Bücher über China
Sie haben viele Jahre in China gelebt. Wie hat sich das Land in dieser Zeit verändert?
Ich war das erste Mal 1986 als Student ein Jahr im nordchinesischen Xi’an, da hatte Mao Zedongs Nachfolger Deng Xiaoping seine Reformen gerade begonnen. Von 1997 an habe ich als Korrespondent für die Süddeutsche Zeitung dort gelebt und gearbeitet. In all den Jahren ist ein Wirbelsturm des Wandels durch China gezogen, der hat Land und Volk gleich mehrfach von den Füßen auf den Kopf und dann wieder vom Kopf auf die Füße gestellt. Mehr als 30 Jahre Reform und Öffnung haben dabei viel Konfusion und viel Absurdes hervor gebracht, vor allem aber haben sie Chinas Städter so wohlhabend gemacht wie nie, und ihnen im Wirtschaftlichen und im Privaten auch Freiheiten gebracht, die sie früher nie gekannt hatten.
Der seit sechs Jahren amtierende Partei- und Staatschef Xi Jinping nun leitet erneut eine neue Ära ein. Er macht Schluss mit dem China, das wir die letzten drei, vier Jahrzehnte kannten. Er macht viele der Reformen Dengs rückgängig, er bringt Ideologie und Personenkult zurück, Zensur und Repression sind unter ihm so scharf wie seit Jahrzehnten nicht. Geistig und intellektuell schottet er China wieder ab von der Außenwelt, gleichzeitig will er die leninistische Diktatur mit einem digitalen Update für die Zukunft krisenfest machen. Es ist ein Paradox: Xi Jinping macht China wieder dicht - und will doch gleichzeitig mit diesem China als Großmacht ins Zentrum der Weltbühne marschieren.
Ist es möglich, echte und tiefe Freundschaften zu Chinesen aufzubauen – auch wenn man selbst kein Chinese ist und einen ganz anderen kulturellen Hintergrund hat?
Es ist nicht nur möglich – es ist für Fremde sogar um einiges einfacher als in den doch sehr zurückhaltenden und oft miesepetrigen Gesellschaften Mitteleuropas. Einfacher als in Deutschland auf jeden Fall. Weil die Chinesen ein sehr herzliches, neugieriges und offenes Volk sind, zumal, wenn man einmal die Sprachbarriere überwunden hat. Meine besten Freunde leben in Peking. Freunde sind das, mit denen ich die Irrungen der Liebe ebenso belacht und beweint habe wie die Wirrungen der Kommunistischen Partei. Und wenn mich bei meinem Abschied von China nun etwas mit Wehmut erfüllt, dann sind das zwei Dinge: Der Abschied von diesen Freunden. Und der Abschied vom chinesischen Essen. Himmel!
China erfindet die Diktatur neu und macht sich dabei unter anderem die digitalen Medien zu nutze. Können Sie uns erzählen, wie China Big Data und künstliche Intelligenz nutzen will, um die totale Kontrolle über die Bevölkerung zu erlangen?
China stürzt sich mit einer Leidenschaft und mit einer Wucht in die Digitalisierung aller Lebensbereiche wie im Moment kein zweites Land auf der Welt. Die Partei betreibt dieses Unterfangen aus mehreren Gründen: Sie verspricht sich einen Innovations- und Modernisierungsschub für die Wirtschaft. Gleichzeitig erhofft sie sich vor allem von der Künstlichen Intelligenz Krisensteuerungsmechanismen, die nicht nur Finanzwelt und Wirtschaft, sondern auch den politischen Apparat widerstandsfähig machen sollen gegen alle Arten von Herausforderungen. Letztlich hofft sie, die Zauberwaffen gefunden zu haben, mit denen sie ihr eigentliches hoffnungslos anachronistisches politisches System - den nun auch schon ein Jahrhundert alten Leninismus - in die Zukunft katapultieren kann.
Den Traum von der lückenlosen und totalen Überwachung und Kontrolle der Untertanen träumen Autokraten seit jeher, die KP glaubt ihn nun mit den Informationstechnologien des 21. Jahrhunderts verwirklichen zu können. Ein wichtiger KP-Funktionär schrieb im KP-Blatt Wahrheitssuche, die Partei müsse mithilfe von Big Data "eine vollständige Sammlung von grundlegenden Informationen über alle Orte, alle Sachen, alle Angelegenheiten und alle Menschen anlegen: von den Trends und Informationen darüber, was sie essen, wie sie wohnen, wohin sie reisen und was sie konsumieren“. Wenn die Partei dann einmal alles über alle weiß, dann, so freute sich ein Pekinger Minister, werde ihr das helfen, „schon im Voraus zu wissen, wer ein Terrorist sein und wer Böses im Schilde führen könnte“. Am besten schon bevor der Betreffende das selbst überhaupt weiß.
Das Etikett des „Totalitarismus“ ist eine, mit dem China von Kritikern immer wieder belegt wurde, in den den letzten Jahrzehnten allerdings zu Unrecht: Der chinesische Staat war nur während einiger Jahre unter Mao Zedong ein totalitärer, also einer, der noch in die Schlafzimmer seiner Untertanen vordrang und unter der Bettdecke schnüffelte, einer, der in die letzten Winkel ihrer Gehirne einzudringen suchte. Nach Mao blieb China ein autoritärer Staat, es war immer eine Diktatur - und zwar eine, die sich in ihrer Staatsverfassung selbst stolz so nennt -, es war aber kein totalitärer Staat mehr, im Gegenteil: Partei und Staat zogen sich vielerorts zurück und gestatteten der Gesellschaft kleine Freiräume. Wenn die Hi-Tech- Pläne der KP nun allerdings Wirklichkeit werden, dann dürfen wir in China die Rückkehr des Totalitarismus im digitalen Gewande beobachten: Jeder Schritt, jeder Atemzug und jeder Gedanke eines jeden Untertanen wird einfließen in die Datensammelsysteme des Apparats. Alles wird in Echtzeit aufgezeichnet, ausgewertet und sanktioniert.
Was bedeutet die Veränderung Chinas für den Westen?
Dass wir endlich die Augen aufreißen und sehen müssen, was da geschieht. In Deutschland und Europa reden die Menschen noch immer vor allem über Russland - dabei wird China die viel größere Herausforderung für uns sein. China kommt mit großer Macht zurück in die Welt, und am Steuerrad stehen ein KP-Chef und eine Partei, die die liberalen Demokratien des Westens intern wieder als ideologischen Feind bezeichnen. Der Wettbewerb der Systeme ist zurück, Xi möchte der Welt die „Weisheit Chinas“ schenken, wie er es nennt. Übersetzt heißt das: Er möchte den Normen und Werten der KP Chinas in der Welt Gültigkeit verschaffen, letztlich strebt Chinas KP eine neue internationale Ordnung nach ihrem Geschmack an. So wie die USA Jahrzehnte lang versucht hatten, die Welt für die Demokratie sicher zu machen, so versucht die KP nun, die Welt für ihre Diktatur zu einer sicheren zu machen.
Gleichzeitig lohnt der Blick nach China, weil dort in atemberaubenden Tempo Big-Data- und Künstliche-Intelligenz-Träume Wirklichkeit werden. Grundsätzlich gilt: Alles, was möglich ist, wird gemacht. Was eben noch Science Fiction war, China holt es in die Realität. Ohne Schutz der Privatsphäre, ohne gesellschaftliche Debatte, ohne gesetzliche Beschränkungen. Das ist deshalb auch für uns spannend, weil viele der Datensammel- und Überwachungsträume der KP im Westen ja mehr oder weniger heimlich ebenso geträumt werden, hier vor allem von der Wirtschaft, von den großen IT- und Internetfirmen wie Google, Facebook oder Amazon. Ein Blick nach China - unser „black mirror“, unser schwarzer Spiegel - kann da ernüchternd wirken: Wollen wir uns wirklich in eine solche Gesellschaft verwandeln?
Trump setzt gegenüber China auf Konfrontation. Hat das Auswirkungen auf das Verhältnis von uns Europäern zu China?
Im Moment bedeutet das ganz konkret, dass Peking zu den großen europäischen Staaten so freundlich ist wie schon seit Jahren nicht mehr. Trump macht die KP hochgradig nervös. Sie hat dem Volk einen „chinesischen Traum“ versprochen - nämlich die Wiedergeburt Chinas als Supermacht. Und dafür braucht sie noch immer Know-How und Technologie aus dem Westen. Nach dem Dahinscheiden des Kommunismus als Ideologie ist das ungebrochene Wirtschaftswachstum Chinas, also das Wohlstandsversprechen an die städtische Mittelschicht ein zentraler Pfeiler der Legitimation der KP. Die KP weiß, dass kaum ein Land so sehr von Globalisierung und Welthandel profitiert hat wie China, also geht sie auf die Europäer zu und versucht, zu retten, was zu retten ist. Die Europäer ihrerseits teilen viele von Trumps Klagen über Chinas unfaire Handelspraktiken und Technologieklau, gleichzeitig aber sind sie davon überzeugt, dass der zerstörerische Weg des US-Präsidenten der falsche ist. Es gibt also durchaus Anknüpfungspunkte zwischen China und Europa.
Kann man die chinesische Diktatur kritisieren und gleichzeitig miteinander Handel treiben – oder schließt sich das aus?
Klar kann man das. China einbinden, China der Welt aussetzen kann keine schlechte Sache sein. Chinesische Firmen, die wir mit unseren Regeln vertraut machen, junge Chinesen, die unsere Universitäten kennenlernen. Allerdings sollten wir China, oder vielmehr: der KP Chinas nicht mehr so grenzenlos naiv begegnen wie die letzten Jahrzehnte. „Wandel durch Handel“ war jahrzehntelang der Slogan all jener, die daraufsetzten, China werde automatisch schon irgendwie so wie wir: Zuerst sollte der Kapitalismus Chinas autoritäres System unterwandern, dann das Internet. Heute müssen wir aufpassen, dass am Ende nicht China den Kapitalismus unterwandert und das Internet dazu. Wenn auf einmal die Presseabteilung von Daimler Erklärungen zum Dalai-Lama verschickt im Duktus der Kommunistischen Partei, dann müssen die Alarmglocken läuten. Wir müssen uns auf China einlassen - aber wir müssen dies tun mit offenen Augen: in Kenntnis um die innere Verfasstheit dieses Systems und seine Absichten. In Peking regiert eine leninistische Diktatur, die den Westen zunehmend als ideologischen Feind sieht, und die sich nicht scheut, auch verdeckt bei uns Einfluss zu nehmen: in Medien, Universitäten, Think-Tanks, Unternehmen und in der Politik, etwa durch die gezielte Spaltung Europas bei allen Themen, die Peking wichtig sind.
Letztlich wird es darauf ankommen, dass die westlichen Demokratien herausfinden aus ihrer Verzagtheit, die aus der Ferne betrachtet noch irritierender wirkt, weil die Stärken und Vorzüge des demokratischen Systems aus dem Inneren eines autokratisch regierten Staates heraus betrachtet geradezu leuchtend offenkundig sind. Dass der Westen Schluss machen mit seiner lemminghaften Selbstdemontage. Dass Europa wieder zueinander und zu neuer Stärke findet. Und dass ein jeder von uns jeden Tag und jede Stunde einsteht für die Werte der Demokratie. Es wird darauf ankommen, dass wir endlich den Arsch hochkriegen.

Kai Strittmatter, Jahrgang 1965, studierte Sinologie in München, Xi’an (Volksrepublik China) und Taipei (Taiwan). Für die Süddeutsche Zeitung wurde er 1997 Korrespondent in China. Nach einem Intermezzo in der Türkei (2005-2012) arbeitet er seit 2012 wieder für die SZ in Peking. Er ist Autor der „Gebrauchsanweisung für China“ und gilt als einer der besten China-Kenner Deutschlands.
Interview mit Stephan Orth
Warum haben Sie ausgerechnet China als Ziel für das dritte Couchsurfing-Buch ausgewählt?
Für mich ist China momentan das interessanteste Reiseland überhaupt. Nicht für einen Erholungsurlaub, und nicht wegen der Touristenattraktionen – sondern weil man nur vor Ort verstehen kann, was für eine unfassbare Entwicklung dieses Land durchmacht. In den nächsten Jahren werden wir mitbekommen, wie China seinen internationalen Einfluss immer stärker ausbaut. Ich finde es sehr wertvoll, selber einen Eindruck bekommen zu haben, wo das hinführen kann. Auch wenn es teilweise ziemlich beängstigend ist.
Ist die Sprachbarriere nicht ein riesiges Problem auf einer solchen Reise?
Ich hatte ein bisschen Chinesisch gelernt vorher, kann immerhin ein Bahnticket kaufen und Essen im Restaurant bestellen. Und die Couchsurfing-Gastgeber konnten zum Glück meistens gut Englisch, sie haben mir häufig als Übersetzer ausgeholfen. Ansonsten sind ein paar Übersetzungs-Apps Gold wert – und plötzlich merkt man, dass trotz aller Mentalitäts-Unterschiede die Träume und Wünsche der Menschen gar nicht so anders sind als bei uns.
Was haben Sie von Ihren chinesischen Gastgebern gelernt?
Ich habe den Eindruck, dass Chinesen viel stärker als Europäer akzeptieren, dass die Welt in einem ständigen Wandel begriffen ist. Einem Wandel, der sich in den letzten Jahren massiv beschleunigt hat. Bei uns wünscht man sich, dass einige Dinge sich gemächlich verbessern, aber größtenteils doch alles beim Alten bleibt. In China dagegen haben die Leute begriffen, dass Veränderung ein Naturzustand ist – sie rebellieren nicht dagegen, sondern versuchen, das Beste daraus zu machen.
China wird das 21. Jahrhundert prägen wie kaum ein anderes Land – und ist gleichzeitig für viele Menschen ein Mysterium. Deutschlands bekanntester Couchsurfer Stephan Orth bricht auf, um drei Monate lang bei Einheimischen zu wohnen und zu verstehen, was die Chinesen antreibt und bewegt. Er reist vom Spielerparadies Macau bis an die nordkoreanische Grenze und von der Finanzmetropole Shanghai bis in die Krisenprovinz Xinjiang.
Zwischen Digitalwelt und Realwelt, zwischen null und 4700 Höhenmetern, zwischen Hightech-Städten und einfachen Dörfern sucht er nach Wahrheiten über das Reich der Mitte. Er tritt beinahe einer verbotenen Sekte bei, übernachtet in einem Atelier voller regimekritischer Kunstwerke und erlebt als Stargast einer Fernsehsendung, wie Zensur funktioniert. Mit jedem neuen Abenteuer, mit jedem Gespräch mit seinen Gastgebern entsteht ein konkreteres Bild davon, wie die Menschen den beispiellosen Aufstieg ihres Landes erleben. Und plötzlich wirkt das schwer durchschaubare China viel weniger fremd, als man vermutet hätte.
Kommentare
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