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Ita und Marie

Gunna Wendt
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Ita Wegman und Marie Steiner – Schicksalsgefährtinnen und Konkurrentinnen um Rudolf Steiner

„Wendt zeichnet gut nach, mit welcher Kompromisslosigkeit Marie Konflikte löst und Steiners Ideen durchsetzt.“ - Süddeutsche Zeitung Bayern

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Ita und Marie — Inhalt

Die erste Doppelbiografie der zwei großen Anthroposophinnen

Marie Steiner und Ita Wegman waren wohl die beiden Menschen, die am tiefsten mit Rudolf Steiner, dem Vater der Anthroposophie, verbunden waren. Marie Steiner war seine Frau und entwickelte die Eurythmie maßgeblich mit, Ita Wegman war als Ärztin Mitbegründerin der anthroposophischen Medizin und an Steiners Lebensende dessen Geliebte und Pflegerin. Beide waren esoterische Schülerinnen, innovative Gründerinnen, aber auch Konkurrentinnen. Gunna Wendt hat Zugang zu den privaten Archiven erhalten und gibt uns Einblick in das Leben der wichtigsten Weggefährtinnen Rudolf Steiners.



€ 14,00 [D], € 14,40 [A]
Erschienen am 30.03.2023
256 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31536-4
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€ 12,99 [D], € 12,99 [A]
Erschienen am 27.04.2023
256 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99748-5
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Leseprobe zu „Ita und Marie“

Prolog

Berlin, Motzstraße 17, 1904

Eine junge Frau läutet an der Tür des Hauses Motzstraße 17 und wartet darauf, eingelassen zu werden. Sie hat eine Verabredung mit Doktor Steiner. Nach seinem letzten Vortrag ist sie zu ihm gegangen und hat ihn um ein Gespräch gebeten. Es müsse nicht jetzt sofort sein, sei aber doch sehr dringend. Ob er sich überhaupt an sie erinnere? Schon vor zwei Jahren sei sie ihm das erste Mal begegnet. „O ja“, sagte er, er erinnere sich sowohl an sie als auch an ihre Antwort auf seine Frage, was sie in Berlin tue: »Studieren und das [...]

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Prolog

Berlin, Motzstraße 17, 1904

Eine junge Frau läutet an der Tür des Hauses Motzstraße 17 und wartet darauf, eingelassen zu werden. Sie hat eine Verabredung mit Doktor Steiner. Nach seinem letzten Vortrag ist sie zu ihm gegangen und hat ihn um ein Gespräch gebeten. Es müsse nicht jetzt sofort sein, sei aber doch sehr dringend. Ob er sich überhaupt an sie erinnere? Schon vor zwei Jahren sei sie ihm das erste Mal begegnet. „O ja“, sagte er, er erinnere sich sowohl an sie als auch an ihre Antwort auf seine Frage, was sie in Berlin tue: „Studieren und das Leben kennenlernen!“ Das habe er nicht vergessen, und er würde gern wissen, was daraus geworden sei. Wie vor zwei Jahren forderte er sie auf, ihn an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Zeit in der Motzstraße zu besuchen.

Und da ist sie nun: Ita Wegman. Als sie den Empfangsraum der Theosophischen Bibliothek betritt, ist sie zunächst überrascht, dass Steiner diesmal nicht allein ist. Eine auf den ersten Blick streng wirkende Frau setzt sich neben ihn, nachdem sie Ita einen Platz am Tisch angeboten hat. Ita weiß, um wen es sich handelt: Fräulein von Sivers, seine engste Mitarbeiterin, ohne die er seit einiger Zeit nicht mehr anzutreffen ist, was in theosophischen Kreisen Anlass zu Mutmaßungen und Spekulationen gibt. Doch damit will Ita nichts zu tun haben.

Der Blick, den Marie von Sivers auf sie wirft, ist ihr nicht unbekannt. Als Kind habe sie selbst Menschen, die ihr gegenübergetreten seien, zunächst genau von Kopf bis Fuß gemustert, ehe sie ihnen die Hand gegeben habe, hatte man Ita Wegman erzählt. Für sie war das selbstverständlich gewesen, sie wollte eben wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Anscheinend ist das nun auch Marie von Sivers’ Intention, doch diesmal befindet sich Ita nicht in der Rolle der Betrachterin, sondern in der der Betrachteten.

Was denn so dringend zu besprechen sei, will Rudolf Steiner wissen. Ganz einfach: Ita ist mit ihrer Arbeit als Heilgymnastin und Masseurin nicht zufrieden. Sie ist beliebt bei ihren Patientinnen und Patienten, doch das reicht ihr nicht. Kaum fertig mit der Ausbildung in Schwedischer Heilgymnastik, die sie sehr schätze, sei sie bereits an einem Endpunkt angekommen und schließlich nicht mehr so jung, dass sie noch lange überlegen könne, welchen Weg sie einschlagen solle. 28 Jahre ist sie zum Zeitpunkt dieses Treffens. Marie von Sivers ist 37 Jahre und Rudolf Steiner 43 Jahre alt.

Beide raten ihr, mit ihrer Tätigkeit aufzuhören und stattdessen in Zürich Medizin zu studieren. Dort seien Frauen ohne Weiteres zum Studium zugelassen. Ita bedankt sich umständlich, druckst eine Weile herum und gesteht dann, dass sie die Voraussetzungen für die Immatrikulation nicht erfülle, weil sie kein Abitur vorweisen könne. Sie habe ihre Schullaufbahn in Arnheim vor dem Absolvieren der Reifeprüfung abgebrochen. Doch auch in diesem Fall wird sie von Doktor Steiner nicht enttäuscht. Er weiß Rat. Er werde sich dafür einsetzen, dass sie die Gymnasialausbildung samt Abschluss unproblematisch nachholen könne, er kenne da einen Professor in Zürich, der es ermöglichen werde.

Ita ist verblüfft. Sie hat zwar auf Doktor Steiners Unterstützung gehofft, aber nicht gedacht, dass diese so direkt und konkret ausfallen würde. Begeistert platzt es halb auf Deutsch, halb auf Holländisch aus ihr heraus, wie froh sie sei, dass sie nun eine Perspektive sehe. Schon lange habe sie es satt, immer nur zu machen, was die Ärzte sagten, selbst wenn sie anderer Auffassung sei und die verordnete Therapie ihren Erfahrungen widerspreche. Es sei von jeher ihr größter Wunsch gewesen, Medizin oder eine verwandte Wissenschaft zu studieren. Doch sie habe keine realistische Möglichkeit gesehen.

Dieses Bekenntnis stößt bei Marie auf Verständnis. Sie weiß nur zu gut, wie es ist, wenn man daran gehindert wird, den Lebensweg einzuschlagen, zu dem man sich berufen fühlt. Ihr, dem wissbegierigen jungen Mädchen, war seinerzeit in Petersburg zunächst das Erlernen der griechischen Sprache und später das Studium der Sprach- und Vergleichenden Religionswissenschaft verweigert worden. Für alles, was Marie sich schließlich selbst angeeignet hatte, waren anstrengende Umwege notwendig gewesen, zum Beispiel die für Frauen ihrer Gesellschaftsschicht typische Lehrerinnenausbildung. Die Erlaubnis dafür war das Äußerste an Zugeständnis, das ihr die Familie gewährte. Sie bot zumindest die Möglichkeit einer gewissen Unabhängigkeit. Diese zu erlangen war eins ihrer Lebensziele. Damit hat sie etwas gemein mit der zehn Jahre jüngeren Frau, die nun vor ihr sitzt und trotz negativer Erlebnisse immer noch voller Zuversicht, Neugier und Mut in die Zukunft blickt.

Auf Itas Frage, ob sie nicht besser in Berlin Medizin studieren solle, denn dann könne sie hier weiterhin Doktor Steiners Vorträge besuchen, antwortet diesmal nicht dieser, sondern Marie von Sivers: „Gehen Sie in die Schweiz – unsere ganze Bewegung kommt doch in die Schweiz.“

Die Insel der hundert Vulkane

„Ita ist geboren am 22. Februar 1876 in West-Java, Residenz Krawang, auf der Zuckerfabrik Parakanteroes, was übersetzt bedeutete ›Der geradeaus gehende Weg‹.“ Mit diesen Worten beginnt Charlien Hupkes, geborene Wegman, ihren Bericht über die Kindheit und Jugend ihrer älteren Schwester und resümiert: „Auf der Fabrik hatten wir ein freies und angenehmes Leben.“ Die beiden Mädchen wuchsen zusammen mit drei Geschwistern – einer Schwester und zwei Brüdern – in einer großbürgerlichen niederländischen Kolonialfamilie auf.

Im 17. Jahrhundert waren die Niederlande eine der wichtigsten Kolonialmächte der Welt. Die Hälfte des Welthandels wurde von ihnen betrieben, sodass man von einem „Goldenen Zeitalter“ der Niederlande sprach. Zu ihren Kolonien gehörte das heutige Indonesien, das damals offiziell Niederländisch-Indien genannt wurde. Die Insel Java, auf der Ita Wegmans Geburtsort liegt, war das wirtschaftliche und politische Zentrum des Landes. Sie misst über 1000 Kilometer von West nach Ost bei einer Breite von etwa 200 Kilometern und ist vulkanischen Ursprungs. Einige der 100 Vulkane sind bis heute aktiv.

Ita Wegmans Leben begann mit einer gewissen Sorglosigkeit und Lässigkeit gegenüber Fakten, die sie ihr Leben lang beibehalten sollte: Es sind sowohl verschiedene Geburtsdaten als auch verschiedene Namensvariationen im Umlauf. Ihr offizieller Name, der bei der Geburt vermerkt wurde, lautete Maria Hendrika. Übliche Variationen von Hendrika, der weiblichen Form von Heinrich, sind: Henny, Rika, Riek, Iek. Ungewöhnlich war der Name, den ihre Familie für sie gewählt hatte und der in der Korrespondenz ihrer Schwester auftaucht: Iet. Daraus entwickelte sich später Ita. In ihren Unterlagen tauchen weitere unterschiedliche Variationen ihres Namens auf: „Agnes Wegman“ auf einem Diplomzeugnis aus Berlin im Jahr 1902, im Züricher Universitätsregister findet man „Maria H. Wegman“ und „Marie Wegman“. Manchmal wird ihr Nachname auch mit Doppel-n geschrieben. Ihre Dissertation an der Züricher Universität veröffentlichte sie 1912 als „Maria Ita Wegman, praktische Ärztin aus Java“. Ihr holländischer Pass von 1931 trägt die Unterschrift „Ita Maria Wegman“.

Ähnlich ungenau geht sie mit ihrem Geburtsdatum um: Im Reichsarchiv in Den Haag und in den Angaben der Familie Wegman wird das Geburtsjahr 1876 festgehalten. Doch sowohl im Pass von 1916 als auch von 1931 lautete die Angabe „1878“, genau wie bei verschiedenen Einträgen zu ihrem Wohnungswechsel im Einwohnerregister der Stadt Zürich.

Itas Geburtsort Parakan-Terus (Parakanteroes) liegt 60 Kilometer entfernt von der damaligen Hauptstadt Batavia, dem heutigen Jakarta. Ihr Vater Hendrik Wegman war Verwalter der dortigen Zuckerfabrik. Der Sohn eines holländischen Seemanns stammte aus Amsterdam. Nachdem er dort eine Maschinistenschule besucht hatte, fuhr er im Alter von 18 Jahren auf dem Segelschiff „Electra“, dessen Kapitän sein Vater war, nach Niederländisch-Indien und trat dort seine Stelle in der Zuckerfabrik an. Er war zuständig für die technischen, wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten der Fabrik, beaufsichtigte sowohl die europäischen als auch die einheimischen Mitarbeiter und regelte den Anbau, die Ernte und die Verarbeitung von Zuckerrohr. Charakterisiert wird er als fleißig, gut organisiert, durchsetzungsfähig, dabei manchmal autoritär und aufbrausend. Doch immer verantwortungsvoll im Dienste der Sache – Eigenschaften, die sich auch bei seiner Tochter Ita wiederfinden –, jedenfalls kommen sie in den Beschreibungen ihrer späteren Mitarbeiterinnen vor.

Mit 30 heiratete Hendrik Wegman eine junge Holländerin, Henriette Maria Offers. Sie stammte aus einer vermögenden Großgrundbesitzerfamilie, ihr Vater war Vorsteher der kolonialen Lagerhäuser in Bandung, einem der wichtigsten Handelszentren Javas. Henriette Offers wird als mütterlich, empathisch und emotional stabil beschrieben. Auch davon findet sich vieles in ihrer ältesten Tochter wieder. Die junge Familie genoss wie alle niederländischen Siedler aus den Kolonialstaaten viele Privilegien, angefangen bei den Wohnverhältnissen. Sie lebte auf einer Plantage in der Nähe der Zuckerfabrik, deren Verwalter Hendrik Wegman war.

Die Häuser europäischer Familien waren großzügig gebaut und verfügten über einen gewissen Luxus. Die Räume hatten hohe Decken und marmorne Fußböden. An der Vorderseite und an der Rückseite des Gebäudes befanden sich Galerien. Daran angrenzend, lagen die Schlafzimmer der Familie, die Gästezimmer, das Arbeitszimmer des Hausherrn, das Ankleidezimmer seiner Gattin und die Zimmer der Dienerschaft. Tagsüber waren die Fenster mit Jalousien verschlossen, um die Sonne und die Hitze fernzuhalten. Gäste waren willkommen, Geselligkeit und Gastfreundschaft wurden im großbürgerlichen Milieu gepflegt, galten als selbstverständlich. Zu den Anwesen gehörte fast immer ein Garten mit Bäumen, Büschen, Blumen und Kräutern. Tagsüber war es still, nachts umso lauter. Da waren die Rufe von Vögeln und wilden Tieren wie Affen zu vernehmen. Die Natur lärmte und machte ständig auf sich aufmerksam.

Mit im Haus der Familie lebte ganz selbstverständlich die Dienerschaft, die den Haushalt bestritt, den Garten pflegte und die Tiere versorgte. Für jedes Kind gab es ein eigenes Kindermädchen, eine „Babou“, die zeitweise die engste erwachsene Bezugsperson war und dem Kind näherstand als die Mutter – vor allem körperlich. Sie bildete auch das Bindeglied zur einheimischen Bevölkerung Javas und trug deren Mythen und Geschichten weiter. Gute und böse Geister, schützende und bedrohende Dämonen begleiteten ganz selbstverständlich den Alltag der kleinen Ita. Ab und zu brachten sie sich heftig in Erinnerung und forderten Opfer, die ihnen von Schamanen mithilfe von Ritualen dargebracht wurden. Es herrschte die Vorstellung von einer inneren „stillen Kraft“, die es zu entwickeln galt, um sich zu verteidigen. Sie war wirksamer als gewaltsamer Widerstand. Manchmal gab es Stellvertreterhandlungen: Theater und Kunst. Die Schauspielerinnen und Schauspieler verbargen ihre Gesichter hinter Masken, wenn sie die Botschaften der Götter verkündeten. Beliebt war das Puppentheater unter freiem Himmel mit seinen kunstvoll geschnitzten Figuren, die dem Publikum die Überlieferungen aus dem Bhagavad Gita, dem Mahabharata und dem Ramayana vorspielten. Abends wurden auf den Straßen und Plätzen Wajangspiele – Schattenspiele – aufgeführt: Zu den Klängen des Gamelanorchesters ließ der Puppenspieler seine Figuren vor einer Leinwand agieren und bot zwei unterschiedliche Sichtweisen an: Vor der Leinwand waren die realen bunt bemalten Puppen zu sehen, hinter der Leinwand ihre grauen Schatten. Innerhalb des Publikums gab es eine strenge Sitzordnung: vor der Leinwand die Männer, hinter der Leinwand die Frauen.

Ita Wegman wuchs also in einer Welt auf, die geprägt war von einer Spiritualität, die ganz selbstverständlich den Alltag bestimmte. Sie war das älteste Kind der Familie Wegman. Auf sie folgten fünf weitere Kinder, darunter die ein Jahr jüngere Schwester Charlien. Im Mai 1944 berichtete diese in einem Brief an Madeleine van Deventer, eine Mitarbeiterin Ita Wegmans in Arlesheim, von ihrer gemeinsamen Kindheit. Ita selbst hatte keine schriftlichen Notizen über ihre ersten Jahre hinterlassen. Charlien würdigt das Engagement ihres Vaters: „besonders auf sozialem Gebiet leistete er dort sehr schöne Arbeit während einer großen Zuckerkrise, welche damals [1883] in Indien stattfand, bei der die ganze Zuckerindustrie zugrunde zu gehen drohte“. Seine „sozialen Ansichten“ habe er nicht nur an seinem eigenen Arbeitsplatz, sondern auch in anderen Fabriken des Landes verbreitet.

Als die beiden Schwestern Charlien und Ita fünf und sechs Jahre alt waren, wurde der Vater in die Zuckerfabrik Gending bei Probolinggo in Ostjava versetzt, was den Umzug der Familie zur Folge hatte. Charlien berichtet, sie habe selbst wenig Erinnerungen an die ersten Jahre in Westjava, dafür jedoch umso mehr an die folgenden. Da war zum Beispiel der lange Schulweg von ihrem Wohnort Gending in die Hafenstadt Probolinggo, wo die beiden Schwestern bis 1888 die Schule besuchten. Er dauerte eine Stunde und wurde mithilfe einer Kutsche, vor die zwei kleine Pferde gespannt waren, zurückgelegt. Ita, Charlien und zwei Brüder wurden auf dem Weg von einem Bediensteten begleitet. Schon damals zeigte sich Itas Ungeduld und Handlungsfähigkeit. Wenn es ihr nicht schnell genug ging, ihre Droschke mehrfach überholt wurde und sie befand, der Kutscher dirigiere die Pferde zu langsam, veranlasste sie ihn, anzuhalten und ihr die Zügel zu überlassen. „Der Kutscher musste neben ihr sitzen, und in schnellem Tempo ging es weiter. Die Pferde, die ihre Hand durch die Zügel spürten, taten ihr Bestes, und in tüchtigem Tempo ging es vorwärts zur Stadt und zur Schule“, erzählt Charlien. „Wir fuhren dann großartig vor, und es war eine Lust, Iet zu sehen. Sofort klopfte sie den Pferden auf den Rücken, sprach einige Worte mit ihnen, und glorios trat sie in die Schule ein.“

Schon als kleines Kind verfügte Ita über Führungsqualitäten. Ihr Selbstbewusstsein schien ebenso groß zu sein wie ihr Organisationstalent. Sie war diejenige, die sich Spiele für ihre Geschwister und andere Kinder ausdachte. Die üblichen Spielsachen und damit verbundenen Spiele, zum Beispiel mit Puppen und Stofftieren, interessierten sie nicht. Sie hatte eigene Ideen, gab den Ton an, verteilte Aufgaben, bestimmte die Rollen und übernahm die Regie. Was die anderen verblüffte: Immer dann, wenn Ita das jeweilige Spiel zum Laufen gebracht hatte und die Teilnehmenden mit Begeisterung dabei waren, zog sie sich zurück. Sie hatte offensichtlich ihren Part erfüllt und konnte sich nun Neuem zuwenden. Damit verschaffte sie sich nicht nur Respekt, sondern auch Distanz. Von ihrer Umgebung wurde sie bewundert, aber auch als eigenartig empfunden.

Es war vor allem eine Verhaltensweise, die von ihren Eltern mit Befremden registriert wurde: Immer wenn Ita anderen Menschen gegenübertrat – sei es Besuchern der Familie bei sich daheim oder wenn sie mit ihren Eltern ausging –, blieb sie eine Weile ruhig stehen und schaute sich die Menschen schweigend von oben bis unten an. Es dauerte jedes Mal eine ganze Weile, bis sie sich zur Begrüßung entschloss. Vielleicht gar kein so rätselhaftes Verhalten, wenn man bedenkt, dass sie in einer Welt zu Hause war, in der die unterschiedlichsten Menschen zusammenlebten. In Probolinggo wohnten damals neben den Einheimischen auch Chinesen, Europäer und Araber. Sie alle unterschieden sich äußerlich stark voneinander. Ita wollte sich offensichtlich ihr eigenes Bild machen – unabhängig von den Vorgaben der Eltern und Verwandten. So wie sie es später als Ärztin tat. „Wenn sie einen Patienten aufsuchte, traf sie nie mit vorgefassten Vorstellungen ein“, berichtet die Künstlerin und Maltherapeutin Liane Collot d’Herbois. „Vielmehr machte sie sich innerlich ganz leer. Man mag ihr vielleicht erklärt haben, woran der Betreffende kranke, doch machte ihr dies keinen besonderen Eindruck: Sie wollte stets mit eigenen Augen sehen.“

Diese früh entwickelte Fähigkeit zur Kontemplation wurde ergänzt durch ein heiteres, offenes, manchmal vorlautes Wesen. In die Schule ging sie gern. Ihr Fleiß und ihr Ehrgeiz waren groß, sie wollte in jedem Fach die Beste sein. Zurück von der Schule, verbrachte sie viel Zeit mit Büchern. Sie war eine begeisterte Leserin, deren Interesse besonders historischer Literatur galt. Am liebsten las sie im Garten unter einem der Schatten spendenden riesigen Bäume. Sie war allerdings weit davon entfernt, sich ausschließlich in fiktive geistige Welten zu begeben, sondern liebte es genauso, Sport zu treiben, zu klettern und mit den Pferden zusammen zu sein, die zur Fabrik ihres Vaters gehörten. Doch schon früh setzte ihr der Körper Grenzen in ihrem Bewegungsdrang und ihrer Schaffenskraft. Sie litt bereits als junges Mädchen unter Malariaanfällen, war oft erkältet und an Bronchitis erkrankt. So wurde sie immer wieder gezwungen, ihre Aktivitäten zu drosseln, sich zurückzuziehen und auszukurieren. Krankheit und Tod begleiteten ihre Kindheit. Die 1878 geborene Schwester Hendrika starb im Alter von einem Jahr, der 1881 geborene Henri-Charles wurde neun Jahre alt. Der 1879 geborene Bruder Manta war geistig behindert oder – so die Bezeichnung in der anthroposophischen Heilpädagogik – seelenpflegebedürftig. Daher liegt die Vermutung nahe, dass die kluge, genau beobachtende Ita schon früh ein eigenständiges Verhältnis zur sogenannten Normalität entwickelte.

Jahre ohne Sommer

Der Ausbruch des nahe gelegenen Vulkans Krakatau war das spektakulärste Ereignis der Kindheit Ita Wegmans, das ihr sehr früh die ungeheure Kraft der Natur demonstrierte, der man sich unterordnen musste und die man für sich nutzen konnte. Da war sie sieben Jahre alt.

Zusammen mit den überwältigenden Schauspielen, welche die Natur in dieser Region der Erde bot, lernte sie schon als Kind die Mythen und Erzählungen kennen, mit denen sich die Menschen Naturvorgänge zu erklären versuchten. Danach entstand der Vulkan Krakatau, weil König Rakata seine Söhne voneinander trennen wollte. Die Inseln Sumatra und Java waren noch eins und Rakatas Söhne die Herrscher der beiden rivalisierenden Königreiche. Rakata schüttete Wasser aus einem Lehmkrug an der Grenze entlang und schuf damit die teilweise nur 30 Kilometer breite Meeresstraße zwischen Sumatra und Java. Aus dem Krug, den er zurückließ, entstand der Vulkan Krakatau. Geschichten dieser Art und solche, in denen böse Geister und Dämonen vorkamen, prägten Itas Kindheit.

Der Vulkanausbruch erfolgte in der Nacht vom 26. auf den 27. August 1883. Bis nach Australien war die Explosion auf der zwischen Java und Sumatra in der Sundastraße gelegenen Vulkaninsel Krakatau zu spüren. Jahrhundertelang waren die drei Vulkane Rakata, Danan und Perbuwatan, aus denen sich der Krakatau zusammensetzte, ruhig geblieben, bis er im Mai 1883 plötzlich Feuer zu speien begann. Im August erfolgte der Höhepunkt, als sich der Vulkan in einer gigantischen Explosion, deren Knall noch in 5000 Kilometern Entfernung zu hören war, selbst zerstörte. Bis heute gilt dies als lautestes Geräusch, das jemals ein menschliches Ohr vernommen hat. Heiße Asche fiel wie Regen vom Himmel, Tsunamis verwüsteten die Strände von Java und Sumatra, die Wellen waren 40 Meter hoch. Mehr als 160 Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, die Zahl der Toten belief sich auf 36 000.

Es gibt einen Augenzeugenbericht des Ersten Offiziers des amerikanischen Dreimasters „W. H. Besse“ von dem spektakulären Ereignis. Das Schiff befand sich knapp 100 Kilometer nordöstlich des Geschehens. „Es war Mitternacht zur Mittagszeit, mit der Bö setzte ein starker Ascheregen ein, die Luft war so stickig, dass man kaum atmen konnte“, notierte der Seemann in seinem Tagebuch. „Fürchterliches Getöse vom Vulkan her, der Himmel voller Lichtblitze … das Heulen des Windes, der durch die Takelage fuhr, war eines der schauerlichsten Erlebnisse, das man sich vorstellen kann … alle glaubten, die letzten Tage der Erde seien gekommen.“ Ein niederländischer Kolonialbeamter berichtete: „So weit das Auge blickt, steht nichts mehr außer einem einzelnen Baum, einem riesigen Durian … Er ist das Grabmal eines Haufens von Kadavern und Leichen, die unter Dächern, Häusern und Baumstämmen begraben liegen.“

Fast 70 Jahre früher hatte es in Niederländisch-Indien bereits einen spektakulären Vulkanausbruch gegeben: Im April 1815 verwüstete der Vulkan Tambora Sumbawa und die benachbarten Inseln. Die Auswirkungen der Eruption waren auf der ganzen Welt zu spüren. Weil es damals lange dauerte, bis Nachrichten von einem Kontinent zum anderen gelangten, wussten die Menschen in anderen Erdteilen zunächst nicht, was geschehen war, während sie längst mit den Folgen des Vulkanausbruchs konfrontiert wurden: Nachdem der Vulkanstaub des Tambora hoch in die Atmosphäre geschleudert worden war, bedeckte er wie ein Schleier die gesamte Erde und sorgte für deren Verdunkelung. Das Jahr 1816 ging als Jahr ohne Sommer in die Geschichte ein.

Dieses Ereignis ist eng verbunden mit der Entstehung eines weltberühmten literarischen Klassikers: Mary Shelley verfasste in dieser Zeit ihren Roman Frankenstein. 1816 reiste sie mit ihrer Stiefschwester Claire Clairmont und ihrem zukünftigen Ehemann Percy Bysshe Shelley an den Genfer See und verbrachte den Sommer in der Villa Diodati bei Lord Byron und seinem Leibarzt John Polidori. Die illustre Gesellschaft musste wegen des schlechten Wetters die meiste Zeit in Lord Byrons Domizil verbringen. Mary Shelley berichtet: „Ein feuchter, unfreundlicher Sommer fesselte uns viel ans Haus. Da fielen uns gelegentlich einige Bände deutscher Gespenstergeschichten in die Hände.“ Zu der Idee, selbst eine solche Geschichte zu schreiben, war es nicht weit. Während die beiden Männer umgehend mit der Arbeit begannen, zögerte Mary Shelley. Eine der philosophischen Hauptfragen, über die sie diskutierten, war die nach dem Ursprung des Lebens. Weitere Themen waren die Lehren Charles Darwins, die bei den Männern Anklang fanden, während ihnen die 19-jährige Mary Shelley skeptisch gegenüberstand. Ihr Ziel war ein literarisches: Sie wollte eine Geschichte verfassen, „die das tiefste Entsetzen im Leser hervorrufen, das Blut stocken und das Herz heftiger klopfen lassen sollte“, was ihr bekanntlich gelungen ist.

Wie der Ausbruch des Vulkans Tambora so war auch der des Krakatau weltweit zu spüren. Siebenmal wurde die Erde von der Druckwelle umkreist. In der oberen Atmosphäre raste eine riesige Vulkanaschewolke um den Planeten und verursachte eine bisher nie gesehene Lichtbrechung. In der ganzen Welt wurde von grandiosen Sonnenuntergängen berichtet, deren Intensität so extrem war, dass an einigen Orten die Feuerwehr ausrückte, weil man einen Brand vermutete. Angeblich soll der norwegische Maler Edvard Munch diese überwältigenden Eindrücke zum Anlass für sein berühmtes Gemälde „Der Schrei“ genommen haben. Es zeigt einen Menschen unter einem roten Himmel mit aufgerissenem Mund und aufgerissenen Augen, der seine Hände fest gegen die Ohren presst, um wenigstens diese zu schützen. Laut eigener Aussage verarbeitete der Maler in seinem berühmten Bild, von dem es mehrere Variationen gibt, eine Angstattacke, die ihn während eines Abendspaziergangs mit Freunden ereilte. Es sei ihm vorgekommen, als hätte er einen unerträglichen Schrei gehört, der die Natur durchfahren hätte. Er habe sich gänzlich isoliert gefühlt.

Der Astronom Douglas Olson von der Texas State University reiste 2004 zusammen mit Kollegen nach Oslo, um zu recherchieren, an welchem Ort der Künstler diese existenzielle Erfahrung gemacht haben könnte. Schließlich fanden sie heraus, dass es sich um die Straße Ljabrochausseen gehandelt haben müsse, die heute den Namen Mosseveien trägt. Vor dort aus hat man einen Blick auf den Osloer Hafen und die Insel Hovedøya, so wie es Munchs Gemälde zeigt.

Die Explosion des Krakatau war mit vielen Sensationen verbunden: angefangen beim lautesten Knall, der bis zu diesem Zeitpunkt registriert wurde, bis hin zu einer vorher nicht gekannten Medienpräsenz. Einige Jahre zuvor waren nämlich die ersten Tiefseekabel in den Weltmeeren verlegt worden, um eine globale Kommunikation möglich zu machen. Auf diese Weise wurde der Vulkanausbruch, der den Untergang der Insel zur Folge hatte, zum ersten weltweiten Medienereignis. Nach der Explosion war von der Insel Krakatau so gut wie nichts mehr übrig. Doch Ende der 1920er-Jahre entdeckte man, dass vom Meeresgrund aus an derselben Stelle eine neue Vulkaninsel emporwuchs, die „Anak Krakatau“ – „Kind von Krakatau“ – genannt wurde und schon bald Lava spuckte. Ende Dezember 2018 wurde der neue Vulkan von mehreren Eruptionen heimgesucht, die einen Tsunami auslösten, der fast 500 Menschenleben forderte.

Im selben Jahr, als der Ausbruch des Krakatau das Leben in Niederländisch-Indien bedrohte, sorgte eine Wirtschaftskrise für Verunsicherung im Leben der Familie Wegman. Grund war ein Preissturz in Europa, der die sogenannte Zuckerkrise auslöste. Laut Charlien hat Hendrik Wegman damals Umsicht und Handlungsfähigkeit bewiesen und eine nicht näher beschriebene Rettungsaktion ausgeführt, die beide Töchter beeindruckte. Im Zuge dieser Aktivitäten wechselte er zu einer der Banken, die mit der Umstrukturierung der indonesischen Zuckerindustrie betraut waren, was für den 38-Jährigen einen beruflichen Aufstieg bedeutete. Charlien betont einmal mehr seine bemerkenswerten „sozialen Einsichten“, die er öffentlich vertrat und mit denen er „Gutes bewirkte“. Als Ita in den 1920er-Jahren nach der Gründung ihrer Klinik in Arlesheim gefragt wurde, woher ihre betriebswirtschaftlichen Kenntnisse stammten, verwies sie auf ihren Vater. „In meiner Jugend habe ich erlebt, wie er es gemacht hat.“

Abenteuer Europa

Nachdem Ita und Charlien sechs Jahre lang die Volksschule absolviert hatten, wurden sie von Hauslehrerinnen und Lehrern unterrichtet. Doch als Ita 15 und Charlien 14 Jahre alt war, entschieden die Eltern, dass diese Art der Ausbildung nicht das Richtige für ihre Töchter sei, und beschlossen, die beiden nach Europa zu schicken. Vielleicht hatte auch der frühe Tod ihres Sohnes – Henri-Charles starb im Juli 1890 – zu dieser Entscheidung beigetragen. Damals grassierte in Indonesien eine Choleraepidemie, der viele Kinder zum Opfer fielen. Ob Henri-Charles auch daran erkrankt war, ist nicht bekannt.

Zusammen mit ihrer Mutter traten Ita und Charlien 1891 die Seereise an. Fünf Wochen verbrachten sie mit 100 anderen Passagieren und der Mannschaft auf dem Segelschiff. Damals war der Kontakt zwischen den Reisenden und den Seeleuten sowohl sehr eng als auch stark reglementiert. So herrschte bei den Mahlzeiten eine strenge Sitzordnung, die der Kapitän bestimmte. Wann immer es möglich war, hielt man sich an Deck auf, weil es in den winzigen Kabinen eng und heiß war. Den Höhepunkt des Tages bildete neben den Mahlzeiten die abendliche Tanzveranstaltung im Salon. Für die beiden Mädchen im Teenageralter muss der Aufenthalt an Bord ein einziges Abenteuer gewesen sein: zwei schöne junge Frauen, die wenig Erfahrungen mit Flirts, Partys und zwanglosem Zusammensein hatten, auf dem Weg zu einem fremden Kontinent und in ein Land, das als ihr Vaterland bezeichnet wurde, obwohl sie es noch nie gesehen hatten. Unterwegs lernten sie die unterschiedlichsten Menschen kennen und stellten fest, dass der Umgang unter Gleichaltrigen ein viel freierer war als der, den sie aus Java kannten.

Noch stimmungsvoller als die Tage an Deck unter gleißender Sonne waren die romantischen Abende unter einem gigantischen Sternenhimmel. Die Zwischenhalte in den Häfen von Aden, Port Said, Neapel, Southampton ließen die beiden Schwestern in fremde Welten eintauchen, und die Fahrt durch den engen, vor 22 Jahren eröffneten Suezkanal, der die Grenze zwischen Asien und Afrika bildete, war ein regelrechtes Abenteuer.

Welchen Eindruck ihr Reiseziel auf Ita und Charlien machte, lässt sich nur vermuten: Es muss ihnen sofort klar geworden sein, dass ein ganz anderes Leben vor ihnen lag als das bisher geführte – schon allein der Wechsel der Jahreszeiten sorgte für komplett andere Lebensbedingungen. In Krawang herrschte ein tropisches Regenwaldklima. Normalerweise war es sehr heiß und feucht. Die Höchsttemperatur lag zwischen 30 und 32 Grad, die Mindesttemperatur zwischen 23 und 25 Grad. Von Juni bis Oktober war Trockenzeit, im Januar und Februar regnete es. Ein größerer Kontrast zum europäischen Wetter, das sie zunächst in den Niederlanden kennenlernten, lässt sich kaum vorstellen.

Henriette Wegman brachte ihre Töchter zur Familie Wenting nach Arnheim, wo sie die Mittlere Mädchenschule – Middelbare School voor Meisjes – besuchten, die einen sehr guten Ruf besaß. Wie die Verbindung der beiden Familien zustande kam, ist nicht bekannt, doch Bilder des jungen Ehepaars Wegman im Fotoalbum der Wentings lassen vermuten, dass die Bekanntschaft schon länger bestand. Als Ita und Charlien bei Frau Wenting einzogen, war diese 48 Jahre alt und bereits seit 16 Jahren Witwe. Sie hatte zwei Kinder. Mit Elly, die zwei Jahre älter war als sie, freundete sich Ita rasch an.

Zu den Unterrichtsfächern, die Ita und Charlien an der Mittleren Mädchenschule angeboten wurden, gehörten die Sprachen Niederländisch, Französisch, Deutsch und Englisch sowie die Literatur des jeweiligen Landes. Außerdem Geschichte, Geografie, Kosmografie, Botanik, Biologie, Physik, Chemie, Mathematik, Staatslehre und Staatsökonomie, Handwerken, Zeichnen, Singen, Turnen, Gesundheitslehre und Ästhetik. Ita nahm das Angebot begeistert an. Vielleicht ist hier bereits der Ursprung einer Fähigkeit zu finden, die Ita zeitlebens besaß: Eigeninitiative zu entwickeln, sich mit Disziplin, Fleiß und vor allem Neugier ein vollkommen neues Wissensgebiet anzueignen. So etwas sollte sie im Lauf ihres Lebens immer wieder tun. Mit den Sprachen, die sie in der Schule lernte, ging sie allerdings sehr locker und pragmatisch um. Sie waren für sie Mittel zur Verständigung, manchmal kombinierte sie mehrere von ihnen miteinander, was unfreiwillig komisch wirken konnte. Für sie standen stets das Tun und der direkte menschliche Kontakt im Mittelpunkt, nicht das Darüberreden. Sie war keine Theoretikerin, obwohl sie in ihrem späteren Leben durchaus eine umfangreiche Korrespondenz führte, in der sie sich mit Kolleginnen und Kollegen über medizinische Probleme austauschte. „Ob ihrer Herzlichkeit und Begeisterungsfähigkeit haben Menschen oft gestaunt. Sie hatte einen Blick für Menschen – sie wusste, wie sie waren. Sie war ein Mensch, der nicht in Vorstellungen, sondern im Tun lebte“, erklärte ihr Biograf J. E. Zeylmans van Emmichoven.

In der Familie Wenting herrschte eine kultivierte gastfreundliche Atmosphäre. Charlien spricht davon, dass sie und ihre Schwester dort ein Zuhause fanden. Als typische europäische Provinzstadt mit einem pittoresken Stadtzentrum, dem Kornmarkt, den engen Gassen, in denen es kleine Läden gab, war Arnheim der geeignete Ort, sich in Europa heimisch zu fühlen. „Dort hatten wir eine herrliche Zeit“, heißt es in Charliens Aufzeichnungen. In ihrem neuen Zuhause erhielten sie vielfältige kulturelle Anregungen und lernten den Kontinent ihrer Vorfahren schätzen: „In vollen Zügen genossen wir alles, was Europa der Menschheit schenken kann, schöne Musik, wofür Arnheim damals sehr bekannt war, viele schöne Theatervorstellungen, Opern etc.“ Die Stadt verfügte über ein eigenes Symphonieorchester und die berühmte Konzerthalle „Musis Sacrum“, die 1847 eröffnet wurde. Ein Blick auf damalige Theaterprogramme lässt ahnen, welches Spektrum an Stücken, Opern und Konzerten dem Publikum geboten wurde: Ibsen, Molière, Verdi, Bizet, Mozart standen auf dem Spielplan.

Besonders der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen war damals in aller Munde und galt für junge, aufbegehrende Frauen als eine Art Vordenker. Seine Kritik an der Unterdrückung der Frau, an der rigiden Rollenzuweisung und an der bürgerlichen Familie, die nur mithilfe von Lebenslügen existieren konnte, beeinflusste in Europa eine ganze Generation. Ibsen schildert eigenständige Frauen, die zwangsläufig in Konflikt mit den gesellschaftlichen Normen geraten. Doch er lässt sie sich nicht als Opfer beklagen, sondern von der Erleidenden zur Handelnden entwickeln, allen voran seine Protagonistinnen Nora und Hedda Gabler. In den Lebensgeschichten und -katastrophen, die er auf die Bühne brachte, erscheint die Kleinfamilie als Keimzelle der bürgerlichen Gesellschaft, die der Frau keine Entfaltungsmöglichkeiten bietet und das Glück aller, auch das des Mannes, erstickt. Ibsen sprach den aufbegehrenden Frauen des Fin de Siècle aus der Seele und gab die Zielrichtung ihrer Rebellion vor: gegen die alte Ordnung, für eine neue Welt, einen neuen, freien Menschen! Naturgemäß löste er in der gesamten europäischen Kulturszene heftige Diskussionen aus.

Doch Henrik Ibsens Gesellschaftskritik äußerte sich nicht nur auf rationale Weise, sondern ließ in einigen Stücken eine Dimension von Spiritualität erkennen, die mit großer Selbstverständlichkeit dargestellt wurde. So auch in dem 1888 erschienenen Drama „Die Frau vom Meer“, das 1889 gleichzeitig in Christiania (Oslo) und Weimar uraufgeführt wurde. Thema ist die Anziehungskraft des Meeres, der sich die Menschen nicht entziehen können. „Das Meer beherrscht die Macht der Stimmungen, eine Macht, die wie ein Wille wirkt. Das Meer kann hypnotisieren. Die Natur überhaupt kann es“, schreibt Ibsen in seinen Notizen zu diesem Stück.

Aber auch Menschen sind dazu in der Lage: Wie hypnotisiert bewegt sich die Protagonistin Ellida durch die kleine norwegische Fjordstadt, in der sie mit ihrem Mann und ihren Stieftöchtern lebt. Meistens ist sie allein, ihre Liebe und ihre Sehnsucht gelten dem Meer, wo sie vor langer Zeit von ihrer großen Liebe, dem namenlosen fremden Seemann, Abschied nehmen musste. Um ihre unlösbare Verbindung zu besiegeln, warf er zwei Ringe ins Meer. Doch irgendwann sucht Ellida einen Ausweg, um sich davon zu befreien und ein neues Leben zu beginnen.

Ita und Charlien waren neugierig auf neue Lebensformen. Was den beiden Schwestern besonders gefiel, war das Reisen. „In den Ferien machten wir immer Auslandsreisen, waren oft in Brüssel bei einem Freunde meines Vaters, und so gingen die herrlichen Jahre vorbei“, erzählt Charlien. Zu den Städten, die sie besuchten, gehörten London, Paris, Berlin, Köln. Von den Kunstsammlungen und Museen waren sie überwältigt. Erst jetzt erkannten sie, was sie bisher entbehrt hatten. Wahrscheinlich entstand in dieser Zeit Itas Wunsch, Europa besser kennenzulernen, ohne ihr Leben in Java aufgeben zu müssen. Sie würde einen Weg für sich finden, beides miteinander zu verbinden.

Kurz bevor Ita 19 Jahre alt wurde, im Dezember 1894, machten sie und Charlien sich auf die Reise zurück nach Java. Ita schrieb ein Gedicht mit dem Titel „Erinnerung“ in Frau Wentings Album. Ob sie es selbst verfasst oder aus einem Gedichtband entnommen hat, ist nicht bekannt. Es heißt darin: „Die Menschen begegnen einander auf Erden / Und schließen sich innig an / Sie leben und arbeiten und leiden zusammen. / Und die sich am liebsten gewesen sind / Die lassen einander allein, / Und die sich am engsten verbunden gewusst, / Müssen am weitesten auseinander sein.“

Ita hat das Gedicht mit der Widmung versehen: „Meine liebe Mevrouw, denken Sie, wenn Sie dies lesen, an Ihre Sie herzlich liebende Iet Wegman, die Sie nimmer vergessen wird. Arnheim, 16. Dezember 1894“.

Ihre Zeilen scheinen visionär zu sein, sich nicht nur auf das aktuelle Ereignis, den Abschied von Frau Wenting, zu beziehen, sondern darüber hinaus auf die Zukunft zu richten – so als hätte sie gewusst, welchen tragischen Verlust sie schon bald würde beklagen müssen.

Von Arnheim ging es nach Paris, Weihnachten und Silvester feierten sie an der Riviera, Anfang des neuen Jahres fuhren sie von Nizza nach Genua und gingen dort an Bord des Schiffes, mit dem sie die Heimreise nach Java antraten. Die beiden jungen Frauen reisten nicht ganz allein, sondern laut Charlien „unter Führung alter guter Freunde“ der Eltern. Was sie zu diesem Schritt – einer Rückkehr nach Java ohne Schulabschluss – veranlasst hat, ist nicht bekannt. Vermutlich hatte es familiäre Gründe, denn die beiden Schwestern wären gern länger in Arnheim geblieben, wie aus den wenigen schriftlichen Äußerungen – Charliens Brief und Itas Abschiedsgedicht – hervorgeht.

Gleichzeitig freuten sie sich auf das Wiedersehen mit ihrer Familie und der vertrauten Welt, in der sie aufgewachsen waren. Auf der Rückreise lernte Ita einen jungen Offizier kennen und verliebte sich in ihn. Seine Garnison befand sich 50 Kilometer südlich von Batavia. Kurz nachdem sich die beiden verlobt hatten, erkrankte er an einer Lungenentzündung und anschließend an Tuberkulose. Die Krankheit verlief tödlich. Charlien handelt dieses für ihre Schwester existenzielle Erlebnis in ihrem Brief an Madeleine van Deventer sehr kurz ab und zieht das Resümee: „Sie hat es sich wohl sehr zu Herzen genommen; da sie den jungen Mann aber nur so kurz gekannt hatte, hatte sie es auch ziemlich bald überwunden, obwohl sie noch oh so lange danach mit seiner Familie hier in Holland korrespondiert hat.“ Das war vermutlich eine Bagatellisierung des traurigen Ereignisses, das für Ita noch längst nicht bewältigt war.

Für die 19-jährige Ita war der Verlust ihres Verlobten eine weitere Erfahrung, die ihr zeigte, wie nah Freude und Trauer, Glück und Leid, Leben und Tod nebeneinanderlagen. Schon als Kind hatte sie den Tod zweier Geschwister miterlebt – mit drei Jahren den Tod ihrer Schwester, mit 14 den Tod ihres Bruders. Auch im Haus der Wentings war der Tod präsent und irgendwie immer Thema. Auf unterschiedliche Weise wurde an den verstorbenen Familienvater gedacht. Zwar hatte ihn Ita nicht persönlich gekannt, aber der nicht enden wollende Schmerz seiner Witwe hatte ihn ihr nahegebracht. Und nun ein weiterer geliebter Mensch. Einer, mit dem sie sich eng verbunden fühlte, einer, der es ernst mit ihr meinte und vorgehabt hatte, mit ihr ein gemeinsames Leben aufzubauen.

Die Zeilen, die sie Frau Wenting zum Abschied gewidmet hatte, scheinen im Nachhinein prophetisch gewesen zu sein. Darin heißt es auch: „Die, für die Trennung am bittersten war, / Sehen sich manchmal nicht wieder. / Nur in Träumen vor ihrer Seele schwebt / Das Bild ihnen, sorgenlos einst.“

Um ihre Trauer zu überwinden und ihr seelisches Gleichgewicht wiederzugewinnen, stürzte sich Ita zusammen mit Charlien ins gesellschaftliche Leben. Charlien liebte Partys und Bälle, Tanzvergnügungen und Sportveranstaltungen. Ita machte sich zwar wenig daraus, fühlte sich aber verantwortlich für ihre kleine Schwester und begleitete sie. Sie hoffte wohl, ihren Schmerz und ihre Trauer betäuben zu können. „Unser Leben als junge Damen in Indien war auch sehr eigentümlich“, gibt Charlien zu. „Von einem herrlich reichen Leben in Europa kamen wir jetzt in ein leeres indisches Leben voll Amüsements wie Tanz und Flirt usw., etwas, was Iet absolut nicht gefiel.“ Ihr war bewusst, dass Ita nur ihretwegen daran teilnahm, „weil sie dachte: ›Ich kann meine jüngere Schwester doch nicht allein lassen an diesen Ballabenden.‹“

Charlien verliebte sich bald in einen jungen Mann und heiratete ihn im Oktober 1896. Ita fühlte sich erleichtert, von einer Last befreit. So konnte sie sich endlich wieder auf sich selbst konzentrieren und herausfinden, was ihr im Leben wichtig war. Ihre Schwester hatte das längst erkannt: „Iet war mehr für ein ernstes Leben, dieses leere Dasein sagte ihr nicht zu.“ Darauf wiesen auch die Signale hin, die ihr Körper aussandte: Die Malariaanfälle häuften sich. Weil sie das Meeresklima an der javanischen Küste nicht vertrug, schickte man sie zur Genesung in das Haus in den Bergen, das ihr Vater gekauft hatte. In der Ruhe und Abgeschiedenheit fand sie zu sich selbst und schöpfte neue Kraft. Sie begann, Pflanzen zu züchten, ließ sich Samen aus dem fernen Holland liefern und legte einen herrlichen Blumengarten an. „Ein Weg mit den prächtigsten Rosen war die Zierde des Gartens“, schwärmte Charlien. Oft wurde Ita von ihrer Mutter besucht, die viel allein war, weil ihr Mann im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit ständig auf Reisen ging. In ihrer Gegenwart fühlte sich Ita wohl – wie überhaupt in der Bergeinsamkeit, die sie nutzen wollte, um zu genesen und sich darüber klar zu werden, welchen Weg sie in Zukunft beschreiten wollte.

Gunna Wendt

Über Gunna Wendt

Biografie

Gunna Wendt, geboren 1953 in Jeinsen bei Hannover, studierte Soziologie und Psychologie in Hannover und schrieb ihre Magisterarbeit über Paula Modersohn-Becker. Seit 1981 lebt sie als freie Autorin, Publizistin und Kuratorin in München. Neben Arbeiten für Theater und Rundfunk veröffentlichte sie...

Pressestimmen
Börris Hornemann

„Die Darstellung der Besonderheiten dieser beiden Frauen mitsamt der würdigenden, aber nicht verherrlichenden Haltung von Steiner und seiner Anthroposophie, sondern dem Aufzeigen des wesentlichen Beitrags, den Ita und Marie geleistet haben, ist großartig.“

info3-verlag.de

„Die Passage lässt die große Achtung spüren, die Gunna Wendt ihrem Sujet entgegenbringt, sie durchzieht das ganze Buch, und weil sie sich wirklich ein Bild gemacht hat von den Persönlichkeiten und Verhältnissen und diese zum Leben zu erwecken vermag, folgt man ihr gerne.“

Martin Umbach

„Umso mehr beeindruckt mich die Vorurteilslosigkeit dieser für viele doch mindestens zweifelhaften Bewegung und ihrem Gründer Rudolf Steiner gegenüber – und das in einer Zeit, in der die Anthroposophie (insbesondere die Waldorfpädagogik) mal wieder gewaltigen publizistischen Gegenwind erfährt. Bewegend das Doppelporträt dieser beiden ›modernen‹ Frauen, beeindruckend die Recherchetiefe, beglückend der reiche und doch schnörkellose Stil.“

Süddeutsche Zeitung Bayern

„Wendt zeichnet gut nach, mit welcher Kompromisslosigkeit Marie Konflikte löst und Steiners Ideen durchsetzt.“

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