Lieferung innerhalb 1-3 Werktage
Bezahlmöglichkeiten
Vorbestellung möglich
Kostenloser Versand*

Buchempfehlungen

Persönliche Buchtipps unserer Kolleginnen und Kolleginnen aus dem Verlag

Mittwoch, 18. September 2024 von Piper Verlag


Buchtipps 2024

Die schönsten Bücher für den Herbst!

Im Warten sind wir wundervoll

"Charlotte Inden, die bereits einige tolle Kinderbücher geschrieben hat, legt in diesem Herbst ihren ersten ausgewachsenen Roman vor – und was für einen! „Im Warten sind wir wundervoll“ ist ein Buch, das vor Leben nur so sprüht.

Auf hinreißende Weise erzählt es eine von einer wahren Begebenheit inspirierte Geschichte. Die sogenannten War Brides, junge Frauen voller Hoffnung auf ein neues Leben, machten sich nach Kriegsende auf den Weg nach Amerika zu den GIs, in die sie sich verliebt hatten. Doch eine deutsche War Bride wird 1948 bei ihrer Ankunft in New York nicht von ihrem Verlobten am Flughafen abgeholt: Luise Adler. Sogar die Zeitungen greifen den Fall der hübschen jungen Frau auf, die umsonst zu warten scheint. Fast sieben Jahrzehnte später reist Luises Enkelin ebenfalls der Liebe wegen über den Atlantik, und auch sie wird ihren ganzen Mut zusammennehmen müssen, um dem Wink des Schicksals zu folgen." Felicitas von Lovenberg

Im Warten sind wir wundervollIm Warten sind wir wundervoll

Roman

Eine junge Deutsche, die 1948 am New Yorker Flughafen strandet und als sitzen gelassene War Bride  zum Star der Presse wird.

Ein US-Soldat, der ein Versprechen gegeben hat und es nicht einhalten kann.

Und eine Frau, die sieben Jahrzehnte später hofft, dass sich der Weg zum Glück wiederholen lässt.

Dies ist die Geschichte eines Endes, zweier Anfänge und der vielleicht größten Liebe aller Zeiten.

„Ein außergewöhnlicher Roman – klug gestrickt, mitreißend geschrieben und in jeder Hinsicht wunderschön!“ KATHINKA ENGEL

„Luise Adler ist verliebt in das Leben und das Leben in sie, darum schafft sie es auch sofort auf die Titelseiten der großen New Yorker Zeitungen. Liebevoll-frech, raffiniert und mit Witz und Tempo erzählt Charlotte Inden von den grandiosen Umwegen der Liebe.“ ELISABETH SANDMANN

So charismatisch wie Bonnie Garmus' „Eine Frage der Chemie“, so mitreißend wie Susanne Abels „Stay away from Gretchen“

In Kürze wieder lieferbar

Die Magie der Raunächte

Inspiriert von griechischen Legenden erzählt Nena Tramountani eine einzigartige, düster-romantische Liebesgeschichte!

Blick ins Buch
Twelve of Nights – Das gestohlene HerzTwelve of Nights – Das gestohlene Herz

Roman

In einem griechischen Bergdorf leiten die zwölf Raunächte mit besinnlichen Ritualen und winterlichen Festen den Jahreswechsel ein. Doch einer alten Legende zufolge stehlen sich in dieser Zeit auch die dämonischen Kalikanzari in das Dorf und opfern ein Menschenleben. Als die zweiundzwanzigjährige Daphne kurz nach der Weihnachtsmesse eine junge Frau kennenlernt, fühlt sie sich sofort zu ihr hingezogen. Während der Feierlichkeiten im Dorf kommt Daphne der mysteriösen Ioanna immer näher. Doch Ioanna hütet ein Geheimnis, und ihre Liebe kann außerhalb der Raunächte nicht existieren …

1

Daphne

24. Dezember

Gegenwart

Kurz vor Mitternacht


In Griechenland wünscht man sich zu sämtlichen Feiertagen Chronia polla, das bedeutet wörtlich Viele Jahre. Viele Jahre zum Geburtstag. Viele Jahre zum Namenstag. Viele Jahre zu Ostern. Viele Jahre zu Weihnachten. Als hätte irgendjemand die Macht, darüber zu entscheiden. Als wäre Zeit das Schönste, was man verschenken kann.

Seit fünf Jahren benutze ich die Floskel nicht mehr. Der letzte Mensch, dem ich viele Jahre gewünscht habe, hat nicht mal mehr eines weitergelebt. Zeit ist der größte Fluch, wenn sie einen daran erinnert, was man verloren hat.

Aris Blick brennt auf mir. Er weiß, was ich fühle, auch wenn er mehrere Meter von mir entfernt auf einer der gegenüberliegenden Holzbänke sitzt. Es gibt nach wie vor eine strikte Trennung zwischen Männern und Frauen, weswegen er auf der linken Seite vom Mittelgang sitzt und meine Großmutter, seine Mutter und ich rechts. Die Kirche ist brechend voll. Überall dicke Wintermäntel, frisierte Hinterköpfe, Menschen in Anzügen und spektakulären Kleidern, die Gesichter gezeichnet von Ungeduld. Meine Jiajia – meine Oma – nennt es das große Affentheater. Ansonsten lässt sich hier kaum jemand blicken, aber zweimal im Jahr, zur Geburt und zur Auferstehung Christi, strömt das ganze Dorf in die prunkvolle Kathedrale, die sich auf einem Bergvorsprung oberhalb des Ortes befindet. Aus diesem Grund sind wir schon vor Stunden aufgekreuzt, um noch einen Platz zu ergattern.

Auch ich bin Teil des Theaters. Zwar begleite ich meine Großmutter manchmal sonntags in den Gottesdienst, doch das liegt nicht an meinem Glauben. Früher ist Papou mit ihr hingegangen, auch wenn ich den Verdacht habe, dass er ebenso wenig gläubig war, wie ich es bin. Es bricht uns wohl einfach beiden das Herz, sie allein gehen zu lassen.

Endlich erwidere ich Aris Blick. Seine dunklen Augen glänzen mitfühlend. Er trägt einen silbergrauen Anzug, der gut mit seinen dunklen Locken harmoniert und ihn noch erwachsener aussehen lässt. „Gleich geschafft“, formt er mit den Lippen, und ein liebevolles Lächeln zupft an seinen Mundwinkeln.

Nicht ganz die Wahrheit. Nach der Mitternachtsmesse werden wir in das Gasthaus meiner Großeltern zurückkehren und dort die Dorfbewohner mit den Leckereien versorgen, die wir in den letzten Tagen zubereitet haben. Nach der vierzigtägigen Fastenzeit wollen sich alle die Bäuche vollschlagen. Am liebsten würde ich die Zeit vorspulen, bis ich mit Ari in unserem warmen Bett liegen und mich an ihn klammern kann. Ich brauche unsere kleine heile Welt. Seine Lippen auf meinen, geflüsterte Worte unter der Decke, das Gefühl von Geborgenheit, auch wenn es seit Langem nicht mehr dasselbe ist. An manchen Tagen frage ich mich, ob ich überhaupt noch in der Lage bin, etwas zu empfinden. Nicht nur in Bezug auf Ari, sondern auf mein gesamtes Leben. Die meiste Zeit empfinde ich nur Leere.

„Ich liebe dich“, gebe ich lautlos zurück. Das schlechte Gewissen klopft an wie jedes Mal, wenn ich die drei Worte zu ihm sage. Sein Lächeln kann ich nicht erwidern. Ari versteht, wie hart die Zeit von Weihnachten bis zum 6. Januar für mich ist. Mein Leben lang habe ich mich das ganze Jahr über darauf gefreut. Seit fünf Jahren, seit Papou nicht mehr ist, wünschte ich, wir könnten sie einfach überspringen.

Aris Mutter und meine Jiajia verlassen ihre Plätze und reihen sich in die Schlange ein, um die Kommunion zu empfangen. Da ich weder gefastet habe noch daran glaube, folge ich ihnen nicht. Außerdem kommt mir stets die Warnung meiner Vorschullehrerin in den Sinn, wenn ich den goldenen Kelch betrachte, in dem sich Wein und Brotstücke befinden, die sinnbildlich für das Blut und Fleisch Jesu stehen. Sollten Gottlose es wagen, die Kommunion zu empfangen, würden sich der Wein und das Brot noch im Mund in Blut und Menschenfleisch verwandeln. Danke, nein.

Ari sieht mich nach wie vor an, doch plötzlich hat sein Blick nichts Tröstliches mehr. Er engt mich ein. Genau wie die Menschenmenge. Und die Psalmen, die immer lauter gesungen werden. Das Knarzen in den Lautsprechern, wenn die Kirchenchormitglieder dem Mikrofon vorne zu nahe kommen. Die brennenden Kerzen, deren Hitze sich in der gesamten Kirche auszubreiten scheint. Der schwere Weihrauchgeruch. All das Gold an den Wänden, all die Ikonen, die auf mich niederstarren. Es ist Weihnachten, Daphne, scheinen sie zu sagen. Es ist Weihnachten, du solltest doch glücklich sein.

Die Kirchenglocken ertönen. Mein Puls schießt in die Höhe, meine Nackenhaare richten sich auf. Mitternacht. Ich muss raus hier. Die frische Dezemberluft inhalieren. Mich daran erinnern, dass es in Ordnung ist. Dass ich in Ordnung bin.

Es sind nur zwölf Tage, die ich überstehen muss, dann kann ich mich zurück in meinen Alltag flüchten. Ich greife nach meiner Handtasche, erhebe mich und dränge mich an Eleni Christophou vorbei, die mit uns in der Reihe sitzt und der die beste Zuckerbäckerei im Dorf gehört. Sie ist gerade dabei, ihre Töchter nach vorn zu scheuchen, und bemerkt mich nicht. Ari beobachtet mich, während ich mich an Frauen und Kindern, an Heiligenbildern, Opferkerzen und Tischen mit Spendenkörben vorbeiquetsche. Je weiter man Richtung Ausgang kommt, desto lauter wird das Geflüster.

„Hast du gesehen, wie tief der Ausschnitt von Anastasias Kleid ist?“

„Die Liturgien werden auch jedes Jahr länger, oder?“

„Ich hab Hunger, Mama!“

„Glaubst du, wenn wir kurz eine rauchen gehen, bekommen wir die Schlusspredigt noch mit?“

Als ich die schwere Holztür aufstoße, schlägt mir der heftige Wind Schneeflocken ins Gesicht, und meine langen schwarzen Locken fliegen nach hinten. Auf dem Platz vor der Kathedrale tummeln sich mindestens so viele Menschen wie im Inneren – vermutlich, weil sie keinen Platz mehr gefunden haben. Das Stimmengewirr wird durch das ohrenbetäubende Läuten der Glocken übertönt.

Für einen Moment verharre ich auf der Stelle und atme die frostige Luft ein. Es ist schön hier, nicht wahr? Die Bäume sind von einer dünnen Schneeschicht überzuckert, unten im Tal funkeln die Dorflichter wie ein Sternenmeer, Rauch steigt von den Schornsteinen in den Nachthimmel auf. Es ist magisch. Weiße Weihnachten, wer wünscht sich das nicht?

Innerhalb von Sekunden ist mein bodenlanger schwarzer Mantel von Schneepünktchen übersät. Mit gesenktem Kopf laufe ich wieder los, vorbei an den Menschen, um die Ecke, wo ich zwischen einem Baum und der Kirchenfassade etwas abseits der Menge Unterschlupf finde.

Ich lasse mich gegen die Außenmauer sinken. Mir ist schlecht, und mein Herz rast. Der 25. Dezember ist nicht nur Weihnachten. Das Datum markiert den Beginn der Raunächte. Die nächsten zwölf Tage wird sich das gesamte Dorf im Ausnahmezustand befinden, weil verschiedene Rituale bevorstehen. Alle bereiten sich auf den Jahreswechsel vor, nehmen Abschied von Altem und begrüßen neue Möglichkeiten. Doch ich will nichts Neues. Ich will wieder ein Kind sein und die faltige Hand meines Großvaters halten. Sein verschmitztes Lächeln sehen, seinen vertrauten Geruch nach würzigem Aftershave und Pfeifentabak riechen. Ich will doch einfach nur wieder etwas fühlen.

„Daphne.“

Mein Kopf ruckt hoch. Vor mir steht eine junge Frau. Sie kann kaum älter als ich sein, höchstens Mitte zwanzig. Ihre goldbraunen Haare sind glatt und reichen ihr bis zum Kinn, sie hat stechend schwarze Augen, mit langen seidigen Wimpern, darüber ebenso schwarze Brauen, ihr Mund glänzt burgunderrot, dieselbe Farbe wie ihr Mantel. Sie ist mindestens zehn Zentimeter größer als ich, obwohl ich Stiefel mit Absatz trage und sie flache Budapester.

Bestimmt ist sie eine Verwandte von jemandem und für die Feiertage hergekommen. Ich habe sie noch nie gesehen. Bei unter tausend Einwohnern fallen Neuankömmlinge in unserem Dorf auf wie bunte Hunde.

„Daphne“, wiederholt sie, diesmal leiser, beinahe zärtlich.

Mein Herz setzt einen Schlag aus. Woher kennt sie meinen Namen? Aber das ist nicht der einzige Grund, aus dem ich erstarrt bin. Ihr Blick … Etwas in ihrem Blick scheint unsere gesamte Umgebung einfrieren zu lassen. So schaut man keine Fremde an. So schaut man jemanden an, den man besser als sein eigenes Leben kennt. Meine Großmutter hat meinen Großvater auf diese Weise angesehen. Er sie nicht. Ich habe mich immer gefragt, wieso.

Ich versuche mich an einem Lächeln. Seltsam, wie leicht es mir plötzlich fällt. „Du verwechselst mich.“

Statt einer Antwort zieht sie einen Briefumschlag aus ihrer Manteltasche und hält ihn mir hin. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Bevor ich mir einen Reim darauf machen kann, beugt sie sich blitzschnell vor – Orangenblüten, Jasmin, Zedernholz, alles wirbelt gleichzeitig auf und vermischt sich zu einem betörenden Strudel –, küsst mich rechts und links auf die Wangen und verharrt dann mit den Lippen an meinem Ohr. Nun scheint nicht nur unsere Umgebung eingefroren. Auch ich werde zu Eis, die Zeit steht still, die Glocken hoch oben im Kirchturm verharren in der Bewegung, genau wie die Schneeflocken um uns herum. Die gesamte Welt hört auf, sich zu drehen, während Gedankenfragmente mein Hirn fluten. Ein Wald. Raketen, zu früh abgeschossen. Der Geschmack von bitterem Rotwein auf meiner Zunge. Ein zugefrorener See. Knackendes Eis. Gelächter. Blicke, die mein Inneres verflüssigen. Worte wie hauchzarte Berührungen: „Ich könnte dich nicht nur seinen, sondern auch deinen eigenen Namen vergessen lassen.“

Berührungen wie Versprechen.

Woher kommen diese Gedanken?

„Chronia polla.“ Kaum mehr als ein Hauchen. Sie spricht keinen Dorfdialekt, ihr Griechisch ist klar und deutlich, es klingt nach Großstadt, vielleicht sogar Athen.

Und in diesem Moment, nur für den Bruchteil eines Herzschlags, verstehe ich. Ich verstehe zum ersten Mal seit langer Zeit, wieso man jemandem viele Jahre wünscht. Denn in diesem Moment will ich nicht bloß viele Jahre, sondern eine ganze Ewigkeit, genau hier.

Die Fremde weicht zurück. Sie drückt mir den Brief in die Hand. Eine einzelne Träne läuft über ihre Wange, hinterlässt eine glänzende Spur auf ihrer Haut.

„Vernichte ihn, sobald du ihn gelesen hast“, flüstert sie.

Mit diesen Worten wendet sie sich um. Die Schneeflocken setzen sich wieder in Bewegung, wilder, erbarmungsloser, der Lärm der Kirchenglocken ist zurück, vermengt sich mit dem Geschnatter der Leute.

Zitternd atme ich aus, während meine Finger den Briefumschlag aufreißen. Immer wieder verschwimmt er vor meinen Augen.

Weine ich? Warum zur Hölle weine ich?

Der Brief besteht aus mehreren Blättern Papier, dicht beschrieben in geschwungener Schreibschrift mit dunkelroter Tinte.

Daphne, lese ich, während ein Schluchzen aus mir herausbricht und mich schüttelt. Eine dicke Schneeflocke landet auf meinem Namen, lässt ihn bluten. Ich weiß, du kennst mich nicht, aber ich verspreche dir, du liebst mich.



2

Ioanna

31. Dezember

Fünf Jahre zuvor

Kurz vor Mitternacht


Der Anfang. Ich erinnere mich genau an ihn. Meine Erinnerung ist unversehrt.

Ich sollte nicht mehr hier sein.

Sechs Tage in diesem Drecksloch von einem Kaff sollten ausreichen, um jemanden aufzuspüren. Wenn ich sie bis jetzt nicht gefunden hatte, konnte das nur bedeuten, dass sie nicht mehr hier war.

Unter meinen Schuhen knirschten die gefrorenen Grashalme, während ich den Hang hinauf durchs Dickicht rannte, als seien die Dorfbewohner hinter mir her. Ein bitteres Lachen entwich mir. Als wäre nicht ich diejenige, vor der sich das gesamte Dorf fürchten musste …

Ein irrsinniger Gedanke hatte mich davon abgehalten, vor Silvester zu gehen. Was, wenn sie hier sein würde? Was, wenn ihr Herzschlag mich um Mitternacht locken würde?

Aber so funktionierte die Magie nicht, das hatte mir Despina erklärt, als wir nackt und atemlos nebeneinander in ihrem Bett gelegen hatten. Schnell war ihr meine Fragerei auf den Zeiger gegangen, und sie war auf den Olymp geflüchtet, um ihre Ruhe zu haben. Es war erstaunlich, wie nervtötend ich selbst ohne Emotionen sein konnte.

Die anderen waren am 25. Dezember sofort ausgeströmt und hatten wie Drogensüchtige den Kontakt zu den Menschen im Ort gesucht. Mich dagegen interessierte nur ein einziger. Der Mensch, der mich aus purem Egoismus zu diesem Dasein verdammt hatte.

Rache kettete mich an diesen Ort.

Ich beschleunigte meine Schritte. Es war bitterkalt. Nicht dass mir die Kälte während der Raunächte ernsthaft etwas anhaben konnte, aber es tat gut, sie zu fühlen. Ich hatte keine wärmere Jacke angezogen, denn heute Nacht wollte ich alles fühlen.

Die Bäume lichteten sich ein wenig, und aus der Ferne war der Schrei einer Eule zu hören.

Die meisten Menschen feierten unten im Tal oder auf einem der Berggipfel, aber was, wenn sich auch jemand hierher verirrt hatte? Nur noch wenige Minuten, und niemand würde mehr sicher sein. Vor mir.

Würde ich mich dagegen wehren können? Hatte ich überhaupt eine Wahl?

Ich krallte meine Finger ineinander und grub meine Nägel in die Handrücken, bis scharfer Schmerz durch meinen Körper pulsierte. Schmerz war gut. Er war echt und klar, und schon bald würde ich ihn zusammen mit all den anderen Gefühlen vermissen.

Natürlich hatte ich eine Wahl. Vor etwa einem Jahr hatte ich die Wahl gehabt, das Schicksal seinen Lauf nehmen zu lassen. Und die letzten dreihundertsechzig Tage hatte ich jede Sekunde die Wahl gehabt, einem Menschen in die Augen zu sehen und diese Welt schmerzfrei zu verlassen. Mensch oder kein Mensch, man hatte immer eine Wahl. Das war die Wahrheit. Ich war hier, weil ich es wollte. Die Hand auf den Brustkorb eines Menschen legen, das wilde Pulsieren spüren, das inzwischen nichts als eine ferne Erinnerung war, das Erkennen in ihrem Blick aufflackern sehen, meine Angst vom Vorjahr …

Ein regelmäßiges Pochen ließ mich innehalten. In den letzten Tagen waren die Herzschläge um mich herum immer lauter geworden, doch diese Intensität war neu. Sie ließ den Boden beben und erschütterte meine Knochen.

Fuck! Da war wirklich jemand.

Dies war meine letzte Chance umzukehren. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Viertel nach elf. Noch war es nicht zu spät.

Im nächsten Moment ertönte ein Schniefen.

Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen, registrierte nur am Rande, wie dornige Äste mich streiften. Sekunden später fand ich mich auf einer Lichtung mit kleinem See wieder, die von knochigen Ahornbäumen und Eichen umrahmt war. Die gefrorene Wasseroberfläche reflektierte das silbrige Mondlicht. Dahinter, auf der gegenüberliegenden Seite des Sees, ging es hangaufwärts. Und am Ufer, zwischen Schlittschuhen und Glasflaschen, saß ein Mensch mit dem Rücken zu mir im Gras.

Ihr wallendes schwarzes Haar reichte bis zur Mitte ihres Rückens. Allem Anschein nach war sie gerade dabei, sich von ihren Schlittschuhen zu befreien, scheiterte, fluchte, griff nach einer Weinflasche, nahm einen großen Schluck, stellte sie wieder ab und versuchte erneut, die Schnürsenkel zu lösen. Ohne Erfolg.

Gegen meinen Willen musste ich grinsen.

Obwohl das Gras unter meinen Schuhen knirschte, hörte sie mich nicht, bis ich neben ihr stand.

„Hi.“

Sie schaute hoch. Ihr Mantel war schwarz und kurz, genau wie das Kleid, das sie darunter trug.

„Was machst du hier ganz allein?“

Es sollte nicht wie eine Drohung klingen, doch ihr Herzschlag beschleunigte sich wie auf Knopfdruck.

Eine Gänsehaut jagte mir über den Rücken. Die letzten Tage war ich vielen Menschen begegnet, die mich unverhohlen gemustert, versucht hatten, mich in ein Gespräch zu verwickeln, oder mich plump angemacht hatten, aber Angst hatte niemand vor mir gehabt. Eine junge Frau wie ich, die allein unterwegs war, verbreitete wohl kaum Furcht und Schrecken. Außerdem hatte ich mir jeden Tag Mühe mit meinem Make-up und meiner Kleidung gegeben. Heute trug ich einen dunkelroten Overall aus Samt. Eine schöne junge Frau war noch viel weniger Angst einflößend.

Auch das Exemplar zu meinen Füßen sah gut aus. Verheult, aber süß. Ihre geröteten Augen traten leicht hervor, braun und tief, umrandet mit grünem Glitzerzeug, darunter lagen dunkle Schatten; auf ihren gepuderten Wangen waren Tränenspuren zu sehen. Ihre Nase war lang, leicht krumm, ihr Mund einen Tick zu groß, um zum Rest des Gesichts zu passen. Ich wollte eine Hand ausstrecken und ihre Lippen mit meinen Fingern nachzeichnen. Und dann wollte ich tiefer wandern, bis meine Hand auf ihrem Dekolleté lag, ihre Hitze spüren, das Hämmern in ihrem Brustkorb und …

„Meine Freunde sind abgehauen“, nuschelte sie. Mit einem weiteren Schniefen wischte sie sich übers Gesicht. Ihr Blick zuckte gehetzt über meine Gestalt, als könnte sie nicht einschätzen, in welche Kategorie sie mich stecken sollte. Freundin oder Feindin?

Mein Grinsen wurde breiter. Ich deutete auf ihre Schlittschuhe. „Brauchst du Hilfe damit?“

Mit großen Augen sah sie zu mir hoch. „Wer bist du?“

„Ioanna.“ Ich streckte ihr die Hand hin. „Und du?“

Zögerlich nahm sie meine Hand. Aus einem Impuls heraus umklammerte ich ihre fester und zog sie ruckartig hoch.

Selbst mit den Schlittschuhen an den Füßen war sie kleiner als ich.

Ihr Atem stockte, ihre Wangen röteten sich. „Daphne“, erwiderte sie erstickt. „Wir kennen uns nicht, oder? Du kommst nicht von hier?“

Mit einem Kopfschütteln gab ich ihre Hand frei. „Ich würde mich definitiv an dich erinnern.“

Und du dich an mich.

Verwirrung zuckte über ihr Gesicht. Wäre ihr rasendes Herz nicht eine solche Ablenkung gewesen, hätte ich vielleicht gelacht.

Ich legte den Kopf schief und durchbohrte sie mit meinem Blick. „Wie heißt er?“

Mit neunundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit gab es einen Kerl, wegen dem sie sich die Augen aus dem Kopf heulte.

Ihre Augen wurden noch größer. „Wie … Wie heißt wer?“

O ja, sie war definitiv der Typ Unschuld vom Lande, der sich in einen Jungen aus ihrer Schulklasse verknallte, ihn kurz nach ihrem Abschluss heiratete, sich unzählige Babys von ihm machen ließ und glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende mit ihrer Familie in demselben Kaff blieb, in dem sie geboren war.

Ich erwiderte nichts, starrte sie einfach nur an.

Meine Schwester hatte meinen Röntgenblick gehasst. „Bitte hör auf, Leute so anzuglotzen“, hatte sie mich angefleht. „Du ziehst zu viel Aufmerksamkeit auf dich. Das ist an einem Ort wie diesem besonders riskant.“ Steriani war immer ein Fan von mit dem Hintergrund verschwimmen gewesen, besonders wenn es um mich ging. Natürlich machte sie sich Sorgen, immerhin war ich das schwarze Schaf der Familie. Der Grund, aus dem wir den Kontakt zu unseren Eltern abgebrochen hatten. Aber manchmal hatte ich mich gefragt, ob sie sich nicht bloß Sorgen um mich machte, sondern sich auch für mich schämte.

„Ari“, riss mich Daphnes Stimme aus meinen Gedanken. Sie seufzte laut. Es klang nach Aufgeben. „Er heißt Ari.“

Mein Grinsen kehrte zurück. „Was hat das Schwein getan?“

Ein Lachen entwich ihr. Sie selbst schien überrascht davon zu sein.

Es klang schön. Frei.

„Ich bin nur kurz in den Wald gegangen, weil ich mal pinkeln musste, und dann waren meine Freunde plötzlich weg.“ Sie biss sich auf die volle Unterlippe. Mein Blick blieb zu lange daran hängen. „Ich habe gehofft, ihn um Mitternacht endlich zu küssen. Aber es sieht so aus, als würde er lieber Zeit mit Thalia verbringen wollen … Sie antworten mir alle nicht auf meine Nachrichten.“

Ich schaute auf die Schlittschuhe neben uns und wieder zurück in ihre dunklen Augen, und plötzlich spürte ich den Leichtsinn, der mein Inneres zum Tanzen brachte und die Verzweiflung der letzten Tage in den Hintergrund rücken ließ.

„Ich könnte dich seinen Namen vergessen lassen“, sagte ich.

Ihre Gesichtszüge entgleisten ihr. „Was?“

Mit einer gehobenen Braue deutete ich auf die Schlittschuhe vor uns. „Lust, eine Runde mit mir zu laufen?“

Ein paar Sekunden schien sie zu überlegen, dann zuckte sie mit den Schultern. „Okay. Warum nicht?“

Ich war wirklich nicht Angst einflößend genug.

Kurz darauf hatte ich meine Stiefel gegen Schlittschuhe getauscht, die mir eine halbe Nummer zu eng waren. Auch dieser Schmerz war willkommen.

Nur ein paar Minuten, bevor die anderen zurückkamen. Ich würde ihre Herzschläge hören, sobald sie in der Nähe waren. Nur ein paar Minuten Ablenkung, bevor ich mich wieder der Finsternis übergab. Das hatte ich mir verdient.

Die vereiste Oberfläche des Sees war von Fahrspuren zerkratzt, das Mondlicht offenbarte in den Tiefen darunter das dunkle Wasser. Daphne war etwas wackelig auf den Beinen, und ihr Blick zuckte immer wieder in Richtung Wald. Vermutlich hoffte sie, dass ihre Freunde jede Sekunde zurückkehren würden.

Nachdem wir beide ein paar Runden nebeneinander gefahren waren, beruhigte sich ihr Herzschlag. Die Stille drückte auf meine Ohren. Ich wollte keine Stille. Das ganze verfluchte Jahr lang hatte ich Stille gehabt. Abrupt blieb ich stehen, änderte meinen Kurs, sodass ich nun auf sie zulief, erwiderte ihr zaghaftes nervöses Lächeln nicht, sondern starrte ihr ausdruckslos in die Augen und beschleunigte. Ihr Herz begann wieder zu rattern. Sie wollte ausweichen, aber keine Chance, ich war viel zu schnell. Kurz bevor ich gegen sie prallen konnte, verlagerte ich mein Körpergewicht zur Seite, schnappte mir ihre Hand und riss sie herum. Sie schwankte, kämpfte um ihr Gleichgewicht, doch mein Griff war eisern, stützte sie.

„Was zum …“

„Vertrau mir“, wisperte ich. Und damit stieß ich sie von mir, nur um sie im nächsten Moment ruckartig an mich zu ziehen. Die Hitze unserer Körper war im Kontrast zur Kälte beinahe unerträglich. Wie lange war es her, dass ich die Wärme eines Menschen an mir gespürt hatte?

Daphne schnappte nach Luft, ihr Herz raste jetzt, ihre Augen blitzten, wurden ganz schmal. War sie wütend auf mich? Jedes ihrer Gefühle war ein gefundenes Fressen für das ausgehungerte Loch in meiner Brust. Mein Gott, ich hätte es von Anfang an den anderen gleichtun und mich an alle Menschen in Reichweite ranschmeißen sollen …

Ich griff auch nach ihrer anderen Hand, ehe ich begann, in Schlangenlinien rückwärts übers Eis zu gleiten und sie mitzuziehen. Der eisige Wind wirbelte meine Haare nach hinten und ihre nach vorn. Ihre dunklen Locken peitschten mir ins Gesicht. Sie trug Parfum. Etwas Süßliches, das mich an Honig und Zimt erinnerte.

Während wir über den See flogen, riss ich unsere Hände nach oben und krallte meine Nägel in ihre Haut. Mein Blick liebkoste ihr errötetes Gesicht. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, als wollte sie etwas sagen, das ihr auf halber Strecke entfallen war.

„Was noch?“, rief ich gegen den brausenden Wind an, ließ unsere Hände wieder sinken, gab eine frei, um Daphne um ihre eigene Achse wirbeln zu können. Einmal, zweimal, dreimal.

Ein erstickter Laut entwich ihr. Erst als sich ihr Gesicht wieder vor meinem befand, realisierte ich, dass sie lachte. „Was?“, keuchte sie.

„Was willst du noch?“, fuhr ich fort, samtweich und eine Spur provozierend. Ich verringerte mein Tempo, sodass auch sie automatisch langsamer wurde. „Im Leben, meine ich. Außer einen Kuss von deinem Angebeteten.“

Ihre Wangen färbten sich noch röter. Und dann passierte es. Nur für den Bruchteil einer ihrer viel zu hektischen Herzschläge zuckte ihr Blick zu meinem Mund. So schnell, dass man es für Einbildung hätte halten können. Hätte ich noch ein Herz gehabt, hätte es in diesem Moment vermutlich vergessen, dass es schlagen sollte.

„Herausfinden, wer ich bin, schätze ich“, murmelte sie. „Aber eigentlich will ich nur, dass es allen gut geht.“

Stirnrunzelnd ließ ich sie los. „Allen?“

„Meiner Familie, meinen Freunden. Wenn bei ihnen alles in Ordnung ist, bin ich glücklich.“

Erst kam der Neid, Sekunden später wurde er von Spott übertrumpft. „Und was ist mit dir?“, fragte ich höhnisch. „Wie willst du herausfinden, wer du bist, wenn dein Glück von anderen Menschen abhängt?“

„Vielleicht ist das meine Bestimmung. Vielleicht gibt es Menschen, die auf der Welt sind, um sich um andere zu kümmern. Ist das etwas Schlechtes?“

„Sich kümmern, ja klar.“ Ein hohles Lachen entwich mir. „Du meinst, du bist dazu da, um anderen zu gefallen?“ Sie war stehen geblieben, ich begann sie zu umkreisen. Erst langsam, dann immer schneller. „Das ist dein Lebensziel? Wie überaus inspirierend!“

Sie verdrehte die Augen. Doch da war etwas in ihrer Miene. Argwohn? Scham?

„Und du willst die Weltherrschaft, oder was?“

„Die Welt geht mir am Arsch vorbei.“ Ich verließ den Kreis, den ich um sie gefahren war, und bewegte mich ein bisschen weiter weg.

Die Welt ist nichts, wenn du keinem Menschen in die Augen sehen darfst.

„Ich habe keine Ziele“, rief ich ihr über die Schulter zu. „Ich lebe nur im Jetzt.“

Ihr Lachen schien mich zu verfolgen. „Lügnerin.“

Bevor ich mir eine Antwort darauf überlegen konnte, erklangen ihre Schlittschuhe hinter mir, aggressiv und entschlossen trafen sie aufs Eis. Diesmal war sie diejenige, die nach meinen Händen griff, sie umklammerte und mich an sich riss, die begann, schneller übers Eis zu fahren und mich vor sich herzuschieben. Ich war viel zu perplex, um mich zu wehren. Ihre Augen glühten. Und obwohl ihr Herz immer noch so heftig in ihrer Brust schlug, dass es unsere Umgebung zum Vibrieren brachte, war von ihrer Unsicherheit nichts mehr zu spüren.

Kurz bevor wir das Ende des Sees erreichten, verzogen sich ihre Lippen zu einem schiefen Lächeln, sie fuhr eine scharfe Kurve und riss mich an sich, damit ich nicht ins Gras fiel. Ihr Mund war nur Millimeter von meinem Hals entfernt. Ihr heißer Atem strich über meine Haut. Die Schwere von Rotwein, vermischt mit etwas Süßem.

Mein Körper stand in Flammen. Ich wollte den See verlassen, sie mitzerren, zu Boden stoßen, mich über sie beugen und meine Lippen auf ihre pressen. Zur Hölle mit ihrem Herzen! Ich brauchte ihr Herz nicht. Ich brauchte nur ein paar Augenblicke …

„Wie alt bist du?“, fragte sie, ließ eine meiner Hände los, umklammerte die andere umso fester. Seite an Seite schwebten wir über den See. „Anfang zwanzig?“

Es war eine Herausforderung, nicht auf ihre Lippen zu starren. „Neunzehn.“

Erneut lachte sie, diesmal klang es allerdings traurig. „Eine Siebzehnjährige, die für andere, und eine Neunzehnjährige, die nur für den Moment leben will? Was meinst du, wer von uns beiden redet den überzeugenderen Blödsinn?“

Das Zischen einer Rakete ertönte, bevor sich Lichterkonfetti über den Nachthimmel ergoss. Ich sah es nur aus den Augenwinkeln. Und auch Daphne löste den Blick nicht von mir.

„Wahrheit gegen Wahrheit?“, flüsterte sie.

Ich konnte bloß nicken. Ihr Herz. Ihr wild pochendes Herz. Ihr Mund. Diese Augen.

Das Feuerwerk hatte begonnen. Die Zeit rannte davon. Ich musste weg von hier.

„Ich würde gern jemanden lieben.“

Meine Brauen schossen in die Höhe. „Was ist mit deinem Ari?“

Schon wieder errötete sie, aber das hielt sie nicht davon ab, genervt dreinzublicken. „Ich meine keine Schwärmerei. Ich meine das, wovon alle reden. Das einzig Wahre. Ich würde gern wissen, wie es sich anfühlt, sich vollkommen nach jemandem zu verzehren. Ich will nicht mehr atmen können, wenn er vor mir steht. Ich will Herzrasen und Verzweiflung und Leidenschaft. Alles auf einmal. Und dann will ich mich an ihn gewöhnen, mich öffnen und ihn öffnen, ich will, dass wir einander erkennen wie aus einem anderen Leben, unsere eigene Geheimsprache entwickeln. Ich will ihm jeden Moment erzählen, den er verpasst hat, und alles über ihn erfahren. Das ist es, was ich will.“

Sie war viel zu nah. Ihre Hand in meiner war glühend heiß.

Ich räusperte mich. „Und du glaubst nicht, das könntest du mit Ari haben?“

„Vielleicht schon.“ Schulterzuckend biss sie sich auf die Unterlippe. „Keine Ahnung. Dafür müsste er mich erst mal beachten.“

„Glaubst du nicht, du hast jemanden verdient, der …“

„Ja, ja, ich weiß“, schnitt sie mir das Wort ab und lachte peinlich berührt.

Und plötzlich war die Hitze nicht nur an meiner Hand. Sie breitete sich wie ein Lauffeuer aus, kroch meinen Arm empor, geradewegs in meine Brust, wo sie in Flammen aufging.

Das Donnern weiterer Raketen ertönte, diesmal näher. Wir zuckten gleichzeitig zusammen.

Als wir am Rand des Sees vorbeifuhren, stolperte ich vom Eis und zerrte sie mit mir. Wir wankten, und bevor sie ihr Gleichgewicht wiederfinden konnte, stieß ich sie zu Boden und beugte mich über sie. Mein Verstand hatte sich verabschiedet. Ich wollte Wärme. Ich wollte Gefühle. Ich wollte alles, alles, alles.

Daphnes Brustkorb hob und senkte sich viel zu hektisch. Doch da war keine Furcht in ihren Augen. Sie schaute zu mir auf, als sähe sie mich zum ersten Mal.

Mein Atem stockte, mein Mund war staubtrocken. „Ich könnte dich nicht nur seinen, sondern auch deinen eigenen Namen vergessen lassen.“

Als ihr Herz erneut schneller schlug, war mir für eine Sekunde, als befände es sich nicht in ihrer, sondern in meiner Brust.

Raketen. Feuerwerk. Gelächter. Ein Schrei aus weiter Ferne.

Daphne machte keine Anstalten, sich aufzurichten. Wieso war es so einfach? Wieso wehrte sie sich nicht? Wieso kamen ihre Freunde nicht zurück, um sie vor dem Monster zu retten, das über ihr kauerte?

„Ioanna.“ Ein Lächeln zupfte an ihren Lippen, als bereitete es ihr Freude, meinen Namen auszusprechen. „Zeit für deine Wahrheit.“

Für ein paar Sekunden hatte ich keinen Schimmer, wovon sie sprach. Meine Wahrheit. Was wollte ich von meinem Leben? Wer wollte ich wirklich sein?

Sie hatte recht. Nur im Jetzt zu leben, war nicht genug.

„Ich will dir nichts antun“, hörte ich mich sagen, als wäre ich eine Fremde. „Ich will, dass du lebst.“

„W… wie bitte?“ Zum ersten Mal schlich sich Furcht in ihre Stimme.

Plötzlich fiel mir das Schlucken schwer. „Du sollst leben. Du sollst alles bekommen, was du dir wünschst. Du sollst herausfinden, wer du bist. Du sollst jemanden lieben. Du sollst eine Chance haben.“

Nicht so wie ich.

Sie war ein Jahr jünger, als ich es gewesen war. Ich konnte ihr das nicht antun. Ich konnte das niemandem antun.

Mit all meiner Willenskraft zwang ich mich, den Blick von ihr abzuwenden. Ich ließ mich nach hinten fallen und begann, die Schlittschuhe aufzuknoten. Meine Finger zitterten. Ich fluchte, wurde aggressiver, ich musste weg von hier, jetzt sofort, sonst würde es zu spät sein, verdammt!

Als ich mich endlich von den Schuhen befreit hatte, schleuderte ich sie von mir, fluchte lauter, mied jeden Blick in ihre Richtung, während ich in meine Stiefel stieg. Nicht nur meine Hände, sondern mein ganzer Körper bebte inzwischen.

„Das ist keine richtige Antwort“, erwiderte Daphne ruhig. Sie schien keine Notiz davon zu nehmen, was mit mir geschah. „Es geht um dich. Was du willst. Ich war auch ehrlich zu dir.“

„Ich will dein Herz.“ Meine Stimme war kaum mehr als ein Knurren.

Nun sah ich sie doch an. Zwar konnte sie nicht ahnen, wie wörtlich ich das meinte, aber mein Tonfall schien ihr zu verraten, dass ich nicht mehr flirtete, denn die Angst in ihren Zügen nahm zu.

„Hoffentlich sehen wir uns nie wieder“, sagte ich.

Ihr Herzschlag nahm all meine Sinne ein. So kräftig. So lebendig. Ich wollte sie an mich ziehen. Ich musste …

Nein! Mein eigenes Gesicht erschien vor mir. Mein unschuldiges naives Gesicht vom Vorjahr. Daran musste ich mich festklammern.

„Wenn du schlau bist, dann verlässt du dieses Dorf für heute Nacht. Solange du noch kannst“, würgte ich hervor.

Alles in mir schrie danach zu bleiben. Genau aus diesem Grund wirbelte ich herum und rannte. Ich würde nicht wie meine Schwester sein. Und auch nicht wie die anderen Monster.

Ich hatte eine Wahl.

Kleinstadt-Romance mit Charakteren zum Verlieben

Wer kann schon einer vorgetäuschen Verlobung und einem Haustier namens Pedro Pigscal widerstehen? Josie und Matthew sind das bisher süßeste Paar von Elena Armas!«                          
Hannah Grace, Bestsellerautorin von Icebreaker

The Fiancé Dilemma – Aller guten Dinge sind fünfThe Fiancé Dilemma – Aller guten Dinge sind fünf

Roman

Es geht zurück nach Green Oak! 

Josie hat der Liebe viele Chancen gegeben. Vier, um genau zu sein, und jede der vier Verlobungen scheiterte. Als ihr berühmter Vater beschließt, seinen Ruhestand mit einem brisanten Artikel über die Familie anzukündigen, weiß Josie, dass ihre romantische Vergangenheit in aller Munde sein wird. Um nicht bemitleidet zu werden, muss eine fünfte Verlobung her! Ausgerechnet Matthew, ein Freund ihrer Schwester und charmanter Besserwisser, ist der geeignetste Kandidat, und er spielt seine Rolle als Fake-Verlobter sehr gut. So gut, dass Josie bald nicht mehr weiß, was echt ist und was nur gespielt …


Die Autorin der „Spanish Love Deception“ ist endlich zurück! 

In den Warenkorb

Eine Reise zu den schönsten Kunstwerken unserer Zeit

Dieser Roman macht die Kunstgeschichte für alle zugänglich. Neben der Geschichte über die Liebe zwischen Großvater und Enkelin und über das, was sie voneinander lernen, führt das Buch uns an 52 Meisterwerke heran. Der Kunsthistoriker Thomas Schlesser beschreibt sie mit großer Genauigkeit und Finesse, flicht Anekdoten über den Künstler oder die Künstlerin ein, ihre Arbeitsweise und Technik.

Blick ins Buch
Monas Augen – Eine Reise zu den schönsten Kunstwerken unserer ZeitMonas Augen – Eine Reise zu den schönsten Kunstwerken unserer Zeit

Roman

Von der Macht der Kunst, unser Leben zu verändern

Und plötzlich ist alles anders: Als die zehnjährige Mona für eine Stunde ihr Augenlicht verliert, verweisen ihre Ärzte die besorgten Eltern an einen Kinderpsychiater. Monas Großvater Henry soll sie zu den Terminen begleiten, doch der hat eine andere, bessere Idee: Sie soll sie die ganze Schönheit der Welt in sich aufnehmen. Heimlich gehen die beiden in die großen Pariser Museen und betrachten dort Woche für Woche ein einziges Kunstwerk. Mit jedem Leonardo, jedem Monet und Kandinsky entdeckt Mona eine neue Weisheit – und dringt zum Grund ihres Leidens vor … 

„Monas Augen“ hat Frankreich und die Welt im Sturm erobert: ein tief berührender, hoffnungsvoller Roman über die rettende Kraft der Kunst!

„Der Triumph dieses Buches gleicht einem Märchen, das wahr wird.“ Le Monde

„Die Idee des Romans ist fabelhaft. Er liest sich ein bisschen wie ›Sofies Welt‹ in der Welt der Kunst, wie ein Bildungsroman, ein Roman der Freude.“ Le Figaro Littéraire

„Eine Ode an die Schönheit und die Weisheit.“ Le Parisien

„Die Verbundenheit zwischen Großvater und Enkelin trägt die Lesenden durch eine ausgesprochen erfrischende Annäherung an die Kunstgeschichte.“ Lire Magazine

„Eine ausgezeichnete Einführung in die Kunstgeschichte, die umso lebendiger ist, da sie durch zwei Figuren vermittelt wird.“ Libération

„Ein herausragender Roman, der in aller Munde ist.“ France Inter

In den Warenkorb

„Clara Maria Bagus beherrscht die Kunst des heilenden Erzählens." Nele Neuhaus

„In „Die Unvollkommenheit des Glücks“ erzählt Clara Maria Bagus von Ana und Lew, die sich vor vielen Jahren einmal flüchtig begegnet sind. Als das Leben sie ein zweites Mal zusammenführt, hat er Jahre als Soldat in einem Krieg verbracht, an dessen Ziele er nicht mehr glaubt, während sie nach Verlusten Wahlverwandtschaften schließt, die ihr helfen, das Rätsel ihres Lebens zu lösen. Clara Maria Bagus‘ Schreiben ist immer eine poetische Suche nach Erkenntnis, Heilung und Zuversicht, und das macht auch diesen Roman zu einem wahren Trostbuch" Felicitas von Lovenberg

Blick ins Buch
Die Unvollkommenheit des GlücksDie Unvollkommenheit des Glücks

Roman

Endlich – der neue Roman von Clara Maria Bagus!

Dies ist die Geschichte einer Frau und eines Mannes. Die in denselben Himmel blicken. Ihrer voller Zugvögel. Seiner voller Trümmer. Sie will ihrem alten Leben entfliehen – und findet Liebe und Bestimmung dort, wo sie es nie vermutet hätte. Er will dem Tod entkommen – und rettet damit nicht nur sein Leben. Zweimal begegnen sie sich. Einmal bleibt es bei einer Ahnung von Glück. Dann ordnet sich die Welt neu, und die beiden treffen sich unerwartet wieder.

In ihrem neuen, meisterhaft erzählten Roman verwebt SPIEGEL-Bestsellerautorin Clara Maria Bagus die Fragen nach Glück, Sinn und dem, was wirklich zählt im Leben. Ein zutiefst zärtlich geschriebenes Buch, das einen erfüllt und staunend zurücklässt.

Ein einzigartiger Roman über die zerbrechliche, und doch wundersame Schönheit des Lebens – für Fans von Delia Owens, Robert Seethaler und Matt Haig.

„Es könnte eines der traurigsten Bücher des Jahres sein. Clara Maria Bagus macht es zu einem der bewegendsten und hoffnungsvollsten.“Stephan Schäfer, Autor von 25 letzte Sommer

„Clara Maria Bagus beherrscht die Kunst des heilenden Erzählens.“ Nele Neuhaus 

In den Warenkorb

„Husch Josten erzählt zart und provozierend klug eine gewaltige und unvergessliche Geschichte über Liebe und Tod." Denis Scheck

„Das Bedürfnis nach Geschichten ist so alt wie die Menschheit. „Alles, was wir für wirklich halten, ist Erzählung“, schreibt Husch Josten in ihrem neuen Roman. „Wir glauben das ganze verdammte Leben erst, wenn es eine Geschichte darüber gibt.“

Zur Erzählung des Lebens gehört, wenn man die Sache ernst meint, unweigerlich der Tod als großer, übermächtiger Gegenspieler. Die Beschäftigung mit dem Unvorstellbaren, nämlich dem, was auf das Sterben folgt, ist das private Forschungsfeld von Sourie, dem Protagonisten von „Die Gleichzeitigkeit der Dinge“, einem so charismatischen wie rätselhaften jungen Mann, der alle, die ihm begegnen, in den Bann zieht. Husch Josten erzählt mit Verve, Temperament und provozierender Klugheit, und nicht nur Denis Scheck findet, dass an der Zeit ist, dass diese außergewöhnliche Autorin endlich ihren Platz in der ersten Riege der deutschsprachigen Literatur einnimmt." Felicitas von Lovenberg

Blick ins Buch
Die Gleichzeitigkeit der DingeDie Gleichzeitigkeit der Dinge

Roman

Eine Geschichte über Freundschaft, Trauer und eine Liebe, die alles infrage stellt
Jean Tobelmann, Gastronom in dritter Generation, hat einen eigenwilligen Stammgast – der junge Sourie erforscht mit leidenschaftlichem Ernst, wovon die meisten Menschen lieber schweigen: das Ende des Lebens. Warum? Tobelmann geht der Geschichte des humorvollen Exzentrikers auf den Grund und stößt dabei auf etwas, das verständlicher und zugleich unbegreiflicher nicht sein könnte, etwas, das weit über Souries Amour fou mit der gemeinsamen Freundin Tessa und die Verbundenheit der beiden Männer hinausweist.

Schwerelos, mit feiner Ironie und Beobachtungsgabe erzählt Husch Josten von den Fallstricken des Lebens. Von wahrer Freundschaft, falschen Entscheidungen, der Suche nach Sinn und von der Liebe – unserer einzigen Waffe gegen die Sterblichkeit.

„Achtung: Dieses Buch könnte Ihre Einstellung zum Tod beeinflussen. Sie könnten ihm gelassener entgegensehen, vielleicht sogar über ihn lachen. Oder das Gegenteil. Ein großer Roman über Leben und Sterben. Klug und heiter, sprachgewaltig und tiefgründig.“ Bettina Böttinger

„Husch Josten erzählt zart und provozierend klug eine gewaltige und unvergessliche Geschichte über Liebe und Tod. Es wird höchste Zeit, dass Josten endlich ihren Platz in der ersten Reihe der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur einnimmt.“ Denis Scheck

In den Warenkorb

„Ein praller, fast ein Jahrhundert umspannender Debütroman voller starker Frauen. Fesselnd!“ Hörzu

„'Porträt auf grüner Wandfarbe'  ist ein Roman, in den man eintauchen kann, ein Roman, der so mitreißend wie klug davon erzählt, wie wichtig es sein kann, liebgewonnene Vorstellungen loszulassen, um das große Ganze zu erkennen, ein Roman, der vom weiblichen Streben nach Unabhängigkeit handelt und von der Kraft der Versöhnung. Und der die großen und die kleinen Opfer, die das Leben seinen Charakteren abverlangt, mit unbezwingbarer Leichtigkeit heraufbeschwört.

Wann immer ich 'Porträt auf grüner Wandfarbe' aufschlage, ist es sofort wieder da, dieses Lesegefühl, das ich schon bei der ersten Lektüre so stark empfunden habe: das Erlebnis, sich zu verlieren in der Welt dieses Romans, die mit ihren Menschen, Häusern und Landstrichen so lebendig wird, dass die eigene Gegenwart für die Dauer der Lektüre tatsächlich verblasst." Felicitas von Lovenberg

Blick ins Buch
Porträt auf grüner WandfarbePorträt auf grüner Wandfarbe

Roman

Porträt auf grüner Wandfarbe | bewegender Generationenroman

Elisabeth Sandmanns großartiges Romandebüt über eine außergewöhnliche Familie im 20. Jahrhundert

„Ein spannender Familienroman über starke Frauen, ihre Leidenschaften und den Wunsch nach Selbstbestimmung. Durch die genaue, liebevolle Zeichnung sind mir die Figuren sehr nahe gekommen und haben mich ein Stück mitgenommen in ihrem Leben.“ SENTA BERGER

1918 trifft die bodenständige Ella im oberbayerischen Schloss Elmau auf die glamouröse Ilsabé. Es entsteht eine ebenso unzerbrechliche wie komplizierte Freundschaft, die Kriege übersteht, Jahrzehnte überdauert und dramatische Geheimnisse bewahrt.

Schon als Mädchen träumt Ella Blau aus Bad Tölz von eigenen Schuhen aus Leder, die ihr den Weg in ein unabhängiges Leben ermöglichen sollen. Jahrzehnte später liest die junge Londoner Übersetzerin Gwen die roten Hefte, die Ella bis 1938 mit ihren Erinnerungen gefüllt hat. Ellas Aufzeichnungen führen Gwen in das legendäre Hotel Schloss Elmau, zu einem Gutshof bei Köslin und in das Berlin der 1920er-Jahre. Ellas Schicksalsfreundin Ilsabé, Gwens inzwischen 94-jährige und reichlich kapriziöse Großmutter, scheint ihr Wichtiges aus der Vergangenheit zu verschweigen. Geht es nur um verlorene Bilder oder doch um viel größere Verluste? Auf ihrer Reise in die aufwühlende Geschichte ihrer Familie versucht Gwen, das Geheimnis zu entschlüsseln.

Wer Susanne Abels Gretchen-Romane oder Alena Schröders „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ mochte, wird Elisabeth Sandmanns wunderbares Jahrhundertporträt und seine einzigartigen Heldinnen lieben.

Für „Porträt auf grüner Wandfarbe“ hat Elisabeth Sandmann sich von zahllosen Büchern, Briefen, Postkarten und Reiseführern aus der Vergangenheit inspirieren lassen. So ist ein hinreißender Roman entstanden, der Orte, Schicksale und Begebenheiten zu einer faszinierenden und vielschichtigen Geschichte verwebt, die man nicht mehr aus der Hand legen kann.

Das perfekte Geschenk für die beste Freundin, packende Urlaubslektüre, kluge Unterhaltung, spannend erzählte Zeitgeschichte.

Elisabeth Sandmann, Verlagsbuchhändlerin, Autorin und Verlegerin, hat in ihrem Roman „Porträt auf grüner Wandfarbe“ Figuren erschaffen, die einen weit über die Lektüre hinaus begleiten und die man für immer im Herzen behält.

Der Anruf London, 1992


Die Schuhe waren völlig durchnässt. Gwen zog sie vor der Haustür aus und hörte schon den Kater miauen. Sie hatte vergessen, sein Näpfchen zu füllen, und nun war er in seiner Ungeduld nicht mehr zu bremsen. Er würde dennoch warten müssen, sie wollte erst duschen, denn ihr war kalt vom Joggen durch den lausigen Regen. Da klingelte das Telefon, und Gwen sah auf die Uhr. Es war halb neun, der Verlag konnte es nicht sein. Als es hartnäckig weiterläutete, nahm sie etwas genervt den Hörer ab.

„Hallo, Gwenny Love, hier ist Lily. Störe ich dich? Aber du bist ja sicher noch nicht am Schreibtisch.“ Noch bevor Gwen antworten konnte, redete ihre Tante weiter.

„Hör zu, Gwenny, ich möchte zu Lotte nach Berlin, dort ein paar Tage bleiben und dann gemeinsam mit ihr weiter in die DDR, also das, was davon übrig geblieben ist, und dann nach Polen. Man kann jetzt überallhin reisen. Du weißt ja. Man kann sich ein Auto leihen und dann einfach losfahren, habe ich gehört.“

„Lily, ich muss unter die Dusche, ich bin pitschnass.“

„Entschuldige, ja, aber in zwei Wochen möchte ich fahren – und zwar mit dir. Allein kann ich das nicht mehr, und Lotte ist so alt wie ich. Du hast doch Zeit? Sag Ja!“

Gwen hatte sich nach dem grauen Winter in London auf zwei Wochen im Süden Italiens gefreut und war wenig begeistert von der Idee, mit ihrer alten Tante und deren kommunistischer Freundin in die ehemalige DDR und weiter nach Polen zu reisen. Sie stellte sich vor, wie sie bei schlechtem Wetter auf misstrauische Menschen traf, die mehr oder weniger berechtigt Angst davor hatten, die ehemaligen Besitzer wollten nun ihre heruntergekommenen Gutshöfe zurückhaben.

„Lily, ich überlege es mir, ich rufe dich wieder an.“

„Ruf mich heute Abend zurück, ich bin vorher unterwegs. Bitte lass uns diese Reise zusammen machen. Heute kann ich das noch, morgen womöglich schon nicht mehr“, meinte Lily bestimmt. Und Gwen wusste genau, was jetzt kam, weil sie das immer sagte. „Gwenny, du weißt: Der Regen kehrt nicht mehr nach oben zurück.“

Lily hatte ihr Vorhaben mit solchem Nachdruck vorgebracht, dass Gwen geneigt war, über eine Reise, zu der sie gerade überhaupt keine Lust verspürte, nachzudenken. Sie füllte das Näpfchen von Sloppy und ging unter die heiße Dusche.

Der Urlaub mit Laura nach Italien war längst geplant. Sie wollten nach Neapel fliegen und von dort aus mit dem Schiff nach Ischia und an der Amalfiküste entlang zurück. Laura war ihre beste Freundin, sie hatten sich während des Studiums kennengelernt. Als Musikwissenschaftlerin hatte Laura über einen Komponisten aus dem 17. Jahrhundert promoviert. Sie hatte seine italienischen und lateinischen Texte transkribiert, war zu Forschungszwecken immer wieder in Italien gewesen und sprach die Landessprache fließend. Außerdem verstanden sie sich ausgezeichnet auf gemeinsamen Reisen, hatten die gleichen Interessen an Kunst und Kirchen, aber auch immer große Lust auf analytische Tauchgänge in die Untiefen der Psyche ebenso wie auf etwas Tratsch über Familienmitglieder und Ex-Freunde, am liebsten bei einem kleinen Aperitivo.

Die Liebe zu Italien hatte Gwen von ihrer Mutter geerbt. Häufig waren sie in den Ferien in die Toskana gereist, und von jeder dieser Reisen brachte ihre Mutter Oliven- oder Zitronenbäumchen mit, die sie dann auf ihrer Terrasse in Terrakottakübel einpflanzte. Auch hatte sie die Kochbücher von Elizabeth David verschlungen, die in den Fünfzigerjahren versucht hatte, den Engländern mediterrane Genüsse näherzubringen.

Gwen fragte sich, wie sie Laura erklären sollte, dass sie jetzt mit ihrer betagten Tante und deren Freundin in die ehemalige DDR und nach Polen reisen würde, wo es weder guten Wein noch Bruschetta oder Sardellen in Olivenöl gäbe.

Die Sache ließ sie dennoch nicht los, und so suchte sie im Regal nach den alten Baedekern, die ihr Großvater gesammelt hatte, und wurde fündig. Wo genau war dieser Gutshof überhaupt? Sie erinnerte sich, dass er sich in der Nähe von Köslin befand, dem heutigen Koszalin.

Ihr Großvater Jakob, der als Kaufmann zu Wohlstand gekommen war, hatte das Anwesen einst in Pommern an der Ostsee erworben. Gwen hatte ihn nicht mehr kennengelernt, er war in der Emigration gestorben. Sie kannte zwar einige Geschichten vor und nach seiner Flucht, aber immer hatte sie den Eindruck gehabt, als würde eine hermetische Kruste der Verdrängung auf allen Erinnerungen liegen. Auf den ohnehin spärlichen Familientreffen war selten von früher die Rede gewesen, und auf Beerdigungen beließ man es dabei, sich etwas oberflächlich über den Ehrgeiz des Alltags auszutauschen.

Sie hatte Köslin auf der Karte gefunden. Die Karten waren aus hauchdünnem Papier, das mehrfach zusammengefaltet war und in ausgeklapptem Zustand eine präzise Orientierung vermittelte. Der Baedeker beschrieb, wie man 1920 von Berlin mit der Eisenbahn an die Ostsee reisen konnte, wie lange die Fahrt dauerte und was die Fahrkarte kostete. Wie zivilisiert das alles klang und wie unkompliziert.

Gwen machte sich einen starken schwarzen Tee, für den sie vorher die Kanne mit heißem Wasser ausgespült hatte. Das Silber speicherte die Wärme, so wie die Morgensonne ihren Backsteinboden im Wintergarten noch wärmte, nachdem der Schatten die Luft bereits merklich abgekühlt hatte. Der Tee musste eine ganz bestimmte Temperatur haben, wenn sie nachher einen Schuss kalte Milch in ihren Becher gab, damit Tee und Milch sich vermischten wie die Farbreste von Pinseln, die man in einem Glas Wasser auswusch.

Sie nahm ihren Earl Grey mit zum Schreibtisch und wollte an einer Übersetzung weiterarbeiten, von der sie froh war, wenn sie abgeschlossen sein würde. Es war ein schwieriger Text, den sie aus dem Deutschen ins Englische übertragen sollte. Sie war fast fertig, und die Arbeit an diesem Buch hatte ihr keine große Freude bereitet. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren – ihre Gedanken wanderten unfreiwillig immer wieder zu Lilys Vorschlag zurück.

In gewisser Weise hatte ihre Tante recht, sie jetzt mit Nachdruck auf die Fährte ihrer Vorfahren zu schicken. Sie suchte das Fotoalbum, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte: ein schmales Büchlein mit kleinen Schwarz-Weiß-Aufnahmen, von denen manche gestochen scharf waren und andere stark verblichen. Irgendjemand hatte das Album begonnen und weitergeführt, aber nicht, bis kein Blatt mehr frei gewesen wäre, sondern die Bilderseiten hörten plötzlich auf. Auf den frühen Fotografien, die wohl um 1900 entstanden sein mochten, gruppierten sich fein gekleidete Damen und Herren vor einem Gebäude, das die Engländer untertrieben als Country House bezeichnen würden. Auf einem Foto, das Gwen schon immer sehr imponiert hatte, sah man eine schöne Frau im Damensitz auf einem prächtigen schwarzen Pferd. Es war Ruth, die erste Frau ihres Großvaters Jakob, die nach der Geburt ihres jüngsten Kindes, Gwens Tante Lily, an einer Streptokokkeninfektion gestorben war. Von Penizillin wusste man damals noch nichts.

Weitere Bilder zeigten Ruth und ihre Freundinnen, oder waren es Cousinen, in mädchenhaften dünnen Musselinkleidern mit Spitzenkragen und weiten Ärmeln. Ruth trug einen großen Hut, unter dem die Haare hochgesteckt und doch locker fallend reizvoll und anmutig zugleich wirkten. Auf einer weiteren Aufnahme blickte Jakobs stattlicher Vater selbstbewusst in die Kamera. Er trug einen Sommerhut zu einem hellen Leinenanzug und hielt die Gerte in der Hand, wahrscheinlich kam er von einem Reitausflug und würde sich im nächsten Moment in einen der geflochtenen Korbsessel fallen lassen, die man im Garten kunstvoll verstreut platziert hatte.

Pferde zu haben, war ein Statussymbol, das bald schon von Automobilen abgelöst wurde, und so sah man denn auch die Familie auf späteren Aufnahmen um eine geräumige Limousine gruppiert. Jakobs zweite Frau Ilsabé, Gwens Großmutter, galt als verwegene Autofahrerin, die, wenn sie Lust darauf hatte, einfach losfuhr, um dann von Berlin, Prag oder Paris ein Telegramm zu schicken, dass sie gut angekommen war.

Auf einem Bild, es war das letzte in dem kleinen Album, war Ella zu sehen. Ach, Ella. An Ella hatte Gwen immer wieder gedacht, und jeder Gedanke an sie hatte ihr einen kleinen Stich versetzt. Für Marga war Ella die „Ellamammi“ gewesen, im Unterschied zu ihrer leiblichen Mutter Ilsabé, die sie stets nur mit Vornamen erwähnt hatte. Die Fotografie zeigte Ella zusammen mit einem kleinen Mädchen, das in ein Handtuch gewickelt war und sich ausschüttete vor Lachen. Ein Schnappschuss, den jemand während der Sommermonate an einem See oder Badestrand aufgenommen haben musste. Es gab keine Ortsangabe, nur die Jahreszahl 1938. Das kleine Mädchen war Marga.

Gwen konnte sich nicht erinnern, ihre Mutter so fröhlich erlebt zu haben, nicht einmal mit Robert, Gwens Vater. Ihre Eltern hatten sich bei ihrem Onkel Theo kennengelernt, das wusste sie aus Erzählungen. Theo war in den Zwanzigerjahren zum Studium der Altphilologie nach Oxford gegangen und dort geblieben. Nach dem Krieg hatte er bemerkt, wie unglücklich seine jüngere Halbschwester Marga in Deutschland war, und sie zu sich nach England eingeladen. In seinem viktorianischen Reihenhaus trafen sich regelmäßig Studenten, darunter Robert. Hin und wieder aber waren auch Damen eingeladen, und dann durfte Marga dabei sein, die mit Theos Hilfe in der Bodleian Library eine Aushilfsanstellung gefunden hatte.

Robert zählte zu jenen Studenten, die mit besonders vielen Begabungen gesegnet waren und in die man sich einfach verlieben musste. Er konnte Dramentexte von Shakespeare bis Oscar Wilde deklamieren, war ein blitzgescheiter und witziger Diskussionspartner, und er gehörte auch noch dem Team von acht Ruderern an, die ausgewählt worden waren, um im Wettkampf gegen Cambridge den Pokal zu holen. Aber Roberts Stimmungen konnten schnell wechseln, und so zeigte er an manchen Tagen eine nicht zu bremsende Energie und lag an anderen Tagen im verdunkelten Zimmer. Damals sprach man nur selten von Depressionen, man wusste einfach zu wenig.

Gwen sah auf die Uhr. Kurz nach zehn. Jetzt würde er bereits gefrühstückt haben. Sie wählte seine Nummer, und Roberts Lebensgefährtin Sue nahm ab. Nach einem freundlich-oberflächlichen Wortwechsel gab Sue den Hörer weiter.

„Gwen, Darling, wie schön, dass du dich meldest. Wie geht es dir?“, fragte ihr Vater, hörbar erfreut.

Etwas umständlich erzählte Gwen von ihrer Arbeit und der mühevollen Übersetzung, um schließlich zum Punkt zu kommen.

„Lily hat mich angerufen, sie möchte, dass ich mit ihr nach Deutschland und weiter nach Polen reise. Sie will unbedingt, dass ich mitfahre. Sie hat sich mit Lotte in Berlin verabredet.“

„Mit der Kommunistin?“

„Ja, genau die. Sie ist doch Lilys beste Freundin.“

„Da kommen ja zwei zusammen. Wenn ich nicht so alt wäre, käme ich sofort mit. Das klingt nach einer vergnüglichen Landpartie. Aber wahrscheinlich wird das Essen miserabel sein, und guten Wein gibt es ohnehin nicht. Andererseits machen die Polen prima Schnäpse.“

„Sehr witzig.“

Wie immer schaffte es ihr Vater, seine Alkoholsucht in seinem eigenen Charme buchstäblich zu ertränken.

„Ich habe mir das kleine Album noch einmal angesehen und mich gefragt, ob du noch irgendwelche Fotos, Briefe oder Aufzeichnungen von Mum hast. Lily hat mit ihrem Anruf etwas in mir ausgelöst, und vielleicht ist es jetzt tatsächlich die letzte Gelegenheit, um mit ihr nach Pommern zu reisen.“

Gwen sprach mit ihrem Vater Englisch, aber „Pommern“ hatte sie nicht übersetzt. Es gab Wörter, die in ihrer Familie immer auf Deutsch ausgesprochen wurden. Und auch ihr englischer Vater hielt sich an dieses ungeschriebene Gesetz.

„Deine Mutter hat sich ja irgendwann nicht mehr mit der Vergangenheit beschäftigen wollen, was ihr nicht wirklich gelungen ist, aber ich erinnere mich, dass Ella ihr einiges überlassen hat.“

„Was denn zum Beispiel?“

„Na ja, ich weiß nichts Genaues, aber Marga hat einmal erzählt, wie überladen das Auto war, als sie von der Ostsee nach Oberbayern fuhren.“

„Die Geschichte kenne ich gar nicht, aber schau doch mal nach, was du so findest, dann komme ich am Wochenende zum Tee, wenn es dir passt.“

„Darling, das wäre schön. Du kannst natürlich auch Theo anrufen, er weiß sicher mehr. Und bring doch eine Flasche von dem alten College-Port mit, wenn du noch eine hast.“

Als Gwen auflegte, dachte sie, dass es tatsächlich eine gute Gelegenheit wäre, sich wieder einmal bei ihrem alten Onkel Theo zu melden. Als emeritierter Professor lebte er noch immer in seinem schönen Haus in Oxford. Es war in den letzten Jahren schwierig geworden, mit ihm in Verbindung zu bleiben. Er telefonierte nicht gerne und freute sich über wenig Besuch, anders als andere Menschen in seinem Alter. Immerhin aber beantwortete er in seiner kalligrafisch anmutenden Handschrift jeden Brief sofort. Sie beschloss, ihm im Laufe der Woche ein Lebenszeichen zu schicken. Vorher aber wollte sie Laura anrufen und heraushören, ob sie sehr enttäuscht wegen der Italienreise wäre.

Sie verbrachte den Nachmittag mit der mühseligen Übersetzung. Als es anfing zu dämmern, fand sie, dass sie eine Tasse Tee verdient habe und auch ein Stückchen des köstlichen Sponge Cake, den ihre Nachbarin mit der extra feinen Himbeermarmelade gebacken hatte. Sie ließ Sloppy in den Garten, obwohl es geregnet hatte und er vorwurfsvoll miaute, weil er seine sanften Pfoten nicht in den nassen Rasen setzen wollte.

Laura war sofort am Telefon. Sie hatte die glockenhelle Stimme eines jungen Mädchens, dabei war auch sie schon Mitte dreißig. Sie arbeitete für ein internationales musikwissenschaftliches Journal, und gerade quälte sie sich mit einem mittelmäßigen Essay, den ein hochrenommierter Professor aus den USA verfasst hatte, der es nicht ertrug, von einer Frau korrigiert zu werden.

„Laura, ich muss dir etwas sagen – Lily hat mich gefragt, ob ich sie auf eine Reise nach Berlin und weiter nach Polen begleiten würde. Sie möchte den Gutshof noch einmal sehen, wo sie aufgewachsen ist. Oder was davon übrig ist. Sie will mir unbedingt alles zeigen. Jetzt, wo die Grenzen offen sind. Sie klang so bestimmt, du kennst sie ja. Es scheint ihr sehr viel zu bedeuten.“ Gwen machte eine kurze Pause, um Laura Gelegenheit zu geben, diese Neuigkeiten zu verarbeiten, doch Laura reagierte prompt.

„Na ja, sie ist in einem Alter, in dem man solche Reisen nicht jedes Jahr wiederholen kann. Und jetzt, wo es möglich ist – Berlin nach dem Mauerfall, das würde mich selbst interessieren.“

„Dann komm doch mit!“, rief Gwen euphorisch.

„Ja, warum nicht, nach Italien können wir auch noch im September. Ich schau mir alles mal auf der Karte an. Ich kenne einen Bach-Forscher, den ich gerne treffen würde und mit dem ich mir seit Jahren schreibe. Vielleicht könnte ich von Berlin aus einen Abstecher nach Leipzig unternehmen. Und dir wird die Reise sicher guttun. Wir haben in den letzten Jahren so oft über deine Mutter gesprochen. Das ist doch eine gute Gelegenheit, mehr zu erfahren.“

Gwen war geradezu beglückt darüber, dass Laura mit von der Partie sein würde. Sie könnten sich nicht nur auf den langen Strecken im Auto ablösen, es würden sich gewiss auch manche Schrulligkeiten der alten Damen besser ertragen lassen.

Jetzt musste sie nur noch Lily erreichen, die immer und besonders für ihr Alter sehr beschäftigt war. Ihre Tante besuchte fast jede Aufführung der Royal Shakespeare Company, die sie für das beste Ensemble der Welt hielt; sie verpasste kaum eine Ausstellungseröffnung, zu der sie eingeladen wurde; sie leistete sich Mitgliedschaften in diversen Freundeskreisen namhafter Museen und immer wieder eine der sündhaft teuren Karten für Opernabende in Covent Garden.

„Lily, ich bin’s, Gwen. Also, ich komme mit. In drei bis vier Wochen kann ich los, bis dahin bin ich mit meiner Übersetzung fertig und Laura mit ihren Aufträgen“, brachte Gwen entschieden hervor, als ihre Tante endlich ans Telefon ging.

„Wie schön, Gwenny Darling, aber was hat Laura denn damit zu tun?“, fragte Lily etwas argwöhnisch.

„Laura fährt mit.“ Und als würde sie die Gedanken ihrer Tante ahnen, fügte sie hinzu: „Wir werden trotzdem genug Zeit für uns haben. Du weißt ja, wie einfühlsam sie ist. Für mich ist es viel angenehmer, wenn mich jemand begleitet, der mir beim Kartenlesen helfen kann und immer guter Laune ist. Außerdem kennt sie ja die ganze Familiengeschichte.“

„Na ja, die ganze Familiengeschichte kennst ja noch nicht einmal du, aber deshalb fahren wir ja zusammen hin“, bemerkte ihre Tante spitz. „Ich mag Laura. Sie hat diesen trockenen Humor, und sie ist doch so sprachbegabt, kann sie denn Deutsch?“

„Motetten-Deutsch!“

„Was ist das denn?“

„Sie kennt die Texte von Bachs Motetten und vom Weihnachtsoratorium.“

„Na, das wird lustig, wenn die eine Bach-Kantaten summt und die andere Marx zitiert.“

„Das meinte Robert auch. Ich fahre nächstes Wochenende übrigens nach Suffolk. Ich war lange nicht da. Ich habe ihn auch gefragt, ob er noch etwas von Mummy hat, und er meinte, dass das gut möglich wäre, es gäbe noch irgendeine Kiste mit Erinnerungskram, wie er es nannte.“

„Aha“, sagte Lily nur, und beim Verabschieden klang ihre Stimme ungewohnt angespannt. Warum, konnte sich Gwen nicht erklären, aber sie schob den Gedanken schnell beiseite.

 

Bis zur Abreise war nun einiges zu tun. Sie musste die Übersetzung abschließen und vorzeitig dem Verlag schicken, denn sie wollte sichergehen, dass es keine Rückfragen gab. Vielleicht würde sie auch noch bei Marks & Spencer ein paar leichte Schuhe und eine dünne Jacke für die Reise kaufen. Für schlechtes Wetter waren sie ja hier auf der Insel bestens ausgerüstet. Außerdem wollte sie Tee mitnehmen, Earl Grey und English Breakfast erwiesen sich immer als beliebte Mitbringsel. Sie würde einige Stunden ihres Italienischkurses ausfallen lassen müssen, was ihr leidtat, denn Theresa, ihre römische Lehrerin, hatte ein mitreißendes Temperament.

Plötzlich erschienen ihr die verbleibenden Wochen bis zur Abreise als sehr kurzer Zeitraum, zumal sie ja auch noch den Sonntagsausflug zu ihrem Vater geplant hatte. Und Theo wollte sie unbedingt noch schreiben, er würde es ihnen übel nehmen, wenn er hinterher erfuhr, dass Lily und seine Nichte in seiner alten Heimat gewesen waren. Das würde sie am besten gleich erledigen, bevor sie es vergaß.

Gwen suchte in ihrer kleinen Sammlung eine Kunstpostkarte mit einem seltenen Motiv. Sie wusste, dass ihr Onkel solche Gesten schätzte. Sie fand ein Porträt, das Franz von Stuck von seiner schönen Tochter im Jahr 1915 gemalt hatte. Es fiel ihr ein bisschen schwer, sich von der Postkarte zu trennen, die sie vermutlich einmal in München in der Villa Stuck gekauft hatte, aber Theo würde sich freuen. In wenigen Sätzen teilte sie ihm mit, dass sie mit Lily nach Polen reisen und den Gutshof aufsuchen würde und ihn gerne vorher kurz gesprochen hätte.


Besuch in Ipswich

Gwen nahm den Zug bis Ipswich, wo ihr Vater sie abholen wollte. Sie freute sich darauf, die Fahrt allein mit ihm zu verbringen. Umso enttäuschter und zugleich auch besorgter war sie, als nicht Robert, sondern Sue am Bahnsteig stand.

Robert sei seit zwei Tagen in einer sehr trüben Stimmung und könne sich nicht aufraffen aufzustehen, erklärte Sue die Situation. Hoffentlich wäre es am Nachmittag schon besser. Gwen müsste also doch übernachten, was sie nur im Notfall vorgehabt hatte. Sue, die sonst nicht durch analytische Beobachtungen hervorstach, war sich sicher, dass Roberts innere Unruhe mit Gwens Reiseplänen zu tun haben musste. Die verdrängte Erinnerung an Marga sei mit voller Wucht aufgebrochen. Er habe viel getrunken und dann alle Schubladen durchsucht und ausgeleert, um ihre Briefe zu finden.

„Er hat eine Schachtel gefunden“, schloss Sue ihre etwas vorwurfsvoll klingenden Ausführungen. „Er hat sie dir in dein Zimmer gestellt. Dein Vater muss seinen Rausch ausschlafen, und wenn er hört, dass du da bist, geht es ihm hoffentlich besser. Ich habe nicht gedacht, dass es ihn so mitnehmen würde.“

„Danke, Sue, auch fürs Abholen. Ich kann mir vorstellen, dass das alles nicht immer leicht für dich ist“, bemühte sich Gwen einfühlsam hervorzubringen.

„Ich habe gewusst, auf was ich mich einlasse“, meinte Sue trocken, „und Robert ist trotz allem das Beste, was mir passieren konnte. Ich muss mit den grauen Wölfen leben, die ihn immer wieder aufsuchen und bedrängen.“

Sue war klein, drahtig und patent und hatte stets alles im Griff. Sie wusste, was am besten gegen Schnecken im Garten half und wann man bestimmte Zwiebeln setzen musste, sie organisierte den Gemeindechor und kümmerte sich um die alten Damen im Dorf, vor allen Dingen aber bewahrte sie in der Regel ihren Vater vor größeren Abstürzen.

Das Cottage, in dem die beiden lebten, war dreihundert Jahre alt. Sie hatten es gemeinsam liebevoll renoviert, die Balken freigelegt, die alten Holzböden abgeschliffen, die Wände vom Putz der Jahrhunderte befreit und jedes Zimmer in einer anderen, pudrigen Farbe gestrichen. Der große Kamin im Wohnzimmer konnte wieder benutzt werden, und eine Heizung wärmte zusätzlich, die allerdings nur waschechte Engländer als ausreichend empfinden konnten. Das alte Haus war schön und romantisch, aber zugig und kalt, und man war gut beraten, mit einer Wärmflasche und einer dicken Jacke anzureisen. Ein mit Weidezäunen eingefasster Garten säumte das Anwesen, in dem schon bald prachtvolle Rosen und Klematis blühen würden. Keiner, der das Cottage zum ersten Mal sah, hätte sich gewundert, wenn Jane Austen persönlich aus der Tür getreten wäre und zum Tee eingeladen hätte.

Sue hatte einen kleinen Blumenstrauß in Gwens Zimmer gestellt und frische Handtücher auf ihr Bett gelegt. Sie war eine sehr gute Gastgeberin, musste Gwen unumwunden zugeben. Auf dem alten Waschtisch stand tatsächlich die erwähnte Kiste, die noch zugeklebt war. Ihr Name war groß und deutlich in der Handschrift ihrer Mutter zu lesen. Sie fand es seltsam, dass ihr Vater all die Jahre nach Margas Tod nicht mehr an diese Schachtel gedacht hatte. Sie musste ihm doch spätestens beim Umzug aus dem alten Haus in die Hände gefallen sein. Aber ebenso merkwürdig fand sie es, dass ihre Mutter zwar ihren Namen auf die Schachtel geschrieben, sie ihr aber nie persönlich überreicht hatte. Vielleicht hatte sie vorgehabt, zu einem späteren Zeitpunkt mit ihr über den Inhalt zu sprechen, war aber nicht mehr dazu gekommen.

Gwen war aufgeregt und löste vorsichtig die Klebstreifen, die so getrocknet waren, dass sie wie von selbst abfielen. Auf den ersten Blick waren es Fotografien, Briefe, einige offizielle Dokumente, dann aber entdeckte sie einen Stapel identisch aussehender Schreibhefte, die mit einer roten Schleife zusammengebunden waren. Sie waren beschriftet mit Jahreszahlen und Ortsangaben. Auf dem Etikett des ersten Heftes war zu lesen „Bad Tölz und München 1911–1918“, auf dem nächsten „Schloss Elmau 1918–1919“, dann „Köslin und Florenz 1923–1925“ und so weiter. Die Hefte hatten einen festen roten Einband mit einem ebenfalls roten Farbschnitt. Zuoberst lag ein bereits geöffneter Umschlag. Gwen zog den Brief darin vorsichtig heraus und erkannte Ellas Handschrift. Sie las:

 

5. September 1948

Meine liebe Marga,

ich hoffe, es geht Dir gut in Oxford bei Theo. Du schreibst, dass Du in einer Bibliothek arbeitest. Weißt Du, dass ich noch nie in einer öffentlichen Bibliothek war? Was genau musst Du denn dort machen, und bereitet Dir die Tätigkeit Freude? Hast Du schon Freundinnen gefunden?

Es ist für uns alle eine schwierige Zeit, die Währungsreform hat hier allerdings überall die Versorgung verbessert. Es waren so viele Städter noch bis vor Kurzem hier draußen, die tauschen oder hamstern wollten. Das hat sich jetzt fast über Nacht gelegt. Ich glaube, es gibt keinen Bauern hier im Tölzer Land, der jetzt nicht ein Geschirr mit Goldrand oder alten Familienschmuck hat.

Ich wollte Dir schreiben, dass Du bitte nicht so sehr mit Deiner Mutter ins Gericht gehen darfst. Ich kenne Ilsa nun schon so lange und weiß, wie schwer sie es selbst hatte. Wir werden alle in eine bestimmte Zeit hineingeboren, und Deine Mutter hat in schlimmen Zeiten gegeben, was sie geben konnte. Sie wusste, dass sie nicht zu mehr fähig war, und darum hat sie Dich auch später in meine Obhut gebracht. Das hat sie nicht aus Verantwortungslosigkeit getan, sondern, im Gegenteil, weil sie Dich liebt. Nicht jede Frau ist eine geborene Mutter. Das Schicksal wollte es, dass ich keine Kinder habe, aber gerne welche bekommen hätte, und Deine Mutter hat mir Dich als kleines Mädchen in den Arm gedrückt und mir damit ein Lebensglück beschert. Das wollte ich Dir sagen. Außerdem hast Du mich gebeten, dass ich Dir ein bisschen von meinem Leben erzählen solle, weil du so wenig wüsstest über meine frühen Tölzer Jahre.

Nun, ich habe die letzten Monate damit verbracht, meine Tagebuchaufzeichnungen zu sichten und aufzuschreiben, was in den vergangenen fünfzig Jahren geschehen ist.

Es war eine gleichermaßen schmerzvolle und beglückende Reise in die Vergangenheit, meine liebe Marga. Ich habe viel Schönes erlebt, ebenso wie Verluste und enttäuschte Hoffnungen.

Ich habe auch ein paar alte Fotografien in das Buch hineingeklebt. Sie sind nicht besonders gut, aber man erkennt doch die Menschen und die Umgebung. Ich hoffe, es freut Dich, und Du kannst dann, wenn Du dies alles gelesen hast, auch unsere Zeit, in der wir aufgewachsen sind, besser verstehen.

Unsere Generation hat viel erlebt, und am wenigsten selbstverständlich war, dass wir überlebt haben. Besonders wir Frauen hatten es schwer, und dabei spielte es oft keine Rolle, ob man arm oder reich war.

Schick mir doch bitte ein Foto von Dir, und erzähl mir, was es bei Theo zu essen gibt. Ihr habt ja sogar eine Köchin.

Vielen Dank auch für den guten Tee, der hier eingetroffen ist wie ein Wunder, und auch für die schöne Dose, in der er verpackt war. Das sind hier Kostbarkeiten.

Ich soll Dich von allen grüßen. Anton vermisst Dich und fragt jeden Tag nach Dir. Er ist gewachsen und eine Freude. Stell Dir vor, Nücki hat geschrieben, sie hat sich zusammen mit Knüvel in den Westen retten können. Das Haus duftet gerade nach Jolas Apfelstrudel.

Bitte schreib bald, und grüß Theo recht herzlich.

Sei Du fest umarmt, von allen hier im Gästehaus,

Deine Ellamammi

 

 

Was für ein unglaublicher Schatz lag in ihren Händen. Ella hatte sich die Mühe gemacht, für Marga, ihre geliebte Ziehtochter, ihr eigenes Leben aufzuschreiben. Und Marga hatte diesen Schatz wiederum für ihre Tochter aufgehoben, damit sie, Gwen, einmal in den Besitz dieser Erinnerungen kommen würde. Marga schien aus Sprachlosigkeit, Trauer und heftigen Selbstzweifeln nie herausgefunden zu haben, und dann war sie auch noch so unerwartet früh gestorben.

Gwen öffnete behutsam das erste Heft. Ellas Handschrift war klein und dennoch gut lesbar. Die Seiten waren eng beschrieben, und Gwen glaubte zu erkennen, wann sie eine Pause eingelegt und den Füllfederhalter neu befüllt hatte, denn die blauschwarze Tinte hatte dann eine andere Färbung und der Schriftzug eine sich verändernde Stärke. Immer wieder gab es Seiten, auf denen Ella Fotografien, Eintrittskarten oder Postkarten eingeklebt hatte. Das Datum auf dem ersten Heft reichte in Ellas Kindheit zurück. Gwen rechnete nach, 1911, da musste Ella dreizehn Jahre alt gewesen sein. Das war nun über achtzig Jahre her.

„Ein literarisches Meisterwerk.“ ttt

„Die Postkarte ist der Roman des Lebens von Anne Berest. Sie beschreibt darin nicht nur mitreißend die Geschichte ihrer Familie in der Shoah, sondern auch, was es heißt, als schöne, kluge, tatkräftige Frau in unserer Zeit mit diesem Erbe zu leben. 

Dieser autofiktionale Roman ist trotz seiner großen Themen ein echter Pageturner. Anne Berest löst wie in einem Detektivroman das Geheimnis einer höchst beunruhigenden Postkarte, die ihre Mutter vor 20 Jahren mit den Neujahrswünschen erhielt. Wir verfolgen dabei den Weg ihrer Familie von Russland über Litauen, 
Palästina und Frankreich bis in die Vernichtung. Wir erfahren, wie es nur Anne Berests Großmutter gelang, als Teil der Résistance zu überleben.

Lassen Sie sich von Der Postkarte erzählen, was es heißt als nicht-fromme Jüdin regelmäßig zwischen allen Stühlen zu sitzen und warum die Umwelt jemanden auch im säkularsten Leben manchmal zwingt, doch Position zu beziehen. 

Uns hat dieser Roman nicht nur begeistert und zu Tränen gerührt, wir sind darüber hinaus überzeugt, dass sich in ihm alles vereint, was gute Literatur ausmacht: Wahrhaftigkeit, Leidenschaft, eine fast unglaubliche Geschichte und die Kunst, sie einzigartig erzählen zu können." Felicitas von Lovenberg

Die PostkarteDie PostkarteDie Postkarte

Roman

Eine große Familiengeschichte vom Holocaust bis ins heutige Frankreich

Im Januar 2003 fand Anne Berests Mutter unter den Neujahrswünschen eine verstörende Postkarte mit nichts als den Namen ihrer vier Angehörigen, die in Auschwitz ermordet wurden. Anne fragt nach, und die Mutter erzählt ihr die tragische Geschichte der Rabinovitchs. Aber erst als ihre Tochter in der Schule Antisemitismus erfährt, geht Anne der Sache wirklich auf den Grund: Sie recherchiert in alle erdenklichen Richtungen. Und das Ergebnis ist dieser Ausnahmeroman, der den ungewöhnlichen Weg der Familie nachzeichnet und fragt, ob man in unserer Zeit als Jüdin ein „ganz normales“ Leben führen kann.

„Ein Meisterwerk biographischer Erzählkunst.“ DLF

„Ein so ergreifendes wie elegantes Stück Erinnerungsliteratur.“ taz

Meine Mutter hat sich die erste Zigarette des Tages angezündet, ihre liebste, die einem beim Aufwachen die Lunge verbrennt. Dann ist sie vors Haus gegangen, um die weiße Pracht zu bewundern, die das ganze Viertel bedeckte. In der Nacht waren mindestens zehn Zentimeter Schnee gefallen.

Sie blieb trotz der Kälte lange draußen stehen, rauchend und die unwirkliche Stimmung genießend, die sich über ihren Garten gelegt hatte. Sie fand es schön, all dieses Nichts, diese Auslöschung der Farbe und der Linien.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch, das durch den Schnee gedämpft wurde. Der Briefträger hatte gerade die Post auf den Boden fallen lassen, unter den Briefkasten. Meine Mutter ging hin, um sie aufzuheben, und sah sich vor, wo sie mit den Hausschuhen hintrat, damit sie nicht ausrutschte.

Die Zigarette noch im Mundwinkel, dicke Rauchwolken in die eisige Luft schickend, beeilte sie sich, wieder ins Haus zu kommen, um ihre kältetauben Finger aufzuwärmen.

Sie warf einen schnellen Blick auf die verschiedenen Umschläge: traditionelle Grußkarten, die meisten von ihren Studenten, eine Gasrechnung, etwas Werbung. Aber auch Briefe an meinen Vater – die Kollegen vom CNRS und seine Doktoranden wünschten ihm alle ein frohes neues Jahr.

Und da lag sie, in dieser vollkommen gewöhnlichen Januarpost. Die Postkarte. Sie hatte sich ganz unscheinbar zwischen die Umschläge gemogelt, so als hätte sie sich versteckt, um nicht aufzufallen.

Was meine Mutter sofort stutzig machte, war die Schrift: seltsam, unbeholfen, eine Handschrift, die sie noch nie gesehen hatte. Dann las sie die vier Vornamen, die untereinanderstanden, wie eine Liste.

  • Ephraïm
  • Emma
  • Noémie
  • Jacques

Es waren die Vornamen ihrer Großeltern mütterlicherseits, ihrer Tante und ihres Onkels. Alle vier waren zwei Jahre vor der Geburt meiner Mutter deportiert worden. Sie waren 1942 in Auschwitz gestorben. Und einundsechzig Jahre später tauchten sie in unserem Briefkasten wieder auf. An diesem Montag, dem 6. Januar 2003.

Wer schickt mir denn so eine schreckliche Karte, fragte sich Lélia.

Meine Mutter bekam furchtbare Angst, als bedrohte sie jemand, lauernd im Dunkel der Zeit. Ihre Hände begannen zu zittern.

„Schau mal, Pierre, was ich in der Post gefunden habe!“

Mein Vater nahm die Karte und inspizierte sie eingehend, aber es gab keine Unterschrift, keine Erklärung.

Nichts. Nur diese Vornamen.

 

In meinem Elternhaus wurde die Post damals vom Boden aufgesammelt, wie man Fallobst aufliest – denn unser Briefkasten war so alt geworden, dass er mit der Zeit nichts mehr hielt, ein richtiges Sieb, aber wir liebten ihn so, wie er war. Ihn zu ersetzen kam niemandem in den Sinn. In unserer Familie wurden Probleme nicht auf diese Weise gelöst, wir lebten mit den Dingen, als verdienten sie die gleiche Rücksicht wie Menschen.

An Regentagen wurden die Briefe nass. Die Tinte zerfloss, und die Worte wurden für immer unlesbar. Am schlimmsten erwischte es die Postkarten, unbekleidet wie junge Mädchen, im Winter mit bloßen Armen ohne Mantel.

Hätte der Verfasser dieser Postkarte einen Füllfederhalter benutzt, um uns zu schreiben, wäre seine Botschaft dem Vergessen anheimgefallen. Wusste er das? Die Karte war mit schwarzem Kugelschreiber verfasst worden.

 

Am nächsten Sonntag rief Lélia die ganze Familie zusammen, das heißt meinen Vater, meine Schwestern und mich. Als wir um den Esstisch versammelt waren, ging die Karte von Hand zu Hand. Wir schwiegen eine ganze Weile – was bei uns nicht üblich ist, vor allem nicht sonntags beim Mittagessen. In unserer Familie gibt es normalerweise immer jemanden, der etwas zu sagen hat und sofort damit herausrücken möchte. Diesmal wusste niemand, was er von dieser aus dem Nichts kommenden Nachricht halten sollte.

Die Postkarte war sehr banal, eine typische Ansichtskarte mit einer Fotografie der Opéra Garnier, wie sie zu Hunderten auf den Eisenständern in den Tabacs in ganz Paris zu finden sind.

„Warum die Opéra Garnier?“, fragte meine Mutter.

Niemand wusste eine Antwort darauf.

„Das ist der Poststempel des Louvre.“

„Meinst du, wir können dort mal nachfragen?“

„Es ist riesig, das größte Postamt von Paris. Was sollen sie dir da sagen können …?“

„Du meinst, es war Absicht?“

„Ja, die meisten anonymen Briefe werden vom Postamt Louvre aus verschickt.“

„Die Karte ist nicht mehr neu, sie ist mindestens zehn Jahre alt“, bemerkte ich.

Mein Vater hielt sie ins Licht. Er betrachtete sie aufmerksam und kam zu dem Schluss, dass die Fotografie aus den Neunzigerjahren stammen musste. Die Farbgebung des Abzugs mit seinen satten Magentatönen sowie das Fehlen von Werbeplakaten rund um die Opéra Garnier bestätigten meine Vermutung.

„Ich würde sogar sagen, aus den frühen Neunzigerjahren“, präzisierte mein Vater.

„Wie kommst du darauf?“, fragte meine Mutter.

„Weil 1996 die grün-weißen SC10-Busse mit offener Heckplattform, von denen ihr einen im Hintergrund seht, durch die RP312 ersetzt wurden.“

Niemand wunderte sich, dass mein Vater sich mit der Geschichte der Pariser Busse auskannte. Er hat zwar nie ein Auto gefahren – geschweige denn einen Bus –, aber er war Forscher, und sein Beruf brachte es mit sich, dass er aus vielerlei Bereichen, die ebenso verschieden wie hoch spezialisiert waren, eine Unmenge von Details kannte. Mein Vater hat ein Gerät erfunden, das den Einfluss des Mondes auf die irdischen Gezeiten berechnet, und meine Mutter für Chomskys Abhandlungen zur generativen Grammatik übersetzt. Die beiden zusammen wissen also eine unvorstellbare Menge an Dingen, von denen die meisten im konkreten Leben gänzlich nutzlos sind. Außer manchmal, wie an jenem Tag.

„Warum eine Karte schreiben und dann zehn Jahre warten, bis man sie abschickt?“

Meine Eltern stellten sich weiter Fragen. Mir selbst war die Postkarte völlig egal. Die Liste der Namen dagegen ließ mich aufhorchen. Diese Menschen waren meine Vorfahren, und ich wusste nichts über sie. Ich wusste nicht, welche Länder sie bereist, welche Berufe sie ausgeübt hatten, wie alt sie waren, als sie ermordet wurden. Hätte man mir ihre Porträts gezeigt, hätte ich sie unter Fremden nicht wiedererkannt. Dafür schämte ich mich.

Als das Mittagessen beendet war, verwahrten meine Eltern die Postkarte in einer Schublade, und wir sprachen nie wieder darüber. Ich war vierundzwanzig Jahre alt, und mich beschäftigten im Moment vor allem mein Leben und die Geschichten, die ich schreiben wollte. Ich löschte die Erinnerung an die Postkarte aus meinem Gedächtnis, nicht aber den Vorsatz, meine Mutter eines Tages zu unserer Familiengeschichte zu befragen. Doch die Jahre vergingen, und ich nahm mir nie die Zeit dazu.

Bis ich zehn Jahre später kurz vor der Entbindung stand.

Der Muttermund hatte sich schon etwas geöffnet. Ich musste liegen, damit das Baby nicht zu früh kam. Meine Eltern hatten angeboten, mich ein paar Tage bei sich aufzunehmen, da bräuchte ich nichts zu tun. Während ich auf die Geburt wartete, dachte ich an meine Mutter, an meine Großmutter, an die Reihe der Frauen, die vor mir ein Kind bekommen hatten. Und plötzlich wollte ich unbedingt die Geschichte meiner Vorfahren hören.

 

Lélia führte mich in das Büro, in dem sie den größten Teil ihrer Zeit verbringt, dieses Büro, das mich immer an einen Bauch erinnert hat, tapeziert mit Büchern und Aktenordnern, getaucht in das winterliche Licht der Pariser Banlieue, die Luft stickig von Zigarettenrauch. Ich legte mich unter das Bücherregal mit seinen alterslosen Gegenständen, den Erinnerungsstücken, bedeckt von einer zarten Schicht Asche und Staub. Meine Mutter griff nach einer grün-schwarz gesprenkelten Schachtel, einer von zwanzig Archivschachteln, die alle gleich aussahen. Als Jugendliche wusste ich, dass diese in den Regalen aufgereihten Schachteln Spuren der dunklen Geschichten aus der Vergangenheit unserer Familie enthielten. Sie erinnerten mich an kleine Särge.

Meine Mutter nahm ein Blatt Papier und einen Stift zur Hand – wie alle pensionierten Lehrer blieb sie in jeder Lebenslage Lehrerin, es betraf selbst ihre Art, Mutter zu sein. Lélia war bei ihren Studenten an der Universität von Saint-Denis sehr beliebt. In den gesegneten Zeiten, als sie im Hörsaal rauchen und zugleich Linguistik unterrichten konnte, tat sie etwas, das ihre Studenten faszinierte: Außerordentlich geschickt vermochte sie die Zigarette vollständig abbrennen zu lassen, ohne dass die Asche, die zwischen ihren Fingerspitzen einen grauen Zylinder bildete, jemals zu Boden fiel. Einen Aschenbecher brauchte sie nicht, sie stellte die heruntergebrannte Zigarette auf ihren Schreibtisch und zündete sich die nächste an. Dieses Kunststück flößte ihnen Respekt ein.

„Nur dass du es weißt“, sagte meine Mutter, „was du gleich hören wirst, ist eine zweischneidige Geschichte. Einige Fakten werden als gesichert dargestellt, aber du kannst dir selbst denken, wie viel davon auf persönlichen Hypothesen beruht, die am Ende zu dieser Rekonstruktion geführt haben – außerdem könnten neue Dokumente meine Annahmen natürlich substanziell ergänzen oder ändern.“

„Maman“, sagte ich zu ihr, „ich glaube, der Zigarettenrauch kann das Gehirn des Babys schädigen.“

„Ach was. Ich habe in meinen drei Schwangerschaften eine Schachtel pro Tag geraucht und nicht den Eindruck, am Ende drei Schwachköpfe produziert zu haben.“

Ihre Antwort brachte mich zum Lachen. Lélia nutzte die Gelegenheit, sich eine Zigarette anzustecken, und fing an, aus dem Leben von Ephraïm, Emma, Noémie und Jacques zu erzählen – den vier Vornamen auf der Postkarte.


BUCH I

Gelobte Länder


Kapitel 1

„Wie in russischen Romanen“, sagte meine Mutter, „beginnt alles mit einer unglücklichen Liebesgeschichte. Ephraïm Rabinovitch liebte Anna Gavronsky, deren Mutter Liba Gavronsky, geborene Yankelevitch, eine Cousine ersten Grades der Familie war. Doch diese Leidenschaft stieß bei den Gavronskys nicht auf Wohlgefallen …“

Lélia sah mich an und merkte, dass ich nichts begriff. Sie klemmte sich die Zigarette in den Mundwinkel und begann, die Augen wegen des Rauchs halb zusammengekniffen, in ihrem Archiv zu stöbern.

„Hier, ich werde dir diesen Brief vorlesen, dann wirst du es besser verstehen … Er stammt von Ephraïms älterer Schwester, sie schrieb ihn 1918 in Moskau:“


Liebe Vera,

meine Eltern haben nichts als Ärger. Hast du von dieser Geschichte zwischen Ephraïm und unserer Cousine Aniouta gehört? Wenn nicht, kann ich sie dir nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertrauen, obwohl offenbar viele von uns längst Bescheid wissen. Kurz gesagt: An und unser Fédia (der vor zwei Tagen vierundzwanzig wurde) haben sich verliebt. Meine Familie hat sehr darunter gelitten, es hat sie schier verrückt gemacht. Tante weiß nichts davon, es wäre eine Katastrophe, sollte sie es erfahren. Sie begegnen ihr ständig und sorgen sich sehr. Unser Ephraïm liebt Aniouta sehr. Aber ich muss gestehen, dass ich ihre Gefühle für nicht ganz aufrichtig halte. Das sind bei uns die Neuigkeiten. Manchmal habe ich wirklich die Nase voll von dieser Geschichte. So, mein Schatz, ich muss jetzt Schluss machen. Ich werde meinen Brief selbst einwerfen, um sicher zu sein, dass er auch wirklich abgeschickt wird …

Mit herzlichem Gruß, Sara

 

„Wenn ich das richtig verstehe, wurde Ephraïm gezwungen, auf seine erste Liebe zu verzichten?“

„Genau deswegen sucht man ihm schnell eine andere Verlobte, und das ist Emma Wolf.“

„Der zweite Vorname auf der Postkarte?“

„Ganz recht.“

„Gehörte sie auch zur Verwandtschaft?“

„Nein, ganz und gar nicht. Emma kam aus Łódź. Sie war die Tochter eines Großindustriellen, der mehrere Textilfabriken besaß, Maurice Wolf, und ihre Mutter hieß Rebecca Trotski. Aber sie hatte nichts mit dem Revolutionär zu tun.“

„Sag mal, wie haben Ephraïm und Emma sich überhaupt kennengelernt? Łódź ist doch mindestens tausend Kilometer von Moskau entfernt.“

„Weit über tausend Kilometer! Entweder haben sich die Familien an die schadkhanit der Synagoge gewandt, also an die Heiratsvermittlerin. Oder Ephraïms Familie waren Emmas kesteltern.“

„Emmas was?“

„Die Kesteltern. Das ist jiddisch. Wie soll ich dir das erklären … Erinnerst du dich an die Sprache der Inuit?“

Als ich ein Kind war, hatte Lélia mir beigebracht, dass es bei den Inuit zweiundfünfzig Wörter für Schnee gibt. Man sagt zum Beispiel qanik für den Schnee, wenn er fällt, aputi für den bereits gefallenen Schnee und aniu für den Schnee, aus dem man Wasser macht …

„Im Jiddischen“, fuhr meine Mutter fort, „gibt es verschiedene Begriffe für die Familie. Ein Wort bezeichnet die eigentliche Familie, ein anderes die Schwiegerfamilie und ein weiteres diejenigen, die man zur Familie dazuzählt, auch wenn keine verwandtschaftlichen Beziehungen bestehen. Und dann gibt es noch einen Begriff, die kesteltern, was man als Gastfamilie übersetzen könnte, denn es war Tradition, dass Eltern, die ein Kind zum Studium in die Ferne schickten, ihm eine Familie suchten, die ihm Unterkunft und Verpflegung bot.“

„Die Familie Rabinovitch waren also Emmas Kesteltern.“

„Genau … Aber hör es dir in Ruhe an, keine Sorge, du wirst dich irgendwann zurechtfinden …“

 

Ephraïm Rabinovitch bricht recht früh mit der Religion seiner Eltern. Als Teenager wird er Mitglied der Partei der Sozialrevolutionäre und erklärt seinen Eltern, dass er nicht an Gott glaubt. Aus Provokation tut er alles, was Juden an Jom Kippur verboten ist: Er raucht, rasiert sich, trinkt und isst.

1919 ist Ephraïm fünfundzwanzig Jahre alt. Er ist ein moderner, schlanker junger Mann mit feinen Gesichtszügen. Wäre seine Haut nicht so braun und sein Schnurrbart nicht so schwarz, könnte man ihn für einen echten Russen halten. Dieser brillante Ingenieur kommt frisch von der Universität, da er dem Numerus clausus entgangen ist, der den zulässigen Anteil der Juden auf drei Prozent beschränkte. Er will am großen Abenteuer des Fortschritts teilhaben und hat ehrgeizige Ziele für sein Land und sein Volk, das russische, dessen Revolution auch die seine ist.

Jude zu sein, hat für Ephraïm keine Bedeutung. Er sieht sich in erster Linie als Sozialist. Im Übrigen lebt er in Moskau auf Moskauer Art. Er stimmt der Heirat in der Synagoge nur zu, weil sie seiner zukünftigen Frau etwas bedeutet. Aber er warnt Emma:

„Wir werden unser Leben nicht an religiösen Vorschriften ausrichten.“

Die Tradition verlangt, dass der Bräutigam bei seiner Hochzeit am Ende der Zeremonie mit dem rechten Fuß ein Glas zertritt. Die Geste erinnert an die Zerstörung des Jerusalemer Tempels. Danach kann der Bräutigam einen Vorsatz fassen. Ephraïm gelobt sich, die Erinnerung an seine Cousine Aniouta für immer auszulöschen. Doch als er auf die am Boden verstreuten Glasscherben blickt, ist ihm, als läge dort sein Herz in tausend Scherben.


Kapitel 2

An jenem Freitag, dem 18. April 1919, reist das Brautpaar aus Moskau zur Datscha von Nachman und Esther Rabinovitch, Ephraïms Eltern, fünfzig Kilometer außerhalb der Hauptstadt. Ephraïm hat sich nur deshalb bereit erklärt, Pessach, das jüdische Osterfest, zu feiern, weil sein Vater in einem ungewöhnlichen Tonfall darauf bestanden hat und seine Frau schwanger ist. Er will die Gelegenheit nutzen, seinen Brüdern und Schwestern die gute Nachricht zu verkünden.

 

„Emma ist mit Myriam schwanger?“

„Ganz genau, mit deiner Großmutter …“

 

Unterwegs vertraut Ephraïm seiner Frau an, dass er Pessach immer besonders gemocht hat. Als Kind liebte er die geheimnisvollen Rituale dieses Festes, die bitteren Kräuter, das Salzwasser und die Äpfel mit Honig, die auf einem großen Teller in die Mitte des Tisches gestellt wurden. Er liebte es, wenn sein Vater ihm erklärte, dass die Süße der Äpfel die Juden daran erinnern sollte, wie sehr man sich vor Bequemlichkeit hüten muss.

„In Ägypten“, so betonte Nachman, „waren die Juden Sklaven, das heißt: Sie erhielten Unterkunft und Verpflegung. Sie hatten ein Dach über dem Kopf und Essen in der Hand. Verstehst du? Die Freiheit hingegen ist ungewiss. Zur Freiheit gelangt man unter Schmerzen. Das Salzwasser, das wir am Pessach-Abend auf den Tisch stellen, symbolisiert die Tränen derer, die ihre Ketten abwerfen. Und diese bitteren Kräuter erinnern uns daran, dass es grundsätzlich beschwerlich ist, als freier Mensch zu leben. Hör mir gut zu, mein Sohn, sobald du den Honig auf deinen Lippen spürst, frage dich: Von was oder wem bin ich der Sklave?“

Ephraïm weiß, dass seine revolutionäre Seele dort geformt wurde, durch die Erzählungen seines Vaters.

 

Als er an jenem Abend zu seinen Eltern nach Hause kommt, eilt er in die Küche, um den eigenartigen faden Geruch der Matzen zu riechen, der ungesäuerten Brotfladen, die Katerina, die alte Köchin, zubereitet hat. Ergriffen nimmt er ihre runzlige Hand, um sie auf den Bauch seiner jungen Frau zu legen.

„Schau ihn dir an“, sagt Nachman zu Esther, die die Szene beobachtet. „Unser Sohn ist stolz wie ein Kastanienbaum, der den Spaziergängern all seine Früchte zeigt.“

 

Die Eltern haben alle Rabinovitch-Cousins der Nachman-Linie und alle Frant-Cousins der Esther-Linie eingeladen. Warum so viele Leute, fragt sich Ephraïm und wiegt ein silbernes Messer in der Hand, das so glänzt, weil es sorgfältig mit Kaminasche poliert wurde.

„Haben sie die Gavronskis auch eingeladen?“, fragt er besorgt seine jüngere Schwester Bella.

„Nein“, antwortet sie, ohne zu verraten, dass die beiden Familien sich darauf geeinigt haben, eine Begegnung zwischen Cousine Aniouta und Emma zu vermeiden.

„Aber warum haben sie dieses Jahr so viele Cousins versammelt …? Haben sie uns etwas mitzuteilen?“, bohrt Ephraïm weiter und zündet sich eine Zigarette an, um seine Verwirrung zu verbergen.

„Ja, aber frag mich bitte nichts weiter. Ich darf vor dem Abendessen nicht darüber sprechen.“

 

Am Pessach-Abend ist es Tradition, dass der Patriarch die Haggada vorliest, also die Erzählung über den Auszug des hebräischen Volkes aus Ägypten unter der Führung von Moses. Nach den Gebeten erhebt sich Nachman und schlägt mit der flachen Seite des Messers an sein Glas.

„Wenn ich heute Abend diese letzten Worte des Buches so sehr betone“, sagt er, an den ganzen Tisch gewandt, „baue Jerusalem, die Stadt, schnell in unseren Tagen und lass uns hinaufsteigen, dann deshalb, weil ich als Familienoberhaupt die Aufgabe habe, euch zu unterrichten und es euch zu verkünden.“

„Uns was zu verkünden, Papa?“

„Dass es Zeit ist zu gehen. Wir müssen alle das Land verlassen. So schnell wie möglich.“

„Das Land verlassen?“, fragen seine Söhne.

Nachman schließt die Augen. Wie soll er seine Kinder überzeugen? Wie die richtigen Worte finden? Es ist, als hinge ein beißender Geruch in der Luft, gleich einem kalten Wind, der baldigen Frost ankündigt, es ist unsichtbar, fast nichts, und doch ist es da, zuerst ist es in seine Albträume zurückgekehrt, Albträume, die von Erinnerungen an seine Jugend durchwoben waren, als man ihn in manchen Weihnachtsnächten mit den anderen Kindern hinterm Haus versteckte, weil betrunkene Männer kamen, um das Volk zu bestrafen, das Christus getötet hatte. Sie brachen in die Häuser ein, um die Frauen zu vergewaltigen und die Männer zu töten.

Diese Gewalt zügelte Zar Alexander III., als er den staatlichen Antisemitismus mit den Maigesetzen verschärfte, welche die meisten Freiheiten der Juden einschränkten. Nachman war noch ein junger Mann, als ihnen mit einem Mal alles verboten war. Sie durften die Universität nicht besuchen, nicht von einer Gegend in die andere reisen, ihren Kindern keine christlichen Vornamen geben und nicht ins Theater gehen. Da das Volk mit diesen erniedrigenden Maßnahmen zufrieden war, wurde etwa dreißig Jahre lang weniger Blut vergossen. Nachmans Kinder kannten also nicht die Angst vor dem 24. Dezember, wenn sich die Meute mit Mordlust vom Tisch erhebt.

Doch seit einigen Jahren hatte Nachman wieder den Geruch von Schwefel und Fäulnis in der Nase. Die Schwarzhunderter, eine rechtsradikale monarchistische Gruppe, angeführt von Vladimir Pourishkévitsh, machte sich im Hintergrund bereit. Dieser ehemalige Höfling des Zaren gründete seine Thesen auf der Idee einer jüdischen Verschwörung. Er wartete auf seine Stunde der Rückkehr. Und Nachman glaubte nicht daran, dass diese brandneue Revolution, angeführt von ihren Kindern, den alten Hass vertreiben würde.

„Ja. Fortgehen. Meine Kinder, hört mir gut zu“, sagt Nachman ruhig: „S’shtinkt shlekht drek – es stinkt nach Scheiße.“

Bei diesen Worten verstummen die auf den Tellern klappernden Gabeln. Die Kinder hören auf, durcheinanderzureden, es wird still. Nachman kann endlich sprechen.

„Ihr seid fast alle frisch verheiratet. Ephraïm, du wirst bald zum ersten Mal Vater. Ihr habt Schwung, ihr habt Mut – das ganze Leben liegt noch vor euch. Jetzt ist es an der Zeit, die Koffer zu packen.“

Nachman dreht sich zu seiner Frau um und drückt ihre Hand: „Esther und ich haben beschlossen, nach Palästina zu gehen. Wir haben ein Stück Land in der Nähe von Haifa gekauft. Dort werden wir Orangen anbauen. Kommt mit uns. Dann werde ich dort Grund und Boden für euch kaufen.“

„Aber Nachman, willst du dich wirklich im Lande Israel niederlassen?“

Niemals hätten sich die Rabinovitch-Kinder so etwas vorstellen können. Vor der Revolution gehörte ihr Vater der Ersten Kaufmannsgilde an, das heißt, er war einer der wenigen Juden, die sich frei im Land bewegen durften. Es war ein unerhörtes Privileg, dass Nachman in Russland wie ein Russe leben konnte. Er hat sich einen guten Platz in der Gesellschaft erarbeitet, den er nun aufgeben will, um ans andere Ende der Welt zu emigrieren, in ein Wüstenland mit unwirtlichem Klima, um dort Orangen anzubauen? Was für eine seltsame Idee! Wo er doch nicht mal eine Birne schälen kann ohne die Hilfe der Köchin!

Nachman nimmt einen kleinen Bleistift und feuchtet ihn mit spitzen Lippen an. Er lässt den Blick über seine Nachkommenschaft schweifen und setzt hinzu:

„Also gut. Ich werde um den Tisch die Runde machen. Und aufgepasst, ich verlange, dass jeder Einzelne von euch mir ein Ziel nennt. Ich werde für jeden eine Schiffspassage kaufen. Ihr verlasst das Land innerhalb der nächsten drei Monate, ist das klar? Bella, ich fange bei dir an, das ist einfach, du kommst mit uns. Ich notiere also: Bella, Haifa, Palästina. Ephraïm?“

„Ich warte, bis meine Brüder sich geäußert haben“, antwortet Ephraïm.

„Ich würde gern nach Paris gehen“, sagt Emmanuel, der Jüngste unter den Geschwistern, und wippt lässig mit seinem Stuhl.

„Paris, Berlin und Prag meidet ihr besser“, antwortet Ephraïm ernst. „In diesen Städten sind die guten Plätze seit Generationen besetzt. Ihr werdet dort nicht Fuß fassen können. Man wird euch entweder für zu brillant oder für nicht brillant genug halten.“

„Da mache ich mir keine Sorgen, ich habe dort schon eine Verlobte, die auf mich wartet“, antwortet Emmanuel, um den ganzen Tisch zum Lachen zu bringen.

„Mein armer Sohn“, ereifert sich Nachman, „du wirst ein Leben wie ein Schwein führen. Dumm und kurz.“

„Ich sterbe lieber in Paris als am Arsch der Welt, Papa!“

„Ohhhhh“, antwortet Nachman und wedelt drohend mit der Hand vor seinem Gesicht. „Yeder nar iz klug un komish far zikh: Jeder Dummkopf hält sich für lustig und schlau. Ich meine es wirklich ernst. Los, weiter. Wenn ihr nicht mit mir kommen wollt, versucht euer Glück in Amerika, das dürfte auch gut funktionieren“, fügt er seufzend hinzu.

Cowboys und Indianer. Amerika. Nein danke, denken die Rabinovitch-Kinder. Die Landschaften sind zu verschwommen. Bei Palästina wissen wir wenigstens, wie es aussieht, denn es steht in der Bibel: ein Haufen Steine.

„Schau dir das an“, sagt Nachman zu seiner Frau. „Eine Bande Koteletts mit Augen, könnte man meinen! Denkt mal ein bisschen nach! In Europa werdet ihr nichts finden. Nichts. Nichts Gutes jedenfalls. Während ihr in Amerika, in Palästina, leicht Arbeit bekommen werdet!“

„Papa, du sorgst dich immer wegen nichts. Das Schlimmste, was dir hier passieren kann, ist, dass dein Schneider Sozialist wird!“

Und tatsächlich, wenn man Nachman und Esther da nebeneinandersitzen sieht wie zwei kleine Kuchen in der Vitrine eines Konditors, fällt es schwer, sie sich als Farmer einer neuen Welt vorzustellen. Sie halten sich gerade, sind tadellos zurechtgemacht. Esther achtet trotz ihrer weißen, zu einem niedrigen Dutt gesteckten Haare immer noch sehr auf ihr Äußeres. Sie verschmäht weder Perlenreihen noch Kameen. Nachman trägt stets seine berühmten Dreiteiler, die er sich bei den besten französischen Couturiers von Moskau machen lässt. Sein Bart ist weiß wie Watte, und sein besonderer Geschmack zeigt sich in den gepunkteten Krawatten, die er passend zu seinen Taschentüchern wählt.

Verärgert über seine Kinder, steht Nachman vom Tisch auf. Die Ader an seinem Hals ist so stark geschwollen, dass sie droht, Esthers schöne Tischdecke vollzuspritzen. Er muss sich hinlegen, um sein rasendes Herz zu beruhigen. Bevor Nachman das Esszimmer verlässt, bittet er alle, gut nachzudenken, und schließt mit den Worten:

„Ihr müsst eines begreifen: Irgendwann werden sie alle wollen, dass wir verschwinden.“

Nach diesem theatralischen Abgang geht es am Tisch mit fröhlichen Gesprächen bis spät in die Nacht weiter. Emma setzt sich ans Klavier und rückt wegen ihres Bauches den Hocker ein wenig ab. Die junge Frau ist Absolventin des renommierten Nationalen Musikkonservatoriums. Dabei wäre sie gerne Physikerin geworden. Wegen des Numerus clausus war ihr das jedoch nicht vergönnt. Sie hofft von ganzem Herzen, dass das Kind, das in ihr heranwächst, in einer Welt leben wird, in der es sein Studium frei wählen kann.

Zum sanften Klang der Musikstücke, die seine Frau im Wohnzimmer spielt, unterhält sich Ephraïm mit seinen Brüdern und Schwestern am Kaminfeuer über Politik. Dieser Abend ist so angenehm, die Geschwister sind sich einig und machen sich dabei auf nette Art über den Patriarchen lustig. Die Rabinovitchs ahnen nicht, dass dies die letzten Stunden sein sollen, in denen sie alle zusammen sind

01. Oktober 2019
Bücher, die man gelesen haben muss
Was soll man lesen? Denis Scheck, vielfach ausgezeichnete Literaturkritiker, beantwortet diese Frage in seinem Kanon.
29. März 2022
Bücher, die glücklich machen
Happy Reading: Wir haben die besten Bücher zusammengestellt, die uns glücklich machen. Diese Geschichten verzaubern und zeigen den Weg zu einem glücklichen Leben.

Lesetipps von leidenschaftlichen Bücherfreund:innen

Sie haben gerade einen tollen Roman ausgelesen und brauchen schnell Nachschub? Oder Sie suchen ein wirklich gutes Buch zum Verschenken? Lassen Sie sich von unseren Buchempfehlungen für jeden Geschmack und jedes Interesse inspirieren.  Unsere „Experten“ sind allesamt Menschen, die ihr Hobby Lesen zum Beruf gemacht haben, eine fundierte Bücherkenntnis besitzen und in jedem Genre zuhause sind.

Sie finden hier beispielsweise Rezensionen für Romane, Sachbücher sowie Buchempfehlungen für 2024.

Freuen Sie sich auf spannende Neu-Entdeckungen und Bestseller, die wir eigens für Sie auswählen. So geht Ihnen der Lesestoff niemals aus! 

Kommentare

Kommentieren Sie diesen Beitrag:

Mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtangaben und müssen ausgefüllt werden.