


Gebrauchsanweisung für Wien - eBook-Ausgabe Gebrauchsanweisung für Wien Gebrauchsanweisung für Wien - eBook-Ausgabe
2. aktualisierte Auflage 2019
„Es ist eine heitere Annäherung an die Donaumetropole und ihre Menschen in Form von Geschichten und Anekdoten.“ - Goslarsche Zeitung
Gebrauchsanweisung für Wien — Inhalt
Eine Melange trinken, wo Joseph Roth den „Radetzkymarsch“ verfasste; sich im Dreivierteltakt um die eigene Achse drehen, wo die bessere Gesellschaft rauschende Bälle feiert; oder sich die Nacht um die Ohren schlagen, wo die besten DJs den Ton angeben: Das ist Wien, Weltstadt mit imperialer Vergangenheit und trendiger Gegenwart. Monika Czernin weiß, was den Wiener heute umtreibt, warum Oberkellner respektierte Persönlichkeiten und Obdachlose standesbewusst sind. Sie führt durch enge Gassen mit Kopfsteinpflaster und an den Donaukanal, mit Sigmund Freud um die Ringstraße und mit E-Rollern durch die brandneue Aspern-City, Leuchtturmprojekt der Wiener Stadtentwicklung. Sie kennt das jüdische wie das „rote“ Wien und erklärt, was den „Schmäh“ ausmacht, warum man „Sackerl“ und nicht Plastiktüte sagen sollte und wieso Wien derzeit mehr denn je einen Besuch wert ist.
Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung für Wien“
Warum ausgerechnet Wien?
Wenn ich an Wien denke, überkommen mich neuerdings fast ausschließlich Glücksgefühle, nicht mehr diese urwienerische Melange des Hin-und-hergerissen-Seins zwischen Zugehörigkeit und Fremdheit, zwischen Bleibenwollen oder doch lieber Auswandern. Denn Wien hat sich unangefochten zu einer der coolsten Metropolen weltweit entwickelt. Besonders in Deutschland ist man verwundert: ein zweites Berlin, vielleicht sogar noch besser! Umfassende Lebensqualität. Eine sagenhaft gute Lokalszene. Das Wiener Pop-Musik-Wunder. Woran liegt es, dass [...]
Warum ausgerechnet Wien?
Wenn ich an Wien denke, überkommen mich neuerdings fast ausschließlich Glücksgefühle, nicht mehr diese urwienerische Melange des Hin-und-hergerissen-Seins zwischen Zugehörigkeit und Fremdheit, zwischen Bleibenwollen oder doch lieber Auswandern. Denn Wien hat sich unangefochten zu einer der coolsten Metropolen weltweit entwickelt. Besonders in Deutschland ist man verwundert: ein zweites Berlin, vielleicht sogar noch besser! Umfassende Lebensqualität. Eine sagenhaft gute Lokalszene. Das Wiener Pop-Musik-Wunder. Woran liegt es, dass Wien kurzerhand alle überholt hat, dass es lebenswerter als München, genauso hipp wie Berlin, fast so reich wie Hamburg, kulturell mindestens so bedeutend wie Paris und viel lebensfreundlicher als London erscheint und regelmäßig Bestplätze auf allen Städteindexlisten erreicht – 2015 Platz 3 des Innovation Cities Index, nach London und gleichauf mit San Francisco und Boston! Was ist da geschehen?
Der Wandel, der die Stadt an der Donau seit einiger Zeit erfasst hat und sie so nachhaltig verändert, lässt sich in einer einzigen demografischen Tatsache zusammenfassen, die – in Wien – einem Paradigmenwechsel gleichkommt: Wien wächst wieder, die Stadt gehört sogar zu den am schnellsten wachsenden Städten Europas. Berlin hat sie diesbezüglich längst überholt, vor ihr liege nur noch London, heißt es. Was daran so besonders sei, und warum sich aus derlei Zahlen gleich ein Paradigmenwechsel ergebe? Nun, ganz knapp gesagt: Wien findet durch das Wachstum zu sich selbst. Was damit gemeint ist und wie das das Geheimnis dieser in die Mitte Europas gerückten Stadt beeinflusst, das werde ich Ihnen zu zeigen versuchen.
Ein Reinkarnationssturzflug in die Stadt
„I lass mi verbrennen, da fliag i no amal als Rauch über Wien. Die Ehrenrunde is des für an ewigen Verlierer, die hab i ma wirklich verdient.“ So beantwortete in den Achtzigerjahren der typische Wiener Melancholiker am Zentralfriedhof die Fragen des Multimediakünstlers André Heller. Heute würde der damalige Friedhofsbesucher, statt als Rauch über Wien nur eine Ehrenrunde zu drehen, vor lauter Staunen zu einem Reinkarnationssturzflug in seine Stadt ansetzen. Und er würde sich für sein Leben einen „Wiener Schluss“ ausdenken, so wie einst Kaiser Joseph II., um seine Untertanen nicht zu deprimieren, anordnen ließ, dass die Protagonisten solch dramatischer Theaterstücke wie Romeo und Julia nicht sterben dürfen. Und dann würde sich der zu Rauch gewordene Verlierer zu einem begeisterten Fremdenführer wandeln und uns auf seinem Flug zurück in die Stadt mitnehmen. Ganz weit im Osten, in Transdanubien, würde er uns die neue Aspern City zeigen, innovativer Leuchtturm der Wiener Stadtentwicklungsprojekte. Dann über die glitzernden Hochhaustürme auf der Donau-Platte und über die UNO-City gleiten. Über den neofuturistischen Bibliotheksbau des neuen WU-Campus von Zaha Hadid in ungläubiges Staunen geraten – „So was hat’s in Wien no nia geben“ –, alsbald südlich der Innenstadt über dem neuen Hauptbahnhof und den Baukränen des Sonnwendviertels kreisen, um schließlich neben der Marx Halle im äußeren 3. Bezirk zu landen. Im 19. Jahrhundert gehörte die erste Schmiedeeisenkonstruktion der Stadt zum riesigen städtischen Schlachthofviertel, jetzt wirbt das dort neu angesiedelte Kreativquartier mit seinem Mix aus Forschungs-, Medien- und Biotech-Start-ups mit dem Slogan „Hier passiert Zukunft“.
Der Verlierer reibt sich die Augen. Hochhäuser, Start-up-Firmen, Stadtentwicklungsflächen wie in China. All das hat es zu seiner Zeit, in den grauen Achtzigerjahren, nun wirklich nicht gegeben (wobei zu diskutieren bleibt, wann die Stadt aufgehört hat, grau zu sein). Dass er ausgerechnet in St. Marx, vor einem Sakralbau der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, gelandet ist, hat indes etwas mit dem Paradigmenwechsel zu tun. Denn das, was heute für Wien gilt, galt auch damals. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs die damalige Kaiserstadt durch den Bau der Ringstraße sprunghaft an, aus allen Ländern der k. u. k. Monarchie strömten Bauarbeiter, Unternehmer, aber auch Bankiers und Großhändler nach Wien, das sich bis zum Ersten Weltkrieg zu einer der wohlhabendsten, modernsten und kulturell bedeutendsten Metropolen der Welt entwickelte. Eine zwei Millionen Einwohner zählende Stadt mit einer erklecklichen Anzahl an Millionären, bedeutenden Wissenschaftlern und den weltbesten Literaten, Künstlern und Komponisten. Die Bedeutung des Fin de Siècle Wiens war so überwältigend, dass selbst nach dem verlorenen Krieg, dem Zerbrechen des Vielvölkerstaates, dem kontinuierlichen Verlust an Stadtbevölkerung der Glanz der alten Kaiserstadt nachhallte. „Bis 1938 fuhr man aus Prag und Brünn und Budapest noch immer zu den Wiener Theaterpremieren, lagen in den Kaffeehäusern von Agram, Krakau und Czernowitz noch immer die Wiener Zeitungen aus, war Wien sozusagen eine in Liquidation befindliche Zentrale“, schrieb Friedrich Torberg 1968. Erst seit 1945, so der Autor der urwienerischen Tante Jolesch, sei der Niedergang dann perfekt gewesen. Wien, geschrumpft und seiner geistigen Wurzeln beraubt, war endgültig zu „einer Filiale seiner selbst“ geworden. Und trotz Wiederaufbau und Wirtschaftswunderjahren blieb es bis in die Achtzigerjahre grau und traumatisiert, die licht- und fröhlichkeitsscheue Hauptstadt des kleinen Mannes.
Der Tiefpunkt des Bevölkerungsschwunds war erst 1989 (1,48 Mio.) erreicht, über eine halbe Million Einwohner hatte die Stadt seit ihrer Blüte um 1910 eingebüßt. Bieder geworden trotz feudaler Titelsucht, selbstmordgefährdet und abwanderungsselig trotz der internationalen Kunsterfolge der Wiener Aktionisten oder Sängern wie Falco, blieben der Stadt bloß ihre Walzerseligkeit, ein viel gepflegter und kunstfertiger Sinn fürs Morbide, die verstaubte Hochkultur, Lipizzaner-Figürchen und tröstende Mehlspeissortiments in traditionsreichen Kaffeehäusern, die dennoch der Reihe nach schließen mussten.
1976 begann mit der Besetzung des Jugendkulturzentrums Arena – eine verspätete Mischung aus Mai 1968 und Woodstock – zwar Wiens Gegenkulturbewegung, aber grundsätzlich änderte sich die Stadt erst 1989. Damals trat die östlichste Hauptstadt der westlichen Welt aus dem Windschatten des Eisernen Vorhangs heraus und wurde zum geistigen und ökonomischen Mittelpunkt der sich verändernden Länder Mittel- und Osteuropas. Dann kam 1995 der EU-Beitritt Österreichs und mit ihm die deutschen Studenten, gefolgt von den Balkankriegen, in denen sich flüchtende Serben, Kroaten, Bosnier und Kosovo-Albaner in die ehemalige k. u. k. Hauptstadt aufmachten und wie selbstverständlich an die alten Migrationsbewegungen anknüpften, die schon im 19. Jahrhundert zum Bevölkerungswachstum Wiens geführt hatten. Nicht zu vergessen natürlich die Türken, die, in den Sechzigerjahren wie in Deutschland als Gastarbeiter angeworben, längst in dritter Generation hier leben und weitere Türken nach sich zogen. Heute wächst Wien jährlich um die Größe einer Kleinstadt, 2030 soll die magische Grenze von zwei Millionen wieder überschritten sein, das Trauma von einst wird sich dann womöglich gänzlich in der Wiener Luft aufgelöst haben. In den Straßen und Cafés, den Künstlerateliers und Co-Working-Spaces der Start-up-Szene hört man schon jetzt die Sprachen des Vielvölkerstaates wieder, überwölbt freilich von Englisch, der Lingua franca des digitalen Zeitalters.
Wien findet im Wachstum zu sich selbst
Wird durch den Paradigmenwechsel Wien nun zu einer normalen Großstadt, zu einer durch globale Wirtschafts- und Stadtentwicklungstrends zur Unkenntlichkeit normalisierten Smart City? So modern Wien mittlerweile auch sein mag, so hipp, trendbewusst und international, die Angst ist unberechtigt, vielmehr verhält es sich genau umgekehrt. Wien findet, wie schon behauptet, im Wachstum zu sich selbst. Denn während die Leuchttürme der Wiener Kultur- und Lebensart in der Zeit des Niedergangs fast verschwunden waren – das echte Wiener Kaffeehaus, das traditionsreiche Beisl, die Wienerlied-Sänger –, gibt es heute alle diese wienerischen Einrichtungen zuhauf, ob traditionell oder mit neuen Einflüssen amalgamiert, in jedem Fall lebensrettend wie eh und je. Und wie das liberale Gründerzeit-Wien mit seinen himmelschreienden sozialen Verwerfungen in den Zwanzigerjahren sozialdemokratisch domestiziert wurde, findet die Stadtentwicklung auch heute im „sozialen Mantra“ wieder einen wichtigen Teil ihrer Identität.
Wien löst einfach reflexartig Sehnsucht und Neugier aus. Bei aller Sehnsucht nach neuen Lokalen, schräger Musik und neuen Lifestyle-Trends überwiegt jedoch immer wieder das Interesse an der vielschichtigen Vergangenheit dieser einzigartigen Metropole; an Gesichtern, die aus dieser Stadt vertrieben wurden; und an Menschen, die ihr persönliches Wiengefühl in die Welt hinausgetragen haben. Das Verlangen nach versäumten Liebeleien in den Weinbergen von Grinzing, nach einem vollendeten Konzerterlebnis und dem hinterhältigen Charme der Wiener und ihren Klischees. Selbst die Klischees sind hier theatralischer als anderswo, und hinter ihnen findet man Bilder von eigenwilliger Schönheit. Lipizzaner, die durch die Herrengasse galoppieren, ein Pärchen, das zu den Klängen aus dem Ballsaal des Palais Auersperg auf der Zweierlinie Walzer tanzt, ein Kuss am toten, dem höchsten Punkt des Riesenrads, eine Fiakerdemonstration um die Ringstraße.
Wien zieht einen so in seine widersprüchliche, mit Geschichte aufgeladene Atmosphäre, dass man froh sein muss, wenn man heil wieder herauskommt. Ich kenne Leute, die in Wien todunglücklich sind, aber die Stadt niemals verlassen würden, und solche, die dorthin zurückkehren mussten, weil der Sog der Stadt zu groß war, und die dann ebenfalls rettungslos unglücklich wurden oder – derlei Gemütszustände nehmen bei Exwienern und Neuwienern seit zwanzig Jahren kontinuierlich zu – hier endlich ihr wahres Zuhause gefunden haben. Denn Wiens neue Gründerzeit hat ein neues Lebensgefühl in die Stadt gebracht. Die Wiener sind schon lange nicht mehr so fröhlich, lebensleicht und im Umgang mit ihren Mitmenschen neidlos gewesen wie heute. Sprudelnde, überbordende Kreativität findet man an allen Ecken und Enden, sinnlich und verspielt wird Traditionelles in Zeitgenössisches verwandelt und Neues flink zur Tradition erhoben. Wien ist ein Steinbruch wiederverwertbarer Dinge mit seiner zweitausendjährigen Geschichte, in der die Stadt meistens Machtzentrum war, mit Kultur zum Abwinken – auf den Straßen, in den Museen, den Kirchen, den Galerien, Theatern. Mit Menschen, die kommunikativer sind als anderswo, die sich vernetzen und „verhabern“ (eine spezielle Form des sich verbrüderns), die sich in jedem Fall darauf verlassen können, dass hier jeder jeden kennt, dass Wien selbst im Wachstum noch ein Dorf bleibt – ein gemütliches, versteht sich.
Im Maßstab von Jahrhunderten gemessen
In historischen Brüchen und schicksalhaften Wendungen geübt, weiß die ehemalige Hauptstadt eines der ältesten Reiche Europas um ihre immerwährende Größe, ihren erneuerbaren Glanz, ihre geografische Lage als Mittelpunkt eines Raumes, der – im Maßstab von Jahrhunderten gemessen – bloß sechzig Jahre im Windschatten der Entwicklung lag. Und so ist aus dem imperialen Schein, den die Wasserkopfhauptstadt des kleinen Österreichs immer mit sich herumschleppte wie ein viel zu großes, viel zu mondänes Kleid, in den letzten Jahren doch wieder so etwas wie ein postimperiales Sein geworden.
Das Buch, das keinen herkömmlichen Stadtführer ersetzen will, widmet sich der Eigenlogik Wiens, dem Geheimnis dieser Stadt, dem, was aus meiner Sicht dafür verantwortlich ist, dass Wien heute so attraktiv ist wie wahrscheinlich seit der Gründerzeit nicht mehr. Da wäre zum Ersten die Geschichte und Kultur der Stadt, die in fast jedem der vierzehn Kapitel aufblitzt. Dann die große Fähigkeit ihrer Bewohner zur Kommunikation und damit verbunden zur Integration von Menschen, Kulturen und Lebenswelten (besonders im dritten Kapitel, über das Kaffeehaus, und im letzten Kapitel, über die Lokalszene). Und die allen Missständen zum Trotz einzigartige Stadtpolitik, insbesondere die auf das „rote Wien“ zurückgehende Wohnbau- und Mieterpolitik (im fünften Kapitel). Wien ist heute ein von internationalen Experten aufgesuchtes Best-practice-Ziel zur Zukunft der Städte, hier lernt man, wie man Wohnen sozial verträglich gestalten und Gettobildung vermeiden kann. Im Kapitel über das jüdische Wien kommt jene Lebensader zur Sprache, die die Blüte der Ringstraßenära und des Fin de Siècle überhaupt erst ermöglicht und deren Verlust die Stadt nie verwunden hat, obwohl jüdisches Leben im heutigen Wien wieder eine Konstante ist. Und dann kommen wir zu Musik, Theater und Kunst, zu den Wienern und ihren Eigenarten, zur mentalen Verortung der Stadt im Osten und nahe dem alten Osmanischen Reich. Dem Sterben (dem in Wien, je nach Epoche, barock lebenszugewandt oder morbid melancholisch begegnet wird) ist ein weiteres Kapitel gewidmet, und – quasi als abschließender Höhepunkt – wird im letzten Kapitel der sich ständig erneuernden, überaus bunten und weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Wiener Lokal- und Nightclub-Szene gehuldigt.
... und dann hoffe ich, dass Sie Wien nicht nur verstanden (besser verstanden) haben, sondern dass Sie vor lauter Begeisterung gleich in die Donaumetropole umziehen wollen.
Ankommen im Herzen von Wien
Wien. Schon der Klang hat Ihre Erwartungen geweckt. Mit einer warmen Stimme haben Sie das Wort mehrmals vor sich hin gesprochen. Wien. Sehr entschieden ist es Ihnen über die Lippen gekommen, so, als wüssten Sie bereits, was Sie, sind Sie einmal dort angekommen, alles erleben werden. Seien Sie auf jedes Klischee vorbereitet. Im Flugzeug wird man Sie womöglich mit Walzerklängen aus dem Lautsprecher und einem Promotionsfilm über die Lipizzaner, den Stephansdom und das Schloss Schönbrunn unterhalten und Ihnen ein Miniaturstück der Sachertorte aufdrängen wollen, obwohl erst Frühstückszeit ist und Sie sonst nie vor drei Uhr nachmittags Schokoladentorte essen. Wenn Sie im Zug unterwegs sind, wird Sie der Satz „In Kürze erreichen wir Wien Hauptbahnhof“ einstimmen, der Wiener Klang ist nicht zu überhören, in die Länge gezogene Worte, die Betonung wenn möglich auf der letzten Silbe, was zu dem für das hiesige Idiom typischen Sprachfluss führt. Bartók Béla, so heißen hier die Züge, die weiter nach Budapest fahren. Budapest, Prag … Mitteleuropa. Doch egal, durch welches Einfallstor Sie die Stadt schließlich betreten, Sie werden sich an Cees Nootebooms Die Hauptstadt von Kakanien erinnern und voller Erstaunen ausrufen: „Alles ist zu groß, hier herrscht das Maß der Vergangenheit.“
Selbst wenn Sie es sich nicht leisten können, sollten Sie den beiden traditionsreichsten Nobelhotels der Stadt, dem Imperial und dem Sacher, einen Besuch abstatten, gehören sie doch jenem Gründerzeit-Wien an, welches den wichtigsten Referenzrahmen unserer heutigen Betrachtungen bildet. Damals, beim Bau der Ringstraße und in Vorbereitung auf die Wiener Weltausstellung von 1873, wurden unzählige Hotels eröffnet, zwischen 1871 und 1873 allein fünf, darunter das Hotel Metropol mit seinen 460 Zimmern. Man erwartete einen beispiellosen Ansturm von Gästen aus der ganzen Welt, das Grand-Hotel am Kärntner Ring erhielt einen hydraulischen Aufzug, das Britannia Badewannen aus Carrara-Marmor. Der Euphorie und Spekulationsgier folgte der erste Schwarze Freitag in der Geschichte, der Zusammenbruch der Börsen und der Wirtschaft. Viele der neuen Hotels mussten in der Folge wieder schließen, und dennoch war die Wiener Weltausstellung auch so etwas wie die Geburtsstunde des Wiener Städtetourismus. Das Hotel Imperial am Kärntner Ring, 1863 als Palast für den Herzog von Württemberg erbaut, war, von diesem und seiner Gemahlin, einer österreichischen Erzherzogin, kaum bezogen, wieder verkauft und im Weltausstellungsjahr als Hotel eröffnet worden. Seit seinen Anfängen residieren in diesem Luxusetablissement berühmte Musiker, Dirigenten, Filmstars und Staatsgäste. Otto von Bismarck, später Nikita Chruschtschow, Jassir Arafat, Kaiser Akihito von Japan oder Queen Elizabeth. Auch Adolf Hitler ließ es sich nicht nehmen, den Glanz des Hauses zum eigenen Aufputz zu nutzen, eine Geschichte, die der Nazi-Jäger Simon Wiesenthal sechzig Jahre später – er feierte seinen neunzigsten Geburtstag im Imperial – mit einem koscheren Diner und den Worten quittierte: „Hitler ist nicht mehr, aber sogar im Hotel Imperial sind die Juden wieder lebendig.“ Sie sollten nicht versäumen, einen Blick in den Stiegenaufgang des Imperial zu werfen und im Café, dem Stammlokal von Karl Kraus und Gustav Mahler, einen kleinen Schwarzen zu deren Ehren zu trinken.
Ein Hotel ist eine Bühne des Lebens
Anders als das Imperial, das soeben von Al Habtoor Investment aus den Vereinigten Arabischen Emiraten übernommen wurde, ist das Hotel Sacher immer noch ein eigentümergeführtes Nobelhotel. Man spürt es sofort. Schon wenn man, vom Portier höflich begrüßt, durch die Drehtür ins Innere des Hotels tritt, fällt es einem wie Schuppen von den Augen. Kein anderes Haus in Wien kommt, was Eleganz, persönlichen Service, Geschichtsträchtigkeit betrifft, an das Sacher heran. In seinem berühmten Café – wenn man das Warten in der vornehmlich aus asiatischen Touristen bestehenden Schlange vor dem Eingang nicht allzu sehr fürchtet –, im Restaurant Anna Sacher oder in der nach opulenter Makart-Eleganz neu eingerichteten Lobby kann man 140 Jahre Hotel- und Stadtgeschichte atmen, gleich nebenan in der berühmten Bildergalerie die eigene Beschlagenheit über die internationale High Society einer Prüfung unterziehen und sich als selbst ernannter Grafologe am Gästebuchtischtuch der Anna Sacher an der Entzifferung Dutzender von Anna Sacher per Hand ausgestickter Unterschriften aus der Epoche der Habsburgermonarchie die Zähne ausbeißen. Sie waren alle Stammgäste, die Erzherzöge und Aristokraten, jüdischen Großbürger, Künstler und Literaten der Stadt. Auch die Hofgesellschaft speiste bekanntlich hier, wenn die Mahlzeit an der Tafel Kaiser Franz Josephs wieder einmal zu kärglich ausgefallen war. Der Kaiser war ein schneller, unsinnlicher Esser, und sobald er fertig war, mussten auch alle anderen ihr Besteck niederlegen. Daher stammt angeblich der Name für den Tafelspitz, jenes klassische Wiener Rindfleischgericht. Er verweist auf die armen Erzherzöge am Ende, am Spitz der Tafel also, die vom köstlichen Fleisch oft nicht genug bekamen. Anna Sacher, die Ehefrau des Hotelgründers und spätere Alleinerbin, hatte jedoch nicht nur ein Herz für diese an der Hoftafel zu kurz gekommene Oberschicht, sie machte das Hotel zum Mittelpunkt der damaligen Wiener Gesellschaft, einem Ort der Politik, Kultur, aber auch der diskreten Liebeleien und Staatsgeheimnisse.
Ein Hotel ist eine Bühne, an der die Zeit vorbeizieht mit ihren Moden, ihren vorlauten und leisen Tönen, mit ihrer Verwandlungskunst, Oberflächlichkeit, ihren Dramen. Beobachten Sie die Kellner, die Portiers des Sacher. Sie sind derart gut informiert, dass es Sie nicht wundern sollte, wenn sie bereits Ihren Namen kennen, bevor Sie ihn ausgesprochen oder Ihre Visitkarte überreicht haben. Natürlich nehmen Sie ein Stück der berühmten Sachertorte, wenn es Ihre Figur erlaubt, mit Schlagobers. Sie wurde noch vor der bürgerlichen Revolution von 1848 auf Veranlassung des Staatskanzlers Fürst Metternich von Franz Sacher, dem Vater des Hotelgründers, erfunden. So zumindest heißt es in den Hotel-Annalen. Seit den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts wird sie auch vom k. u. k. Hofzuckerbäcker Demel nach dem angeblichen Originalrezept hergestellt, während man im Sacher der Torte eine zusätzliche Marmeladenschicht verpasste und sie weiterhin mit dem Originalsiegel versah. Der darauf folgende skurrile und zugunsten des Sacher ausgegangene Rechtsstreit wurde vom Schriftsteller Friedrich Torberg festgehalten, dessen Geschichten über Wien, wie Sie sehen, uns öfter beschäftigen werden.
Müßig wäre es, Ihnen jetzt eine Liste der besten, interessantesten oder auch nur der günstigsten Hotels der Stadt zu präsentieren. In jedem Fall gibt es ihrer zuhauf und in jeder Preis- und Güteklasse. Viele sogenannte Boutique-Hotels, zu empfehlen etwa die Hollmann Beletage, eine kleine exquisite Innenstadtpension in der Köllnerhofgasse mit wenigen Zimmern, einer gut sortierten Bibliothek und einem hauseigenen Kino. Oder aber das Designerhotel Topazz mit seinen Tapeten und Stoffen im Wiener Werkstätten-Stil. Das Hotel Daniel in der Nähe des Belvedere, auf dessen Dach ein Boot des Künstlers Erwin Wurm gestrandet ist. Und – mein momentanes Lieblingshotel – das magdas im 2. Bezirk, ein Social-Business-Projekt der Caritas, in dem Flüchtlinge aus sechzehn Nationen die Gäste betreuen. „An einem Tag hatten wir hundert Freiwillige auf der Baustelle“, erzählte mir der Gründungsdirektor Sebastiaan de Vos über die Entstehung des Hotels. „Manager von Samsung strichen die Wände, Flüchtlinge bauten Möbel zusammen, und plötzlich gab es eine Häkel- und Strickgruppe, die unsere Lampenschirme kreierte.“ Partizipation und zivilgesellschaftliches Engagement spielen eine wichtige Rolle für die Zukunft der Städte. Das magdas HOTEL der Caritas steht für diesen neuen Trend und für die soziale und integrative Kompetenz der Stadt, die ihre Wurzel im „roten Wien“ der Zwanzigerjahre hat und bis heute zur Eigenlogik Wiens gehört.
Die Innenstadt – barock, andächtig und höfisch
Ganz gleich, wo Sie nun untergekommen sind, Sie sollten bald zu einem ersten Spaziergang durch die Innenstadt aufbrechen. Ich nehme an, dass Sie schon unterwegs sind, womöglich zur Oper, um dann in die Kärntner Straße zu eilen, an deren anderem Ende Sie der Stephansdom erwartet – das Wahrzeichen der Stadt, touristische Hauptattraktion, beliebtes Postkartensujet, Meilenstein der Wiener Stadtgeschichte. Doch davor liegt die Kärntner Straße. Auf manche Menschen übt sie einen unheilvollen Sog aus. Sie sei die „elegante und teure Geschäftsstraße schlechthin“ und hätte die „geschmackvollsten Auslagen der Welt“, schrieb der Schriftsteller Jörg Mauthe noch in den Fünfzigerjahren. Doch heute ist sie nicht besser als die Kaufingerstraße in München oder der Kurfürstendamm in Berlin. Vor lauter Auslagen und Geschäftsschildern werden Sie nichts von ihrer einstigen Eleganz entdecken. Sie müssten schon eine Feuerwehrleiter an eine der etwas zu klobigen Straßenlaternen stellen, hoch hinaufklettern, um über dem lückenlosen Auslagen- und Schilderwald die barocken und gründerzeitlichen Fassaden bewundern zu können. Stattdessen werden Sie aber womöglich bei H&M, Mango oder Zara einkehren. Draußen wartet Wien, denken Sie kurz, aber davor müssen Sie sich noch für oder gegen den fetzigen Rock und die beiden Pullis entscheiden, die man auch noch im Winter wird anziehen können. So, und nun treten Sie wieder hinaus auf die Kärntner Straße, ins bunte Großstadtleben, behängt mit einer schweren Einkaufstüte. Vielleicht versuchen Sie, sich gleich statt „Tüte“ die hier gebräuchlichen Worte „Sackerl“ oder „Plastiksackerl“ anzugewöhnen. Sie wissen ja, Österreicher, und insbesondere die Wiener, hegen Vorurteile gegen die „Piefkes“. Damit sind die Deutschen, vor allem die hinter der Weißwurstlinie gemeint. So sind die Leute hier eben. Aber nur weil diese Gebrauchsanweisung Ihnen Lust auf Wien machen soll, kann ich Ihnen doch die Schattenseiten seiner Bewohner nicht verschweigen. Sie flanieren weiter. Schöne Schuhe, Souvenirs. Halt! Wenn Sie allein sind, wird Sie das schlechte Gewissen, ansonsten vielleicht Ihr Begleiter auf den rechten Pfad der Kultur zurückpfeifen.
Die Finsternis des Kirchenraums
Da vorn sind schon der Stephansdom und der „Steffl“, sein aus mehreren Jahrhunderten Baugeschichte aufgeschichteter Südturm. Man sagt, solange der „Steffl“ in den Himmel ragt, ist für den Wiener die Welt in Ordnung. Ebenfalls zu dieser Ordnung gehört das Läuten der Pummerin an Silvester. Jedes Jahr feiern einige Hunderttausend Menschen, darunter stets eine stattliche Anzahl italienischer Touristen, den Jahresbeginn in den Straßen von Wien. Ihre Bravorufe und der Lärm der explodierenden Feuerwerkskörper übertönen längst den gewaltigen Ton der monumentalen Kirchenglocke. Mit über 21 Tonnen ist sie eine der schwersten der Welt, sie kann die Turmspitze des Stephansdoms gleich zentimeterstark zum Schwingen bringen, wie einen zaudernden Seismografen, der sich vor dem Neuen im neuen Jahr fürchtet. Wenn die Wiener zum Klang ihrer Pummerin zu Hause vor den Fernsehgeräten die Sektkorken knallen lassen, sind bei aller Ausgelassenheit die dunklen und mahnenden Untertöne der Pummerin nicht zu überhören. Sie, die aus 180 zurückgelassenen Kanonen der Türken zusammengeschmolzen wurde, scheint um die Katastrophen der Stadt zu wissen. 1945, kurz vor Kriegsende, ging die Pummerin beim Brand des Domes zu Bruch und zerschmolz, als ob sie aus Scham dem Land ihren Klang verweigern wollte. Denn aktiven Widerstand gegen das Dritte Reich haben auch in Wien und Österreich nur wenige geleistet. Ein kleines, unscheinbares Zeichen, rechts vor dem Eingangsportal an der Außenwand des Doms, verweist auf sie. Die wichtigste Widerstandsgruppe Österreichs trug die Abkürzung „O5“ (O und der fünfte Buchstabe des Alphabets, das E, für „Oesterreich“). Jemand hat dieses Kürzel auf die Wand von Sankt Stephan gekritzelt, mitten im Krieg, vielleicht mit einem Flehen auf den Lippen und großer Angst im Nacken.
Das Schönste am Stephansdom ist das Licht oder vielmehr die Finsternis im Inneren des Gotteshauses. Sie sind durch das gewaltige gotische Portal, im Winter auch noch durch die Filzmattenschwenktüren in das Innere der Kirche getreten und sehen so gut wie nichts. Anders als bei vergleichbaren gotischen Kathedralen hat das sechs Meter über den Seitenschiffen aufragende Mittelschiff des Stephansdoms keine eigene Fensterreihe. Licht strömt ausschließlich durch die Glasfenster der Seitenschiffe und schickt weiße und bunte Strahlen ins Kircheninnere. Die wenigen verbliebenen mittelalterlichen Glasfenster tauchen die Kirche in ein buntes Edelsteinleuchten. In der Barockzeit, im 19. Jahrhundert und natürlich nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die meisten Fenster ersetzt, das Lichtermeer von Sankt Stephan indes blieb bestehen.
Wenn Sie sich ein wenig an die im Mittelschiff herrschende Dunkelheit gewöhnt haben, werden Sie die kostbaren Kunstschätze des Doms schemenhaft aufblitzen sehen, und so Sie an die Anwesenheit des Göttlichen glauben, wird es Ihnen bei der Lichtregie von Sankt Stephan nicht besonders schwerfallen, diese Anwesenheit tatsächlich auch zu spüren.
Adolf Loos hat den Stephansdom 1906 den „schönsten Innenraum“, den „weihevollsten Kirchenraum der Welt“ genannt. „Dieser Raum erzählt uns unsere Geschichte. Alle Generationen haben daran mitgearbeitet, alle in ihrer Sprache. Bis auf die unsere – denn die kann ihre Sprache nicht sprechen. Und so ist dieser Raum am herrlichsten, wenn die Mitarbeiterschaft der letzten vierzig Jahre nicht zu Worte kommt. In der Dämmerung, wo man der Kirchenfenster nicht gewahr wird. Dann aber strömt dieser Raum auf einen ein, dass man ... Ich sehe, ich kann mich nicht ausdrücken, wie er wirkt. Aber vielleicht beobachtet jeder das Gefühl, das ihn erfasst hat, wenn er nach dem Durchschreiten die Straße betritt. Es ist stärker als nach der Fünften von Beethoven. Aber die dauert eine halbe Stunde. Sankt Stephan braucht dazu eine halbe Minute.“
Wo Grillparzer einst Akten wälzte
Gehen Sie noch einmal zurück zum Anfang der Kärntner Straße und biegen in die Johannesgasse ein. Schon befinden Sie sich auf Wiens Spuren von Musik und Literatur. Im ehemaligen Hofkammerarchiv, dem heutigen Grillparzerhaus, ist das Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek untergebracht, eine Art erzählerische Herzschlagader der Stadt. Johann Nestroy, Arthur Schnitzler, Franz Kafka, Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, aber auch Autoren wie Friederike Mayröcker haben hier Spuren hinterlassen. Man findet den Regiestuhl des österreichischen Wortakrobaten Ernst Jandl ebenso wie Werkskizzen zu Robert Musils Jahrhundertroman Der Mann ohne Eigenschaften. Der imaginäre Hausherr ist freilich der urösterreichische Dichter Franz Grillparzer. Wären Sie beispielsweise eines Herbsttages im Jahr 1852 in die Stadt gekommen, hätten Sie ihn hier bei der Arbeit vorgefunden. „Ins Bureau. Statt des Kaisers Geschäfte zu besorgen, aus dem Deutschen ins Englische übersetzt“, schrieb der eigenwillige Staatsbeamte in sein Tagebuch. Als langjähriger Direktor des Hofkammerarchivs hatte Grillparzer unter anderem die Zahlamtsbücher mit den an die Musiker zu vergebenden Gagen zu verwalten. Fünfundzwanzig Jahre lang war der Dichter Direktor, doch für den innerlich ohnedies Zerrissenen war die Doppelbelastung, Brotberuf und Schriftstellerei, so erfährt man, kein Problem. „Im Büro Xenophon gelesen“, notiert er an einem anderen Tag. Bei seiner Pensionierung wurde ihm der Titel „Hofrat“ verliehen, jenes höchste Adelsprädikat des österreichischen Beamtentums. Durchaus österreichisch lautete auch die Begründung: wegen seiner „langjährigen, eifrigen und ersprießlichen Dienstleistung als Staatsdiener sowie seinen seltenen und ausgezeichneten Leistungen als Schriftsteller“.
Ganz unten, an der Ecke zur Seilerstätte, befindet sich ein Zweig der berühmten Universität für Musik und darstellende Kunst. Die Hochschule, im frühen 19. Jahrhundert gegründet, ist die größte Kunstuniversität Österreichs und die größte Musikuniversität weltweit (und für uns wichtig, weil wir noch zurückkommen werden auf die Musik in dieser Stadt). Mindestens die Hälfte der 3000 Studenten sind Ausländer, jeder asiatische Geiger mit Ambitionen versucht hier sein Glück. Und zwei Straßen näher zum Stephansdom, am Franziskanerplatz, lädt das kleinste Kaffeehaus Wiens – das Kleine Café – zu einer Verschnaufpause. Altes barockes Wien! Kopfsteinpflaster! Wenig Licht fällt in die schmalen Gassen. Sie ziehen weiter, werfen einen Blick in die uralte Ballgasse, gehen weiter zur Singerstraße. Überall tun sich malerische Blicke auf, Hinterhöfe, die Theaterkulissen gleichen. Von den kleinen Gassen biegen noch kleinere Gässchen ab. Etwa die Nikolaigasse, eine winzige Seitenstraße der Grünangergasse, in der Grillparzer eine Weile lang gelebt hat. Sie müssen gut aufpassen, dass Sie die Nikolaigasse nicht übersehen, so klein ist sie. Sie ist eine stille, enge Hinterhausgasse, am Ende ein großer Kastanienbaum und eine winzige Schwulenbar mit dem sinnigen Namen „Versteck“. Die Nikolaigasse finden Sie wahrscheinlich in keinem Führer, denn sie birgt keine offensichtliche Attraktion. Und doch schlägt auch hier das Herz Wiens. Ich liebe die Stadt wegen solcher Orte und werde nie müde, nach ihnen zu suchen.
Sie gelangen in die Domgasse und werfen geschwind einen Blick in die mittelalterliche Blutgasse. In der Domgasse befand sich angeblich das erste Kaffeehaus, eröffnet von einem polnischen Spion namens Kolschitzky nach der zweiten Türkenbelagerung 1683. Es hieß „Zur blauen Flasche“, anderen Quellen zufolge „Zum roten Kreuz“. All das klingt einigermaßen erfunden, wie so viele Geschichten in dieser Stadt. Schichtenweise türmen sie sich auf, je älter das Stadtviertel, desto höher. (In Wirklichkeit war es nämlich der armenische Kaufmann und Geheimagent des Hofkriegsrats, Johannes Diodato, der als Erster das Kaffeehausschankprivileg erhalten hatte, und zwar im Jahr 1685.)
Die winzige Domgasse! Auf Nummer fünf wohnte drei Jahre lang Wolfgang Amadeus Mozart und komponierte hier neben kleineren Werken Die Hochzeit des Figaro. Haydn und Beethoven besuchten den Meister, und fast hundert Jahre später kam Johannes Brahms ins Mozarthaus (heute ein kleines Museum), um dem nun dort wohnhaften Pianisten Julius Epstein seine Aufwartung zu machen. Blicken Sie auch in den Innenhof von Hausnummer, vier. Mauern, so dick wie Türme, Specksteinplatten, eine einfache Innenhoffassade. Lehnen Sie sich an die Hausmauer, und nehmen Sie den Ort mit allen Sinnen wahr. Aus dem Mezzanin (so heißt in Wien das Geschoss zwischen Parterre und erstem Stock) dringt die typische Mischung aus Keller- und Küchengeruch. Selbst nach Jahren konnte ich nicht eruieren, was in den Töpfen solcher Wohnungen vor sich hin köchelte.
Tel Aviv hinter dem Stephansdom
Gleich um die Ecke hat vor Kurzem das Miznon aufgemacht, ein jüdisch-mediterranes Streetfood-Restaurant des israelischen Starkochs Eyal Shani. Man isst im Ganzen gebratene Blumenkohlköpfe und Lammhaxen auf Papier samt Pita und Mezze, hört das von orientalischen Popklängen untermalte Kunterbunt der Sprachen an den Nebentischen und fühlt sich wie in Tel Aviv, wo das Mutterhaus dieses Kultlokals zu finden ist. Dabei sind Sie nur zwei Schritte vom Stephansdom entfernt.
Gehen Sie weiter zum Fleischmarkt. Hier finden Sie ein einzigartiges Gemisch historischer Spuren, einen Mikrokosmos wienerischer Lebenswelten. Etwa in der winzigen Griechengasse, wo Sie eine blecherne Verkehrstafel entdecken werden: „Schwerfuhrwerkskutscher haben die Pferde am Zügel zu führen oder eine erwachsene Begleitperson zur Warnung der Fußgänger voranzuschicken.“ Pferdefuhrwerke? Erst jetzt lesen Sie das Kleingedruckte und schmunzeln: „Kundmachung vom 8. Mai 1912.“ Im Griechenbeisl, benannt nach den griechischen Kaufleuten, die im 18. Jahrhundert den Handel Wiens mit dem Balkan und der Levante dominierten, finden Sie in einem uralten Gewölbe Autogramme von Mozart, Bismarck, Prinz Eugen von Savoyen, Beethoven, Wagner und Albert Einstein. Das Lokal gibt es seit 1447, freilich damals noch unter einem anderem Namen, und so darf es sich getrost als das älteste Wirtshaus Wiens bezeichnen.
Doch Sie wollen bestimmt weiter, wollen gar nicht so viele Innenhöfe, Gässchen und urige Lokale erkunden. Dann gehen Sie jetzt zurück zum Stephansplatz. Sie erreichen ihn dort, wo die Fiaker stehen und auf Kundschaft warten. Dies ist der beste Weg, um sich dem geschäftigen Treiben zwischen Kärntner Straße und Graben zu nähern, aus dem Hinterhalt gewissermaßen. Man hört die eigenen Schritte laut zwischen den hohen Mauern, Pferdegeruch steigt in die Nase, Fiaker grüßen. Im Winter, wenn man eilig und in einen dicken Mantel gehüllt an den Kutschen vorbei zur U-Bahn huscht, dampfen die Pferde in der Kälte, und der eigene Atem gefriert in der eisigen Luft. Der Stephansdom wirkt schützend, der Platz kalt und groß. Im Sommer hingegen ist die Stimmung fast mediterran. Die alten Gemäuer haben die Kühle des Winters gespeichert und geben nun Frische ab.
Bedenken Sie, dass Sie auf labyrinthischen Katakomben wandern, die den Stephansdom und Teile des Stephansplatzes unterkellern. Bis ins Jahr 1783, als Kaiser Joseph II. aus Gesundheitsgründen und wegen des Gestanks alle Krypten innerhalb der Stadtgrenzen stilllegen ließ, fand man in Wiens unterirdischen Nekropolen seine letzte Ruhestätte. Der älteste Teil ist die Herzogsgruft mit dem Sarkophag Erzherzog Rudolfs IV., genannt der Stifter. Hier lagern auch siebzig kupferne Urnen mit den Eingeweiden von Habsburgern. Deren Herzen und Körper sind indes anderswo begraben – die Herzen im „Herzgrüftl“ der Augustinerkirche, die Leiber in der Kapuzinergruft. Aber auch die Knochen aus einem Massengrab für die Opfer der Pestepidemie von 1713 und die Überreste von 11 000 weiteren Bürgern der Stadt, darunter den zwei berühmten Barockarchitekten Johann Lucas von Hildebrandt und Johann Bernhard Fischer von Erlach, sind in einer der dreißig bis zur Decke gefüllten Kammern aufgeschichtet. In den Siebzigerjahren des 19. Jahrhundert hatte man die Leichen auf diese Art eingemauert, damit die Katakomben wieder zugänglich wurden.
„Die Autorin (...) ist eine exzellente Wien-Kennerin. Charmant führt sie einen durch die prachtvolle Vergangenheit und die spannende Gegenwart - und natürlich in die Kaffeehäuser.“
„Es ist eine heitere Annäherung an die Donaumetropole und ihre Menschen in Form von Geschichten und Anekdoten.“
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