schamlos.“

„Hat Oberon dich diese Woche eigentlich schon besucht?“ Jetzt war es an mir, das Thema zu wechseln. Oberon ist Heidis Enkel. Er ist um die dreißig, attraktiv, aber mit diesem lächerlichen Namen gestraft. (Heidis Tochter, die vor ein paar Jahren tragischerweise an Krebs gestorben ist, hatte eine Leidenschaft für Shakespeare.) Er arbeitet nicht weit von hier bei Selfridges, wo er irgendein hohes Tier ist, soweit ich weiß, und geht sehr lieb mit seiner Großmutter um. Allerdings irritiert es mich sehr, dass er in meiner Anwesenheit jedes Mal fast schreit und die Silben überdeutlich artikuliert, als wäre ich taub. Dabei bin ich keineswegs taub. Tatsächlich ist bei mir fast alles völlig in Ordnung, was angesichts meines fortgeschrittenen Alters gleichermaßen überraschend und beunruhigend ist.

„Er kommt morgen Abend“, antwortete sie. „Mit seiner Freundin. Es gibt Neuigkeiten, sagt er.“

„Vielleicht wollen sie heiraten“, mutmaßte ich.

„Vielleicht“, stimmte sie nickend zu. „Das hoffe ich. Es ist an der Zeit, dass er zur Ruhe kommt. Wie dein Caden.“

Ich hob eine Augenbraue. Caden war schon so oft zur Ruhe gekommen, dass er zu den entspanntesten Männern Englands hätte zählen müssen, aber ich beschloss, sie nicht mit dem recht unverbindlichen Bindungsverhalten meines Sohnes zu belästigen.

„Wenn du was hörst, gibst du mir Bescheid, ja?“, sagte sie zu mir gebeugt, und mein Gehirn hangelte sich zurück durchs Gespräch, auf der Suche nach der Stelle, an der sie jetzt ihr Lager aufgeschlagen hatte, zumindest bis auf Weiteres.

„Wenn ich was höre, Liebes?“, fragte ich.

„Wenn du was über die neuen Nachbarn hörst. Wir könnten eine Party für sie schmeißen.“

„Ich glaube nicht, dass sie das gut fänden.“

„Oder wenigstens einen Kuchen für sie backen.“

„Das scheint mir angemessener.“

„Was ist mit Juden?“, fragte sie nach einer ausgedehnten Pause. „Es gab Zeiten, da durften in Häusern wie diesem hier keine Juden einziehen. Aber mir ist das gleich. Ich bin allen gegenüber offen. Wenn ich ehrlich bin, fand ich Juden immer sehr freundlich. Überraschend fröhlich, wenn man mal bedenkt, was die alles durchgemacht haben.“

Ich erwiderte nichts. Als ihr kurz darauf die Augen zufielen, nahm ich ihr die Tasse aus der Hand und wusch das Geschirr ab. Ehe ich ging und die Tür hinter mir zuzog, gab ich ihr noch einen zarten Kuss auf die Stirn. Im Hausflur sah ich kurz die Treppe hinunter zu der Wohnung unter meiner. Noch war sie still wie ein Grab.

Der Roman des Jahres

„Wer „Eine Frage der Chemie“ liest, wird den Namen Elizabeth Zott nicht mehr vergessen, davon sind wir überzeugt. Sie ist Vorbild, Anregung und beste Freundin zugleich, vor allem aber ein Charakter, der aus den Buchseiten mitten in die Gegenwart zu springen scheint. Und ebenso merken wird man sich den Namen ihrer Schöpferin BONNIE GARMUS, einer in London lebenden Amerikanerin, die alle Tugenden, die angelsächsische Erzählkunst ausmachen – ein Zusammenspiel von Tiefgründig- und Zugänglichkeit, von Humor und Eleganz –, in ihrem ersten Roman auf einzigartige Weise entfaltet." Felicitas von Lovenberg

Blick ins Buch
Eine Frage der ChemieEine Frage der Chemie

Roman

„Jetzt wird es Zeit für ein enthusiastisches Lob: Dieser Debütroman vereinigt Tiefgang mit Witz! Ein großer, kluger literarischer Spaß – und ein anrührender Familienroman.“ Denis Scheck

„So einen unterhaltsamen und zugleich blitzgescheiten Roman habe ich schon lange nicht mehr gelesen!“ Kölner Stadt-Anzeiger 

„Klug, charmant und warmherzig. Eine wunderbare Protagonistin, das Thema Emanzipation und Selbstbestimmung, tragische Entwicklungen und ein wirklich mitreißender Plot.“ BuchMarkt Online

Elizabeth Zott ist eine Frau mit dem unverkennbaren Auftreten eines Menschen, der nicht durchschnittlich ist und es nie sein wird. Doch es ist 1961, und die Frauen tragen Hemdblusenkleider und treten Gartenvereinen bei. Niemand traut ihnen zu, Chemikerin zu werden. Außer Calvin Evans, dem einsamen, brillanten Nobelpreiskandidaten, der sich ausgerechnet in Elizabeths Verstand verliebt. Aber auch 1961 geht das Leben eigene Wege. Und so findet sich eine alleinerziehende Elizabeth Zott bald in der TV-Show „Essen um sechs“ wieder. Doch für sie ist Kochen Chemie. Und Chemie bedeutet Veränderung der Zustände ...

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, dem Übersetzerduo von Delia Owens' "Der Gesang der Flusskrebse"

„In Elizabeth Zott verliebt man sich total. Sie ist so toll und natürlich dargestellt, dass ich sie sogar gegoogelt habe: Die muss es doch wirklich geben, habe ich gedacht! Lange habe ich nicht ein so unterhaltendes, witziges und kluges Buch gelesen wie dieses.“ Elke Heidenreich

Kapitel 1

November 1961

Damals, im Jahr 1961, als Frauen Hemdblusenkleider trugen und Gartenvereinen beitraten und zahllose Kinder bedenkenlos in Autos ohne Sicherheitsgurte herumkutschierten; damals, bevor überhaupt jemand ahnte, dass es eine 68er-Bewegung geben würde, und erst recht nicht eine, von der ihre Teilnehmer die folgenden sechzig Jahre erzählen würden; damals, als die großen Kriege vorbei waren und die geheimen Kriege gerade begonnen hatten und die Menschen allmählich anfingen, neu zu denken und zu glauben, alles wäre möglich, stand die dreißigjährige Mutter von Madeline Zott jeden Morgen vor Tagesanbruch auf und war sich nur einer Sache ganz sicher: Ihr Leben war vorbei.

Trotz dieser Gewissheit begab sie sich ins Labor, um den Lunch für ihre Tochter einzupacken.

Kraftstoff fürs Gehirn schrieb Elizabeth Zott auf einen kleinen Zettel, den sie in die Lunchbox ihrer Tochter steckte. Dann hielt sie inne, den Stift in der Luft, als würde sie neu überlegen. Treib in der Pause Sport, aber lass die Jungs nicht automatisch gewinnen, schrieb sie auf einen anderen Zettel. Dann hielt sie erneut inne, klopfte nachdenklich mit dem Stift auf den Tisch. Du bildest dir das nicht nur ein, schrieb sie auf einen dritten. Die meisten Menschen sind einfach scheußlich. Die letzten beiden legte sie obenauf.

Die meisten kleinen Kinder können nicht lesen, und falls doch, sind es meist Wörter wie „Hund“ und „Maus“. Aber Madeline las bereits, seit sie drei war, und jetzt, als Fünfjährige, hatte sie schon fast den gesamten Dickens durch.

Madeline gehörte zu der Sorte Kind, die ein Bach-Konzert summen, aber sich nicht selbst die Schuhe zubinden konnte, die die Drehung der Erde erklären konnte, aber bei Tic-Tac-Toe versagte. Und das war das Problem. Denn während musikalische Wunderkinder stets bejubelt werden, ist das bei frühen Lesern nicht der Fall. Weil frühe Leser nämlich bloß in etwas gut sind, in dem andere irgendwann auch gut sein werden. Deshalb ist es nichts Besonderes, darin die Erste zu sein – es ist bloß nervig.

Madeline war sich dessen bewusst. Deshalb nahm sie unweigerlich jeden Morgen – wenn ihre Mutter das Haus verlassen hatte und ihre Nachbarsbabysitterin, Harriet, abgelenkt war – die Zettel aus der Lunchbox, las sie und legte sie dann zu all den anderen Zetteln, die sie in einem Schuhkarton ganz hinten in ihrem Schrank aufbewahrte. Sobald sie in der Schule war, tat sie so, als wäre sie wie alle anderen Kinder: praktisch des Lesens unkundig. Für Madeline war Dazugehören wichtiger als alles andere. Und ihr Beweis war unwiderlegbar: Ihre Mutter hatte nie irgendwo dazugehört, und schau, wie es ihr ergangen war.

 

So lag sie in der südkalifornischen Kleinstadt Commons, wo das Wetter meistens warm war, aber nicht zu warm, und der Himmel meistens blau, aber nicht zu blau, und die Luft sauber, weil die Luft das damals einfach war, in ihrem Bett, die Augen geschlossen, und wartete. Sie wusste, bald würde ihr ein sanfter Kuss auf die Stirn gedrückt, die Bettdecke fürsorglich über die Schultern hochgezogen, „Nutze den Tag“ ins Ohr gemurmelt. Kurz darauf würde sie einen Automotor anspringen hören, das Knirschen von Reifen, wenn der Plymouth rückwärts aus der Einfahrt setzte, ein geräuschvolles Umschalten vom Rückwärtsgang in den ersten. Und dann würde ihre dauerhaft depressive Mutter zu dem Fernsehstudio fahren, wo sie sich eine Schürze umbinden und ihr Set betreten würde.

Die Sendung hieß Essen um sechs, und Elizabeth Zott war ihr unangefochtener Star.


Kapitel 2

Pine

Die ehemalige Forschungschemikerin Elizabeth Zott war eine Frau mit makelloser Haut und dem unverkennbaren Auftreten eines Menschen, der nicht durchschnittlich war und es nie sein würde.

Sie war, wie alle guten Stars, entdeckt worden. Obwohl in Elizabeths Fall kein Eiscafé eine Rolle spielte, keine Parkbank, auf der sie zufällig gesichtet wurde, keine glückliche Fügung. Stattdessen führte Diebstahl – genauer gesagt Mundraub – zu ihrer Entdeckung.

Die Geschichte war einfach: Ein Mädchen namens Amanda Pine, die das Essen auf eine Weise genoss, die manche Therapeuten für bedenklich halten, aß Madelines Lunch. Und zwar, weil Madelines Lunch ungewöhnlich war. Während die anderen Kinder ihre Sandwiches mit Erdnussbutter und Marmelade mümmelten, öffnete Madeline ihre Lunchbox und fand darin eine dicke Scheibe Lasagne vom Vortag, eine Beilage aus butterigen Zucchini, eine exotische, in Viertel geschnittene Kiwi, fünf glänzende runde Kirschtomaten, einen winzigen Morton-Salzstreuer, zwei noch warme Kekse mit Schokostückchen und eine rot karierte Thermosflasche mit eiskalter Milch.

Dieser Inhalt war der Grund, warum alle es auf Madelines Lunch abgesehen hatten, Madeline eingeschlossen. Aber Madeline bot ihn Amanda an, weil Freundschaft Opfer erfordert, aber auch, weil Amanda die Einzige in der ganzen Schule war, die sich nicht über das seltsame Kind lustig machte, das Madeline war, wie sie selbst bereits wusste.

Erst als Elizabeth bemerkte, dass Madelines Kleidung anfing, an ihrem knochigen Körper herabzuhängen wie schlechte Vorhänge, wurde sie misstrauisch. Ihren Berechnungen nach entsprach Madelines tägliche Nahrungsaufnahme genau dem, was ihre Tochter für eine optimale Entwicklung benötigte, somit war Gewichtsverlust wissenschaftlich unerklärlich. Dann vielleicht ein Wachstumsschub? Nein. Wachstum hatte sie in ihre Berechnungen einkalkuliert. Frühzeitiges Auftreten einer Essstörung? Unwahrscheinlich. Beim Abendessen futterte Madeline wie ein Scheunendrescher. Leukämie? Bestimmt nicht. Elizabeth war keine Schwarzseherin – sie war nicht der Typ Mutter, der nachts wach lag und sich ausmalte, ihre Tochter litte an einer unheilbaren Krankheit. Als Wissenschaftlerin suchte sie stets nach einer vernünftigen Erklärung, und in dem Moment, als sie Amanda Pines tomatensoßenrot verfärbte Lippen sah, wusste sie, dass sie die Erklärung gefunden hatte.

 

„Mr Pine“, sagte Elizabeth, als sie an einem Mittwochnachmittag in das örtliche Fernsehstudio und an einer Sekretärin vorbeirauschte, „ich versuche seit drei Tagen, Sie telefonisch zu erreichen, und Sie bringen nicht mal die Höflichkeit auf, mich zurückzurufen. Mein Name ist Elizabeth Zott. Ich bin Madeline Zotts Mutter – unsere Kinder gehen gemeinsam auf die Woody Elementary –, und ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass Ihre Tochter meiner Tochter unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Freundschaft vorgaukelt.“ Und weil er verwirrt wirkte, schob sie nach: „Ihre Tochter isst den Lunch meiner Tochter.“

„L…Lunch?“, brachte Walter Pine heraus, während er die Frau betrachtete, die eindrucksvoll vor ihm stand und deren weißer Laborkittel eine Aura überirdischen Lichts verbreitete, bis auf eine Kleinigkeit: die aufgestickten roten Initialen „E. Z.“ direkt über der Tasche.

„Ihre Tochter Amanda“, klagte Elizabeth erneut an, „isst den Lunch meiner Tochter. Anscheinend geht das schon seit Monaten so.“

Walter konnte sie nur anstarren. Groß und schlank, die Haare in der Farbe von leicht angebranntem gebutterten Toast nach hinten gestrichen und mit einem Bleistift festgesteckt, stand sie da, Hände in den Hüften, der Mund selbstbewusst rot, die Haut leuchtend, die Nase gerade. Sie blickte zu ihm herab wie ein Sanitäter auf einem Schlachtfeld, als würde sie abschätzen, ob es sich lohnte, ihn zu retten.

„Und die Tatsache, dass sie vorgibt, Madelines Freundin zu sein, um an ihren Lunch zu kommen“, fuhr sie fort, „ist absolut verwerflich.“

„W…Wer sind Sie noch mal?“, stammelte Walter.

„Elizabeth Zott!“, blaffte sie zurück. „Madeline Zotts Mutter!“

Walter nickte, versuchte mitzukommen. Als langjähriger Produzent nachmittäglicher Fernsehsendungen war er vertraut mit dramatischen Szenen. Aber das hier? Er starrte sie weiter an. Sie war hinreißend. Er war tatsächlich hingerissen von ihr. Wollte sie für irgendwas vorsprechen?

„Tut mir leid“, sagte er schließlich. „Aber die Krankenschwesterrollen sind schon alle vergeben.“

„Wie bitte?“, fauchte sie.

Es entstand eine lange Pause.

„Amanda Pine“, wiederholte sie.

Er blinzelte. „Meine Tochter? Oh“, sagte er plötzlich nervös. „Was ist mit ihr? Sind Sie Ärztin? Sind Sie von Ihrer Schule?“ Er sprang auf.

„Du liebe Güte, nein“, antwortete Elizabeth. „Ich bin Chemikerin. Ich bin in meiner Mittagspause den ganzen Weg vom Hastings hergekommen, weil Sie mich nicht zurückgerufen haben.“ Und als er sie weiter ratlos ansah, stellte sie klar. „Forschungsinstitut Hastings? Wo sich bahnbrechende Forschung Bahn bricht?“ Der geistlose Slogan ließ sie einmal tief ausatmen. „Es geht darum, dass ich sehr viel Sorgfalt darauf verwende, Madeline einen nahrhaften Lunch zuzubereiten, etwas, worum Sie sich doch gewiss auch für Ihr Kind bemühen.“ Und als er sie weiter nur verständnislos anstarrte, schob sie nach: „Weil Ihnen Amandas kognitive und körperliche Entwicklung am Herzen liegt. Weil Sie wissen, dass diese Entwicklung davon abhängt, ihr ein ausgewogenes Gleichgewicht von Vitaminen und Mineralstoffen zu bieten.“

„Das Problem ist, dass Mrs Pine …“

„Ja, ich weiß. Sie steht nicht zur Verfügung. Ich habe versucht, sie zu erreichen, und man sagte mir, dass sie jetzt in New York lebt.“

„Wir sind geschieden.“

„Tut mir leid, das zu hören, aber Scheidung hat wenig mit Lunch zu tun.“

„Das könnte man meinen, aber …“

„Ein Mann kann seinem Kind Lunch machen, Mr Pine. Das ist keine biologische Unmöglichkeit.“

„Völlig richtig“, pflichtete er bei und schob einen Stuhl zurecht. „Bitte, Mrs Zott, bitte, nehmen Sie Platz.“

„Ich hab was im Zyklotron“, sagte sie gereizt mit Blick auf ihre Uhr. „Sind wir uns einig oder nicht?“

„Zyklo…“

„Subatomarer Teilchenbeschleuniger.“

Elizabeth ließ den Blick über die Wände gleiten. Sie waren mit gerahmten Plakaten tapeziert, die Werbung für melodramatische Seifenopern und reißerische Spielshows machten.

„Meine Arbeit“, sagte Walter, der sich plötzlich für die Geschmacklosigkeiten schämte. „Vielleicht haben Sie schon mal eine davon gesehen?“

Sie wandte sich wieder ihm zu. „Mr Pine“, sagte sie in versöhnlicherem Ton. „Ich bedauere, dass ich weder die Zeit noch die Mittel habe, für Ihre Tochter Lunch zu machen. Wir wissen beide, dass Nahrung der Katalysator ist, der unser Gehirn in Gang setzt, unsere Familien zusammenhält und unsere Zukunft bestimmt. Und dennoch …“ Sie verstummte, und ihre Augen verengten sich, als sie das Plakat für eine Seifenoper bemerkte, auf dem eine Krankenschwester einem Patienten eine ziemlich ungewöhnliche Pflege angedeihen ließ. „Wer hat denn schon die Zeit, der ganzen Nation beizubringen, wie man Mahlzeiten zubereitet, die wirklich Gehalt haben? Ich wünschte, ich hätte sie, aber ich habe sie nicht. Sie etwa?“

Als sie sich zur Tür wandte, sagte Pine, der sie nicht gehen lassen wollte und selbst nicht recht verstand, was da gerade in ihm vorging: „Warten Sie, bitte, Moment … bitte. Was … was haben Sie da gerade gesagt? Von wegen: der ganzen Nation beibringen, wie man Mahlzeiten zubereitet, die … die wirklich Gehalt haben?“

Essen um sechs ging vier Wochen später auf Sendung. Und obwohl Elizabeth die Idee nicht unbedingt begeisternd fand – sie war schließlich Forschungschemikerin –, nahm sie den Job aus den üblichen Gründen an: Er war besser bezahlt, und sie hatte ein Kind zu versorgen.

 

Vom ersten Tag an, als Elizabeth sich eine Schürze umband und das Set betrat, war offensichtlich, dass sie „es“ hatte, wobei „es“ diese schwer fassbare Qualität war, sehenswert zu sein. Aber sie war auch ein Mensch mit Substanz, so direkt, so nüchtern, dass die Menschen nicht wussten, was sie von ihr halten sollten. Während in anderen Kochsendungen gut gelaunte Köche fröhlich ihren Sherry in sich hineinkippten, war Elizabeth Zott ernst. Sie lächelte nie. Sie scherzte nie. Und ihre Gerichte waren ebenso ehrlich und bodenständig wie sie selbst.

Nach nur sechs Monaten war Elizabeths Sendung ein immer größerer Hit. Nach einem Jahr eine Institution. Und nach zwei Jahren war klar, dass sie die verblüffende Wirkung hatte, nicht nur Eltern mit ihren Kindern zu vereinen, sondern Bürger mit ihrem Land. Man kann ohne Übertreibung feststellen, dass die gesamte Nation am Esstisch Platz nahm, wenn Elizabeth Zott mit dem Kochen fertig war.

Selbst Vizepräsident Johnson verfolgte ihre Sendung. „Sie wollen wissen, was ich denke?“, sagte er, als er einen hartnäckigen Reporter loswerden wollte. „Ich denke, Sie sollten weniger schreiben und mehr fernsehen. Fangen Sie mit Essen um sechs an – diese Zott, das ist eine patente Frau.“

Und das stimmte. Niemals hätte Elizabeth Zott erklärt, wie man winzige Gurkensandwiches oder fluffige Soufflés machte. Ihre Rezepte waren herzhaft: Eintöpfe, Aufläufe, Gerichte, die in großen Metallpfannen zubereitet wurden. Sie legte Wert auf die vier Lebensmittelgruppen. Sie glaubte an anständige Portionen. Und sie betonte, dass jedes Gericht, das die Mühe wert war, weniger als eine Stunde Mühe erfordern sollte. Sie beendete jede Sendung mit ihrem Standardspruch: „Kinder, deckt den Tisch. Eure Mutter braucht einen Moment für sich.“

Doch dann schrieb ein prominenter Reporter einen Artikel mit dem Titel: „Warum wir alles essen, was sie uns auftischt“, und bezeichnete sie beiläufig als „Leckere Lizzie“, ein Spitzname, der sowohl zutreffend als auch alliterativ war und deshalb ebenso schnell an ihr haften blieb wie an dem Papier, auf dem er gedruckt war. Von diesem Tag an nannten Fremde sie Leckere Lizzie, aber ihre Tochter Madeline nannte sie Mom, und obwohl Madeline noch ein Kind war, begriff sie, dass der Spitzname die Fähigkeiten ihrer Mutter schmälerte. Sie war Chemikerin, keine Fernsehköchin. Und Elizabeth, ihrem einzigen Kind gegenüber befangen, schämte sich.

Manchmal lag Elizabeth nachts im Bett und dachte darüber nach, wie ihr Leben diesen Verlauf hatte nehmen können. Doch das Nachdenken währte nie lange, denn in Wahrheit wusste sie es.

Sein Name war Calvin Evans.


Kapitel 3

Forschungsinstitut Hastings
Zehn Jahre zuvor, Januar 1952

Calvin Evans war ebenfalls am Forschungsinstitut Hastings angestellt, doch im Unterschied zu Elizabeth, die in beengten Verhältnissen arbeitete, hatte er ein großes Labor ganz für sich allein.

Aufgrund seiner Erfolgsbilanz stand ihm das vielleicht auch zu. Mit neunzehn hatte er bereits bedeutsame Forschungsarbeit geleistet, die dazu beitrug, dass der berühmte britische Chemiker Frederick Sanger den Nobelpreis bekam. Mit zweiundzwanzig entdeckte er ein schnelleres Verfahren, um einfache Proteine zu synthetisieren. Mit vierundzwanzig brachte ihn sein Durchbruch in Sachen Reaktivität von Dibenzoselenophen auf das Titelblatt von Chemistry Today. Außerdem hatte er sechzehn wissenschaftliche Aufsätze verfasst, Einladungen zu zehn internationalen Tagungen erhalten und eine Professur in Harvard angeboten bekommen. Die er ablehnte. Zweimal. Zum einen, weil Harvard Jahre zuvor seinen Antrag auf einen Studienplatz abschlägig beschieden hatte, und zum anderen, weil – tja, eigentlich gab es keinen anderen Grund. Calvin war ein Genie, aber wenn er einen Fehler hatte, dann war das seine Neigung, nachtragend zu sein.

Obendrein war er berüchtigt für seine Ungeduld. Wie so viele geniale Menschen konnte Calvin einfach nicht begreifen, warum niemand sonst es kapierte. Er war außerdem introvertiert, was durchaus kein Fehler ist, sich aber häufig als Unnahbarkeit manifestiert. Erschwerend hinzu kam, dass er Ruderer war.

Wie viele Nicht-Ruderer Ihnen versichern werden, sind Ruderer nicht besonders lustig. Das liegt daran, dass Ruderer immer nur übers Rudern reden wollen. Sobald zwei oder mehr Ruderer im selben Raum sind, schweift das Gespräch unweigerlich von so herkömmlichen Themen wie Arbeit oder Wetter ab und kreist nur noch um Boote, Blasen, Riemen, Griffe, Ergos, Blattabdrehen, Training, Setzen, Ausheben, Freilauf, Splits, Sitze, Schläge, Rollschienen, Starts, Schlagzahlen, Sprints und ob das Wasser wirklich „glatt“ war oder nicht. Dann geht es meistens damit weiter, was bei der letzten Fahrt falschgelaufen ist und was bei der nächsten falschlaufen könnte und wer daran Schuld hatte beziehungsweise haben wird. Irgendwann strecken die Ruderer ihre Hände aus und machen einen Schwielenvergleich. Und wenn man so richtig Pech hat, schließen sich etliche Minuten andächtiger Ehrfurcht an, in denen einer von ihnen das perfekte Rudererlebnis schildert, bei dem sich alles leicht anfühlte.

 

Neben der Chemie war Rudern das Einzige, wofür Calvin echte Leidenschaft empfand. Ja, Rudern war der Grund, warum sich Calvin in Harvard überhaupt beworben hatte: Für Harvard rudern hieß 1945, für die Besten rudern. Oder eigentlich die Zweitbesten. Die University of Washington war die beste, aber die University of Washington lag in Seattle, und Seattle war für seinen Regen berüchtigt. Calvin hasste Regen. Deshalb richtete er seinen Blick in die Ferne – auf das andere Cambridge, das in England – und widerlegte damit einen der größten Mythen über Wissenschaftler: dass sie gut recherchieren können.

Als Calvin das erste Mal auf dem Cam ruderte, regnete es. Am zweiten Tag regnete es. Am dritten Tag ebenso. „Regnet’s hier andauernd so?“, maulte Calvin, als er und seine Teamkameraden sich das schwere Holzboot auf die Schultern hievten und hinaus zum Steg schleppten. „Nein, nein, praktisch nie“, beruhigten sie ihn. „Cambridge ist normalerweise ziemlich sonnig.“ Und dann sahen sie einander an, als wollten sie sich gegenseitig etwas bestätigen, was sie schon lange vermutet hatten: Amerikaner waren dämlich.

 

Leider erstreckte sich Calvins Dämlichkeit auch auf seine Kontakte zur Damenwelt – ein großes Problem, weil er sich sehr gern verlieben wollte. In den ganzen sechs einsamen Jahren, die er in Cambridge verbrachte, schaffte er es, sich mit fünf Frauen zu verabreden, von diesen fünf war nur eine zu einem zweiten Rendezvous bereit, und das auch nur, weil sie jemand anders erwartet hatte, als sie ans Telefon ging. Das Hauptproblem war seine Unerfahrenheit. Er war wie ein Hund, der nach jahrelangen vergeblichen Versuchen endlich ein Eichhörnchen erwischt und dann keine Ahnung hat, was er damit anstellen soll.

„Hallo … äh“, hatte er gesagt, mit klopfendem Herzen und feuchten Händen und einem schlagartig leeren Kopf, als die junge Frau die Tür öffnete. „Debbie?“

„Ich heiße Deirdre“, seufzte sie und warf einen ersten Blick auf ihre Uhr, dem noch viele folgen sollten.

Beim Abendessen zog sich die Unterhaltung vom molekularen Abbau aromatischer Säuren (Calvin) hin zu den neusten Filmen (Deirdre), zu der Synthese nicht reaktiver Proteine (Calvin), zu der Frage, ob er gern tanzte oder nicht (Deirdre), zu einem Blick auf die Uhr, es war schon halb neun, und er musste am Morgen rudern, deshalb würde er sie gleich nach Hause bringen (Calvin).

Es versteht sich von selbst, dass es nach diesen Rendezvous zu sehr wenig Sex kam. Genauer gesagt, zu gar keinem.

 

„Ich versteh gar nicht, dass du da Schwierigkeiten hast“, sagten seine Kameraden im Ruderteam öfter zu ihm. „Mädchen lieben Ruderer.“ Was nicht stimmte. „Und du bist zwar Amerikaner, aber du siehst nicht schlecht aus.“ Was ebenfalls nicht stimmte.

Ein Teil des Problems war Calvins Körperhaltung. Er war gut einen Meter neunzig groß, schlaksig und hager, und er ließ sich etwas nach rechts hängen – wahrscheinlich, weil er immer auf der Backbordseite ruderte. Aber noch problematischer war sein Gesicht. Er hatte einen verlorenen Ausdruck an sich, wie ein Kind, das sich allein durchschlagen musste, mit großen grauen Augen und zotteligem blonden Haar und leicht violetten Lippen, die fast immer geschwollen waren, weil er die Neigung hatte, auf ihnen zu kauen. Es war die Art von Gesicht, die manche als leicht zu vergessen beschreiben würden, eine unterdurchschnittliche Komposition, die nichts von der dahinterliegenden Sehnsucht oder Intelligenz erahnen ließ, bis auf ein entscheidendes Kriterium – seine Zähne, die gerade und weiß waren und seine gesamte Gesichtslandschaft rehabilitierten, sobald er lächelte. Zum Glück und vor allem, nachdem er sich in Elizabeth Zott verliebt hatte, lächelte Calvin ständig.

 

Sie begegneten sich – oder besser gesagt, wechselten die ersten Worte – an einem Dienstagmorgen im Forschungsinstitut Hastings, dem privaten Forschungslabor im sonnigen Südkalifornien, in dem Calvin, nachdem er in Cambridge in Rekordzeit promoviert und dreiundvierzig Stellenangebote abgewogen hatte, eine Position teils wegen des guten Rufs, aber hauptsächlich wegen des Niederschlags annahm. In Commons regnete es selten. Elizabeth dagegen nahm das Angebot vom Hastings an, weil sie keine anderen bekommen hatte.

Als sie vor Calvin Evans’ Labor stand, bemerkte sie einige große Warnschilder:

NICHT EINTRETEN

LAUFENDES EXPERIMENT

KEIN EINLASS

DRAUSSEN BLEIBEN

 

Dann öffnete sie die Tür.

„Hallo“, rief sie über Frank Sinatra hinweg, der aus einer Stereoanlage dröhnte, die seltsamerweise mitten im Raum stand. „Ich muss mit jemandem sprechen, der hier die Verantwortung hat.“

Calvin, überrascht, eine Stimme zu hören, reckte den Kopf über eine große Zentrifuge.

„Entschuldigen Sie, Miss“, sagte er laut und gereizt, auf der Nase eine große Schutzbrille, die seine Augen vor etwas schützten, das rechts von ihm brodelte, „aber Unbefugte haben hier keinen Zutritt. Haben Sie die Hinweisschilder nicht gesehen?“

„Doch“, rief sie zurück, ohne auf seinen Ton zu achten, während sie durch das Labor marschierte, um die Musik auszumachen. „So. Jetzt können wir uns gegenseitig besser hören.“

Calvin kaute auf seinen Lippen und zeigte zur Tür. „Sie dürfen nicht hier sein“, sagte er. „Die Hinweisschilder.“

„Also, mir wurde gesagt, Sie haben in Ihrem Labor einen Überschuss an Bechergläsern, und wir haben unten zu wenig. Steht alles hier drauf“, sagte sie und hielt ihm ein Blatt Papier hin. „Ist von der Materialverwaltung genehmigt.“

„Darüber bin ich nicht informiert worden“, sagte Calvin, der das Blatt überflog. „Aber es tut mir leid, nein. Ich brauche jedes Becherglas. Vielleicht sollte ich lieber mit einem Chemiker unten sprechen. Sagen Sie Ihrem Chef, er soll mich anrufen.“ Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu und schaltete im Vorbeigehen die Stereoanlage an.

Elizabeth rührte sich nicht. „Sie wollen mit einem Chemiker sprechen? Mit jemand anderem als MIR?“, rief sie über Frank hinweg.

„Ja“, antwortete er. Und dann wurde er etwas freundlicher. „Hören Sie, ich weiß, es ist nicht Ihre Schuld, aber die sollten keine Sekretärin hier raufschicken, um ihnen die lästige Arbeit abzunehmen. Also, ich weiß, das ist für Sie vielleicht schwer zu verstehen, aber ich bin gerade mit etwas Wichtigem beschäftigt. Bitte. Sagen Sie Ihrem Chef einfach, er soll mich anrufen.“

Elizabeths Augen verengten sich. Sie konnte Leute nicht ausstehen, die aufgrund von ihrer Meinung nach längst überholten optischen Eindrücken voreilige Schlüsse zogen, und selbst wenn sie eine Sekretärin gewesen wäre, so konnte sie ebenso wenig Männer ausstehen, die glaubten, dass eine Sekretärin nicht in der Lage war, Wörter zu verstehen, die über „Tippen Sie das in dreifacher Ausfertigung“ hinausgingen.

„So ein Zufall“, schrie sie, steuerte geradewegs auf ein Regal zu und nahm sich einen großen Karton Bechergläser. „Ich bin auch beschäftigt.“ Dann marschierte sie hinaus.


„Ganz großes Lesekino.“ Buchjournal

Von Mark Miller werden Sie kein Autorenfoto zu Gesicht bekommen, kein Interview finden und auch keine Hinweise, die Rückschlüsse auf seine Identität machen könnten. Wer hinter dem englisch klingenden Pseudonym steckt, bleibt ein Mysterium – und nicht einmal der französische Originalverlag, XO Editions, weiß, um wen es sich handeln könnte.

Fest steht, dass Mark Miller auf Französisch schreibt. Und dass er es versteht, die Leser:innen mit seinem Schreibstil und einer ebenso spannenden wie emotionalen Geschichte zu begeistern. Meisterhaft verwebt er eine große, intensive Liebesgeschichte mit einem Kriminalfall, der mehrere Jahrzehnte in die Vergangenheit reicht, taucht in die Welt der Kunst und der Kunstfälschung ein und macht die unverkennbare Atmosphäre der Metropole New York spürbar. Isabelle Toppe, Lektorat

Blick ins Buch
Uns bleibt immer New YorkUns bleibt immer New York

Roman

Eine Kunstsammlerin in Paris, ein Kunstfälscher in New York, eine schicksalshafte Begegnung und eine unsterbliche Liebe

Lorraine leitet eine renommierte Pariser Werbeagentur, ihre Leidenschaft aber gehört der Kunst. Als sie zur Versteigerung eines berühmten Gemäldes nach New York reist, wird sie im Central Park von einem Unbekannten überfallen. Nur das mutige Einschreiten des Malers Leo verhindert Schlimmeres. Zwischen den beiden funkt es sofort, doch sie sind in Gefahr: Lorraine wird von einem Stalker verfolgt, der alles über sie weiß und sie in anonymen Nachrichten bedroht. Und Leo, der bis vor Kurzem als Kunstfälscher im Gefängnis saß, wird von seiner Vergangenheit heimgesucht. Schließlich macht er eine schreckliche Entdeckung, die ihre Liebe zerstören könnte.

Eine einzigartige Liebe, eine einmalige Story, ein besonderes Debüt – perfekt für alle Leser:innen, die Guillaume Mussos Roman „Nacht im Central Park“, „Das Atelier in Paris“ und „Das Mädchen aus Brooklyn“ geliebt haben.

Wer ist Mark Miller? Die Verlagswelt, die Presse und die Leser:innen rätseln, welcher französischsprachige Autor hinter dem englisch klingenden Pseudonym stecken könnte. Nur eines ist sicher: Alle sind begeistert von dem mysteriösen Autor und seinem mitreißenden Debütroman! 

„Spannung, Action und Emotionen machen aus diesem Roman das Buch des Sommers!“ Gala

„Ein echter Favorit! Eine Liebes- und Spannungsgeschichte, die Sie noch lange verfolgen wird.“ Nice Matin

„Zwischen Abrechnungen, Verdächtigungen und Familiengeheimnissen nimmt Mark Miller uns mit in eine faszinierende Geschichte.“ Femme Actuelle

„Ein großer Liebes- und Spannungsroman aus der Feder eines mysteriösen Autors.“ Ici Paris

„Ein origineller Roman mit einem unvorhersehbaren Ende, voller Kunst, Liebe und Spannung.“ Version Femina

„Dieser Roman hat alle Zutaten, um ein Bestseller zu werden.“ Ouest France

„Über den Autor, Mark Miller, ist bislang nichts bekannt. Das spielt aber keine Rolle, denn Sie werden von seinem Sinn für Intrigen und seiner Meisterschaft in Sachen Spannung komplett in Atem gehalten.“ La Dépêche du midi

„Ein Blockbuster!“ La Voix du Nord

In den Warenkorb

Der neue Roman von Cecilia Ahern

„Als ich das Manuskript des neuen Romans von Cecilia Ahern bekam, war mein erster Impuls ein schlechtes Gewissen. Früher einmal hatte ich Romane der sympathischen irischen Bestsellerautorin sehr gern gelesen, doch dann den Eindruck gehabt, dieser Art von Liebesgeschichten entwachsen zu sein, ohne die Probe nochmal aufs Exempel zu machen.  

Wie groß war mein Erstaunen bei der Lektüre von „Alle Farben meines Lebens“ – und die Scham, hier offenbar eine enorme schriftstellerische Entwicklung völlig verpasst zu haben. Das war jetzt also Cecilia Ahern? Dieser reife, kluge und bewegende Roman über Alice, eine Frau, die die Gabe besitzt, den Gemütszustand anderer Menschen als Farben zu sehen? Anhand dieser Auren erkennt sie, ob jemand lügt oder die Wahrheit sagt, depressiv ist, verliebt oder krank. Wie Alice, deren eigenes Leben alles andere als in heitere Farben getaucht ist, mit dieser Bürde und Verantwortung umgeht und was sie aus ihrer Fähigkeit macht, ist eines meiner eindringlichsten Leseerlebnisse seit langem." Felicitas von Lovenberg

Blick ins Buch
Alle Farben meines Lebens Alle Farben meines Lebens

Roman

Das Leben strahlt in unendlich vielen Farben. 

Gold ist die Farbe der Reinheit, Grün steht für Stabilität und ein bestimmtes Blau für Traurigkeit. Schon als Kind entdeckt Alice, dass sie den Gemütszustand anderer Menschen in Farbe sehen kann. Die Auren verraten Alice, ob ihr Gegenüber die Wahrheit sagt oder lügt, glücklich ist oder heimlich den Tränen nah. Ihr eigenes Leben in die Farben des Glücks zu tauchen, das gelingt ihr zunächst dennoch nicht. Ausgerechnet die Natur liefert der Großstadtpflanze, die bisher jeden Kaktus kleinkriegt, einen ersten Hinweis. Ihre lebenskluge Nachbarin zeigt ihr die Richtung. Und die Begegnung mit einem Mann, dessen Farben sie überraschenderweise nicht erkennen kann, leitet Alice auf ihrer Suche nach all den bunten, leuchtenden Facetten des Lebens.

„Ich kann gar nicht anders, als über die Gefühle meiner Figuren zu schreiben“, sagt Bestseller-Autorin Cecelia Ahern. So entstehen anrührende Bücher voller Tiefe und Empathie über das, was im Leben wirklich zählt.

Cecelia Aherns Romane erobern nicht nur weltweit die Bestsellerlisten, sie treffen ihre Leserinnen und Leser mitten ins Herz. Denn ihre Bücher gehen Fragen nach, die jedermann bewegen: Was ist Glück? Wer bin ich? Was gibt meinem Leben Sinn? Deshalb sind Cecelia Aherns Geschichten immer eine wunderbare Mischung aus Dunkelheit und Licht, Trauer und Humor, Unterhaltung und Tiefe.

 „So klug und anregend! Cecelia Ahern ist eine unserer inspirierendsten Autor*innen überhaupt.“ John Boyne 

In „Alle Farben meines Lebens“ präsentiert Cecelia Ahern mit Alice eine Figur, die sich den besonderen Herausforderungen ihres Lebens mutig stellt, neue Stärken in sich findet und erkennt, dass ihre Gabe ein Geschenk ist und der Schlüssel zu ihrem Glück. Eine Geschichte, die auffordert, an sich selbst zu glauben und Träume zu leben.

Blau

Ich marschiere im Takt des herumkullernden Apfels, der sich in meiner Brotdose befindet. Roll, boing, roll, boing. Seit Montag schon habe ich ihn in meiner Schultasche, damit das Pausenbrot gesünder wirkt, allerdings werde ich ihn auch die restliche Woche über nicht anrühren, er bekommt von Tag zu Tag einfach nur mehr braune Stellen. Mein kleiner Bruder Ollie trottet mit gesenktem Kopf hinter mir her und kickt gelegentlich Steine zur Seite, die es wagen, ihm im Weg zu liegen. Unser Haus kommt in Sicht, und ich verlangsame meine Schritte; am Morgen ist die Schule zu weit weg, am Nachmittag nicht weit genug.

Ich blicke zu ihrem Schlafzimmerfenster hoch. Die Vorhänge sehen unordentlich aus, als hätte man sie mit Gewalt zugezogen. Ein paar Klammern haben sich von den Gardinenringen gelöst, sodass oben Lücken klaffen. Die Gangulys von nebenan haben elegant geraffte Vorhänge, genau wie die, die man als kleines Kind malt, weil man glaubt, dass genau so ein Haus aussehen sollte. Der Rasen im Vorgarten der Gangulys ist frisch gemäht, hübsche bunte Blumen säumen den Rand, und das rote Tor passt zur Farbe der Fensterrahmen. Ganz anders als bei uns.

Unser Gras müsste gemäht werden, es reicht bis über die Gartenmauer, so als wollte es unbedingt hinüberschauen, vielleicht entkommen, aber wenigstens verbirgt der Dschungel zumindest teilweise die überquellenden Mülltonnen. Die Tonnen auf die Straße hinauszustellen und den Rasen zu mähen waren Dads Aufgaben.

Ich schiebe unser quietschendes, klappriges Tor auf und gehe an dem stinkenden Müll vorbei auf die blaue Tür zu. Bei der 47 aus Messing hängt die Sieben ein wenig schief. Ich bücke mich nach der warmen Milch auf der Eingangsstufe und nehme die Flasche mit hinein. Es ist fast schon drei Uhr nachmittags, aber das Haus ist still und dunkel, und es herrscht ein abgestandener Morgengeruch. Den Küchentisch zieren Zuckerfährten, unsere Müslischüsseln stapeln sich in der Spüle, und aufgeweichte Cornflakes treiben in zuckrig-gelblicher Milch. Stühle stehen unordentlich um den Tisch, die eingefrorene Szene von 8:30 Uhr am Morgen.

Ollie wirft seine Schultasche auf den Boden und fällt vor der Spielzeugkiste, die hauptsächlich mit kaputten, räderlosen Autos von meinem großen Bruder Hugh und meinen geköpften Puppen ohne Gliedmaßen gefüllt ist, auf die Knie. Er spielt mit seinen Soldaten und Ringkämpfern und formt lautlose Bumm-zack-bumm-Geräusche mit den Lippen, als die Figuren einen unterbrochenen Kampf wieder aufnehmen. Ich kenne kein anderes Kind, das beim Spielen flüstert, aber er sagt fast nie etwas, ist nur immer da und wartet, wie das Gras und die Mülltonnen, wächst lautlos und quillt über.

Ich stelle meine Schultasche neben den Stuhl am Küchentisch, wo ich die Hausaufgaben machen werde. Erst wische ich den Tisch sauber und kratze die verkrusteten Cornflakes von den Rändern der Schüsseln, ehe ich sie in den Geschirrspüler räume. Als ich die Vorhänge aufziehe, flirren die in der Luft schwebenden Staubpartikel im grauen Tageslicht. Ich beobachte ihr Treiben, ein Ohr auf die Stille gerichtet. Bald wird mein Bruder Hugh nach Hause kommen. Er ist älter und hat erst um vier Uhr Schulschluss. Mit ihm zu Hause ist immer alles in Ordnung. Aber jetzt ist er nicht da. Ein pulsierendes Pochen in meiner Schläfe will mir etwas sagen, wie Morsezeichen. Eigentlich ist alles wie immer, aber irgendetwas stimmt nicht.

Zaghaft spähe ich nach oben, aus Angst, was ich dort vorfinden werde. Auf der obersten Treppenstufe sieht unser ansonsten brauner Teppich blau aus. Es wirkt wie Bodennebel, der tief und ruhig oben auf der Treppe wabert. Ich schnuppere, ob es Rauch ist, aber er ist geruchlos. Als ich auf die unterste Stufe steige, bewegt die blaue Wolke sich langsam auf mich zu. Ollie hält im Spiel inne, um mir zuzusehen. Es ist eine unausgesprochene Regel, dass wir nicht nach oben gehen, wenn sie schläft.

„Geh nach draußen“, sage ich.

Er gehorcht, und dann laufe ich durch das Blau nach oben, so schnell, dass ich es in Fetzen aufwirble. Die blaue Farbe strömt unter ihrer Tür hervor, als stünde in ihrem Zimmer eine Nebelmaschine. Mit klopfendem Herzen lege ich die Hand auf die Türklinke. Sie wird nicht gern gestört, hat Schlafprobleme. Wenn sie also einmal schläft, weckt man sie nicht. Normalerweise ist man froh, dass sie schläft, aber heute ist kein normaler Tag.

Ich schiebe die Tür auf. Das Zimmer ist völlig blau und liegt in einem seltsamen Dämmerlicht da, das Schmerzen hinter meinen Augen verursacht. Ich sehe mich nach der Lichtquelle um, vielleicht ein neues Gerät, das sie in den Schlaf lullen soll, aber ich kann keines finden, außerdem wirkt es auch gar nicht beruhigend. Der Nebel fühlt sich dicht an, als würde ich darin feststecken, und er ist kalt. Im nächsten Moment fühle ich mich so traurig, so allein, leer und mutlos, als wollte ich mich auf der Stelle ergeben und zum Sterben hinlegen.

Ihre Gestalt zeichnet sich unter der Bettdecke ab. Sie liegt auf der Seite in Richtung der zugezogenen Vorhänge, einzelne Strahlen aus grauem Licht dringen durch die Lücken, wo die Vorhänge nicht mehr an den Ringen hängen. Ich gehe leise ums Bett zu ihrer Seite, das Haar hängt ihr ins Gesicht, strähnig und fettig. Mit zitternden Fingern streiche ich es behutsam zur Seite.

„Notrufzentrale. Bitte beschreiben Sie Ihren Notfall.“

„Sie ist blau. Sie ist … sie ist … blau.“

„Mit wem spreche ich?“

„Ihr Gesicht … Ihre Arme … b-b-blau.“

„Wie heißt du?“

„Alice Kelly.“

„Okay, Alice, wie lautet deine Adresse?“

„Sie ist blau, sie ist ganz blau.“

„Kannst du mir deine Adresse sagen, Liebes?“

„Briarswood Road. Ballygall. Die 47 hängt schief.“

„Ich schicke sofort einen Krankenwagen. Von wem sprichst du, Alice? Wer ist blau?“

„Lily Kelly.“

„Ist das deine Mum?“

„Ja.“

„Bist du jetzt bei ihr?“

Ich schüttle den Kopf.

„Alice, bist du jetzt bei deiner Mum?“

„Nein.“

„Kannst du für mich zu ihr gehen?“

Ich schüttle den Kopf.

„Wie alt bist du, Alice?“

„Acht.“

„Okay. Hatte deine Mum einen Unfall, Alice?“

„Ich weiß es nicht, ich bin gerade eben von der Schule nach Hause gekommen.“

„Und wo ist deine Mom jetzt?“

„Im Bett. Sie ist blau.“

„Kannst du für mich zu deiner Mum gehen, Alice?“

Ich schüttle ein letztes Mal den Kopf und lege auf.

Ein Hämmern an der Haustür. Ich kann mich nicht bewegen. Ich zittere. Schließlich stecke ich den Kopf nach unten zwischen die Knie und schlinge die Arme um meine Beine. Es läutet ein paarmal. Wieder Hämmern, und dann höre ich Schritte die Treppe hoch. Meine Zimmertür fliegt auf, ich halte die Luft an, jetzt herrscht Stille, und sie gehen wieder. Sie versuchen es im nächsten Zimmer. Ihrem Zimmer.

Erst ein Klopfen, dann Schritte. Dann …

Schreie. Ihre Schreie?

Ich halte mir die Ohren zu und kneife die Augen zusammen, drücke das Gesicht fester an meine Knie. Ich kann dort das Gras von den Flecken riechen, als Hajra mich in der Schulpause zu Boden gerungen hat. Ich atme den Geruch ein und erschaudere, weil es mir nicht gelingt, genug Luft in meinen engen Brustkorb einzusaugen. Das Geschrei hört auf, und ich vernehme ein Gespräch. Laute Stimmen. Ich verharre so reglos wie möglich. Jemand bleibt in ihrem Zimmer und murmelt etwas, während ein anderer nach unten geht. Es kommt mir sehr lang vor. Ich war noch nie gut im Versteckenspielen und muss dabei jedes Mal aufs Klo. Meine Blase ist jetzt voll und droht zu platzen. Die Schritte sind wieder auf der Treppe, und kurz darauf öffnet sich meine Tür.

„Alice“, sagt eine Frau, nicht wütend. „Alice, bist du hier drin?“

Sie betritt das Zimmer.

„Mein Name ist Louise, ich bin Rettungssanitäterin. Ich bin mit dem Krankenwagen gekommen, den du gerufen hast.“

Ich kann mich nicht bewegen. Wenn sie die Tür zu meinem Versteck aufmacht, so befürchte ich, erwischt mich das Blau, es muss sich mittlerweile im ganzen Haus ausgebreitet haben. Meine Schuhe habe ich ausgezogen, um das Blau loszuwerden, aber als ich ihre Haare berührt habe, hat meine Hand ein wenig abbekommen. Ich strecke sie weg von meinem Körper, als wäre sie voller Blut. Auf keinen Fall will ich es noch weiter verschmieren, aber als Sanitäterin kann sie mir vielleicht helfen.

„Hier drinnen“, sage ich.

Die Schranktür öffnet sich, und Tageslicht strömt herein.

Ein freundliches Gesicht senkt sich zu mir herunter. Sie trägt Grün und Neongelb.

„Hallo, du da drinnen.“

Verwirrt spähe ich in mein Zimmer. Ich hatte mir vorgestellt, das Blau habe sich im ganzen Haus verteilt, habe sich wie Lava durch alle Räume gewälzt. Ich war froh, dass Ollie draußen war. Aber jetzt ist kein Blau zu sehen.

„Hi.“

„Willst du rauskommen? Deine Mum macht sich Sorgen um dich. Es geht ihr gut, aber sie hat sich erschreckt, als sie uns in ihrem Schlafzimmer gesehen hat. Deshalb musste sie so laut schreien. Sie hat geschlafen. Magst du uns erzählen, warum du angerufen hast?“

„Das Blau“, sage ich, durcheinander.

„Welches Blau?“

Ich betrachte meine Hand. Sie glaubt, ich würde sie ihr entgegenstrecken, und ergreift sie. Jetzt ist etwas von dem Blau auf sie übergesprungen, und sie bemerkt es noch nicht einmal.

„Na, komm raus, dann können wir uns unterhalten“, sagt sie und führt mich aus dem Schrank. Wir setzen uns aufs Bett. „Hier, mümmeln wir dich erst mal ein.“

Sie zieht meine Bettdecke hoch und legt sie um meine Schultern.

„Ollie ist klasse, er ist unten und spielt Ringkampf mit Tommy, meinem Partner. Er macht ihn glatt fertig.“ Sie lächelt.

Ich entspanne mich ein wenig.

„Deine Mum hat gesagt, sie habe vergangene Nacht nicht gut geschlafen und sich deshalb hingelegt, als ihr in der Schule wart. Sie hat nicht gehört, wie ihr hereingekommen seid.“

Unten wird Mums Schimpfen laut. Jetzt habe ich aus anderen Gründen Angst. Was zum Teufel sollte dies, was zum Teufel das? Louise blickt zur Tür, sie hört es auch.

„Ist dein Dad bei der Arbeit?“

Ich zucke mit den Schultern.

„Du weißt nicht, wo er ist?“

„Er wohnt nicht hier. Wir sehen ihn nicht mehr.“

„Gehst du jeden Tag allein nach Hause?“

„Mit Ollie. Ich hole ihn am Schultor ab, und wir gehen gemeinsam.“

„Braves Mädchen. Und wartet eure Mum hier auf euch?“

Ich nicke. Manchmal.

Noch ein Blick zur Tür, bloß sicherheitshalber, aber es ist klar, dass sie nicht dort steht, denn wir können sie unten schreien hören. Es ist nicht nur das Ringen, das Tommy fertigmacht.

„Schläft deine Mum schlecht?“

Ich zucke mit den Schultern.

„Wenn sie sich tagsüber hinlegen muss.“

Ich nicke.

„Und du hast dir Sorgen um sie gemacht?“

„Sie war blau.“

„Aha, ich verstehe.“ Als würde es endlich Sinn ergeben. „Wann ist dein Dad fortgegangen?“

„Vor einer Weile.“

„Und sie ist wohl traurig, seit dein Dad weg ist“, sagt sie sanft.

Da es keine Frage ist, gebe ich auch keine Antwort. Sie ist nicht so, seit er weg ist, sondern er ist deswegen abgehauen. Er sagte, er könne nicht mehr mit ihr leben, dass sie Hilfe brauche. Doch das behalte ich für mich.

„Nun, es war richtig, dass du uns gerufen hast.“

Aber das stimmt nicht. Ich sehe es an Lilys Gesicht, als Louise mich nach unten bringt. Ich stecke in Schwierigkeiten. Ich will nicht, dass sie fortgehen, solange sie so sauer auf mich ist, aber sie gehen doch, winken zum Abschied und nehmen ihre glücklichen, fröhlichen Stimmen und meine Sicherheit mit sich. Wenn doch Hugh jetzt zur Tür hereinkäme, aber vielleicht hat er nach der Schule Fußball, was bedeutet, dass er erst nach dem Abendessen heimkommt. Bis dahin sind es noch Stunden.

Am Fenster beobachtet Lily, wie der Krankenwagen wegfährt, und zieht den Gürtel ihres Bademantels so fest um ihre Taille, dass es aussieht, als würde sie sich in zwei Hälften schneiden. Sobald der Krankenwagen die Straße hinunter verschwunden ist und die Nachbarn nicht mehr herüberstarren, dreht sie sich um, kommt auf mich zu und verpasst mir eine schallende Ohrfeige.

Hugh und Ollie sitzen schon beim Frühstück, als ich nach unten komme. Nach den gestrigen Ereignissen war ich erschöpft und habe verschlafen. Ich fühle mich immer noch nicht ganz wach. Am Fuß der Treppe bleibe ich stehen.

Um Hugh und Ollie sind Farben.

„Was?“, fragt Hugh, die Stimme gedämpft von dem Toast in seinem Mund, während er den Schuh auf den Stuhl stellt, um ihn zuzubinden.

Einen Moment lang stockt mir der Atem, und ich bekomme keine Luft. Doch dann geht es wieder.

„Ist es wieder das Blau?“

Ich schüttle den Kopf. Das mit der Farbe in ihrem Zimmer gestern habe ich ihm anvertraut. Er lachte nicht oder nannte mich einen Freak, sondern nahm mich ernst, aber Antworten hatte er keine.

„Was stimmt denn dann nicht?“

„Nichts.“

Er betrachtet mich eine Weile und widmet sich dann wieder seinen Schnürsenkeln.

„Toast?“, fragt er.

„Ja.“

Mit pochendem Herzen zwinge ich mich dazu, etwas zu essen, und versuche, die beiden nicht anzusehen, aber das ist schwer, denn meine Augen werden immer wieder von ihnen angezogen. Ich beobachte sie, als sähe ich sie zum ersten Mal, zwei exotische Geschöpfe, die in der grauen Küche leuchten.

Sie ist in der Küche, mit zwei Frauen vom Jugendamt, die unangemeldet vor der Tür standen. Hugh, Ollie und ich sind mit Mrs Ganguly, unserer Nachbarin mit dem gepflegten Garten und den perfekten Vorhängen, im Fernsehzimmer. Die Flügeltür zwischen uns und der Küche ist geschlossen, aber wir können durch die Türscheiben mit dem Kringelmuster sehen, wie sie herumgehen, als wären sie unförmige Außerirdische. Wir hören zwar, was sie sagen, doch ich verstehe es nicht. Erwachsenensätze.

„Habt ihr das Jugendamt angerufen?“, fragt Mrs Ganguly.

„Nein. Alice hat vor ein paar Tagen einen Krankenwagen gerufen“, sagt Hugh fröhlich und eilt wie immer zu meiner Rettung. „Sie dachte, Mum sei krank. Die beiden wollen bestimmt bloß sichergehen, dass alles in Ordnung ist.“

Mrs Ganguly verengt die Augen zu Schlitzen, während sie die Informationen abwägt. „Mit diesen Leuten ist nicht zu spaßen. Wenn sie glauben, dass etwas nicht stimmt, werden sie euch eurer Mutter wegnehmen, sie werden euch drei voneinander trennen. Euch in unterschiedliche Pflegefamilien stecken.“

Ollie blickt vom Boden auf, seine Ringkämpfer sind mitten im Angriff erstarrt.

Ich weiß nicht, warum Mrs Ganguly so verärgert ist. Vielleicht weil sie keine Lust hat, auf uns aufzupassen, während die drei sich unterhalten, und sie das Biryani mit Hähnchen auf dem Herd hat, weil Biryani-Abend ist, und sie zurückgehen und danach sehen muss, ehe es anbrennt und Mr Ganguly meckert. Eigentlich war sie nur herübergekommen, um sich wegen der stinkenden Mülltonnen und dem Gras zu beschweren. Mitten in dem Streit trafen die beiden Frauen ein und fragten, ob unsere Nachbarin bei uns Kindern bleiben könne, während sie sich mit Lily unterhielten. Mr Ganguly ist nett, er lächelt viel und spricht mit jedem, aber Mrs Ganguly hat immer ein verkniffenes Gesicht, böse, als traue sie niemandem über den Weg.

Ängstlich schaue ich Hugh an. Von Lily fortzukommen würde mir nichts ausmachen, aber ich will nicht, dass wir drei voneinander getrennt werden. Wenn das passieren sollte, dann ist es einzig und allein meine Schuld, weil ich den Krankenwagen gerufen habe.

„Keine Sorge, niemand wird uns voneinander trennen“, sagt Hugh gut gelaunt und zwinkert mir zu.

In der Küche beginnt Lily herumzuschreien, und Mrs Ganguly stellt EastEnders lauter. Ich kann nicht mehr hören, was in der Küche gesprochen wird, aber das ist schon in Ordnung, denn es bedeutet, dass Mrs Ganguly auch nicht mitbekommt, was Hugh und ich sagen.

„Hast du seit Montag Blau an ihr gesehen?“, erkundigt er sich.

Ich nicke und halte den Blick fest auf meine Schuhe gerichtet. Ich kann Lily kaum ansehen, ertrage es nicht, im selben Zimmer wie sie zu sein. Allerdings ist das nichts Neues. Neu hingegen ist, dass ich anfange, mich anders zu fühlen, wenn ich der Farbe zu nahe komme, und das gefällt mir nicht.

„Warum hast du es nicht gesagt?“

Ich zucke mit den Schultern.

„Kannst du um mich herum Blau sehen?“, will er wissen.

Ich schüttle den Kopf. „Bei dir ist es eine andere Farbe.“

Er hatte bloß einen Witz machen wollen, also überrascht ihn meine Antwort. „Echt? Welche Farbe habe ich denn?“

Bei Hugh fürchte ich mich nicht davor, ihn anzusehen und seine Farbe zu betrachten. Seine jagt mir keine Angst ein, sie versucht nicht, sich an mich zu heften, sie folgt mir nicht durchs Zimmer, wie ihre es tut, als wäre sie ein großes Netz, das mich fangen und zu sich ziehen will.

„Rosa“, sage ich.

„Rosa?!“ Er rümpft die Nase.

Eigentlich dachte ich, dass Ollie gar nicht zuhört, aber er lacht auf.

„Igitt, Ollie, Rosa ist was für Mädchen“, sagt Hugh, und Ollie lacht. Ollie ist die ganze Zeit so feierlich und ernst, nur Hugh schafft es, ihn zum Lachen zu bringen.

Die Stühle scharren über den Küchenboden, als die drei aufstehen und die Angelegenheit, worum auch immer es geht, zu einem Ende kommt.

„Wahrscheinlich werden sie als Nächstes mit uns sprechen wollen“, sagt Hugh und sieht ein wenig ernster als gewöhnlich aus. „Die Sache mit den Farben erwähnst du vielleicht besser nicht.“

Anfangs sehe ich die Farben nur bei den Menschen, mit denen ich zusammenlebe, und jeden Morgen frage ich mich, welche Farbtöne mich dieses Mal begrüßen werden. Bei Hugh ist es meistens dieses warme Rosarot, das wie ein leichter Dunstschleier um ihn herumschwebt. Wie der Zigarettenrauch, der in der Luft hängt, nachdem sie geraucht hat. Seine Farbe wirkt ruhig, gelassen, glücklich, fürsorglich, und sie verharrt dicht an verschiedenen Körperstellen und folgt ihm überallhin, als bestünde eine magnetische Anziehungskraft.

Wenn ich die Angst vor dem, was mit mir geschieht, ausblenden kann, gelingt es mir manchmal, das Schöne daran zu sehen. Wie bei einem rosaroten Abendhimmel oder einem rosa Sonnenaufgang.

Hugh ertappt mich dabei, wie ich ihn ansehe.

„Welche Farbe jetzt?“, fragt er dann gelassen, kein bisschen erschrocken.

„Wieder Rosa.“

Er lächelt, es amüsiert ihn jedes Mal.

„Gib mir Bescheid, wenn es mal etwas Männliches und Starkes wie Schwarz oder Blau oder …“, er überlegt, „oder Rot ist.“ Er lässt die Muskeln spielen und spannt sie so fest an, dass sich sein Gesicht rot verfärbt und es so aussieht, als würde in seinem Hals gleich eine Ader platzen.

Ich lächle, aber jene anderen Farben, von denen er gesprochen hat, will ich gar nicht für ihn. Rosa passt zu ihm, und irgendwie macht es ihre Farben weniger wütend, wie der TV-Werbespot für das Säure blockende Mittel, in dem die weiße Medizin die rote Flamme in der brennenden Brust löscht. Seine Farbe löscht überall Brände.

„Und Ollie?“, fragt er.

Ich betrachte Ollie. Er sitzt am Küchentisch – Coco Pops in einer Schüssel, Strubbelfrisur nach dem Aufstehen und schläfrige Augen – und lässt seine Actionfiguren miteinander kämpfen. Ich will es nicht sagen und schüttle den Kopf.

Seine Farbe ist üblicherweise mit ihrer identisch. Sie gibt sie an ihn weiter.

„Eine Migräne mit Aura“, liest Hugh von seinem Computer vor. „Hast du manchmal Migräne?“

„Was ist eine Migräne?“

„Richtig schlimme Kopfschmerzen.“

Ich nicke. „Mittlerweile dauernd.“ Seitdem diese Farben zum ersten Mal aufgetaucht sind, kann ich mich an keinen Tag erinnern, an dem mein Kopf nicht wehtat. Am liebsten würde ich in mein Zimmer gehen, die Vorhänge zuziehen und im Dunkeln daliegen, aber das mache ich nicht, denn ich will nicht wie sie werden.

„Es sind ständig wiederkehrende Kopfschmerzen, die nach oder gleichzeitig mit Wahrnehmungsstörungen auftreten, die man Aura nennt. Dazu gehören Lichtblitze, blinde Flecken, Zickzacklinien, die über das Sehfeld treiben, flirrende Punkte oder Sterne oder ein Kribbeln in der Hand oder im Gesicht. Kommt dir das bekannt vor?“

„Ja, doch.“

„Es ist wie eine elektrische oder chemische Welle, die optische Reize verarbeitet und diese – wie du sie nennst – Farben hervorruft.“

„Oh.“

„Du musst zu einem Neurologen gehen“, sagte er, während er scrollt und liest. „Dann bekämst du eine Augenuntersuchung, ein CT des Kopfes oder ein MRT. Sie empfehlen Medikamente oder das Vermeiden stressiger Situationen. Man sollte lernen, wie man sich entspannt. Mehr schlafen, gesünder essen. Viel Wasser trinken.“

„Mehr Wasser trinken kann ich“, sage ich.

Wir lächeln beide, weil es eigentlich gar nicht so lustig ist.

„Also.“ Er dreht sich in seinem Stuhl zu mir um. „Darum handelt es sich wahrscheinlich.“

Ich nicke zustimmend. Migräne mit Aura. Wahrscheinlich.

Ich trinke eine schier endlose Reihe Gläser mit Wasser und versuche, es auszuspülen, als wäre es eine Erkältung, aber zu helfen scheint das nicht. Stattdessen werden die Farben mit jeder verstreichenden Woche immer intensiver.

Lily sagt, dass wir wegen Kopfschmerzen nicht zum Arzt gehen, und drückt mir eine Schachtel Paracetamol in die Hand.

Die Farben wandern von meiner Familie zu allen anderen Leuten. Bald will ich niemanden mehr ansehen. Die herumwirbelnden Farben, die in unterschiedlichem Tempo und Rhythmus tänzeln, kreisen, aufblitzen und flackern, sind verwirrend. Mir wird schlecht davon, manchmal auch schwindelig. Die Leuchtkraft, das ständige Licht strengen meine Augen an und verursachen mir Kopfschmerzen. Es ist, als würden Hunderte Menschen um mich herum ihren eigenen Radiosender ausstrahlen. Die Luft um sie her knistert, breitet sich dann aus und stößt mit meiner zusammen, wenn sie mir nahe kommen.

Es fängt bei meiner besten Freundin Emma an. Mit ihr ist es eigentlich immer lustig, und ihr Leichtsinn war früher ansteckend, aber nun strengt es mich an, mit ihr zusammen zu sein. Ihre Farben sind wild und schnell, aufleuchtende Gelb- und hyperaktive Grüntöne, die manchmal Zickzacklinien wie gegabelte Blitze bilden, als hätte man Emma in etwas Giftiges getunkt. Das zusammen mit ihrer schnellen Sprechweise, wie sie immer über unsere Spiele bestimmen will, darüber, was ich sagen und tun soll, finde ich erschöpfend.

„Komm schon, Alice“, sagt sie und zieht mich unsanft am Arm. „Steh auf. Gehen wir zum Spielen nach draußen.“

„Aber wir sind doch gerade erst hereingekommen.“

Ist sie schon immer alle drei Minuten von einem Spiel zum nächsten übergesprungen? Für mich müsste sie sich unbedingt auf eine Sache konzentrieren, einfach nur still sitzen und leise sein. Ich brauche Ruhe. Ich brauche auch eine Freundin. Aber ich kann nicht mehr, entferne mich immer weiter von ihr. Als sie zu einer anderen Mädchengruppe überläuft und ich qualvollen Nachmittagen mit ihr und ihren Kopfschmerzen hervorrufenden Farben entkomme, versetzt es mir zwar einen Stich, aber eigentlich bin ich erleichtert.

Ich sehe eine dunkle, trübe, grünlich-schwarze Farbe, die neben einem Gebüsch in der Luft schwebt. Als ich zu der Stelle gehe und mit dem Fuß Unkraut beiseiteschiebe, stoße ich auf eine sterbende Ratte mit einem zuckenden Bein, an dem noch feuchtes Blut klebt.

Auf dem Schulweg bin ich allein. Hugh ist mit seinen Freunden vorausgegangen, und Ollie trödelt hinter mir. Seit dem Besuch vom Jugendamt ist er mir gegenüber sogar noch distanzierter als sonst. Ich glaube, dass er mir nicht traut; er denkt, ich versuche, die Familie zu zerstören. Die Schule wird immer mehr zum Albtraum. Überall um mich herum sind Farben, die ganze Zeit, von jedem einzelnen Lebewesen. Von dreißig Leuten in meiner Klasse. Von Hunderten draußen während der Pause. Ganz zu schweigen von den Menschen, an denen ich auf dem Schulweg vorbeilaufen muss. Ich weiche ihnen allen aus, damit ich nichts von ihren Farben abbekomme. Es ist ermüdend. Die Farben sind so intensiv und unruhig, dass ich mich manchmal nicht darauf konzentrieren kann, was die Lehrkräfte sagen. Farben sind geräuschlos, aber sie fühlen sich so laut und störend an, dass mir das Zuhören schwerfällt. Es ist, als würde mich jemand in einem Gespräch ständig unterbrechen und mir nervtötend an die Schulter tippen.

Auf dem Schulweg beginne ich eine Sonnenbrille zu tragen. Anfangs machen manche Kinder Bemerkungen, hören dann aber auf, als sich herumspricht, mit mir stimme etwas nicht oder ich sei sehbehindert. Dann gewöhne ich mich so sehr an die Sonnenbrille, dass ich sie auch in der Mittagspause im Freien trage. Das lässt die Farben nicht verschwinden, aber alles wird trüber und weniger intensiv. Ich sitze im Ruhebereich, der für Kinder reserviert ist, die sich nicht wohlfühlen, die sich einen Arm oder ein Bein gebrochen oder irgendwelche besonderen Bedürfnisse haben. Mein besonderes Bedürfnis besteht darin, dass ich weit weg von allen sein muss. Von jedem einzelnen Menschen.

„Die Pause ist vorbei, Alice. Sonnenbrille ab und in die Tasche damit“, sagt Ms Crowley. Sie stammt aus Cork und singt beim Sprechen. Jeden Tag hat sie ein anderes halblanges Kleid mit Strickjacke an und eine riesige rote Brille mit dazu passendem Lippenstift. Vielleicht trägt sie so bunte Kleidung, um die Eintönigkeit aufzulockern, die sie umgibt.

„Das geht nicht“, sage ich.

Heute schaffe ich es einfach nicht, ich kann die Sonnenbrille im Klassenzimmer nicht absetzen. Mein Kopf tut so weh, dass der Schmerz bis in die Schläfen pocht. Es fühlt sich an, als könnte ich das Pochen mit bloßem Auge im Spiegel sehen.

„Warum nicht?“

„Hier drinnen ist es zu grell.“

Ein paar aus der Klasse lachen, was meiner Verteidigung nicht gerade hilft. Es ist ein bedeckter Tag, und alles, einschließlich der Schulfassade, ist grau, aber das lässt die Farben der Menschen nur noch heller oder zumindest für mich sichtbarer hervortreten.

Ms Crowley verdreht die Augen. „Runter damit.“

Und sie fährt mit dem Unterricht fort.

Ich behalte die Brille auf. Sie schreibt an die Tafel, und als sie sich umdreht und sieht, dass ich die Brille immer noch trage, rastet sie aus. Eine überraschende Wutexplosion, die aus dem Nichts zu kommen scheint, entzündet sich über ihrem Kopf. Während sie mich abermals anbrüllt, ich solle die Sonnenbrille absetzen, flackert ein helles, metallisches Rot, so hell wie ihr Lippenstift, um sie herum. Es erinnert mich an eine dieser elektrischen Fliegenfallen im Dönerladen um die Ecke, in die Insekten hineinfliegen, und dann – zack! – einen Schlag versetzt bekommen und sterben.

Ich spüre Lily, ehe ich sie höre oder sehe. Sie besitzt die Fähigkeit, die Luft zu verändern, und zwar im Gegensatz zu Hugh auf keine gute Art. Beim Geräusch des Schlüssels im Türschloss springt Ollie freudig vom Sofa auf. Seit wir nach Hause zurückgekommen sind und sie nicht hier war, ist er nervös. Es ist ungewohnt für uns, dass sie nicht da ist, aber im Gegensatz zu ihm fand ich es schön. Ich weiß nicht, warum ihn dieser Wunsch beseelt, mit ihr zusammen zu sein und ständig um sie herum.

„Mum“, sagt er und eilt zur Tür.

Bei der Gewalt, mit der sie die Tür aufstößt, überrascht es mich, dass Ollie nicht gegen die Konsole geknallt wird. Er weicht rasch vor ihr zurück und setzt sich wieder aufs Sofa. Ich versuche, mich so klein wie möglich zu machen. Je kleiner ich bin, desto weniger wütend wird sie vielleicht sein.

„Wegen Hugh musste ich bisher nie in die Schule gehen“, erklärt sie stinksauer. „Noch kein einziges Mal in meinem Leben. Du bist elf Jahre alt und führst dich auf wie ein kleines Gör. Für so was fehlt mir wirklich die Zeit“, ruft sie, und ich verkneife mir die Bemerkung, die mir auf der Zunge liegt. Sie hat alle Zeit der Welt. Sie macht nie etwas, man erkennt sie kaum wieder, wenn ihr Hinterteil nicht mit dem Sofa verwachsen ist. Es ist nicht das erste Mal, dass sie wegen mir in die Schule gerufen worden bin. Nachdem ich zweimal vom Unterricht ausgeschlossen wurde, war sie gezwungen, die Briefe nicht mehr zu ignorieren, sondern so zu tun, als wäre sie eine verantwortungsvolle Mutter.

Metallisch-rotes Flackern über ihr, während sie mich anbrüllt. Zack. Noch eine tote Fliege. Vielleicht hat sie es sich bei Ms Crowley eingefangen und den ganzen Weg nach Hause mit sich herumgetragen. Ich beobachte das Flackern fasziniert, ohne ihr richtig zuzuhören.

Es ist nun drei Jahre her, seit die Sache mit den Farben anfing. Mittlerweile verstehe ich, dass die Farben in Verbindung mit den Stimmungen der Menschen stehen, auch wenn ich immer noch versuche, die Zusammenhänge vollständig zu ergründen. Manchmal ist zum Beispiel eine Farbe um jemanden, obwohl er sich gar nicht so verhält, wie sich jemand mit dieser Farbe normalerweise verhalten sollte. Es gibt da einen Algorithmus, den ich nicht erkenne. Wie Ms Harris im Sekretariat, die jeden anlächelt, heiter und optimistisch ist, lacht und Witze macht, aber über ihrem Bauch, direkt unter dem Busen ist ein misstrauisches Senfgelb zu sehen. Wer sie zu sein scheint und wer sie tatsächlich ist, passen nicht zusammen. All das geht mir durch den Kopf, während Lily mich anschreit. Die Haustür steht immer noch sperrangelweit offen, und jeder wird das Geschrei jetzt hören, die ganze Straße. Dass ich schrecklich ungehorsam und dumm bin. Dass ich durch sämtliche Prüfungen fallen werde, dass nie etwas aus mir werden wird.

Ich reagiere nicht so, wie sie es sich vorstellt. Ich weine nicht, bitte nicht um Verzeihung oder widersetze mich. Sie will, dass ich mich auf ihr Theater einlasse, dass ich wie sie die Fassung verliere und enttäuscht bin. Das Rot um sie herum verdunkelt sich und wird größer, wie bei einer Schusswunde, aus der Blut strömt und ein weißes T-Shirt durchtränkt. Ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll, denn sie ist völlig außer Kontrolle und unberechenbar. Ihre Farben sind nicht wie die von Hugh; ihre verändern sich ständig und wechseln schnell von kalten Blautönen zu heißen, wütenden Rottönen. Außerdem haben sie eine andere Form. Hugh umgibt ein ruhiger Dunst, ihre Farben kreisen spritzend herum. Ihr roter Wirbel bewegt sich auf Ollie zu, der fernsieht, als wäre sie nicht da, als würde sie nicht gerade vor unseren Augen explodieren. Ich habe noch nie gesehen, wie die Farbe sich auf eine solche Weise bewegt, als wäre sie lebendig und auf der Suche nach jemandem, an den sie sich heften kann.

„Ollie, verschwinde“, sage ich warnend, inmitten ihres Geschreis.

Das Rot ist überall. Sprüht Funken wie ein Feuer. Am liebsten würde ich meine Augen abschirmen. Ich schließe sie. Lily brüllt lauter, und ich spüre ihre Hitze. Ich öffne die Augen wieder, aber das Rot ist heiß und fühlt sich wie Flammen an, also halte ich mir die Hände vor das Gesicht.

Ich höre ein Krachen. Sie steht auf einem offenen Eierkarton, den sie gerade vom Einkaufen mitgebracht hat. Tritt die Eier in Stücke, das Gesicht von Zorn erfüllt, alles an ihr vor Wut verzerrt. Warum ich nicht einfach die Brille im Klassenzimmer abgesetzt hätte, als ich darum gebeten worden sei? Jeder habe mal Kopfweh, das sei keine große Sache, ich solle endlich aufhören, nach Aufmerksamkeit zu heischen. Und dann ist sie fort.

Der rote Nebel folgt ihr wie die Schleppe eines Kleids. Ein Teil bleibt im Zimmer zurück, hängt in der Luft wie schaler Zigarettenrauch. Gierig treibt er auf Ollie zu. Ich beobachte den Nebel mit klopfendem Herzen. Dieses lebendige, atmende Etwas auf der Suche nach jemandem, an dem es sich laben kann. Es hängt sich sofort an Ollie. Er steht auf, ein Bündel aus purem Zorn. Mit seinen acht Jahren ist er schon ganz zerfressen von so viel Wut.

„Ich hasse dich!“, brüllt er mich an. In seiner Brust und seiner Kehle sitzt Zorn fest. Er klingt gar nicht wie er selbst, sondern eher wie ein besessener kleiner Dämon. „Du machst alles kaputt!“

Dann wirft er die Fernbedienung nach mir, und ich bin so unvorbereitet, so verblüfft, dass ich zu spät ausweiche. Sie trifft mich im Gesicht, direkt unter dem Auge. Im Laufe des Nachmittags verfärbt sich die Stelle unschön lila.

„Hat sie das getan?“, will Hugh wissen, später, als er wieder zu Hause ist.

Ich schüttle den Kopf. „Es war ein Unfall.“

Wenn ich Ollie schütze, so dachte ich, würde das sein Vertrauen in mich stärken, aber es ist, als sei die Leichtigkeit, mit der ich es tue, für Ollie nur der Beweis, dass ich eine Lügnerin bin.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, ist mein Auge halb zugeschwollen, wie ein Pfirsich, den ich zu lange am Boden meiner Schultasche liegen gelassen habe. Ich erzähle einer besorgten Ms Crowley, dass ich Migräne habe, und sie lässt mich an dem Tag meine Sonnenbrille in der Schule tragen.

„Ich werde einen Foodtruck eröffnen und Pfannkuchen verkaufen“, sagt Lily mit geröteten Wangen, einem gesunden Teint, die Stirn schweißnass von dem ganzen Eierschlagen.

Ich weiß nicht, wer diese Frau ist, die behauptet, meine Mutter zu sein, aber sie gefällt mir. Voll Energie und Elan, Geschäftsideen und Hoffnung.

„Ich werde auf Festivals Pfannkuchen machen, Crêpes. Crêpes lassen sich füllen, wisst ihr“, erklärt sie. „Sie sind vielfältiger. Das vergrößert den Markt und die Profitchancen.“ Auf ihrer Brust und unter ihren Armen hat sich Schweiß gebildet. Sie rührt und rührt ihre dritte Schüssel mit Teig.

Sie macht mir einen Pfannkuchen, der so dünn ist, dass ich beinahe hindurchsehen kann. Dann faltet sie ihn in Viertel. Er schmeckt köstlich.

„Die Auswahl an Füllungen ist grenzenlos.“ Sie bläst sich das Haar aus dem verschwitzten Gesicht. „Herzhaft oder süß. Oder einfach mit Puderzucker. Banane, Karamell, Erdbeer, Nutella … Dann die herzhaften: Schinken-Käse, mexikanisch … Hier, probier den mal.“

Sie legt noch einen vor mich hin und beginnt schon mit dem nächsten. Auch dieser Pfannkuchen ist köstlich, aber beim vierten angelangt, bekomme ich keinen Bissen mehr hinunter. Sie landen ständig auf meinem Teller, einer nach dem anderen, und ich reiche sie an Ollie weiter. Sie zerschlägt immer weiter Eier, misst Milch ab, siebt Mehl, fügt Salzprisen hinzu. Jetzt benutzt sie vier Pfannen, um mehrere parallel zu machen, und berechnet, wie viel Kundschaft sie an einem ganzen Tag oder Abend gleichzeitig bedienen kann.

Ich kann nichts mehr essen, und als sie sich umdreht, um noch einen Pfannkuchen oben auf dem Stapel abzulegen, bereite ich mich auf einen Wutausbruch vor, aber der neue Pfannkuchen landet wortlos auf dem alten. Es geht weiter: ein achtstöckiger Pfannkuchenturm auf meinem Teller. Schnell wird mir klar, dass es egal ist, ob ich etwas sage oder nicht, ob ich mich an dem Gespräch beteilige oder nicht. Es ist egal, ob ich da bin oder nicht. Sie redet, aber sie unterhält sich nicht, sie ist in irgendeinem Schaffensrausch, etwas läuft in ihrem Kopf ab, etwas Großes und Wunderbares und Lebensveränderndes. Meine freudige Erregung verflüchtigt sich ein wenig. Ihre Gedanken und Bewegungen haben etwas Manisches, in ihren Augen kann ich sehen, dass sie mich gar nicht wahrnimmt.

Ihre Farben sind faszinierend: satte Violett- und Indigotöne scheinen ihre Bewegungen nachzuahmen. Sie kreisen und vermischen sich, verändern ihre Konsistenz, als wären sie mit den Eiern, dem Mehl und der Milch in der Rührschüssel.

Sie zählt die Festivals auf, zu denen sie fahren kann, spricht über die verschiedenen Arten von Lieferwagen, welche Gerätschaften sie darin benötigen wird, wo sie einen herbekommen kann, wen sie kennt. Lieferwagenkosten plus Zutatenkosten, die Anzahl an Eiern, die Menge an Mehl und Zucker. Das Ganze mit den Einnahmen gegengerechnet. Sie redet und redet wie ein Wasserfall. Schlägt mehr Eier auf, rührt mehr Teig, fettet weitere Pfannen ein.

Ich habe aufgehört, die Schüsseln auszulecken, ich habe aufgehört, die Pfannkuchen zu probieren. Es ist Mitternacht an einem Freitag; Hugh ist unterwegs und arbeitet, Ollie ist dank des Zuckerflashs völlig aufgekratzt. Sie fängt einen neuen Schwung an und öffnet den nächsten Eierkarton. Mein Bruder und ich ziehen uns aus der Küche zurück. Ollie hat Bauchschmerzen und schläft auf dem Sofa ein. Ich sitze neben ihm, während sie weitermacht, Selbstgespräche führt und laut Listen erstellt. Doch so schnell der Rausch scheinbar Besitz von ihr ergriffen hat, legt er sich auch wieder. Sie lässt alles stehen, Küchengeräte und Pfannen, und geht um drei Uhr morgens zu Bett.

Ich rechne damit, dass sie lange ausschlafen wird, aber da täusche ich mich.

Am Samstagmorgen werden Ollie und ich in den Garten hinausgeschickt, und sie sperrt die Tür hinter uns zu. Wenn wir uns wie die Tiere aufführen, werden wir auch so behandelt, lautet ihre Begründung. Es hätte mir nichts ausgemacht, nach draußen zu müssen, wenn ich erst auf die Toilette hätte gehen können. Ich setze mich auf die kalte Betonstufe, mit dem Rücken zur Tür, die Beine untergeschlagen, und versuche, es mir zu verkneifen.

Ollie schießt immer wieder einen Fußball gegen die Hauswand.

„Kann ich mitspielen?“, frage ich Ollie, weil ich irgendetwas tun muss, um mir nicht in die Hose zu machen.

„Nein. Das ist alles deine Schuld.“

Er denkt das, weil sie es gesagt hat und er alles glaubt, was sie sagt.

Welche Elfjährige wisse denn nicht, wie man sich nützlich macht, hatte sie mich wirr beschimpft. Sie war verärgert, weil ich nicht die Küche für sie aufgeräumt hatte. Die stehen gelassenen Teigschüsseln in der Spüle, die teigverkrusteten Schneebesen, die Eierschalen, das überall verstreute Mehl, die Teigmischung auf dem Boden und an den Wänden, als hätte ein brutales Pfannkuchenmassaker stattgefunden.

Dabei hatte ich vorgehabt, am Vormittag aufzuräumen. Sie steht nie früh auf, besonders nicht an Samstagen, und schon gar nicht nach einer Nacht wie der vergangenen. Ich dachte nicht, dass sie sich überhaupt blicken lassen würde. Doch plötzlich kam sie aus der Versenkung hervor und überrumpelte mich völlig. Jetzt hantiert sie geräuschvoll in der Küche herum, und eine Menge Rottöne drehen sich wie Waschmaschinentrommeln und Trockner um sie, während sie etwas vor sich hin murmelt und in ihrem Kopf ein Streitgespräch mit jemandem führt. Hausarbeit macht sie immer zornig. Bügeln, wenn sie es überhaupt einmal tut, lässt sie hitzig und erbost werden, und sie sondert dann Rot wie Dampf ab. Rot, Rot, Rot: die Küchenteufelin.

Die Pfannkuchen wirft sie zusammen mit dem komplizierten Geschäftsplan, den sie ausgeheckt hatte, einfach in den Abfall.

Ollie hat ihre glühend roten, wütenden Farben mit sich ins Freie gebracht, also halte ich mich zurück und lasse ihn sich abreagieren, in der Hoffnung, dass der Wind alles mit sich fortträgt. Zunehmend wird ihr Hass zu seinem Hass, ihre Ängste werden zu seinen Ängsten, ihr Zorn wird sein Zorn. Ihre Traurigkeit seine Traurigkeit. Es überträgt sich immer auf ihn, und er saugt es begierig auf und verzehrt noch das letzte Stückchen. Ihr Verlust heute ist sein Riesenverlust. Gestern Abend hatte sie ihm einen Traum verkauft, hatte einen geheimen Vorhang aufgezogen und ihm einen flüchtigen Ausblick auf ein neues Leben gegeben, eine neue Welt, wo er in einem Pfannkuchen-Truck an ihrer Seite stehen würde, auf Musikfestivals, am Meer. Er würde Schokostreusel verteilen, Erdbeeren klein schneiden, Sahne sprühen und Käse auf heißen Pfannkuchen schmelzen und das Geld kassieren. Kaufmannsladen spielen ist eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, und er wäre ganz in seinem Element gewesen. In einem freudigen Zuckerrausch hatte er sich das Ganze in seinem achtjährigen Kopf ausgemalt und war völlig aufgedreht gewesen, ehe er auf dem Sofa zusammensackte. Wahrscheinlich hat er davon geträumt und ist aufgeregt und voller Vorfreude aus dem Bett gesprungen. Doch stattdessen ist der Traum fort, man hat ihn ihm genommen, einfach so in den Abfall geworfen, denn jene Frau vom gestrigen Abend hat sich mitten in der Nacht, während er schlief, aus dem Haus gestohlen. Ich gestehe ihm seinen Zorn zu.

Zusammen mit Hugh und Ollie gehe ich in den Park. Ollie liebt den Spielplatz, könnte stundenlang auf einem dieser Karussells sitzen und sich im Kreis drehen, mit dem Gesicht nach unten beobachten, wie der Boden in einem Affenzahn vorüberwirbelt. Mir wird schon vom Hinsehen schlecht. Ich bin froh, dass ich jetzt bei Hugh bin. Froh, dass ich mit ihm abhänge; überall um uns herum Rosatöne. Wir sprechen nicht darüber, dass Ollie und ich am Morgen ausgesperrt waren, oder über die Idee mit dem Pfannkuchen-Truck vom Vorabend. Es ist zwecklos. Wir sprechen kaum je über Dinge, die zu Hause vorfallen, denn darüber zu sprechen löst kein einziges Problem. Wir sind einfach erleichtert, draußen zu sein und weit weg. Ollie dreht sich immer noch im Kreis, Kopf nach unten, und stößt sich mit einem Fuß immer wieder am Boden ab, da hören wir ein „Hey“.

Ich blicke auf. Ein hübsches Mädchen kommt lächelnd auf Hugh zu.

„Hey“, sagt er, und in seiner Stimme schwingt ein neuer Ton mit. „Alice, das hier ist Poh. Poh, das ist meine Schwester Alice.“

Sie steht dicht bei ihm, ihre Schultern sind in seinem rosafarbenen Bereich, als würden sie sich einen flauschigen Mädchenpulli teilen.

„Ich habe schon viel von dir gehört“, sagt sie. „Die Schulrebellin.“

Sie sagt es nett. Beinahe wie ein Kompliment.

„Wenn sie nicht aufpasst, fliegt sie noch von der Schule“, sagt Hugh. „Noch ein Vorfall, und sie ist weg vom Fenster.“

Ich verdrehe die Augen und sehe wieder zu Ollie, aber insgeheim gebe ich immer noch genau auf Hugh und Poh acht. Das hier ist keine Zufallsbegegnung, es ist geplant. Sie halten Händchen. Dann fangen sie an, sich zu küssen. Sie geniert sich ein wenig vor mir, aber er sagt ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, dass ich nicht hinschaue, was wohl so etwas wie ein ausdrücklicher Befehl an mich ist. Und dann bemerke ich eine neue Art von Farbe an Hugh, die ich nie mehr ungesehen machen kann. Ein tiefroter Wirbel um seine Leistengegend, der mir peinlich ist. Der Ton verstärkt sich zu einem pulsierenden, glühenden Rot.

Ich muss wegsehen. Die Farben der Menschen zu sehen ist manchmal, als sähe man sie nackt.

Ich beobachte, wie sich Mr und Mrs Mooney auf dem Parkplatz unterhalten. Er unterrichtet Geschichte, sie Englisch. Jeden Morgen fahren sie zusammen zur Schule. Sie sind verheiratet. Alles um Mrs Mooney herum ist rosa, sie ist ein netter Mensch. Sie schickt beim Reden das ganze Rosa von ihrer Brust zu ihm und bildet mehr für sich selbst nach. Es bremst vor ihm ab und verharrt dort, als gäbe es um ihn herum ein Kraftfeld, das nichts durchlässt. Da das Rosa nirgendwohin kann, hängt es zwischen ihnen in der Luft. Er gibt ihr einen flüchtigen Kuss und lässt sie auf dem Parkplatz stehen, während eine Wolke aus verschmähtem Rosa sich einen Weg zu ihr zurück bahnt.

Im Sommer fahren wir mit meinem Onkel Ian, Tante Barbara und meinen Cousins nach Wexford. Ich sitze im warmen Sand, grabe Füße und Zehen hinein, lausche den brechenden Wellen und beobachte glückliche, fast nackte Menschen, heller und bunter ohne ihre Kleidung und die Last der Probleme der Welt auf den Schultern.

Sie atmen Licht ein und stoßen Dunkelheit aus.

Sie ist mit Ollie in der Küche. Ich kann die beiden lachen hören. Das Geräusch zieht mich an, ein merkwürdig fremder Klang in diesem Haus. Unverfrorenes Glück. Ich beobachte die beiden von der Tür aus, sie soll mich nicht sehen, sonst hört sie vielleicht auf, weil dann der Bann gebrochen ist. Sie backen. Keine manische Pfannkuchen-Session, dies ist ein ruhiger Moment.

„Klopf es einfach an den Rand, und zieh es auseinander“, erklärt Lily sanft.

Er schlägt das Ei auf und rührt um. Verstohlen steckt er einen Finger in den Teig und leckt ihn ab.

„Hey, du Teigdieb!“ Sie tunkt den Finger ein und schmiert ihm einen Klecks auf die Nase.

Er kichert.

Beide sind rosarot.

Sobald die Farben um sie herum in Erscheinung treten, nimmt er sie in sich auf, sein Körper wie ein Staubsauger, und er zieht alles von ihr an sich und hält es um sich herum, wickelt sich darin ein wie in eine Decke.

Sie hat Momente der Güte, aber sie ist nicht gütig. Sie hat Momente voll Mitgefühl, aber sie ist nicht mitfühlend. Ein guter Moment mit ihr macht sie noch nicht zu einer guten Mutter, und deshalb werde ich sie auch niemals so nennen.

„Wie ich höre, hast du eine Freundin“, sagt Lily eines Tages zu Hugh, und Ollies Ohren laufen rosa an, also weiß ich, dass er es ihr erzählt hat. Hugh ist es bestimmt auch klar. Zwar war es kein Geheimnis, aber es macht das Leben leichter, ihr nichts anzuvertrauen, damit sie es nicht gegen einen verwenden kann. „Nachbarn haben gesehen, wie ihr herumgeknutscht habt. Muss wohl ausgesehen haben, als wolltest du ihr den Kopf abbeißen.“

Das ist nicht wahr. Ihr schiefes Lächeln verrät es mir, nicht nur ihre Farben.

Während Hugh sie ansieht, schaufelt er Marmelade auf eine Toastscheibe, drückt die andere Scheibe darauf und beißt dann ein gewaltiges Stück ab, mindestens das halbe Sandwich.

„Wann wolltest du mir von ihr erzählen?“

Er deutet auf seinen vollen Mund. Sprechen unmöglich.

„Hast du Angst davor, dass sie mich kennenlernt? Schämst du dich für mich? Für dein Zuhause?“

Immer noch kauend, schüttelt er den Kopf.

„Ich muss sichergehen, dass sie in Ordnung ist, da sich dein Dad ja aus dem Staub gemacht hat. Jemand muss ihr doch zeigen, wer hier das Sagen hat.“

Bei diesen Worten beißt er noch ein Stück ab.

„Wann kann ich ihre Bekanntschaft machen?“

Er schluckt, und ich frage mich, was er sagen wird, aber er hat sich etwas zurechtgelegt. Ihm ist anzusehen, dass er sich alles durch den Kopf gehen lässt.

„Wann willst du denn?“

Das überrascht mich. Sie ebenfalls. Eigentlich wollte sie einen Streit vom Zaun brechen. Immer will sie streiten und verteidigt sich gegen eingebildete Angriffe, und wenn die ausbleiben, ist es so, als würde sie das erst recht zu Fall bringen.

„Darüber muss ich erst nachdenken“, antwortet sie unvorbereitet.

„Wann immer es dir passt“, sagt er.

„Wie heißt sie?“

„Poh.“

„Poh?“ Das schiefe Lächeln ist wieder zurück. „Was ist sie, ein Teletubby?“

Ein metallisch-rotes Flackern quer über Hughs Brust, wie ein gezackter Blitz, dann ist es wieder weg. „Ich wusste, dass du das sagen würdest“, erwidert er mit einem Lächeln.

Wieder gerät sie ins Hintertreffen. Selbst ihre Beleidigungen sind vorhersehbar. Er ist immun, jede seiner Antworten ist wie ein Eimer Wasser auf ihre Flammen. Ich kann das Zischen hören, das von ihr ausgeht.

Er schiebt den letzten Bissen in seinen Mund, und das Sandwich ist aufgegessen, drei Männerhappen, alles weg. Im nächsten Moment holt er seine Schulordner heraus und breitet sie auf dem Küchentisch aus. „Gib mir Bescheid, sobald du sie treffen möchtest.“

Natürlich nennt sie ihm nie einen Termin.

Hugh und seine Strategien.

Hugh geht jetzt regelmäßiger als sonst mit Ollie und mir in den Park, nur damit er sich mit Poh treffen kann. Ich habe mich immer gefragt, wie es wohl wäre, eine ältere Schwester zu haben, und sie ist nett. Wir beklagen uns nie, aber obwohl ich Zeit mit Hugh verbringe, habe ich im Grunde gar nichts von ihm. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt Poh. Alle Rosarottöne gehen in ihre Richtung, und die glühenden Rottöne befinden sich immer noch um seine Hose. Ich bin zu alt zum Schaukeln oder zum Rutschen, und Ollie ist mittlerweile auch fast für alles zu groß. Er zieht los und fährt mit dem Karussell, während ich allein auf einer Bank oder einer Schaukel sitze und zusehe.

Ich versuche, Hugh und Poh nicht anzustarren, aber es fällt mir schwer.

Ich kenne nicht viele Verliebte. Obwohl ich das bis jetzt dachte. Zwar habe ich schon viele Menschen gesehen, die eigentlich verliebt sein sollten, aber sie wirken überhaupt nicht so wie Hugh und Poh, die ständig Farben miteinander austauschen. Die gleiche Menge, keiner hat mehr, keiner wehrt etwas ab, es ist ein Geben und Nehmen. Ich finde es entspannend, ihnen zuzusehen. Manchmal reicht es schon, dazusitzen und andere dabei zu beobachten, wie sie glücklich sind.

Buchtipps unseren KollegInnen

Bücher für jeden Geschmack

Buchblog
01. Oktober 2019
Bücher, die man gelesen haben muss
Was soll man lesen? Denis Scheck, vielfach ausgezeichnete Literaturkritiker, beantwortet diese Frage in seinem Kanon.
Themenspecial
29. März 2022
Bücher, die glücklich machen
Happy Reading: Wir haben die besten Bücher zusammengestellt, die uns glücklich machen. Diese Geschichten verzaubern und zeigen den Weg zu einem glücklichen Leben.
Themenspecial
12. November 2019
Bücher für Männer
Was schenkt man einem Mann, der alles hat? Ein gutes Buch!

Lesetipps von leidenschaftlichen Bücherfreunden

 

Sie haben gerade einen tollen Roman ausgelesen und brauchen schnell Nachschub? Oder Sie suchen ein wirklich gutes Buch zum Verschenken? Lassen Sie sich von unseren Buchempfehlungen für jeden Geschmack und jedes Interesse inspirieren.  Unsere „Experten“ sind allesamt Menschen, die ihr Hobby Lesen zum Beruf gemacht haben, eine fundierte Bücherkenntnis besitzen und in jedem Genre zuhause sind.
 

Sie finden hier beispielsweise Rezensionen für

  • Romane,
  • Sachbücher oder auch
  • Thriller 

sowie Buchempfehlungen für 2021.

Freuen Sie sich auf spannende Neu-Entdeckungen und Bestseller, die wir eigens für Sie auswählen. So geht Ihnen der Lesestoff niemals aus! 

Kommentare

Kommentieren Sie diesen Beitrag:

Mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtangaben und müssen ausgefüllt werden.