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Wir sind dann wohl die AngehörigenWir sind dann wohl die Angehörigen

Wir sind dann wohl die Angehörigen

Johann Scheerer
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Die Geschichte einer Entführung

„Es ist in höchstem Maße spannend, obwohl wir wissen, wie es ausgeht.“ - Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln

Alle Pressestimmen (14)

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Wir sind dann wohl die Angehörigen — Inhalt

Johann Scheerer erzählt auf berührende und mitreißende Weise von den 33 Tagen um Ostern 1996, als sich sein Vater Jan Philipp Reemtsma in den Händen von Entführern befand, das Zuhause zu einer polizeilichen Einsatzzentrale wurde und kaum Hoffnung bestand, ihn lebend wiederzusehen.

„Es waren zwei Geldübergaben gescheitert und mein Vater vermutlich tot. Das Faxgerät hatte kein Papier mehr, wir keine Reserven, und irgendwo lag ein Brief mit Neuigkeiten.“ Wie fühlt es sich an, wenn einen die Mutter weckt und berichtet, dass der eigene Vater entführt wurde? Wie erträgt man die Sorge, Ungewissheit, Angst und die quälende Langeweile? Wie füllt man die Tage, wenn jederzeit alles passieren kann, man aber nicht mal in die Schule gehen, Sport machen, oder Freunde treffen darf? Und selbst Die Ärzte, Green Day und die eigene E-Gitarre nicht mehr weiterhelfen?

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 11.01.2021
240 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31499-2
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€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 01.03.2018
208 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99106-3
Download Cover
„Scheerers berührendes Buch lässt sich als zeitgeschichtliches Dokument dieses Verbrechens lesen oder als Coming-of-Age-Roman. Eine Liebeserklärung an den Vater bleibt es immer.“
NZZ am Sonntag (CH)
„Das ist berührend, das geht einem nah, das ist ein ganz neuer Blick auf die Reemtsma-Entführung.“
FAZ
„Seine Erinnerungen in Romanform sind nicht nur ein Versuch die bis heute andauernde Sprachlosigkeit in seiner Familie zu überwinden, sie sind auch eine berührende Geschichte über das Erwachsenwerden.“
WDR 3

Leseprobe zu „Wir sind dann wohl die Angehörigen“

28.4.1996 New York, Central Park

Die Eisbahn ist voll, die Vögel zwitschern, der Frühling liegt in der Luft, aber wir können die Schönheit nicht erkennen. Nicht spüren. Nicht genießen. Wir sind nicht hier, weil wir etwas erleben wollen. Wir können nicht nach Hause. Die Journalisten vor, hinter und über unserem Haus, in Autos und Hubschraubern, die Berichte auf den Titelblättern sämtlicher deutschen Zeitungen. In Deutschland können wir jetzt nicht sein.

Noch Wochen nach unserer Rückkehr nach Hamburg würden sie nach Benni rufen, damit ich mich auf unseren [...]

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28.4.1996 New York, Central Park

Die Eisbahn ist voll, die Vögel zwitschern, der Frühling liegt in der Luft, aber wir können die Schönheit nicht erkennen. Nicht spüren. Nicht genießen. Wir sind nicht hier, weil wir etwas erleben wollen. Wir können nicht nach Hause. Die Journalisten vor, hinter und über unserem Haus, in Autos und Hubschraubern, die Berichte auf den Titelblättern sämtlicher deutschen Zeitungen. In Deutschland können wir jetzt nicht sein.

Noch Wochen nach unserer Rückkehr nach Hamburg würden sie nach Benni rufen, damit ich mich auf unseren täglichen Spaziergängen nach ihnen umdrehte, unter der Kapuze hervorlugte und sie ein Foto schießen konnten. Keine Fragen, kein Verstehenwollen, keine Kommentare. Nur ein Pfiff, ein Blick und ein Klicken. Erst mal sollte New York uns davor schützen. Uns durchatmen lassen.

Wir atmen die Luft des Parks, hören die Menschen, spüren aber die Stadt nicht. Wie fühlt es sich an, wenn man nichts fühlt? Registrieren wir, dass die Sonne scheint? Dass wir dort leben, wo andere Urlaub machen? New York – für viele ein Traum, für uns nur eine Kulisse, durch die wir miteinander gehen, ohne uns zu begreifen.

Mein Vater ist nicht sicher auf seinen Füßen, die sich während der letzten 33 Tage immer nur zwei Meter vor und zurück an einer Kette in einem Keller bewegen konnten. Meine Mutter stützt ihn am linken Arm, ich am rechten. So gehen wir durch den Park, in dem uns keiner kennt und niemand etwas von uns weiß, und versuchen herauszufinden, ob wir noch wissen, wer wir sind, ob mein Vater noch vollständig ist und wir noch die sind, von denen er sich am 24. März verabschiedete. „Ich geh noch mal kurz rüber . . .“

 

Ich wollte nicht nach New York, ich wollte nach Hause. Man hatte mir meinen Vater entrissen, unser Zuhause angegriffen, und dann gab es diese Idee, erst einmal wegzubleiben. Ich wäre am liebsten einfach zurückgekehrt in mein altes Leben, in unser Zuhause, das noch nicht zerstört war von diesen langen, zehrenden fünf Wochen.

New York. Die Stadt der Albträume. Ein Fluchtkurort.

„Nach New York? Na toll – dann werden wir da alle drei entführt!“

Ich hatte Angst vor einem weiteren Schritt ins Unbekannte, ins Unberechenbare. Ich sehnte mich nach der Normalität, die mir genommen worden war. Sollte es nie mehr werden, wie es vorher war? Von hier aus, das spürte ich, führte jedenfalls kein Weg zurück.

 

Eine Pferdekutsche trabt vorbei. Mein Vater zuckt zusammen und erstarrt. Saugt die Luft ein, als wäre er die letzten Wochen unter Wasser gewesen und gerade erst in diesem Moment aufgetaucht, und doch scheint die Luft sein Gesicht, seinen ganzen Körper verkrampfen zu lassen. Das Kettenrasseln der Kutsche geht ihm durch Mark und Bein. Ein Griff meiner Mutter unter seine Achsel, um seinen Arm, ihr Blick zu mir. Für ein paar Sekunden sehen wir einander an, wissen, was der andere denkt, wissen, was der andere fühlt. Kurz wieder verbunden im Schmerz der Ungewissheit, der Erinnerung, der Angst.

Sein Blick nur starr geradeaus.

 

 

Meine Mutter öffnete die Tür und betrat, energischer als sonst, mein Zimmer. Hatte mein Wecker schon geklingelt? Normalerweise weckte mich meine Mutter nicht mehr. Ich überlegte kurz, ob es mir unangenehm sein sollte, dass sie so unangekündigt hereinkam, war aber zu müde und ließ die Augen geschlossen und meine Gefühle im Dämmerschlaf. Ohne ein Wort lief sie die paar Schritte zum halb geöffneten Fenster und zog die Vorhänge auf.

Vogelgezwitscher.

Hätte ich gewusst, dass diese Frühlingsatmosphäre, dieser Klang der erwachenden Vögel, gepaart mit den ersten vorsichtigen Sonnenstrahlen des Jahres, bis heute eine Art wiederkehrenden Soundtrack, einen Schlüsselreiz meiner Erinnerung darstellen wird, hätte ich meine Mutter bestimmt gebeten, das Fenster zu schließen und die Vorhänge zuzuziehen, bevor sie sich zu mir ans Bett setzte.

Ich tat, als ob ich noch schliefe, ließ sie meinen Rücken streicheln und genoss die paar Sekunden, die ich noch hatte, bevor ich mich anziehen und in die Schule musste. Ich war Ende des vergangenen Jahres dreizehn geworden, Körperlichkeit zwischen meinen Eltern und mir war selten. Der Dämmerschlaf dieser morgendlichen Augenblicke erlaubte es mir, mich nicht gegen die Hand meiner Mutter zu wehren. Langsam kamen die Gedanken.

Eine Lateinarbeit, für die ich mit meinem Vater die Tage zuvor noch gelernt hatte, stand an. Latein lernen mit meinem Vater. Er war nicht der Geduldigste, ich nicht der Begabteste und diese Kombination nicht die beste. Ich sog den Geruch des Kissens ein, streckte mich ein wenig, versuchte, mir die Geborgenheit des Betts, die Besonderheit dieses Moments zu bewahren.

„Johann, ich muss dir etwas sagen.“ Der Klang der Stimme meiner Mutter war nicht wie sonst.

Ich kannte diesen Eröffnungssatz von früheren Situationen. Er verhieß nichts Gutes. Das war mir schlagartig klar. Behutsam schien meine Mutter den nächsten Satz vorbereiten zu wollen.

„Wir müssen jetzt gemeinsam ein Abenteuer bestehen. Jan Philipp ist entführt worden. Die Entführer wollen zwanzig Millionen Mark. Die Polizei hat einen Krisenstab eingerichtet. Christian Schneider ist auf dem Weg hierher. Ich weiß ganz sicher, dass es gut ausgehen wird, aber bis dahin wird es schwer für uns werden.“

 

Es war der 25. März 1996, es war Frühling, und mein Leben sollte von da an ein anderes sein. Es sollte keinen unbeschwerten Frühling mehr für mich geben, kein Vogelgezwitscher ohne diesen Satz in meinem Kopf, ohne meinen ersten Gedanken an die Lateinarbeit, die ich hätte schreiben sollen und die ich, das war mir in diesem rasenden Chaos sofort klar, verpassen würde. Meine Mutter sah mich an, als wolle sie mit ihrem Blick in meinem Kopf die Gewissheit einbrennen, dass wir es schon schaffen würden, dass mein Vater nicht ermordet würde, dass alles – was auch immer das sein mochte – gut ausgehen werde.

 

Die Lateinarbeit. Das war der erste Gedanke, der mir kam. Erleichterung über die Möglichkeit, diesen Schultag zu umgehen, und eine Sekunde danach ein brennendes Feuer, als würde das gesamte Römische Reich in meinem Brustkorb lichterloh in Flammen stehen. Ein Gefühl, als ob mein Magen zerquetscht und meine Eingeweide zerrissen würden. Ein heißer Stich, der quer durch meinen Körper fuhr. Ein Gefühl, das mich und mit mir meine Mutter von diesem Planeten, aus dieser Galaxie zu katapultieren schien. Hinein in eine Welt, von der wir noch nicht mal wussten, ob wir dort würden atmen können.

Ich schämte mich in Grund und Boden, dass mein erstes Gefühl die Erleichterung darüber war, die Lateinarbeit nicht schreiben zu müssen. Es war so profan, unwichtig, absurd, so gemein und dumm, aber es war auch wahr. Mein Vater wurde entführt, und ich hatte erst mal keinen anderen Gedanken als den an die Lateinarbeit.

Warum war ich am Tag zuvor nur so genervt gewesen von meinem penetrant schlauen Vater? Das schlechte Gewissen sollte über Jahre anhalten. Wie wenig ich in diesen ersten Sekunden des Schocks meine Gefühle unter Kontrolle hatte. Von der Sekunde der Erleichterung herab zum Gefühl des rücklings Hinunterfallens ins bodenlose Schwarz des zwitschernden Frühlingserwachens.

 

Mein Vater wurde entführt. Ohne Fragezeichen. Krisenstab. Dieses Wort schien mir plötzlich gar nicht mehr wie ein Fremdkörper in meinem Leben.

Krisenstab: runder Tisch, Zigarettenrauch, Computer, Papiere, helles künstliches Licht in einem Raum tief unter der Erde. Und dort: Experten.

War keine schlechte Vorstellung. Kannte ich abstrakt aus Filmen. Wie abstrakt eigentlich? Ich erinnerte mich an den legendären „War Room“ mit rundem Tisch, Männern, ausschließlich Männern, die unter einer riesigen Neonröhren-Ellipse sitzen. Es würde sich noch zeigen, wie verdammt konkret meine Vorstellungen in diesen ersten Sekunden des Schocks waren und wie abstrus die Realität war.

Ich vergaß zu atmen. Bemerkte einen Druck in der Brust. Sog schnell Luft ein. Mir wurde kurz schwindelig. Meine Gedanken begannen zu rasen, um dann unvermittelt zu stoppen.

Ich war mir sicher, dass mein Vater sterben würde. Vielleicht sogar bereits gestorben war.

Genauer: ermordet. Zu Tode gefoltert oder, noch schlimmer: gefoltert, ohne bislang daran zu sterben. Gestorben zu sein.

Die Entführer werden das Geld bekommen, und dann werden sie ihn ermorden. So läuft das immer, wieso sollte es diesmal anders sein? Das Ende war also klar. Nur wie würde der Anfang sein?

 

Aus der spontanen Reaktion wurde wenige Tage später der Überlebensplan meiner Mutter und mir. Ohne Hoffnung, so der Plan, auch keine Enttäuschung. Vor allem durften wir uns nicht zu früh freuen. Es sollte keinen Raum für Enttäuschungen geben.

Doch weißt du, wie du Gott zum Lachen bringen kannst? Erzähl ihm deine Pläne.

 

Ich schrie. Meine Mutter hielt mich fest. „NEIN!! Nein. Nein. Nein. Nein.“

Vergrub mein Gesicht in den Kissen, um meine Gedanken zu dämpfen, mich von der Welt da draußen zu isolieren, zog die Knie zu meinem schmerzenden Bauch, in Kleinkindhaltung, und schrie, schrie, schrie. Drehte mich zu meiner Mutter, die versuchte, mich zu umarmen. Warf mich wieder auf den Bauch. Es durfte nicht sein! Es konnte nicht wahr sein.

Ein paar verzweifelte Tränen zwischen meiner Mutter und mir. Tränen, entstanden aus der Gewissheit, der unausweichlichen Situation, Tränen, die ich zurückhielt, nahezu in mich zurücksog, um die Angst unter Kontrolle zu halten. Ich musste dieses Abenteuer, wie es meine Mutter so kindgerecht wie möglich verpackt hatte, bestehen.

Mein Kopf übernahm bald die Kontrolle. Oder war es mein Körper, der die Kontrolle übernahm? War mein Körper ruhig, weil mein Kopf es ihm sagte, oder war es mein Kopf, der meinem Körper folgte?

Ich hatte vor Kurzem eine Dokumentation über Astronauten gesehen, die sich auf der MIR in einem lebensbedrohlichen Feuer befanden. Einer der Astronauten sagte, dass er zugesehen habe, wie sein Körper die richtigen Knöpfe drückte. Sein Kopf übernahm, steuerte den Rest des Körpers. Er konnte sich selbst zusehen. So entkörpert fühlte ich mich, nur dass ich kein erlerntes Programm abspulen konnte. Doch auch meine bekannte Welt war weit weg. Nun mussten wir irgendwie wieder dahin zurückfinden.

 

Es schien mir absurd. Mein Vater entführt? Warum? Zwanzig Millionen. Was war das für eine Zahl?

Meine Mutter hatte mit dem Finger über die Nullen fahren müssen, um die Zahl zu begreifen.

Wie ein Kind, das die Zahlen lernt. 2, 20, 200, 2000, 20 000, 200 000, 2 000 000, 20 000 000.

War das viel Geld? War es für uns viel Geld? Kannte meine Mutter die Antwort?

Nie zuvor hatte ich ernsthaft über Geld nachgedacht. Meine Eltern und ich hatten niemals darüber gesprochen. Es existierte nicht. Zumindest nicht in der Sphäre, die für mich als Kind erreichbar war.

Man sieht das Haus, nicht seinen Wert. Isst das Essen, ohne den Preis zu kennen. Fährt in den Urlaub, ohne zu fragen, was er kostet. Dass meine Eltern Geld hatten, war mir bewusst. Aber das war es auch schon. Ich hielt es, wie es mir meine Eltern vorlebten, ich kümmerte mich nicht darum. Ich verstand noch nicht, dass sie so viel Geld hatten, dass man darüber nicht mehr sprechen musste.

Mir wurde langsam schmerzlich klar, dass wir uns das Stillschweigen über Geld, das Ignorieren der Tatsache, dass wir uns in einer irgendwie exponierten Lage befanden, geleistet hatten. Und mir wurde klar, dass das Leben ohne Zäune, Kameras und Sicherheitspersonal gerade zusammengebrochen war.

Jemand hatte unsere Fahrlässigkeit ausgenutzt und alles zum Einstürzen gebracht.

 

Ich kannte die Geschichten meines Vaters, dessen Mutter ihn aus Angst vor Entführungen während seiner Schulzeit – er ging auf dieselbe Schule, auf die ich jetzt ging – immer chauffieren ließ. Ich wusste auch, wie sehr mein Vater das verabscheut hatte, und dass er sich, sobald er die Möglichkeit dazu hatte, dagegen wehrte und ebenso gegen nahezu alles, was seine Eltern ihm hinterließen. Nun hatte uns dieses Erbe Jahrzehnte später doch noch eingeholt.

 

„Was meinst du, wo Jan Philipp ist?“

Das war die Zwanzig-Millionen-Frage.

„Ganz sicher nicht weit weg!“, antwortete meine Mutter mit beruhigender Stimme und erklärte, dass die Entführer außerdem „nur“ Geld wollten. Die Art, wie der Erpresserbrief geschrieben war, schien darauf hinzudeuten, dass sie nicht aggressiv waren, sondern rational vorgingen.

Meine Mutter versuchte, ein Bild der Situation zu zeichnen, das nicht ganz so düster war wie das Bild, das ich in meinem Kopf hatte. Dass der Brief vor der Haustür meines Vaters mit einer Handgranate beschwert worden war, erfuhr ich erst später am Tag. Dass meine Mutter diese hatte hochheben müssen, um an den Brief zu kommen, und dass die Granate in diesem Moment, als meine Mutter bei mir am Bett saß, dort noch lag, ebenfalls. Dennoch versuchte sie, mir die Entführer als berechenbare, nahezu vernünftige Verbrecher zu beschreiben. Verbrecher, die mit Geld zufrieden wären und sich an die Regeln hielten. Zu diesen Regeln gehörte offenbar die gentlemanhafte Großzügigkeit, den einzigen Zeugen nicht zu beseitigen.

Eine Handgranate vor unserer Haustür. Auch ohne dieses Detail war mir schon schwindlig gewesen.

Meine Mutter hatte den Brief in der Nacht gefunden, als sie, sich um meinen Vater sorgend, da er um Mitternacht immer noch nicht zurückgekommen war, nach ihm suchen ging.

Plötzlich erinnerte ich mich daran, dass Benni und Franz, unsere Hunde, mitten in der Nacht gebellt hatten, als ich wach wurde und nach meiner Mutter rief. Kurze Zeit später, etwas außer Atem, hatte sie mein Zimmer betreten. Blinzelnd, vom Licht im Flur geblendet, erkannte ich sie im Nachthemd, eine Jacke übergeworfen, in meiner Zimmertür stehen.

„Was ist denn los?“

Irgendwas war anders als sonst.

Normalerweise kam mein Vater nach der Tagesschau oder etwas später wieder zu uns nach Hause. Meine Mutter war, getrieben von einem komischen Gefühl, im Schlafanzug hinübergegangen, hatte sich aber nicht ins Haus getraut, sondern nur einmal durch die Fenster auf der Gartenseite geschaut. Das Haus war dunkel. Dann hatten die Hunde bei uns gebellt, und meine Mutter war zurück und in mein Zimmer gerannt.

„Was ist denn los?“, hatte ich noch im Halbschlaf gefragt.

„Jan Philipp ist noch nicht da. Er geht nicht ans Telefon. Ich bin nur genervt, dass er das Telefon nicht hört. Ich war kurz drüben.“

„Warum bist du denn nicht reingegangen?“

„Ich habe mich nicht getraut.“

Ich verdrehte die Augen, legte mich wieder hin und schlief weiter.

 

Etwas später ging meine Mutter erneut rüber und fand Tante Nudel, eine lebensgroße Statue, die auf dem Weg zur Haustür meines Vaters stand, umgestoßen. Sie lag, eine tiefe Kerbe im Arm, quer auf dem Weg. Eine Blutlache daneben, Blutspritzer an der Wand. Dahinter, auf einer Brüstung, ein Brief. Darauf eine, wie sich später herausstellte, scharfe Handgranate.

Die Kerbe, auch das stellte sich später heraus, war durch den Schlag mit dem Schaft einer AK-47 entstanden.

 

6:30 Uhr morgens. Wir fingen an zu rechnen.

WENN ALLE FORDERUNGEN ERFÜLLT WERDEN, WIRD HERR REEMTSMA 48 STUNDEN NACH ERHALT DES LÖSEGELDES VON UNS UNVERLETZT FREIGELASSEN.

 

48 Stunden. Endlos lang. Warum überhaupt diese Frist? Ich wurde den Gedanken nicht los, dass diese Menschen Zeit brauchten, um meinen Vater zu ermorden, zu vergraben und dann abzuhauen. 48 Stunden schienen dafür eine angemessene Zeitspanne zu sein. Wir würden also das Geld übergeben, 48 Stunden warten, um dann langsam immer sicherer zu werden, dass es nichts gab, auf das wir warten konnten. Schon jetzt war jede Minute unendlich lang.

Ich war kein geduldiges Kind. Ich wusste oft nichts mit mir anzufangen. „Spiel doch mal was“, pflegte mein Vater mich aufzufordern. „Ich habe als Kind immer gespielt.“

Hatte ein Spiel begonnen? Oder wann würde es beginnen? Wann endlich würde die Geldübergabe stattfinden? Und wie?

BESORGEN SIE DAS LÖSEGELD UND WARTEN SIE WEITERE ANWEISUNGEN AB

 

Heute war Dienstag. Vielleicht am Abend oder morgen früh? Wie würden sie sich melden? Per Post? Dann also morgen Mittag. Frühestens. Weitere 24 Stunden. Dann noch mal etwaige Verzögerungen eingerechnet – meine Mutter und ich kamen auf Samstag. Maximal vier Tage!

Minimal 52 Stunden. Spiel doch mal was.

 

„Das ist zu lange!“, hörte ich mich sagen und sprach damit aus, was wir beide fühlten, während wir jede Sekunde des Morgens innerlich zählten und bewerteten. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein.

Wir waren aus unserem Universum hinauskatapultiert worden. Die Zeit, wie wir sie kannten, existierte nicht mehr. Ich schien mich in einer Blase zu befinden, in der die Zeit, wenn sie überhaupt lief, unendlich viel langsamer verging als auf der Welt, die ich kannte.

Wie sollten wir die Zeit bis Samstag überstehen? Vier Tage lang die Luft anhalten in diesem Vakuum? In dieser Atmosphäre, die kein Leben zuließ. Undenkbar! Mein Kopf versucht, meinen Körper zu beruhigen. Mein Verstand versucht, sich an etwas Unverrückbarem festzuhalten. Doch an was? An der Ermordung meines Vaters?

„Ich werde jetzt mal in der Schule anrufen, dass du heute nicht kommst. Ich sage, dass du krank bist. Ich gehe runter. Kommst du nach? Christian müsste auch gleich da sein.“ Es war, als ob meine Mutter mit ihrer ruhigen und festen Stimme dem unhörbaren Gedankenkarussell Einhalt gebieten wollte.

Ich schaute sie an, dann aus dem Fenster. Die Sonne schien. Die Vögel zwitscherten. Ein kühler Lufthauch wehte in mein Zimmer. Er roch schon nach Frühling.

Ich nickte.

„Okay.“

Meine Mutter verließ den Raum und ging runter ins Wohnzimmer, um die Schule zu informieren, dass ich krank sei, was gemessen daran, wie ich mich fühlte, eine Untertreibung war.

 

 

Ich sollte blutig und nass auf ihrem Bauch liegen dürfen. Meine Mutter hatte die Idee gehabt, mich nicht in Hamburg, sondern in der Paracelsus-Klinik im dreißig Kilometer entfernten Henstedt-Ulzburg zur Welt zu bringen. Dort nahm man die Neugeborenen den Müttern, die soeben ohne medikamentöse Begleitung entbunden hatten, nicht erst einmal weg, um sie zu säubern und zu untersuchen, sondern legte ihnen die noch glitschigen Babys auf den erschlafften Bauch. Heute heißt so etwas Mutter-Kind-Bonding und ist kaum der Rede wert. Am 6. November 1982 musste man dreißig Kilometer dafür fahren und hatte noch nicht mal einen Namen dafür.

Bei meinen Vornamen gaben mir meine Eltern maximale Wahlfreiheit. Auf dem Bauch meiner Mutter lag Johann Wilhelm Karl Jakob Scheerer. Keinen Großvätern, Onkeln oder sonstigen Ahnen wurde hier Respekt gezollt. Ich sollte einfach, so erklärten es mir meine Eltern jedes Mal, wenn ich später die Peinlichkeit meines Namens kritisch hinterfragte, als Erwachsener die Wahl haben. Falls mir einer der Namen nicht oder einfach besser gefiele als mein Rufname Johann. Der Klang der Namenskette – für mich eher ein Rasseln – war ihnen sehr wichtig. Außerdem sollte es von jedem Namen ein Pendant in allen wichtigen Sprachen dieses Planeten geben. John, Carl, Jacob, William, Ioan, Carlos, Jakub und so weiter.

Dieser Auftakt meines Lebens hatte zur Folge, dass ich bis zum heutigen Tage Probleme habe, meinen Namen und meinen Geburtsort in den dafür vorgesehenen Kästchen der Formulare unterzubringen. Die kindliche Sehnsucht nach Normalität, Gleichförmigkeit, nach der schlichten Abwesenheit von Peinlichkeit war beim Ausfüllen von Formularen oft am größten.

 

Meine Eltern waren 1980 aus ihren jeweiligen Wohnungen und Wohngemeinschaften nach Hamburg-Blankenese gezogen. In die sogenannten Elbvororte. Für meine Mutter war dies die schwerwiegendere Entscheidung gewesen, da sie nicht, wie mein Vater, dort aufgewachsen war, und somit ließ sie sich nur unter einer Bedingung darauf ein: Ein gemeinsamer Freund, Wolfgang, sollte – als angedeutete WG – mit umziehen. Mein Vater ließ sein Elternhaus, in dem er aufgewachsen war, abreißen und ein neues an denselben Platz bauen. Da dies einige Zeit in Anspruch nehmen sollte, kaufte mein Vater ein weiteres Haus fünfhundert Meter die Straße rauf und zog dort mit meiner Mutter, Wolfgang und – nach einem kurzen Ausflug nach Henstedt-Ulzburg zwei Jahre später – Johann Wilhelm Karl Jakob ein.

Mein Vater verbrachte viel Zeit in „seinem“ Haus. Diese Einrichtung des parallel in zwei Häusern Wohnens erschien mir nie ungewöhnlich. Ich kannte es nicht anders, als dass mein Vater mehrmals täglich zwischen den Häusern hin und her wanderte. Dieses Von-einem-Haus-zum-anderen-Spazieren meines Vaters hatte für mich als Kind und Jugendlicher immer etwas Zielstrebiges. Meistens mit Büchern unterm Arm ging mein Vater vor oder nach der Tagesschau noch mal „rüber“.

Er verbrachte seine Zeit, wie ich es empfand, eigentlich ausschließlich damit, Bücher zu lesen, zu schreiben und zu tragen. Dies in einer Intensität, die in meinem Leben so schwer wog wie die Koffer, die er mitnahm, wenn wir gemeinsam in den Urlaub fuhren.

Zwei Koffer zu je mindestens dreißig Kilogramm. Gefüllt mit Büchern und Manuskripten, die er, teils fluchend, teils still seinem vermeintlichen Schicksal ergeben, hinter sich herzog oder mit schiefen Knochen schleppte.

Im Urlaub angekommen, sei es am Strand, in der Gondel zum Skifahren oder sogar nebeneinander im Ankerlift, hatte mein Vater dann immer mindestens ein Buch dabei. In der Brusttasche seines Skianzugs ein Reclam, das er, kaum bahnte sich eine potenziell ungenutzte Wartezeit von über dreißig Sekunden an, rasch hervorzog und darin las, bis sich das Leben um ihn herum wieder zu bewegen begann. Viele Male versuchte er, es mir zu erklären: „Johann, lass dir gesagt sein: Nimm immer und überallhin ein Buch mit. Dann kann dir nichts passieren. Dir wird niemals langweilig werden.“

Diese Omnipräsenz von Büchern in meinem Leben bewirkte bei mir nicht unbedingt eine größere Anziehungskraft oder Faszination für das geschriebene Wort. Vielmehr wurden gedruckte Worte zu etwas, das mein Leben als Kind mit einem Vater, der in einem Buch verschwand, sobald sich die Gelegenheit bot, eher langweiliger machte.

Statt es ihm gleichzutun, wie er es sich gewünscht hätte, betrachtete ich ihn. Sah seine Augen über das Papier fliegen, seine Finger die Ecken zu Eselsohren abknicken, las den Titel des gelben Reclams, der mir nie etwas sagte, und versuchte zu verstehen, wie von diesem unscheinbaren Ding eine Anziehungskraft ausgehen konnte, gegen die ein Bergpanorama oder ein gelangweilter Sohn einfach nicht ankamen.

Natürlich las ich. Manchmal aus Freude und manchmal aus Zwang. Doch ich begann auch, Bücher als Konkurrenz zu betrachten. Was musste ich bieten, damit mein Vater mich ihnen vorzog?

 

Oft wanderten wir gemeinsam von Haus zu Haus, ich hatte in beiden Häusern ein Kinderzimmer. Immer mal wieder verbrachte ich drüben die Wochenenden. Mein Vater, ein ausgezeichneter Koch, briet uns – weit unter seinen Möglichkeiten in der Küche – Fleisch und Kartoffeln. Zum Abend, wenn ich in einem seiner großen schwarzen Ledersessel fernsehen durfte, bekam ich eine Schüssel mit Traubenzucker und ein Glas mit frisch gepresstem Zitronensaft, dazu einen Teelöffel. Wenn ich den Zitronensaft mit dem Löffel in den Traubenzucker träufelte, bildete sich sofort eine süßsaure Insel, die ich aus dem Zucker pflücken und mir auf der Zunge zergehen lassen konnte. Nachdem ich mir gewissenhaft in seinem großen Badezimmer, zwischen Haarwasser und Franzbranntwein stehend, die Zähne geputzt hatte, las mein Vater mir vor. Als ich noch klein war, so klein, dass man das heute als die Zeit für frühkindliche Entwicklungsförderung verstehen würde, las mein Vater mir Arno Schmidt vor. Als er merkte, dass der pure Klang seiner Stimme mich ab einem gewissen Punkt nicht mehr zufriedenstellte, ging er, nach kurzen Intermezzi mit Puh der Bär und Petzi, zu den Kinderbuch-Klassikern über. Tom Sawyer und Huckleberry Finn, Emil und die Detektive, Die Schatzinsel, Moby Dick und vieles mehr. Danach sang er mir Lieder vor wie „Der Tod in Flandern“.

 

Der Tod kann Rappen und Schimmel reiten,

Der Tod kann lächelnd im Tanze schreiten.

Er trommelt laut, er trommelt fein:

Gestorben, gestorben, gestorben muß sein.

Flandern in Not!

|: In Flandern reitet der Tod! :|

 

Anders als man meinen sollte, formten sich diese Worte in meinem Kopf nicht zu dunklen Bildern, sondern zu einer Art gruseliger Außenwelt, von der ich nichts zu befürchten hatte und von der man getrost vorlesen und singen konnte.

Mein Vater bildete ein stabiles Dach, über dem ruhig ein Gewitter tosen konnte. Es machte mir keine Angst, sondern bewirkte, dass ich es daheim noch etwas gemütlicher hatte, mit der ruhigen und wohligen Gewissheit, nicht draußen sein zu müssen.

Doch auch drinnen war nicht alles einfach. Mit dem Mitbewohner meiner Eltern, Wolfgang, ging es wie zu erwarten nicht lange gut, und somit lebten wir schnell zu dritt in zwei Häusern. Meine Mutter und ich meistens in dem einen und mein Vater, pendelnd, zwischen Haus Nr. 11 und Nr. 17 derselben Straße.

Aus meinem Zimmer im Erdgeschoss des Hauses meines Vaters hatte ich Zugang zu unserem Garten am Elbhang. Mitten auf der Wiese, von meinem Fenster aus zu sehen, ließ er zu meinem sechsten Geburtstag ein Holzhaus bauen, das ich liebte und zu einer Art Bandenversteck ohne Bande umbaute. Ich dekorierte es mit Postern von Tieren, die sich schnell durch die hohe Luftfeuchtigkeit in der zugigen Hütte wellten. Schlug Nägel und Haken ein, deren Spitzen durch die Holzpaneele der Außenwand hervorstachen, um meine Spielzeugpistolen aufzuhängen. Ich hatte zwei Hocker, einen Tisch und Heu, mit dem ich die Kaninchen im angrenzenden Gehege füttern konnte.

Meine Eltern und ich waren einige Male frühmorgens zum Hamburger Fischmarkt gefahren, um für mich Kaninchen zu kaufen. Die Tiere buddelten sich, kaum waren sie ins Gehege gesetzt, unter dem Zaun hindurch in die Freiheit. Ein Kaninchen wurde, sich gerade in vermeintlicher Sicherheit befindend, vor den Augen meines Vaters – ich war ins Haus gegangen, um dem Tier seine erste Mahlzeit bei uns zu holen – von einem herabstürzenden Sperber gegriffen und flog Sekunden nach seiner Ankunft bei uns in den sicheren Tod. Als ich mit dem Futter in der Hand wieder in den Garten kam, fand ich meinen Vater sichtlich irritiert noch mit dem Kopf im Nacken vor.

 

Vielleicht als Kompensation für seine, wie mein Vater es wohl empfand, paranoide Mutter war das Grundstück meines Vaters, ähnlich wie das Gehege der Kaninchen, kaum eingegrenzt, geschweige denn mit irgendetwas gesichert, was man ernsthaft als Zaun hätte bezeichnen können. Das Gehege versuchten wir nach den ersten Ausbrüchen mit Drähten und Netzen ausbruchssicher zu machen, der Garten blieb einladend. Sogar die Gartenpforte stand immer offen, damit mein Schulfreund Niklas, der am Elbhang etwas weiter unten wohnte, die Abkürzung zu unserer gemeinsamen Grundschule nutzen konnte.

 

Mein Vater wollte sich einfach von dem Umstand, viel Geld zu haben, nichts vorschreiben lassen.

Weder wie er lebte noch wie er sich kleidete, welches Auto er fuhr oder wohin wir auf welche Art und Weise reisten. Sicherheitspersonal, Zäune, Kameras, teure Autos, verschlossene Türen oder Alarmanlagen – nichts davon kannte ich, nichts davon schien nötig.

Rückblickend fühlt es sich manchmal so an, als wäre es eine bewusste Entscheidung meiner Eltern gewesen. So bewusst wie die Entscheidung, erst dann zu heiraten, als es gesetzlich erlaubt war, dass die Frau und das gemeinsame Kind nicht mehr den Namen des Vaters annehmen mussten. Zehn Jahre nach meiner Geburt war es erst so weit. Dreizehn Jahre nach meiner Geburt begann ich darüber sehr froh zu sein.

Unser Leben war nicht öffentlich, aber es war offen. Zwar spielte es sich in zwei Häusern ab, was unbestritten mindestens eines mehr war als bei all meinen Freunden, aber trotzdem wirkte es unangestrengt und entspannt. Wir hatten nichts zu verbergen.

 

Normal war auch, dass wir Ende Dezember in die Wohnung meiner Eltern nach London-Belgravia flogen, wo wir zu dritt Weihnachten feierten. Eine Stadtwohnung über zwei Stockwerke mit einem verschlossenen kleinen Park, der auf der anderen Straßenseite lag und den wir nie betraten, obwohl wir den Schlüssel hatten.

Mein Vater hatte auch hier eine ausgewählte Bibliothek, die anders als in Hamburg nur zwei Zimmer der Wohnung beanspruchte. Die Bücher darin hatte er alle per Koffer hinein- und die schmale, stählerne Wendeltreppe hinaufgeschleppt. Auch im Urlaub verbrachte er, wenn wir nicht das Museum of National History, The Guinness Museum of World Records oder das Imperial War Museum besichtigten, viel Zeit an seinem Schreibtisch.

Manchmal musste ich mein Nintendo Entertainment System, auf dem ich tagelang Kung Fu spielen durfte, während ich mir mit Walkers Salt & Vinegar Chips und Ginger Ale den Gaumen verätzte, zur Seite legen, damit mein Vater Muhammad-Ali-Boxkämpfe, auf VHS aufgenommen, anschauen konnte.

Die fünfzehn Runden zogen sich länger als normal hin. Pause. Rückspulen. Play. Pause. Und so weiter. Joe Frazier, Sonny Liston, George Foreman, Trevor Berbick. Rumble in the Jungle, Thrilla in Manila. Diese Menschen waren mir so nah wie Han Solo oder Indiana Jones.

 

Irgendwann verriet mir mein Vater, dass er gerade an einem Buch über den Stil von Muhammad Ali schrieb.

„Das interessiert doch keinen! Linker Haken, rechter Haken, linker Haken, rechter Haken . . . voll langweilig.“

Das war meine Meinung.

Mein Vater schmunzelte, nahm sich eine Handvoll Chips und verzog sich mit einem Glas, dessen Inhalt ich leidvoll einmal versehentlich für Apfelsaft gehalten hatte, wieder an seinen Schreibtisch.

Manchmal weckte er mich nachts um zwei, und wir setzten uns gemeinsam vor den Fernseher, um einen Boxkampf zu sehen. Und natürlich war ich gebannt und angesteckt von der Begeisterung meines Vaters. Auch mitten in der Nacht schmeckten mir Chips und meinem Vater sein „Apfelsaft“.

Einigermaßen euphorisiert vom Boxkampf schlief ich jedes Mal auf dem Sofa ein, und mein Vater trug mich, ohne dass ich wirklich mitbekommen hatte, ob etwa Mike Tyson oder Evander Holyfield gewonnen hatte, ins Bett.

 

Ich verstand den Erfolg des Buchs Mehr als ein Champion. Über den Stil des Boxers Muhammad Ali im Jahre 1995 mit zwölf Jahren nicht. Unter anderem auch deshalb, weil mein Vater sich nichts davon anmerken ließ. Ich erinnere ein leichtes, vielleicht triumphierendes Schmunzeln, als er mir eine der hochlobenden Rezensionen zeigte, die die Zeitungen in diesem Jahr brachten, und dass er kurz meine Prognose „Das interessiert doch keinen! Linker Haken, rechter Haken, linker Haken, rechter Haken . . . voll langweilig“ wiederholte. Ich hatte also unrecht gehabt, das hatte ich verstanden.

 

Bis auf dieses eine Mal ließ sich mein Vater mir gegenüber niemals in irgendeiner Form Genugtuung anmerken, wenn er als Autor oder Literaturwissenschaftler erfolgreich war. Jeder Erfolg, den er verzeichnete, so schien es, war für ihn nur ein kleiner Schritt hinaus aus dem Vorurteil anderer, alles bloß entweder geerbt oder sich im Nachhinein er- oder gekauft zu haben.

Als ich ihn einmal fragte, ob er stolz auf den Erfolg der „Wehrmachtsausstellung“ war, eine Wanderausstellung seines Hamburger Instituts für Sozialforschung, durch die die Verbrechen der Wehrmacht während des Nationalsozialismus einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht wurden, runzelte er die Stirn und verzog das Gesicht. Allein das Wort Stolz aus meinem Mund schien ihm geradezu körperliches Unbehagen zu bereiten. Er antwortete knapp: „Ich bin noch nie auf etwas stolz gewesen, was ich in meinem Leben gemacht habe.“

Darauf zumindest, schlussfolgerte ich, wohl schon.

Dass andere sich vorstellten, er hätte alles nur seinem Geld zu verdanken, belastete ihn. Stolz war etwas, was man nicht sein durfte. Sein Gefühl, für seinen Lebensstandard im Verhältnis irgendwie zu wenig getan zu haben, ließ Stolz nicht zu. Geld bedeutete Verantwortung. Und dieser Verantwortung konnte man nur mit dem entsprechenden Ernst und der entsprechenden Demut begegnen.

 

Ich erfuhr nach der Entführung, dass mein Vater im Keller den Kopf der Verbrecherbande gefragt hatte, warum er sich gerade ihn als Opfer ausgesucht hatte. Er antwortete, dass es, da mein Vater sein Vermögen nicht selbst erarbeitet hatte, ihm und seiner Familie auch nicht so wehtun würde, etwas davon abgeben zu müssen. Somit wäre die Geldübergabe vermeintlich schneller und einfacher. Die für Niklas offen stehende Gartenpforte hatte zudem, wie er sagte, die Entscheidung besonders einfach gemacht.

 

Niemals sah ich im Haus meines Vaters etwas, was ich als Kind als besonders wertvoll eingestuft hätte. Einzige Ausnahme war die Intonation-HiFi-Anlage P1 mitsamt einiger Terzian-Lautsprecher, die sich mein Vater im Rahmen des Neubaus seines Hauses Mitte der Achtzigerjahre von jemandem für Unsummen hatte aufschwatzen lassen. Zwar klang die silbern blitzende Anlage mit ihren Messingschaltern und den mit Klavierlack überzogenen Lautsprechern auf den Marmorsäulen, wie er mir einmal erklärte, unvorstellbar gut – er hatte sie sich in der Werkstatt des Herstellers vorführen lassen –, verstaubte aber unbenutzt.

Als Kind bin ich oft daran vorbeigelaufen. Ab und zu blieb ich stehen und betrachtete die ehemals polierte und nun leicht eingestaubte Anlage. Ich war klein, der Verstärker stand erhöht, die zugehörige Endstufe mit den glimmenden Röhren hinter matt schwarzem Stahlgitter war so schwer, dass sie nur auf dem Boden stehen konnte. So stieg ich manchmal auf den Gitterkasten und spiegelte mein Gesicht im Chrom des Verstärkers. Vier unbeschriftete Drehregler und zwei Kippschalter verstärkten die mysteriöse Anmutung, die diese Anlage umgab. Als Podest des Verstärkers, aus dem ein Dutzend Röhren ragte, diente ein ebenso silberner Kasten. Nahezu gänzlich ohne Bedienelemente. Ein kleiner Schalter an der Front war das Einzige, was erahnen ließ, dass hier eine wichtige Funktion eingebettet war.

Betätigt wurde der Schalter in meinem Beisein nie. Wenn ich ihn heimlich berührte, passierte oft nichts. Manchmal leuchtete ein kleines Lämpchen auf, dann bewegte ich den Schalter schnell erschrocken zurück nach unten.

Neben diesem faszinierenden Objekt stand ein lackschwarzer Plattenspieler, ebenfalls ohne jede Beschriftung, der sich durch Drehen eines schwarzen Knopfes langsam in Bewegung setzen ließ.

Niemals hatte ich die Anlage in ihrer Gänze in Benutzung gesehen, geschweige denn gehört.

Mein Vater besaß sogar zwei davon. Eine im Wohnzimmer und eine im Arbeitszimmer.

Gesprochen wurde darüber trotzdem nie. Eine Inbetriebnahme der Anlage war ohnehin praktisch ausgeschlossen. Meist standen Bücher davor, lagen Bücher darauf oder versperrten Bücher den Zugang zu den Reglern.

Das kleine Gewicht am Tonarm des Plattenspielers lag oft abgefallen auf dem Plattenteller, der Tonarm ragte gen Decke, da ein umgefallenes Buch ihn aus der Arretierung gestoßen hatte.

Wenn ein technisches Gerät nicht sofort bedingungslos funktionierte, erklärte mein Vater es für Schrott und benutzte es ab sofort nicht mehr.

So erging es diesen Anlagen auch. Wenn ich im Haus meines Vaters war, erlebte ich jahrelang, wie er CDs über einen Ghettoblaster hörte, den er bei TV-Athmer in Blankenese gekauft hatte.

„Das Ding funktioniert wenigstens.“

Er hatte ihn auf die Röhren des Verstärkers aus der High-End-Manufaktur gestellt, die nach und nach zerbrachen, was meinen Vater nicht nur nicht störte, sondern ihm anscheinend eine gewisse Genugtuung verschaffte.

Ich meinte sogar, eine Erleichterung gespürt zu haben, als ich ihn Jahre später fragte, ob ich mich der Lautsprecher und Verstärker vielleicht einmal annehmen sollte, um sie reparieren zu lassen und zu verkaufen.

 

Ab und zu bekam mein Vater Post. Schwere Kisten oder Kartons, die dann aufgerissen über Wochen im Flur seines Hauses standen. Der Inhalt: Bücher. Alte und neue. Nach und nach verteilt auf Tischen und Stühlen, neben seinem Bett und kniehoch gestapelt links und rechts auf den Treppenstufen, die durch die Bibliothek seines Hauses zu seinem Schreibtisch führten.

Bücher, Bücher, Bücher. Nichts als Bücher. Für nichts anderes, so schien es mir, interessierte sich mein Vater.

Immer wenn man sich mit ihm unterhielt, hatte er eine Referenz aus Büchern parat. Fragte ich ihn bei bevorstehenden Geschichtsarbeiten nach historischen Zusammenhängen, gab er mir einen Abriss von mehreren Jahrhunderten. Lernte ich mit ihm Lateinvokabeln, bekam ich zu jeder zweiten Vokabel einen geschichtlich verankerten Beispielsatz.

Falls mich jemand fragte, was mein Vater von Beruf sei, sollte ich sagen, so riet er mir einmal auf dem Weg zum Kindergarten: „Mein Vater ist Philologe.“

Das Nummernschild seines Volvos, HH DP-902, merkte ich mir, ebenfalls einem Ratschlag meines Vaters auf der gleichen Autofahrt zum Kindergarten folgend, anhand des Satzes „DP, lieber Sohn, merk dir das, steht für Displaced Person.“

So unverständlich es damals für mich war, so treffend finde ich es jetzt.

 

Johann Scheerer

Über Johann Scheerer

Biografie

Johann Scheerer, geboren 1982, gründete mit fünfzehn Jahren seine erste Band, nahm mit „Score!“ 1999 sein erstes Album auf und ging auf Deutschlandtour. Nach dem Abitur bekam er einen Plattenvertrag für sein Soloprojekt „Karamel“ und gründete 2003 das Tonstudio „Rekordbox“. Seit 2005 betreibt er das...

Medien zu „Wir sind dann wohl die Angehörigen“
Pressestimmen
NZZ am Sonntag (CH)

„Scheerers berührendes Buch lässt sich als zeitgeschichtliches Dokument dieses Verbrechens lesen oder als Coming-of-Age-Roman. Eine Liebeserklärung an den Vater bleibt es immer.“

FAZ

„Das ist berührend, das geht einem nah, das ist ein ganz neuer Blick auf die Reemtsma-Entführung.“

WDR 3

„Seine Erinnerungen in Romanform sind nicht nur ein Versuch die bis heute andauernde Sprachlosigkeit in seiner Familie zu überwinden, sie sind auch eine berührende Geschichte über das Erwachsenwerden.“

Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln

„Es ist in höchstem Maße spannend, obwohl wir wissen, wie es ausgeht.“

Offenbach-Post

„Scheerer hat mit ›Wir sind dann wohl die Angehörigen‹ ein Seelenprotokoll geschrieben. Superstark.“

Der Sonntag

„Ein starker neuer Ton, ein ungewöhnliches Debüt.“

Aachener Zeitung

„Das Buch zeigt, dass nicht nur Reemtsma selbst während der 33 Tage durch die Hölle ging, sondern auch seine Angehörigen und Freunde.“

Wilhelmshavener Zeitung

„(…) ein lesenswertes Lehrstück über ein falsches Leben im ohnmächtigen richtigen.“

Südwest Presse

„Als Roman ist das erschütternde, mitreißende Buch etikettiert, aber es ist ein sehr persönlicher, autobiografischer Bericht. Das liest sich teils wie ein Thriller, greifbar in der Szenerie, bilderreich, gespeist mit den zitierten Briefen der Entführer und des Vaters. (…) Scheerers Tatsachen-Roman ist eine Leidensgeschichte, die der Leser nicht schnell vergisst. “

Die Zeit

„Scheerers Buch ist so klug und berührend, weil es sich jeden sentimentalen Annäherungsversuch versagt.“

Leipziger Volkszeitung

„Immer hat Scheerer die verzweifelte Lage des Entführten im Visier,aber auch ein gutes Auge für groteske Randgeschichten, die er mit leisem Humor erzählt.“

Magdeburger Volksstimme

„Einfach lesen!“

Rüsselsheimer Echo

„Das liest sich spannend wie ein guter Roman mit hoher psychologischer Dichte.“

Münchner Feuilleton

„Dass es Scheerer gelingt, die Gefühlswelt des Kindes nie zu verraten und diese öden Stunden doch spannend, teils sogar komisch zu erzählen, ist die große Stärke dieses Buches.“

Kommentare zum Buch
Die Polizei, Dein Freund und Helfer?
Manuela Hruschka am 03.04.2018

Johann Scheerer, Sohn von J.P.Reemtsma, erzählt aus der Sicht eines Angehörigen, was sich vor mehr als 20 Jahren zugetragen hat. Ein Wunder, dass J.P.Reemtsma nach mehreren Wochen von seinen Entführern frei gelassen wurde, nachdem der Polizei ein Fehler nach dem anderen unterlaufen ist und zwei Geldübergaben gescheitert sind. Ein äußerst interessantes Buch! Vielen Dank an den Piper Verlag, für das Leseexemplar.

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