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Briefwechsel 1949 - 1975

„Intim, feinsinnig und umfassend analytisch bis nonchalant plaudernd. Es war mir schlicht ein Fest - selbst ohne Kenntnis aller verhandelten Werke.“ - nocheinbuch

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Im Vertrauen — Inhalt

Briefe von frappierender Offenheit aus einem Vierteljahrhundert 

Hannah Arendt und Mary McCarthy lernen sich 1945 in einer Bar in Manhattan kennen, werden Freundinnen und schreiben einander über 25 Jahre lang Briefe. Darin tauschen sich die beiden „femmes de lettres“, die nicht nur leidenschaftlich denken, sondern genauso leben, beherzt und unvoreingenommen über all das aus, was sie bewegt: Politik, Zeitgenossen, Bücher und Männer. Ihre Freundschaft in Briefen ist nicht nur ein einzigartiges zeitgeschichtliches Dokument, sondern auch das Vermächtnis der außergewöhnlichen Beziehung zweier kluger und berühmter Frauen - tiefgründig, offen, berührend und spannend wie ein guter Roman.

€ 18,00 [D], € 18,50 [A]
Erschienen am 31.08.2020
Übersetzt von: Ursula Ludz, Hans Moll
624 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31699-6
Download Cover
€ 17,99 [D], € 17,99 [A]
Erschienen am 31.08.2020
Übersetzt von: Ursula Ludz, Hans Moll
584 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99721-8
Download Cover

Leseprobe zu „Im Vertrauen“

Einleitung
Eine Romanze in Briefen

Man kann nicht sagen, wie das Leben ist,
wie Zufall oder Schicksal die Menschen behandeln,
es sei denn, man erzählt die Geschichte.
Hannah Arendt, 12. Juni 1971

Sie sind sich 1944 in der Murray Hill Bar in Manhattan zum ersten Mal begegnet. Mary McCarthy, damals mit Edmund Wilson verheiratet, war in Begleitung des Kritikers Clement Greenberg, dessen Bruder Martin zu Hannah Arendts Kollegen im Verlag Schocken Books gehörte. Arendt, deren Besprechungen und Essays anfänglich im Menorah Journal und Contemporary Jewish Record [...]

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Einleitung
Eine Romanze in Briefen

Man kann nicht sagen, wie das Leben ist,
wie Zufall oder Schicksal die Menschen behandeln,
es sei denn, man erzählt die Geschichte.
Hannah Arendt, 12. Juni 1971

Sie sind sich 1944 in der Murray Hill Bar in Manhattan zum ersten Mal begegnet. Mary McCarthy, damals mit Edmund Wilson verheiratet, war in Begleitung des Kritikers Clement Greenberg, dessen Bruder Martin zu Hannah Arendts Kollegen im Verlag Schocken Books gehörte. Arendt, deren Besprechungen und Essays anfänglich im Menorah Journal und Contemporary Jewish Record erschienen waren, nun aber Aufnahme auch in den Zeitschriften Commentary, Partisan Review und The Nation fanden, wurde in den größeren Kreis der New Yorker Intellektuellen eingeführt – jenseits der deutsch-jüdischen Emigrantengemeinde, der sie angehörte. Sie war noch nicht die bedeutende Figur, die sie später werden sollte, aber schon jetzt, erst drei Jahre im Land, strahlte sie Autorität aus, weil sie „von etwas Älterem oder Tieferem, was sie als europäische Kultur verstand“, sprach, wie sich William Barrett, ein Zeitgenosse, erinnerte. Und das faszinierte ihre amerikanischen Freunde.
Im Jahre 1944 war Mary McCarthy von Arendts skeptischem Witz beeindruckt, von ihrer forschen „Sieh-mal-einer-an“-Unbekümmertheit, die sie mit ihrem in Berlin geborenen Mann, Heinrich Blücher, gemeinsam hatte und die sich auch in Flüchtlingswitzen äußerte wie dem von dem eingewanderten Dackel, der seinem früheren Leben als Bernhardiner nachtrauert. „Sie war voller Vitalität“, erinnerte sich McCarthy 1985 in einem Interview mit mir, „von einer außergewöhnlichen, elektrisierenden Vitalität … Sie erfüllte mich mit Freude und Staunen.“ Amerika, so bemerkte Arendt scherzhaft in der Murray Hill Bar, sei noch nicht „geliert“. Es sei noch immer eine Nation von kleinen Geschäftsleuten und Bauern, die mehr der Alten als der Neuen Welt angehörten und deren soziale Vorstellungswelt so eng zu sein scheine, wie die politische Vision der Gründungsväter weit gewesen sei.
Diese Beobachtung hat McCarthy im September 1947 in einen ihrer Essays aufgenommen, ihr allerdings eine andere Wendung gegeben. Sie versuchte, das Nomadenhafte des Lebens in den Vereinigten Staaten und das, was sie als „Hässlichkeit der amerikanischen Inneneinrichtung, der amerikanischen Unterhaltung, der amerikanischen Literatur“ ansah, zu erklären, und fragte sich in „America the Beautiful“, ob diese „Vulgarität“ nicht „der sichtbare Ausdruck der Verarmung der europäischen Massen“ sei, „eine Manifestation all der Zurückgebliebenheit, der Entbehrungen und Wünsche, die hier in Schiffsladungen aus Europa ankamen“. Auf die enorme Popularität amerikanischer Filme in Übersee verweisend, vertrat sie die Meinung, dass Amerika „der Abzug“ vom „unfertigen Negativ“ Europa sei.
Dieses Europa war auch die Heimat einer „stabilen Oberklasse“, deren Abwesenheit in Amerika, wie McCarthy meinte, „für viel Vulgäres auf der amerikanischen Bühne verantwortlich“ war. Es war nicht Hannah Arendts Europa. Doch auch die „Republik“, wie Arendt ihr adoptiertes Land oft nannte, war den Vereinigten Staaten der Nachkriegszeit, die McCarthy beschrieb, nicht sehr ähnlich. Arendt sah etwas anderes. In einem Brief an den Philosophen Karl Jaspers schrieb sie begeistert über Amerika und bemerkte, es gebe dort „keinen Nationalstaat und keine eigentlich nationale Tradition“.
Fantasie war hier am Werk, Einfallsreichtum und ein bemerkenswertes Potenzial an Kreativität bei beiden Frauen, nicht nur mit Auswirkungen auf ihre Freundschaft, die sich nach einem frühen Missverständnis sprung- und schwunghaft entwickelte, sondern auch auf ihre Arbeit, bei der vieles von den Idealen, die zu den Traditionen der anderen gehörten, inspiriert wurde. Man denke an Arendts kritisches Interesse – in On Revolution und Crises of the Republic – an den politischen Prinzipien, die in der amerikanischen Verfassung und der Bill of Rights niedergelegt sind, und an McCarthys Venice Observed und The Stones of Florence, ferner ihr Birds of America, in dem Kants Moralphilosophie herumspukt. Selbst in The Group mit den typisch amerikanischen Protagonistinnen – aus dem Vassar-Jahrgang 1933 – geht das letzte Wort an das Mädchen, das fortging: Lakey, die per Schiff nach Europa reist und erst am Vorabend des Krieges mit der männlich wirkenden Baronin d’Estienne, einer Deutschen, zurückkehrt.
In späteren Jahren betrachtete Mary McCarthy ihre Freundschaft mit Hannah Arendt und dem italienischen Kritiker Nicola Chiaromonte, den sie auch 1944 kennengelernt hatte, als eine Art Konversionserfahrung. „Das war wahrscheinlich Europa! Wissen Sie, ich habe nie darüber nachgedacht, bis zu diesem Moment“, sagte sie mir im Herbst 1980, als sie sich an den unvergesslichen Sommer erinnerte, in dem sie in Chiaromontes Kreis geraten war. Es war der Sommer des Jahres 1945, den sie am Strand von Truro verbrachte, nachdem sie sich von Edmund Wilson getrennt hatte. Sie und Chiaromonte hatten über Tolstoi und Dostojewski gesprochen, „und der Wechsel von jemandem wie Edmund und seiner Welt … zu den meisten der Jungs von der Partisan Review“, rief sie aus, „war absolut überwältigend.“
McCarthy hatte Theaterkritiken für die Partisan Review geschrieben und autobiografische Prosa, die unter dem Titel The Company She Keeps erschienen war. 1945 übersetzte sie Simone Weils Essay „L’Iliad, ou le poème de force“ für Dwight Macdonalds Zeitschrift politics und las russische Novellen für ihre erste Lehrveranstaltung am Bard College. Wandel lag in der Luft, vor allem nachdem Hiroshima dem Weiter-So in der Politik, auch McCarthys kurzem Flirt mit dem Trotzkismus, ein Ende gesetzt hatte. „Wir fühlten uns sehr wach im biblischen Sinne“, so erinnerte sie sich an die kleine Gruppe in Truro, zu der auch James Agee, Niccolò Tucci und Chiaromontes Frau Miriam gehörten. Aber das „absolute Erwachen“, von dem sie sprach, bestand in nicht viel mehr als im Nachdenken darüber, „was diese Schriftsteller [Weil und die Russen] sagen!“
Edmund Wilson, dessen umfangreiche Studie der europäischen revolutionären Tradition To the Finland Station nur sechs Jahre zuvor erschienen war, verkörperte, wie McCarthy glaubte, „im Vergleich dazu einen leeren, ausschließlich literarischen Standpunkt“. Es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, Tolstoi und Dostojewski als „etwas anderes als zwei Schriftsteller“ zu betrachten und festzustellen, „dass Tolstoi natürlich ein viel besserer Stilist war und Dostojewski schlechtes Russisch schrieb usw. … Niemals fiel einem dieser Leute auf, dass es einen Zusammenhang mit ihrem eigenen Leben geben könnte, zwischen ihrer Art zu leben und dem, woran sie glaubten“. Ein solcher Zusammenhang war für McCarthy lebenswichtig. Es war, als hätten die persönlichen Verluste in ihrem frühen Leben sie besonders empfänglich gemacht für die Kraft der Literatur, die „schartigen Krebsscheren“ des Selbst, die „über den Boden der stillen Meere dahinhasten“ (von denen T. S. Eliot in „The Love Song of J. Alfred Prufrock“ spricht), mit Zweck und Sinn zu versehen.
Chiaromonte und Arendt waren anders, sie unterschieden sich voneinander ebenso sehr wie von den New Yorker Intellektuellen, die McCarthy kannte. Aber sie waren beide Europäer – „und Platoniker“, wie McCarthy 1980 bemerkte, „oder besser: Sokratiker“, denen eine tiefe Sorge um die persönliche und politische Moral gemeinsam war. Das fand McCarthy aufregend – viel aufregender als ideologisch motivierte Politik. Das Gebot in Hannah Arendts Credo des Amor mundi etwa, die Liebe zur Welt an die Stelle einer exzessiven Sorge um das Selbst zu setzen, gab dem politischen Leben etwas von der erlösenden Kraft zurück, die Mary McCarthy in ihrer Kindheit aus der Religion gewonnen hatte.
Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, was sie in Hannah Arendt sah, die – wie ein sie bewundernder Jesuit schrieb – „inmitten der Trümmer der finsteren Zeiten der Moderne die Gabe besaß, poetisch zu denken“. Die Freundschaft der beiden allerdings musste zunächst über eine unglückliche Bemerkung, die McCarthy 1945 auf einer Party in New York gemacht hatte, hinwegkommen. In einem Gespräch über die Feindseligkeit der französischen Bürger gegenüber den deutschen Besatzern von Paris hatte sie gesagt, dass ihr Hitler leidtäte, weil er absurderweise die Liebe seiner Opfer wolle. Das war reiner Mary-McCarthyismus, eine Bemerkung, die fromme Antifaschisten vor den Kopf stoßen sollte, nicht Hannah Arendt. Aber Arendt wurde zornig. „Wie können Sie so etwas in meiner Gegenwart sagen – vor einem Opfer Hitlers, einem Menschen, der im Konzentrationslager gewesen ist!“, gab sie heftig zurück. McCarthy konnte das nicht wiedergutmachen. Drei Jahre später, nachdem sie sich bei einem Treffen, auf dem die Zukunft von politics diskutiert wurde, gemeinsam in der Minderheit befunden hatten, wandte sich Arendt, so McCarthy, auf dem U-Bahnhof an sie und sagte: „Machen wir doch Schluss mit dem Unsinn! Wir denken doch so ähnlich.“ McCarthy entschuldigte sich für die Hitler-Bemerkung, und Arendt gestand, dass sie nie im Konzentrationslager gewesen sei, sondern in einem Internierungslager in Frankreich. Und von da an gedieh ihre Freundschaft in einem Ausmaß, das unter modernen Intellektuellen unerreicht ist.

***

Mary McCarthy, 1912 in Seattle geboren, mit sechs Jahren verwaist und von katholischen, protestantischen und jüdischen Vormündern aufgezogen, wuchs als eigenwilliges, dickköpfiges Mädchen heran, das sich niemandem beugte außer den intellektuellen Frauen, auf die sie an der Schule traf, zuerst bei den Mesdames des Sacred Heart Convent in Seattle, später im Annie Wright Seminary in Tacoma und dann am Vassar College. Hannah Arendt, 1906 in Hannover geboren und in Königsberg (Ostpreußen) als einziges Kind gebildeter jüdischer Eltern aufgewachsen, wurde gewissermaßen die bedeutendste unter McCarthys Lehrerinnen. Ihre moralische wie intellektuelle Autorität hinderte McCarthy allerdings nicht daran, Arendts Auffassungen infrage zu stellen, sowohl wenn sie unklar waren als auch wenn sie ihren Wirklichkeitssinn verletzten.
So konnte McCarthy in ihrem ersten Brief an Arendt, nachdem sie The Origins of Totalitarianism als „eine wahrhaft außergewöhnliche Arbeit, für einen Fortschritt des menschlichen Denkens mindestens eines Jahrzehnts“ gepriesen hatte, nicht widerstehen, auf „einige sprachliche Barbarismen, wie die Verwendung von ignore im Sinne von be ignorant of“ hinzuweisen, die „in einer Neuauflage berichtigt werden könnten“. In ihrem „größeren Einwand“ an Arendts Auffassung, dass der Totalitarismus als ein „Plan“ in den Köpfen „bestimmter Fanatiker, andere ihres Realitätssinnes zu berauben“, entstünde, berührte sie einen interessanten Unterschied zwischen sich und Arendt – einen, der ihren fünfundzwanzigjährigen Briefwechsel lebendig macht und seinen zahlreichen Auseinandersetzungen die Qualität einer conte philosophique gibt.
Arendt, so McCarthy, habe „das Element des Zufalls“ im Totalitarismus vernachlässigt. Damit meinte sie die Möglichkeit, dass totalitäre Regime „gewisse Züge … einfach deshalb angenommen haben, weil sie sich bewährten“. Arendt, wie McCarthy im April 1951 schrieb, scheine zu denken, dass es „Gesetze politischer Führung“ gäbe, zu denen „die Nazis und Stalin besonderen Zugang“ hätten. Oft habe man tatsächlich diesen Eindruck, gab sie zu, aber Arendt habe versäumt, es deutlich zu machen. Stattdessen scheine sie manchmal der gegenteiligen Sicht anzuhängen: dass „der Mensch nicht der Interpret oder artiste eines rationalen Universums ist, sondern ein Schöpfer ohne Modell“.
Diese Sicht, in der Zufall und Wahlfreiheit – eher Zufall als Wahlfreiheit – die Gestaltung eines Lebens beeinflussen, war natürlich McCarthys eigene. Das Drama der Schöpfung, etwas Neues zu machen aus dem zerrissenen Gewebe von Familie, Konvention, Geschichte taucht überall in ihrer Prosa auf. Es erscheint nicht nur in Erinnerungen und Briefen, wo man von einer Autorin erwarten könnte, dass sie ihre Erfindungen prüft und ihre personae beweglich hält, sondern auch in geschichtlichen Reflexionen. In Venice Observed dient die Stadt selbst mit ihrem polyglotten Erbe als Spiegel für McCarthys ironische Auffassung von den zweischneidigen Segnungen des Waisenstandes. „Als Stadt war Venedig wie ein Findelkind, das auf den Wassern dahinglitt wie Moses in seinem Korb“, stellt sie fest. „Deshalb war es gezwungen, erfinderisch zu sein, zu stehlen und zu improvisieren.“
Der Unterschied ihrer Ansichten zu denen Arendts lag im Grunde in der Frage des Wandels – nicht des politischen Wandels, den beide Frauen in Krisenzeiten (Vietnam, Watergate) befürworteten, auch wenn Arendt durch ihr Wissen vom Totalitarismus pessimistischer geworden war; sondern des persönlichen Wandels, besonders in nahen Begegnungen mit dem anderen Geschlecht. Eine bestimmte Art persönlicher Veränderung, glaubte McCarthy, sei nicht nur möglich, wenn man sich verliebe, sondern sehr wahrscheinlich auch die einzige Rechtfertigung dafür. (Daher vielleicht ihre entsprechende Neigung. Die Liebe half in McCarthys mittleren Jahren, ein absolut schonungsloses Programm der Selbstverbesserung zu verfolgen.) Arendt, der Nietzsches Diktum, zu werden, „was man ist“, gegen alle einengenden Gewohnheiten des Denkens und der Gesellschaft, mehr lag, betrachtete dies weniger hoffnungsvoll, eher europäisch, aber ebenfalls, auf andere Weise, romantisch.
„Du weißt, dass ich der Meinung bin, man solle seinen Sinnen trauen, und deshalb glaube ich nicht, dass Du Dich geirrt haben könntest“, schrieb Arendt anlässlich einer zum Scheitern verurteilten Affäre, die McCarthy 1956 mit einem Londoner Kritiker begonnen hatte; aber sie sei froh, dass Mary sich entschieden habe, den Mann nicht wiederzusehen. Später tröstete sie sie wegen seiner Lügen, die sie Pseudologia phantastica, die Lügerei eines Angebers, nannte, die nicht dazu da sei, geglaubt zu werden (ein typisch Arendt’sches Paradoxon, aus den lateinischen Wurzeln unserer abgeschnittenen modernen Sprache herausgetrieben). „Über seine Herkunft zu lügen und in England den Aristokraten zu spielen“ war, wie sie fand, ebenso sehr eine Satire auf die Engländer wie Hochstapelei. Solche Lügen betreffen nur Tatsachen, die ohnehin ans Licht kommen, wohingegen „einer, der über seine ›Gefühle‹ lügt, wirklich sicher ist; wer kann das herausfinden?“. Da war „etwas höchst Trotziges“ in dieser Haltung, fand Arendt, und was so faszinierte, war „unter anderem“ dieser Trotz.
Brecht wird beschworen, mit seiner Warnung: „Hier habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen“ – und Heidegger, Arendts Lehrer, mit dem sie 1925 eine Affäre hatte („die große Liebe ihres Lebens“, sagte mir McCarthy 1985). Bei Männern wie diesen sei die Begabung entscheidender als die Unzuverlässigkeit oder gleiche sie zumindest aus. Für den Rebellen ohne Genie jedoch, dessen Wert nirgends in der Gesellschaft anerkannt ist, werde das Leben zwecklos. Deshalb könne „Selbstzerstörung und ›Selbstzerstörerisch‹-Werden ein zeitfüllender und durchaus ehrenvoller Job“ sein. Ehrenhafter und wahrscheinlich weniger langweilig, als sich zu retten. Eines allerdings sei wirklich nicht erlaubt, nämlich andere Menschen in diesen Zeitvertreib hineinzuziehen. So habe Mary abgeschreckt werden müssen. „Sicher ist viel Grausamkeit in all dem“, bemerkte Arendt, „aber Du kannst von jemandem, der Dich liebt, nicht erwarten, dass er Dich weniger grausam behandelt, als er sich selbst behandeln würde.“
Diese Ausführungen über die Liebe enthüllen eine unerwartete Seite an Hannah Arendt, die zweifellos durch McCarthys verzehrende Liebschaften zum Vorschein kommt. Arendts Besorgnis um die Freundin wegen deren Bereitschaft, für einen neuen Mann alles hinzuwerfen, lebte 1960 wieder auf, als McCarthy sich auf eine hektische transkontinentale Affäre mit James West einließ. West, seinerzeit der zuständige Beamte für Öffentlichkeitsarbeit an der amerikanischen Botschaft in Warschau, sollte ihr vierter Mann werden.
Arendt hatte „gefürchtet“, McCarthy könne „verletzt werden“, und McCarthy antwortete ihr im Mai 1960, sie solle sich keine Sorgen machen – „ich bin verletzt worden“, schrieb sie, nachdem sie Arendt mit der Beschreibung einer Tour für Verliebte durch Zürich, wo sie und West ein gestohlenes Wochenende verbracht hatten, unterhalten hatte. Törichterweise hatte sie West von einer früheren Affäre erzählt: Er hatte mit Unbehagen und Zorn reagiert, und sie war in Tränen ausgebrochen. Er bereute und gestand einen „schlechten Zug“ seines Wesens ein; McCarthy hatte sich nicht schuldlos gefühlt, tröstete sich aber damit, dass der „schlechte“ Zug „geheilt“ werden könne.
Die Geschichte über die frühere Affäre „klang sehr komisch“, schrieb Arendt zurück und amüsierte sich darüber, „wie lange manche Hühner doch brauchen, um zur Stange zurückzufinden“. Aber sie habe nicht diese Art des Verletztwerdens gemeint – die nur „eine andere Art des Am-Leben-Seins“ sei. Jetzt hoffe sie nur, McCarthy mache sich nichts vor: „Niemand ist je von einer Frau von irgendetwas … geheilt worden, obwohl es genau das ist, was alle Mädchen zu können glauben. Entweder bist Du willens, ihn ›wie besehen‹ zu nehmen, oder Du lässt die Finger besser ganz davon.“
Dieser Hauch von Nüchternheit – nicht zu verwechseln mit Gleichgültigkeit – findet sich auch in einer Geschichte, die der Herausgeber der Partisan Review, William Phillips, erzählt. Er hatte 1947 Simone de Beauvoir getroffen und danach bei Hannah Arendt über den „blühenden Unsinn“ geklagt, den Beauvoir über Amerika von sich gegeben hatte. „Dein Problem, William, ist, dassDu Dir nicht klarmachst, dass sie nicht besonders gescheit ist. Statt mit ihr zu argumentieren“, riet ihm Arendt, „solltest Du mit ihr flirten.“
Trotz Arendts Warnung, dass „sich niemand bloß einer Frau zuliebe ändert“, meinte McCarthy, dass sie sich „beide ein wenig verändern. Welchen Sinn hätte es, sich zu verlieben“, erwiderte sie Arendt, „wenn beide unberührt so blieben, wie sie waren?“ Schon bald war sie wieder sicher verheiratet (diesmal für achtundzwanzig Jahre). Arendt dagegen konnte die Eile, mit der geschieden und wiedergeheiratet wurde, nie verstehen. „Warum könnt Ihr nicht so miteinander leben?“, hatte Hannah – wie McCarthy sich 1985 erinnerte – gefragt. „Sie wollte, dass dieser Gedanke ernsthaft erwogen werde“, erzählte sie mir. „Und wahrscheinlich schüttelt sie, wo immer sie jetzt ist, immer noch den Kopf darüber, dass wir es nicht so gemacht haben.“
Arendt, die die Ruhelosigkeit in McCarthys Verhältnis zu ihrem dritten Mann Bowden Broadwater kannte, ihn sogar überreden half, der Scheidung zuzustimmen, hat ihrem Missfallen nur einmal Ausdruck verliehen. Als Broadwater drohte, die Scheidung so lange hinauszuzögern, bis West die seine erhielte, schrieb ihr McCarthy am 7. Oktober 1960, dass sie „vor Zorn, Enttäuschung und Unglauben“ zittere. Es käme ihr so vor, bemerkte sie finster, als ob Bowden Hannah irgendwie überzeugt habe, dass er im Recht sei. „Ich liebe Jim mehr als je zuvor, genau wie umgekehrt, und es ist einfach zu lächerlich, dass wir die hilflosen Spiegelungen anderer sind“, verkündete sie ein paar Wochen später. Arendt wies einfach mit Nachdruck auf gewisse Tatsachen hin. Broadwater sei „völlig ohnmächtig“ in dieser Angelegenheit, schrieb sie am 11. November 1960. Sie habe zu ihm „als Freundin“ gesprochen, ehrlich, „ohne Drohungen“, weil er, dank McCarthy, eben das sei („kein persönlicher Freund …, sondern ein Freund des Hauses“) und weil es so schien, als hätte sie einigen Einfluss auf ihn. Was McCarthys Äußerung, es sei für sie und West „einfach zu lächerlich … hilflose Spiegelungen anderer“ zu sein, anging, so schien es Arendt „ziemlich augenfällig, dass Ihr beide die Opfer Eurer eigenen, selbst gewählten Vergangenheit seid. Das mag unbequem sein, aber es ist nicht lächerlich, es sei denn, Du willst behaupten, dass Deine ganze Vergangenheit nicht nur ein Fehler, sondern ein lächerlicher Fehler gewesen ist.“
Solche Kommentare über die „korkenzieherförmigen Windungen“ des Herzens (nach einer Gedichtzeile von Auden, die Arendt besonders liebte: „the desires of the heart are as crooked as corkscrews“) kommen immer wieder vor in diesem Briefwechsel, der sich von den veröffentlichten Korrespondenzen anderer Autoren insofern unterscheidet, als er, neben gehobeneren Betrachtungen, auch die Unmittelbarkeit eines Frauengesprächs enthält – nicht Klatsch, obwohl es den gibt, und nicht nur bei Mary McCarthy. Arendts Skizzen von 1960 vom „kleinen Podhoretz, der bereits soooo ›müde‹ war wie der sprichwörtliche jüdische Kellner“, und Alfred Kazin, der (wie Harold Rosenberg ihr zuflüstert) „in Gang und Haltung einem arroganten Kamel“ ähnele, sind nicht so leicht zu vergessen. Was das Besondere an McCarthys und Arendts Briefen ausmacht und ihnen eine selten dramatische Kraft gibt, ist die Unmittelbarkeit ihrer Stimmen, eine Unmittelbarkeit, die manchmal offen theatralisch ist. Selbst die Kommentare zu persönlichen Angelegenheiten lesen sich wie Dialoge – das heißt, Dialoge, die Denken vermitteln.
Denken in der Funktion, die ihm in diesen Briefen zukommt (dies „Geschäft des Denkens“, wie Arendt ihre Lieblingsbeschäftigung nannte), darf nicht verwechselt werden mit Ideen oder Meinungen, die sich aus dem Denken ergeben mögen oder auch nicht. Die zahlreichen Betrachtungen von Arendt und McCarthy über die idées reςues des Geisteslebens im 20. Jahrhundert sind Übungen im kritischen Denken, doch dies unterscheidet sich seinerseits von der Tätigkeit des Denkens, die man in diesen Briefen findet. Reines Denken könnte sie genannt werden, wenn man mit diesem Adjektiv nicht gegen den Geist von Arendts „denkendem Ich“ verstieße. Im Akt des Denkens – ob er sich nun auf Angelegenheiten des Herzens, die Straßenkriminalität, Studentenrevolten oder Black-Power-Bewegung richtet – überquert besonders Arendt immer wieder, hin und zurück, jene Kluft, die normalerweise die Erfahrung des Alltagslebens von seiner Betrachtung trennt. Das Wesentliche an dieser Art des Denkens ist seine Fähigkeit, die Welt in ein schärferes Licht zu rücken, und nicht nur unsere Erfahrung der Welt, sondern die Welt selbst; sie frei zu machen von Aberglauben, Gefühl und Theorie, welche nur der Drapierung dient.
In diesem Sinne ähnelt Arendt, in ihren politischen Essays ebenso wie im Briefwechsel, Sokrates, der die Philosophie auf die Erde bringen wollte, um die unsichtbaren Maßstäbe, mit denen wir die menschlichen Angelegenheiten beurteilen, zu untersuchen. Als ich Jerome Kohn, Arendts Assistent in den Siebzigerjahren, fragte, ob „Judging“, das Thema des ungeschriebenen dritten Bandes von The Life of the Mind, eine schwierige Hürde gewesen sein könnte, sagte er: „Nicht im Entferntesten“, und verwies auf etwas, das den Lesern dieser Korrespondenz sofort einleuchten wird. „Hannah praktizierte das Urteilen ihr Leben lang. Ereignisse beurteilen, deren Folgen für andere Menschen ermessen“, bemerkte er, „war für sie ein Training des ›common sense‹.“
Diese Art von Nachdenklichkeit ist das Gegenteil der traditionellen Auffassung vom Denken, die es zum Ausreisevisum aus der kleinlichen Welt der Erscheinungen erhebt. Wer liest, was Hannah Arendt zur „schwachsinnigen Nachdenklichkeit der Intellektuellen“ schreibt, der zuckt angesichts des schwerfälligen Satzes im germanisierten Englisch vielleicht zusammen (Englisch war Arendts dritte Sprache, nach Deutsch und Französisch), wird aber, hier wie anderswo, meist mit einem neuen Verstehen dessen, wie wir über die Welt nachdenken, belohnt. Bildlich mag man sich Arendts Art des Denkens durch den kleinen Zug, mit dem sie gerne in den Schweizer Alpen fuhr, vergegenwärtigen. Sie nannte ihn „Bimmel-Bammel“ und fuhr damit von Tegna, ihrem Sommerferienort hoch in den Bergen, nach Locarno, wo sie in den Zirkus oder ins Kino ging. „In ihrem Denk-Zug fuhr sie, umgeben von Freunden, wie ein einsamer Passagier“, schreibt McCarthy, als sie in „Saying Good-Bye to Hannah“ von Arendts Verlassenheit nach Heinrich Blüchers Tod im Jahre 1970 berichtete. Und dieses ruhigere Bild ruft das unheimliche Gefühl von einem Geist auf Reisen wach, das sich auch einstellt, wenn man Arendt liest.
In Deutschland, so Gordon A. Craig, wurde kürzlich ein Reisender, der den Zug von Frankfurt nach Hamburg bestieg, mit der Ansage begrüßt: „Ich heiße Sie an Bord des Intercityexpress Hannah Arendt willkommen – wer immer das war – und wünsche Ihnen eine gute Reise.“ Etwas später kam die Stimme wieder: „Hannah Arendt war eine Dichterin.“ Und schließlich: „Übrigens, ich habe inzwischen erfahren – Hannah Arendt war eine Philosophin.“ Eine amüsante Anekdote, die zeigt, dass ein gewisses Unrecht gutgemacht wurde. (In den USA nennen wir Züge nicht nach Dichtern oder Philosophen, aber NASA-Wissenschaftler, die an Karten der Venus arbeiten, nennen die Krater dieses entfernten Planeten nach berühmten Frauen: Pearl S. Buck, Margaret Mead, Clare Booth Luce, Lillian Hellman, Gertrude Stein und Mary Stuart, Königin der Schotten. Arendt und McCarthy wurde die Ehre erspart.)
McCarthy hat ihre Freundin gerne beim „Denken“ beobachtet. „Zuzuschauen, wie [Hannah] zu einem Publikum sprach, war, als sähe man die Bewegungen des Geistes in Aktion und Gestik sichtbar werden“, sagte sie 1975 bei der Trauerfeier für Arendt. Und sie zeichnete ein lebhaftes Bild von Arendts kinetischer Beziehung zu Ideen: „Hannah war eine Konservatorin; sie gehörte nicht zu denen, die etwas, was einmal gedacht worden war, wegwerfen. Man könnte vielleicht noch Verwendung dafür finden“, so McCarthy. „Denken war für sie eine Art von Hauswirtschaften, eine Humanisierung der Wildnis der Erfahrung – Häuser bauen, Pfade und Straßen anlegen, Flüsse eindämmen, Hecken pflanzen. Die Aufgabe, die ihr zugefallen war, als einem außergewöhnlich begabten Geist und Vertreter der Generationen, mit denen sie gelebt hatte“, fuhr McCarthy fort, „war, das Denken systematisch auf alle und jede für ihre Zeit besondere Erfahrung anzuwenden – auf Anomie, Terror, moderne Kriegsführung, Konzentrationslager, Auschwitz, Inflation, Revolution, Schulintegration, die Pentagon Papers, Weltraum, Watergate, Papst Johannes, Gewalt, zivilen Ungehorsam – und wenn dies schließlich erreicht war, das Denken nach innen zu lenken, auf sich selbst und seine ihm eigenen besonderen Prozesse.“
Nicht alle diese gewichtigen Themen werden im Briefwechsel behandelt, aber – wie im Gespräch – sehr viele von ihnen. Die Philosophie hatte Arendt auf einen Weg des Denkens über die Politik und die soziale Welt gebracht, der in einem ganz praktischen Sinne für McCarthy wichtig war und es für uns noch heute ist; denn er steht sowohl der Demagogie ideologischen Denkens entgegen wie dem sektiererischen Glauben „theoretischer Intellektueller“ (McCarthys Ausdruck für die akademischen Berater von Präsident Kennedy) an die Faktenwelt der Sozialwissenschaften. Den zeitgenössischen Lesern gewähren Arendts Dialoge mit den klassischen Philosophen (den „toten weißen Männern“, wie Multikulturalisten vielleicht sagen würden) willkommene Entlastung von den gegenwärtigen akademischen Debatten darüber, was in einem pluralistischen Universum zur geistigen Tradition gehört. Ihre – unbefangen eurozentrischen – Kenntnisse der abendländischen Geschichte und Philosophie, die in ihren Briefen immer wieder auftauchen, sind heute ebendarum von Bedeutung, weil sie uns dazu herausfordern, selbst zu denken: nicht durch uns selbst – „Ich habe immer gedacht, dass man mit dem Denken beginnen muss, als ob niemand vorher gedacht hätte, und dann anfangen, von den anderen zu lernen“, hat Arendt einmal geäußert –, sondern für uns selbst. Denken ohne Geländer hat sie das genannt.
Dies war kein existenzialistischer Dünkel; die Geländer sind weg, schon lange. Tocqueville hatte recht: „Seit die Vergangenheit die Zukunft nicht mehr erhellt, irrt der menschliche Geist im Dunkeln“ (ein Lieblingszitat von Arendt). Aber das Dunkel ist, in Arendts Sicht, vielversprechend – nicht unähnlich der Dunkelheit, in die Dante in der Mitte des „dunklen Waldes“ eintritt. Die Erlösung kommt erst, wenn der Reisende es wagt, von den furchtbaren Dingen zu erzählen, die er gesehen hat.

***

Hannah Arendt war, durch Zufall und eigene Wahl, in einer deutschen Tradition abgehobener Einsamkeit erzogen worden, die ihre amerikanischen Freunde manchmal verwirrte. Mit sechs Jahren hatte sie ihren Vater verloren, im gleichen Alter, als McCarthys Eltern starben. Und schon bevor sie Hitlerdeutschland verließ und sich als Flüchtling in Paris den Sinn für die „Heimatlosigkeit“, von der sie oft sprach, erwarb, hatte sie ihre Kommilitonen an der Universität Marburg als außergewöhnlich beeindruckt: „Scheu und in sich gekehrt, mit auffallenden, schönen Gesichtszügen und einsamen Augen fiel sie sofort auf“, erinnerte sich Hans Jonas nach Arendts Tod. „Intellektueller Glanz“ sei in Marburg Mitte der Zwanzigerjahre „kein seltener Artikel“ gewesen. Was Arendt besaß, war „eine Intensität, eine innere Richtung, ein Instinkt für Qualität, eine Suche nach dem Wesentlichen, was einen Zauber um sie herum verbreitete“.
Ihre Zurückhaltung hatte nichts mit Menschenfeindlichkeit zu tun. Sie ging Hand in Hand mit einer Begabung für jene Art von Freundschaft, in der viel gegeben und wenig gefordert wird. Unter gleichgesinnten Intellektuellen fühlte sich Hannah Arendt manchmal „trunken von der Übereinstimmung gegen eine Welt von Feinden“, wie sie Mitte der Vierzigerjahre an Randall Jarrell schrieb. Bei McCarthy, deren Streitlust schnell entflammte, umso mehr, wenn andere Autoren (besonders Autorinnen) beteiligt waren, sah sich Arendt veranlasst, den Impuls zu dämpfen. Doch ihre Loyalität und ungebrochene Zuneigung für ihre liebste amerikanische Freundin waren für McCarthy, emotional gesehen, ein Zuhause, in das sie immer wieder zurückkehrte.
Es gab eine Tochter-Mutter-Komponente in dieser Beziehung. Vielleicht nur als Fantasie, aber darum nicht weniger wirklich, machte sie es McCarthy möglich, Hannah Arendt in den Dienst eines Gewissens zu stellen, das niemals schlief, auch nicht während des Schreibens. „Mein Roman geht voran, aber Du redest mir schrecklich ins Gewissen, sobald Sex auftaucht“, schrieb sie im Dezember 1954, als sie A Charmed Life etwa zur Hälfte fertig hatte. „Während einer Verführungsszene, die ich gerade schreibe, zupfst Du mich am Ärmel und sagst: ›Stopp.‹ Und Deine Proteste waren in meiner Fantasie so wirksam, dass ich alles umgeschrieben habe und es aus der Sicht des Mannes zeige statt der der Heldin.“ Die Revision war geglückt; die heiter-komische Verführung von Martha Sinnott (Sinnot, Sündige-Nicht) durch Miles Murphy, die Edmund-Wilson-Figur, rettet einen ansonsten etwas geschwätzigen roman à clef davor, zu lehrhaft zu werden.
McCarthy hat mit mir niemals über den Tochter-Aspekt ihrer Beziehung zu Hannah Arendt gesprochen, aber sie hatte ein Gespür hierfür, wenn er in Arendts Prosa auftauchte. „Dieses Buch ist sehr ›maternal‹, Hannah – ›mütterlich‹, wenn es das Wort gibt“, schrieb sie im Dezember 1968 über die Essaysammlung Men in Dark Times. Die Porträts von zeitgenössischen Dichtern, Philosophen und Revolutionären erinnerten sie an „Märchen aus den nordischen Wäldern“. Ihre „sonderbare animistische Magie … stammt zum Teil von dem Schrecken, mit dem Du sie umgibst, den ›finsteren Zeiten‹“, meinte sie. Deshalb hätten ihre „einsamen Unternehmungen“ etwas von „handgeschnitzten, hausgemachten Schicksalen“. Dies sei das einzige von Arendts Werken, das sie „deutsch“ nennen würde, fügte McCarthy hinzu und bezog sich damit nicht nur auf die „Runen“-Aspekte der erzählten Geschichten, sondern auch darauf, „welche Rolle die Freundschaft darin spielt, die der fahrenden Gesellen, die mit ihrem Bündel am Stock aufbrechen und ein Stück des Weges gemeinsam gehen“.
Arendt, die erklärte, nicht zu wissen, warum McCarthy das Buch „deutsch“ fand, stimmte ihr hinsichtlich „der Märchenqualität der Porträts“, die sie „Silhouetten“ nannte, zu. Und sie war gerührt, weil McCarthy das Motiv der Freundschaft in dem Buch wahrgenommen hatte – „im Sinne von ›ein Stück des Weges gemeinsam gehen‹ – im Unterschied zur Intimität“. Die Unterscheidung ist bezeichnend. Die Zurschaustellung von Intimem findet man in Arendts Schriften nicht, nicht einmal in ihren Briefen an Mary McCarthy. Intime Erfahrungen, so ist anzunehmen, waren für sie nicht unbedeutend, aber über das damit einhergehende Leiden, das so gut wie universal ist, zu schreiben, das war nicht der Mühe wert. Oder wenn die Erfahrung eine Saite in der Seele anschlug: Je weniger darüber geredet wird, umso besser, bis man eine Geschichte daraus macht.
„Hannah Chuzpe“, so hat ein alter Freund Arendt genannt, „weil sie sich alle aneignet und nach ihrem Bild neu schafft“. Das heißt, alle diejenigen, deren Leben und Werk den Vorhang gescheiterter Revolutionen, des Kriegs und Völkermords, der wie ein Leichentuch über ihrer Generation hing, durchstoßen hatten. Dazu gehörten die in Men in Dark Times Porträtierten, unter ihnen Rosa Luxemburg, der Literaturkritiker Walter Benjamin, Karl Jaspers, Bertolt Brecht, Isak Dinesen (Tania Blixen) und Angelo Roncalli (Papst Johannes XXIII.). In Wahrheit werden sie nicht nach Arendts Bild neu geschaffen, sondern etwas von der Revolutionärin, der Kritikerin, der Philosophin, der Dichterin, der Autorin und der Geistlichen in Hannah Arendt fließt in die Darstellung ein.
„Hannah Arroganz“, ein weniger freundliches Epitheton, kam von den „Jungs“ der Partisan Review. „Für wen hält sie sich eigentlich? Für Aristoteles?“ Das habe William Phillips gesagt, berichtete Arendt. In diesem Brief aus dem Jahre 1964 beklagte sie sich über die problematische Neigung amerikanischer Intellektueller, sich miteinander zu vergleichen, miteinander zu konkurrieren. Das war etwas, was Arendt niemals tat, vielleicht weil sie wirklich (wie sie von ihren politischen Ideen behauptete) „zwischen allen Stühlen“ saß. Oder, noch wahrscheinlicher, weil sie es besser wusste. „Sie war demütig“, meint Jerome Kohn, „aber sie war nicht bescheiden.“
„Der Neid ist ein Monster“, versicherte Arendt McCarthy im Oktober 1965, als Alfred Kazin in seinem Starting Out in the Thirties McCarthys Werk und Person angegriffen hatte, nachdem ihr Name durch das Buch The Group in aller Munde war. Arendt war der Meinung, dass die Prügel, die Mary nach der Veröffentlichung von The Group von den New Yorker Intellektuellen bezog, der Eifersucht entsprangen und diese vom Gruppendenken weiter angefacht wurde. Die Qualität des Romans – den sie als McCarthys Schwanengesang auf ihr „früheres Leben“ in den Dreißigerjahren ansah, „schön geschrieben“ und „oft auf erfrischende Weise komisch“ – stand für sie nicht zur Debatte; obwohl das Buch nach ihrer Meinung nicht gar zu ernst genommen werden sollte. Über das „Werbematerial“, das McCarthys deutscher Verleger zu The Group verteilt hatte, schrieb sie im Juni 1964, dass die Kritik voller „schmeichelhafter und komplizierter Theorien“ sei und meist an der Sache vorbeigehe. Es sei, als ob diese Leute – „ernste Tiere“ nannte Arendt sie – „vergessen haben, wie es ist zu lachen“.
Solche Kommentare über das Leben unter Literaten sind Leitmotiv der Briefe. Im März 1952, als Arendt, 1941 nach New York gekommen, noch immer ein ziemlicher Neuling war, lehrte McCarthy sie die Kunst, die Codes der Literaturpolitik in den Vereinigten Staaten zu entschlüsseln. Über den Stalinismus-Komplex, der das amerikanische Committee for Cultural Freedom davon abhielt, sich gegen Senator Joseph McCarthy zu wenden, schrieb sie Arendt, sie könne nicht glauben, dass die Mitglieder des Komitees, unter ihnen viele ehemalige Genossen bei der Partisan Review, „ernsthaft meinen, dass der Stalinismus in größerem Ausmaß bei uns latent ist und nur darauf lauert, beim geringsten Anlass wiederaufzuleben; wenn sie das aber nicht denken“ und auch nicht einfach „Opfer der momentanen Situation“ sind, fragt sie sich: „Was denken sie ›wirklich‹?“
Die Furcht dieser Leute sei echt, aber sozusagen begrenzt, entschied McCarthy. Und sie beschreibt für Arendt aus ihrer Insider-Perspektive die Aufsplitterung der amerikanischen Linken nach den Moskauer Säuberungsprozessen 1936 – 1938, über die noch immer nichts in den Schulen gelehrt wird. Über die Anhänger der Cultural Freedom schreibt McCarthy: „Sie haben eine Heidenangst davor, dass die Verhältnisse der Dreißigerjahre wieder aufleben, als die (linken) Mitläufer in Schulen, Verlagen, am Theater etc. Einfluss hatten, als der Stalinismus der große Kuchen war und diese Leute nichts davon abbekamen, sondern gesellschaftliche Kränkungen, kleinere wirtschaftliche Nachteile, Klatsch und Lästerzungen ertragen mussten.“ Sie fährt fort (in dieser für Hannah bestimmten Einschätzung, die „zwar etwas schlicht“ klingt, aber „jedenfalls realistisch“): Diese Leute, die erfolgsorientiert sind, „denken im Sinne von Seilschaften und kulturellen Monopolen und wurden durch das kurze stalinistische Intermezzo der Dreißigerjahre wirklich traumatisiert … In ihren Träumen kehrt diese Episode unablässig zurück; sie ist sogar ›wirklicher‹ als das Heute“.
McCarthys Reaktion auf den Hunger nach „kulturellen Monopolen“ unter den Intellektuellen ihrer Generation lässt Gegenwärtiges anklingen. Man ersetze im ersten Satz „Mitläufer“ durch „männliche Chauvinisten“, und schon hat man annähernd eine Aussage über die Verhältnisse, die zum paranoiden Zug im amerikanischen Feminismus beigetragen haben. Für die Generation der karriereorientierten Frauen, die durch die Diskriminierung, die sie in den Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahren an der Universität und im Beruf erfuhren, traumatisiert wurden, ist diese Zeit auch „wirklicher“ geblieben als das Heute.
In McCarthys Bemerkungen über die persönlichen, oft eigennützigen Impulse, die sich hinter ideologischem Denken und „Gruppenaufstieg“ verbergen, findet man, was sie als „Fähigkeit der Beobachtung und Analyse“ bezeichnet, „die sozialen Fähigkeiten, die Frauen aufgrund ihrer historischen Position, ohne direkte Konfrontation ihren Weg gehen zu müssen, fast schon als Spezies entwickeln“. Arendt, die ihren eigenen Weg ohne Konfrontation, direkte oder indirekte, gegangen ist, bringt ganz andere Fähigkeiten zur Analyse des geistigen Lebens im 20. Jahrhundert mit.
Im Brief vom 20. August 1954, in dem es um die „schwachsinnige Nachdenklichkeit oder nachdenkliche Schwachsinnigkeit der Intellektuellen“ geht, deren Verlangen nach Argumenten an die Stelle wirklichen Denkens tritt, bezieht sie sich auf Sokrates, um die hypothetische Frage, die McCarthy im Brief vom 10. August gestellt hatte, zu beantworten: „Warum sollte ich meine Großmutter nicht umbringen, wenn ich das will?“ McCarthy hatte Dostojewskis Frage aus Schuld und Sühne als Beispiel für die unter „Bohemiens“ zu beobachtende moderne Obsession mit der Frage „Warum nicht?“ angeführt. „›Woher weißt Du das?‹ – mit dieser Frage quittiert eine der Figuren eintönig alle Tatsachenaussagen oder ästhetischen Urteile“, fuhr sie fort und fügte hinzu: „Ich habe das Gefühl, ein Thema angepackt zu haben, dem ich nicht gewachsen bin.“ Arendt, die diesen eifrigen Brief als „eine wirkliche Freude“ empfand, erwiderte mit der „philosophischen Antwort“.
„Da ich mit mir selbst leben muss, ja in der Tat die einzige Person bin, von der ich mich niemals trennen kann, deren Gesellschaft ich für immer zu ertragen habe, will ich kein Mörder werden“, stellt sie fest. Sie hatte schon die „religiöse Antwort“ (Furcht vor der Hölle) und die „Common-sense-Antwort“ (Furcht vor dem Tod) als für den modernen Menschen nicht mehr verbindlich verworfen. Die Feststellung ist ein persönlicher Grundsatz. Es ist die Antwort des Sokrates, und auch sie hat ihre Kraft für die „Bohemiens“ ihrer Generation verloren. Warum? Weil „dieses Leben durch sich selbst, auf das sie gegründet ist“, erklärt Arendt, „das Leben des Denkers par excellence ist: In der Tätigkeit des Denkens bin ich mit mir selbst zusammen – weder mit anderen Menschen noch mit der Welt als solcher, wie es der Künstler ist. Unsere Freunde, die sehnsüchtig nach philosophischer ›Information‹ … verlangen“ – Dwight Macdonald, ein chronischer Debattierer, wird erwähnt –, „sind keinesfalls ›Denker‹ oder gewillt, in das Denkgespräch mit sich selbst einzutreten.“
Diese Passage könnte als Beweis für Hannah Arendts Arroganz dienen, wäre da nicht eine dieser plötzlichen Einsichten in das Wesen der modernen Entfremdung, die ihre Überlegungen beleben. Die „Wurzel der Moderne“ – nämlich das „Ritual des Zweifels“, das mit Descartes begann, wie sie bemerkt – ruht im „Misstrauen gegenüber den Sinnen“. In ihrem Brief vom August 1954, der die Abhandlung über Thinking in The Life of the Mind vorausahnen lässt, führt Arendt dieses Misstrauen auf die „großen Entdeckungen der Naturwissenschaften“ zurück, „die demonstrierten, dass die menschlichen Sinne die Welt nicht als das enthüllen, was sie ist, sondern im Gegenteil die Menschen nur in den Irrtum führen. Daraus folgte die Umdeutung des Common sense“. „Der Common sense (le hon sens) nämlich“, schreibt Arendt, „ist eine Art sechsten Sinnes, durch den alle besonderen, von den fünf Sinnen gegebenen Sinnendaten in eine gemeinsame Welt eingepasst werden.“ Nach der wissenschaftlichen Revolution verwandelte er sich in eine Form von Denken, die Hobbes „reckoning with consequences“, mit Folgen rechnen, nannte. Der Common sense war nicht länger ein Konzentrat der Welterfahrung eines empfindenden Wesens, noch weniger eines der kollektiven Erfahrung, sondern wurde schlicht ein Vermögen des Geistes – ein „logisches Vermögen“, das eine allgemeine Antwort auf die Frage des Zwei-und-zwei garantierte, aber „vollkommen unfähig [war], uns durch die Welt zu geleiten oder überhaupt irgendetwas zu erfassen“.
Der Brief ist ein Durcheinander von Anmerkungen, deren Grundthema, die Bedeutung der Sinne für Denken und Handeln, zweifellos Gegenstand zahlreicher Gespräche mit McCarthy war. Sie und Hannah, sagte mir McCarthy 1989, hätten beide viel Common sense gehabt – entgegen dem, was die meisten Menschen gedacht haben mögen, denn „er ist sonderbarerweise sehr unkonventionell. Konventionelle Leute“, betonte sie, „haben meist absolut null Common sense.“
Die sorgfältige Darstellung war jedenfalls nicht Arendts starke Seite; das wusste sie selbst und ließ es sich in einem Ausmaß durchgehen, das McCarthy manchmal Unbehagen bereitete. In Briefen konnte ihr die Sorglosigkeit noch vergeben und ihre Entschuldigung für „hastiges und ungeduldiges“ Schreiben oder für „ein paar Bemerkungen in Kürze, über die wir vielleicht sprechen können, wenn wir einander sehen“, anstandslos akzeptiert werden. Weniger verzeihlich dagegen war ihre „Missachtung des Wortes“, wie es McCarthy sah, wenn sie im Gedruckten zu finden war. Ein Satz, wie „The human condition of work is worldliness“ , der auf der ersten Seite von The Human Condition steht, hat McCarthy sehr gestört. In seinem unscharfen Gebrauch des Wortes weltlich musste er eine Schriftstellerin verletzen, deren Hingabe an die Klarheit und Genauigkeit des Ausdrucks bei allem, was sie schrieb, ihre Art und Weise war, die Wildnis der Erfahrung zu humanisieren.
Wenn Hannah, wie das häufig geschah, unveröffentlichte Manuskripte zur Kommentierung und Verbesserung schickte, lösten sie oft McCarthys „Protest“ gegen das aus, was Hannah „versuchte, der Sprache anzutun“ – eine Art Verletzung, die die Sprache nicht hinnehmen würde. „›Thoughtlessness.‹ Es bedeutet im Englischen nicht, was Du darunter verstehen möchtest, nicht mehr“, schrieb McCarthy ihr im Juni 1971, nachdem sie eine Vorlesung über das Denken gehalten hatte, die in Essayform als „Thinking and Moral Considerations“ erschien und schließlich in The Life of the Mind eingegangen ist. Es scheine ein „Fehler“ zu sein, gab McCarthy zu bedenken, „dem Schlüsselbegriff eines Essays eine Bedeutung aufzuzwingen, die er normalerweise nicht hat, auch wenn der Leser versteht, was Du damit sagen willst“. Als Bedeutung würde man beständig lesen: „Unbesonnenheit, Vernachlässigung, Vergesslichkeit etc.“ Sie regte an, Arendt solle „nicht ein Substitut – ein anderes abstraktes Substantiv –, sondern Substitute“ finden, so wie früher beispielsweise „Unfähigkeit zu denken“. „Aber möglicherweise versteht dieser Leser nicht“, fuhr McCarthy fort und begab sich damit aufs Eis, wohin solche Definitionsfragen häufig führten.
Der Hinweis auf Eichmanns „Gedankenlosigkeit“ hatte McCarthy gestört. Zehn Jahre zuvor, im israelischen Gerichtssaal, war Arendt über die Leichtigkeit erstaunt gewesen, mit der Adolf Eichmann seine Verbrechen zugab. „›Selbstverständlich‹ habe er eine Rolle bei der Ausrottung der Juden gespielt, ›selbstverständlich‹ wären sie, wenn er ›sie nicht transportiert hätte, nicht dem Schlächter ausgeliefert worden‹.“ Diese Aussage hielt sie in Eichmann in Jerusalem fest, dessen Untertitel A Report on the Banality of Evil fast so kontrovers war wie sein Inhalt. »›Was gibt es da zu „gestehen“?‹, fragte er. Jetzt … würde er gern ›mit [seinen] ehemaligen Gegnern Frieden schließen‹.«
Diesen letzteren Wunsch, den Eichmann mit einem „›außerordentlich erhebenden Gefühl‹“ zum Ausdruck gebracht hatte, teilte er, gegen Ende des Krieges, mit Himmler und einem anderen führenden Nazi, Robert Ley, der einen „Versöhnungsausschuss“ vorschlug, den er mit für die Massaker verantwortlichen Nazis und jüdischen Überlebenden besetzen wollte. Das „empörende Klischee“, wie Arendt die Versöhnungsidee nannte, ging nach dem Kriege auch unter „gewöhnlichen Deutschen“ um; nicht mehr von oben diktiert: „Sie haben es selbst fabriziert, gewissermaßen für den moralischen Hausgebrauch, und es besaß nicht mehr Wirklichkeitsgehalt als jene Klischees, die man dem Volk zwölf Jahre lang von oben verabreicht hatte.“
Als sie Eichmann 1961 im Kreuzverhör beobachtete, war Arendt ein interessantes Denkmuster aufgefallen. Wann immer die Richter an sein Gewissen appellierten, stießen sie auf ein „erhebendes Klischee“. Klischees und konventionelle Gefühle funktionierten als Panzer, der das Bewusstsein des Angeklagten immer dann schützte, wenn schmerzhafte Einbrüche der Wirklichkeit drohten. Eichmann selbst blieb unterdessen unberührt von den alarmierenden Widersprüchen in seinen Aussagen.
Am Ende des Krieges hatte er erklärt: „Ich werde freudig in die Grube springen, denn das Bewusstsein, fünf Millionen Juden“ – er selbst behauptete stets, „Reichsfeinde“ gesagt zu haben – „auf dem Gewissen zu haben, verleiht mir ein Gefühl großer Zufriedenheit.“ In Jerusalem dagegen erklärte er dem Gericht: „Ich werde mich gerne öffentlich erhängen, als abschreckendes Beispiel für alle Antisemiten der Länder dieser Erde.“ Den früheren, völlig vernichtenden Satz hatte Eichmann jedem gesagt, der ihn hören wollte, sogar in Argentinien, denn es gab Eichmann, so zitiert ihn Arendt, ein „außerordentlich erhebendes Gefühl“, sich vorzustellen, dass er lachend „von der Bühne abtreten würde“. Die spätere, unter vollkommen anderen Umständen geäußerte Regung erfüllte denselben Zweck, ihm ein „Hochgefühl“ zu verschaffen.
Er war ein makabrer Dr. Feelgood; und gegen diese Erkenntnis Arendts (auch wenn sie ihn nicht so nennt) scheint Mary McCarthy wenig Einwände gehabt zu haben. In „General Macbeth“ hatte sie mit einem anderen berühmten Mörder, Shakespeares König, abgerechnet, der auch eine Art Organisationsmensch war, „kein Monster wie Richard III. oder Jago oder Jachimo“. Das grauenhafte Paradox zwischen der „Schwärze seiner Taten“ und dem kleinlichen Eigennutz des Täters war erstaunlich ähnlich, was Arendt sofort bemerkte, als sie McCarthys Essay – mit Vergnügen – las, während sie Eichmann in Jerusalem schrieb.
1971, in „Thinking and Moral Considerations“, hat Arendt ihre Analyse von Eichmanns „erhebenden Klischees“ einen entscheidenden Schritt weitergeführt. Wie 1961 fiel ihr eine „außergewöhnliche Oberflächlichkeit“ bei dem Täter auf, die es unmöglich macht, das unvergleichlich Böse seiner Taten auf irgendeine tiefere Ebene zurückzuverfolgen. Eichmann hatte keine Symptome von Geisteskrankheit, keine ideologischen Interessen, keine niedrigen Motive außer dem üblichen Karrieredenken eines kleinen Beamten. Er erklärte, er habe Respekt vor den Juden gehabt oder zumindest vor den jüdischen Funktionären, mit denen er in den frühen Kriegsjahren zu tun gehabt hatte. Als designierter „Judenfachmann“ des Dritten Reiches habe er Theodor Herzls Der Judenstaat, einen Klassiker des Zionismus, gelesen, und das Buch habe einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen. Das galt auch für den „Idealismus“ (Eichmanns Wort) der Zionisten, mit denen er für kurze Zeit gearbeitet hatte, um eine „politische Lösung“ der „Judenfrage“ auszuhandeln – Ausweisung für privilegierte wenige statt der „physischen Lösung“ (Ausrottung), deren nahes Bevorstehen ihm, wie er behauptete, nicht bekannt gewesen sei. Als sie sich Jahre später in „Thinking and Moral Considerations“ an dieses Spektakel im Gerichtssaal erinnerte, fand Arendt ein „bemerkenswertes Charakteristikum“, das den Menschen Eichmann von anderen gewöhnlichen Sterblichen unterschied, und das war etwas ganz Negatives: nicht Dummheit, sondern „thoughtlessness“, Gedankenlosigkeit.
Das Wort sei ein „Fehler“, behauptete McCarthy, nicht nur weil es im „Sprachgebrauch“ kleinen Verbrechen zugeordnet werde, sondern auch weil Arendt, wenn sie behaupte, dass Eichmann sich vom Rest der Menschheit darin unterscheide, dass er der Reflexion nicht fähig sei, ihn in Wirklichkeit zu einem „Ungeheuer“ gemacht habe – wenn auch in einem Sinne, der sich von den üblichen Vorstellungen unterscheide. McCarthy zog es vor, ihn als „zutiefst, beispiellos dumm“ zu begreifen, was „nicht dasselbe [ist], wie einen niedrigen Intelligenzquotienten zu haben“. Hier stimmte sie mit Kant überein, dass „Dummheit nicht durch Schwäche des Geistes verursacht wird, sondern durch ein ›schlechtes Herz‹. Gefühllosigkeit, Stumpfheit, die Unfähigkeit, Zusammenhänge herzustellen, oft begleitet von gewöhnlicher ›animalischer‹ Schlauheit … Wenn Du [Eichmann] aber ein schlechtes Herz zugestehst“, stellte sie fest, „dann lässt Du ihm eine gewisse Freiheit, die uns erlaubt, ihn zu verurteilen.“
McCarthys Einwand nimmt einen Vorwurf auf, der 1963 gegen Eichmann in Jerusalem vorgebracht worden war: Arendts Analyse seiner „Banalität“ spreche Eichmann frei. Dass sie hier keinen dem Tod von vielen Millionen Juden angemessenen Schurken präsentiert, wurde im Verlauf des Skandals, den das Buch auslöste (über den Im Vertrauen viel zu berichten hat), zu der widersinnigen Behauptung, Arendt habe Eichmanns Verteidigung geschrieben. Die Anschuldigung machte sie sprachlos; ein Jahr verging, bevor sie auch nur mit einem Leserbrief dagegen protestierte.
In ihrem Brief an McCarthy vom September 1963, kurz nachdem die Anti-Defamation League alle Rabbiner brieflich aufgefordert hatte, beim jüdischen Neujahrsfest gegen Eichmann in Jerusalem zu predigen, begründete Arendt ihr Schweigen. Die von Rezension zu Rezension sich wiederholenden Angriffe auf sie seien Teil einer „politischen Kampagne“, die ein absurdes „Image“ des Buches schaffen sollten, um das wahre Bild zu verbergen. Dagegen könne sie nichts machen, „weil ein Einzelner per definitionem machtlos ist und die Macht der ›Image‹-Schaffer beträchtlich: Geld, Personal, Zeit, Verbindungen etc.“ sei. „Mein Standpunkt ist, dass ich einen Bericht geschrieben habe und dass ich nicht in der Politik bin, weder in der jüdischen noch sonst.“
McCarthy war verständnisvoll, aber nicht überzeugt. „Hannah schalt mich immer, weil ich auf Kritik reagierte“, so ihr Kommentar im Jahre 1985. „Sie gab vor, der Kritik absolut keine Aufmerksamkeit zu schenken. Aber das war nicht wahr.“ Arendt hätte sich „unklug verhalten“, als sie während der Eichmann-Kontroverse schwieg, fand McCarthy. „Ich denke, es war ihre Pflicht zu antworten – sich selbst gegenüber, ihrem Material gegenüber“, sagte sie mir, „aber es waren ihre Sturheit und Verletztheit und auch Stolz, die sie davon abhielten zu antworten. Ich weiß, dass sie reagierte“, fügte sie hinzu, „aber Selbsterkenntnis war nicht Hannahs starke Seite.“
McCarthy kam ihr rasch zu Hilfe und verteidigte sie in der Partisan Review, ebenso in anderen Zeitschriften und in Gesprächen eine kleine Schar weiterer Freunde, meist Nicht-Juden. Jungen jüdischen Radikalen wie Norman Fruchter (in einem Beitrag zu Studies on the Left im Jahre 1964) blieb es vorbehalten, die übergreifende Bedeutung von Arendts Werk für die „jüdische Identität“ herauszuarbeiten. In Arendts Bericht über die Rolle der Judenräte bei der Zusammenarbeit mit Eichmanns Büro – den wohl kontroversesten Partien des Buches – fand Fruchter eine Entlastung vom „Mythos des Opfers, dem Juden als Ersatz für ihre Geschichte zuneigen“. Das schuldhafte Verhalten der Offiziellen, so schrieb er, sei ebenso ein Argument für ein neues Verständnis der „Verantwortung des Bürgers, wie sie in jedem modernen Staat notwendig ist, um das Wiedererstehen der totalitären Bewegung, die Deutschland verwüstet hatte, zu verhindern“. Folgt nicht den Führern, mit anderen Worten: Beachtet die Parkuhren, wie Bob Dylan gesagt hat.
Hannah Arendts Eichmann-Porträt sollte sich in den Sechzigerjahren als ungeheuer nützlich für die Kriegsgegner erweisen, angesichts eines weiteren historischen Paradoxons – des Spektakels einer liberalen Regierung, die im Namen des „nation building“ eine blutige Intervention in einem kleinen, zurückgebliebenen Land unternahm. Ob die Radikalen der Vietnam-Ära Arendt gelesen haben oder nicht (die meisten haben es nicht): Die Ideen, denen sie mit Eichmann in Jerusalem freien Lauf gegeben hatte, prägten das Bild von „den Männern, die nun die Ingenieure dieses Krieges sind“, wie Carl Oglesby sie 1965 bei dem ersten großen Protestmarsch der Kriegsgegner auf Washington vorstellte. Es waren die Männer, „welche die Karten studieren, die Befehle geben, die Knöpfe drücken und die Toten zählen: Bundy, McNamara, Rusk, Lodge, Goldberg, der Präsident selbst. Sie sind keine moralischen Ungeheuer“, versicherte Oglesby, „sie sind alle ehrenwerte Männer. Sie sind alle Liberale“. (Vielleicht sind sie deshalb nicht zur Verantwortung gezogen worden; für sie gab es kein Nürnberg oder Jerusalem. Stattdessen ging es nach Vietnam mit dem Liberalismus im Sturzflug nach unten, und immer noch bewegt er sich, betäubt und mit Blut befleckt, außerhalb der Geschichte.)
Arendt hat die Ungeheuerlichkeit von Eichmanns Verbrechen oder die Hinrichtung, die ihn erwartete, nie infrage gestellt. Ihre Auffassung von seiner „Banalität“ kann aus den Zeilen von Brecht, die sie als Motto für Eichmann in Jerusalem wählte, herausgelesen werden:
O Deutschland, …
Hörend die Reden, die aus deinem Hause dringen, lacht man.
Aber wer dich sieht, der greift nach dem Messer.
Ihr intensives Interesse an Eichmanns klischeebesessener Unfähigkeit, von irgendeinem anderen als dem eigenen Standpunkt aus zu denken, stand nicht im Dienst zweckfreier Untersuchung, sondern war ein Versprechen an die Zukunft, aus der Vergangenheit lernen zu wollen. Sie war fasziniert und entsetzt angesichts der Möglichkeit, dass böse Taten von solchem Ausmaß nicht nur ohne „Absicht“ (im rechtlichen Sinne), sondern auch ohne Bewusstsein begangen werden konnten. Es mag leichter sein, solche Verbrechen einem „schlechten Herzen“ zuzuschreiben; und die Öffentlichkeit, besonders die amerikanische, ist im Allgemeinen damit zufrieden, offizielles Fehlverhalten mit einer unsichtbaren Befehlskette zu erklären oder, wie bei Vietnam, mit einem „Fehler“. Der Fall Eichmann dagegen lag anders.
Kant, so Arendt in Thinking, bemerkte einmal: „Das schlechte Herz ist eine Ursache von Dummheit.“ Das sei nicht wahr, behauptete sie. „Die Abwesenheit von Denken ist nicht Dummheit; sie ist bei hochintelligenten Leuten anzutreffen, und ein schlechtes Herz ist nicht ihre Ursache; wahrscheinlich ist es umgekehrt so, dass Schlechtigkeit aus Abwesenheit von Denken entsteht.“ Kohn meint, Arendt „glaubte wirklich, dass Denken Menschen dahin bringe, bösem Tun zu widerstehen“. Diese neue Sicht unterscheidet sie von den modernen Moraltheoretikern wie auch von ihrem geliebten Kant. So wird einsichtig, warum der Philosoph J. Glenn Gray kurz vor seinem Tod im Jahre 1977 über The Life of the Mind zu Kohn sagte, dass „dieses Buch mindestens hundert Jahre vor seiner Zeit“ geschrieben worden sei. Einsichtig wird aber auch, warum man in Arendts Meditationen über Denken, Wollen und Urteilen einen Geist des Fragens und Forschens finden kann, der der Platon’schen Apologie näherliegt.
Das Aufsehen, das Eichmann in Jerusalem ausgelöst hatte, hielt lange an. („Hannah Eichmann“, so entschlüpfte es dem Literaturhistoriker Alan Wald auf einer Konferenz über Mary McCarthy im Oktober 1993 am Bard College unter dem Thema „Truth Telling and Its Cost“.) Und Arendts „Verletztheit“ und „Stolz“ erwiesen sich als überaus hartnäckig. Der verstorbene Irwing Howe erinnerte sich, dass er bei einer Party für den Dichter Frederick Seidel gegen Ende der Sechzigerjahre „mit ausgestreckter Hand“ auf sie zugegangen sei. 1963 hatte er auf der Seite von Lionel Abel gestanden, dessen Kritik „The Aesthetics of Evil: Hannah Arendt on Eichmann and the Jews“, erschienen in der Partisan Review, den Angriff auf die „Rosa Luxemburg des Nichts“, wie Abel Arendt nannte, angeführt hatte. Aber Jahre vorher hatte Arendt Howe seine erste Stelle als Redakteur des Verlags Schocken Books besorgt, und er wollte ihre Freundschaft nicht verlieren. „Bei der Party“, erzählte er mir 1986, „hat sie mich auf höchst dramatische Weise geschnitten.“
Arendt hatte wahrscheinlich recht, nicht in den Ring zu steigen, um sich und ihr „Material“ zu verteidigen. Wenn sich aus der Geschichte irgendetwas lernen lässt, so geschieht dies fast immer über die Verletzungen derjenigen, die der Macht die Wahrheit entgegengestellt haben; und das erst, nachdem die Streitfragen in der Öffentlichkeit ausdiskutiert worden sind. Stolz mag ihr Schweigen bestimmt haben, aber sicher kündigte er nicht ihre Niederlage an. Und die Geschichte scheint Arendts Wahrnehmung von Eichmann und der jüdischen Elite Gewicht und Nuancierung verliehen und ihren Mut gerechtfertigt zu haben – jenen Mut, der sie ihr Buch zu einer Zeit veröffentlichen ließ, als, wie sie sicher wusste, die amerikanischen Juden noch immer voller Unbehagen mit ihrer distanzierten Haltung zu den schrecklichen Ereignissen in Europa während des Krieges zu kämpfen hatten. Der jüdische Patriotismus saß tief.

***

Eine Romanze in Briefen habe ich die Korrespondenz zwischen Mary McCarthy und Hannah Arendt genannt, denn sie spiegelt die Geschichte einer leidenschaftlichen Freundschaft, die dem Augenschein nach ganz unwahrscheinlich war. „Das Wunder war, dass diese beiden Frauen aneinander festhielten“, bemerkte ihr Verleger William Jovanovich (der in diesen Briefen selbst als eine etwas romantische Figur erscheint). „Hannah“, schrieb mir Jovanovich im Dezember 1992, „hat das Amerikanische an Mary nicht wirklich verstanden.“ Als ein Beispiel nannte er ihr Erstaunen über das Geld, das McCarthy für ihre Zähne ausgab, und fügte hinzu: „Ich wagte es nicht, ihr zu sagen, dass ich weit mehr dafür zahlte“; als ein weiteres Beispiel die abrupte Weise, in der sich Arendt verabschiedete, die McCarthy oft missverstand, weil sie mit der europäischen Art, beim Abschiednehmen nicht zu verweilen, nicht vertraut war.
Die Zärtlichkeit jedoch, die in ihren Briefen zu finden ist, zeugt von einer Freundschaft, die einer Liebesbeziehung nahekommt; kein Liebesverhältnis, aber auch nicht ganz platonisch. Eine Sehnsucht nach der physischen Nähe der anderen zieht sich durch den Briefwechsel in den Sechzigerjahren, nachdem sich McCarthy in Europa niedergelassen hatte. Mary an Hannah, Rom, 1960: „Ich schreibe Dir dies aus rein egoistischen Gründen: weil mein Herz übervoll ist und ich reden möchte. Als wären wir in Deiner Wohnung.“ Hannah an Mary, New York, 1969: „Gott weiß, warum ich erst heute schreibe. Ich habe Dir unzählige Briefe geschrieben: dass ich Dir danke, dass ich große Sehnsucht nach Dir habe, dass ich mit neuer Verbundenheit und Zärtlichkeit an Dich denke. Das Problem ist, dass Du, um zu schreiben, aufhören musst zu denken; und: Denken kann so bequem getan werden, Schreiben ist so mühselig. Vergib mir!“
McCarthy übte auf Arendt eine starke Anziehungskraft aus, insbesondere durch jene Wesenszüge, die von den kulturellen Unterschieden zwischen beiden ebenso unberührt waren wie von den kulturellen und literarischen Gemeinsamkeiten, die zwischen Arendt und den meisten ihrer amerikanischen Freunde bestanden. Das Wichtigste war McCarthys Offenheit für Erfahrungen – eine Offenheit am Rande des Naiven. Einen ähnlichen Wesenszug bewunderte Arendt an Rahel Varnhagen, die die Heldin eines ihrer ungewöhnlichsten Bücher ist – Rahel Varnhagen: Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. Rahel, deren Berliner Salon Anfang des 19. Jahrhunderts ein Treffpunkt für romantische Dichter war, beeindruckte Arendt, als sie 1929 zum ersten Mal über sie zu schreiben begann, weil es ihr darauf ankam, „sich dem Leben so zu exponieren, dass es sie treffen konnte ›wie Wetter ohne Schirm‹“.
Genauso Mary McCarthy. Aber es war das Amerikanische an ihr – das stärker zu werden schien, je länger sie im Ausland lebte –, das McCarthy von Arendts Welt trennte und beider Freundschaft etwas Märchenhaftes gab. In ihrem Vorwort zu McCarthys Intellectual Memoirs: New York 1936 – 1938 vermutet Elizabeth Hardwick – mit Recht, wie ich denke –, dass Mary für Arendt „eine goldene amerikanische Freundin“ war, „vielleicht das Beste, was das Land hervorbringen konnte: mit einem Schuss Weststaaten-Erbe, einer Prise römischen Katholizismus – eine Schülerin des Lateinischen und eine Art Blaustrumpf-Salondame der Neuen Welt und der Rahel ähnlich“.
Anders betrachtet, mehr als Geschichte zweier Reisender und weniger als Liebesbeziehung, diente das Gespräch, das Arendt und McCarthy über Ozeane und Kontinente hinweg miteinander führten, als Rettungsleine in den Stürmen der Kontroversen, an denen sie mitmachten. Sie waren eine Zweiergruppe, die in der Freundschaft Zuflucht fanden vor all den anderen Gruppen, deren Misserfolge ihre Generation heimsuchten. Dazu gehörten Kommunisten und Antikommunisten (für beide hatten sie nicht viel übrig), ferner die in den behavioristischen Wissenschaften beheimateten Gruppen der Fortschrittsgläubigen und der Sozialingenieure und schließlich die Spötter und Zweifler, von denen es im eigenen, überfüllten Haus der Linken so viele gab.
Im Ergebnis ist dies eine Geschichte vom Überleben, und erhebend ist sie nicht deshalb, weil sie gut zu Ende geht – eine Geschichte ist nie wirklich zu Ende –, sondern weil jede der beiden Frauen so offenkundig mit Vergnügen die Gaben austeilt, die ihr zur Verfügung stehen. Wenn Mary McCarthy und Hannah Arendt auch manchmal wie zwei Schulmädchen zu sein scheinen, die, untergehakt, mit leiser Stimme über die blöden Streiche der Jungen (und Mädchen) auf dem Schulhof lästern, so ist es doch gerade dieses Zugeständnis an den sozialen Boden ihres Lebens, durch das alles andere glaubwürdig wird. Wir folgen ihnen auf den entlegenen, kaum schiffbaren Flüssen des Nachdenkens über das geistige Leben unserer Zeit, weil wir uns darauf verlassen können, dass diese zwei Pfadfinderinnen wissen, wie man durchkommt.
CAROL BRIGHTMAN

Über Hannah Arendt

Biografie

Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 im heutigen Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte unter anderem Philosophie bei Martin Heidegger und Karl Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte Arendt nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 arbeitete...

Über Mary McCarthy

Biografie

Mary McCarthy (1912-1989), amerikanische Schriftstellerin, Kunst- und Theaterkritikerin. Lebte nach schriftstellerischen Anfängen im New Yorker Intellektuellen-Milieu seit den fünfziger Jahren in Italien und Frankreich. Veröffentlichte realistische, gesellschaftskritische Essays, Reportagen (u.a....

Pressestimmen
nocheinbuch

„Intim, feinsinnig und umfassend analytisch bis nonchalant plaudernd. Es war mir schlicht ein Fest - selbst ohne Kenntnis aller verhandelten Werke.“

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