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Gebrauchsanweisung für Südtirol

Reinhold Messner
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„Eine erhellende, jedem Urlauber zu empfehlende Liebeserklärung an die Region.“ - Backnanger Kreiszeitung

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Gebrauchsanweisung für Südtirol — Inhalt

Vom berühmtesten Südtiroler unserer Zeit

„Die Dolomiten sind nicht die höchsten Berge der Welt, auch nicht die gefährlichsten, aber bestimmt die schönsten.“ Reinhold Messner zeigt uns sein Südtirol mit seiner einzigartigen Dichte an Burgen, Schlössern und Museen, mit 300 Sonnentagen im Jahr, italienischem Flair und österreichischer Gemütlichkeit, der kleinsten Stadt der Alpen, den tiefsten Weinkellern und dem höchsten Berg im deutschen Sprachraum.

Das Herzstück der Alpen im Zentrum Europas

Messner weiht uns in die geologischen Schätze ein, geht dem Mythos um Andreas Hofer auf den Grund und dem Rätsel des Similaunmanns, der alpines Leben in der Kupferzeit entschlüsseln half. Er erzählt von der identitätsstiftenden Geschichte des Landes. Versucht zu beantworten, wie Tradition und Fortschritt, politische Autonomie und persönlicher Einsatz zusammengehen, wie Seilschaften hier funktionieren und die Globalisierung auch vor der Provinz nicht haltmacht. Warum Fensterln und Frömmigkeit eng zusammengehören. Und wie der Ausgleich zwischen Aktion und Kontemplation, zwischen Freizeitvergnügen und Verantwortung für die Natur gelingen kann.

Eine liebevoll-kritische Würdigung vom berühmtesten Südtiroler unserer Zeit

Reinhold Messner, Südtiroler mit Leib und Seele, der vom Bauernbuben zum weltbekannten Bergsteiger wurde, ist seiner dreisprachigen Heimat immer eng verbunden geblieben. Mit kritischer Heimatliebe spürt er den Besonderheiten der Region nach: zwischen Italien und Österreich, Dolomiten und Ortler, Brenner und Salurn. Zwischen Spaghetti und Speckknödeln, Weinreben und Gletscherfirn, zauberhaften Altstädten und schier unbegrenzten Outdoor-Erlebnissen. Zwischen Ötzi und Wellness-Oasen, Fremdbestimmheit und Selbstbehauptung, ganzjährigem Tourismus und Nachhaltigkeitsdenken.

Mit neuen Passagen u.a. zu Tourismus, Nachhaltigkeit und politischer Autonomie

€ 16,00 [D], € 16,50 [A]
Erschienen am 29.06.2023
224 Seiten, Flexcover mit Klappen
EAN 978-3-492-27776-1
Download Cover
€ 13,99 [D], € 13,99 [A]
Erschienen am 29.06.2023
224 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-60482-6
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Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung für Südtirol“

I Mitten in Europa
„Ich frage mich, wie viele Horizonte das Land hat, den von oben gesehenen, den aus Tälern gesehenen und den innen im Stein. Ich frage mich: wie viele ungesehene Horizonte, und welcher Teil den Teil überwiegt, der offen liegt; und um wie viel in diesem offenen Teil der abseits unbekannte, kaum je von einem Blick betretene, den überwiegt, mit dem wir uns begnügen müssen und uns zurechtfinden: hier die Straße, Richtung, Einteilung des Landes auf seinem uns zugänglichen, unvollständigen Teil.“
Franz Tumler

Wer von Berlin, Warschau oder [...]

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I Mitten in Europa
„Ich frage mich, wie viele Horizonte das Land hat, den von oben gesehenen, den aus Tälern gesehenen und den innen im Stein. Ich frage mich: wie viele ungesehene Horizonte, und welcher Teil den Teil überwiegt, der offen liegt; und um wie viel in diesem offenen Teil der abseits unbekannte, kaum je von einem Blick betretene, den überwiegt, mit dem wir uns begnügen müssen und uns zurechtfinden: hier die Straße, Richtung, Einteilung des Landes auf seinem uns zugänglichen, unvollständigen Teil.“
Franz Tumler

Wer von Berlin, Warschau oder Zakopane nach Rom fahren will – im Zug, mit dem Auto oder auf dem Fahrrad –, kommt um Südtirol schwer herum. Denn Südtirol liegt als eine Art Nadelöhr nicht nur auf dem Weg ins ehemalige Machtzentrum des antiken Europa, es liegt auch im Gebirge, im vielfältigsten Stück der Alpen, genau dort, wo der Süden Europas auf den Norden des Kontinents trifft. Dieses Land ist schon lange nicht mehr das Ende der Welt. Südtirol liegt heute mitten in Europa.
Vor mehr als 110 Jahren war das nicht anders, und das Land Tirol war ungeteilt. Damals wagte es der Lehrer Sepp Schluiferer alias Carl Techet, seine Heimat in einem geistreichen Büchlein mit dem Titel „Fern von Europa. Tirol ohne Maske“ als weltfremd, undemokratisch und hinterwäldlerisch zu schildern. Er wurde in die Verbannung geschickt. Nur weil er recht hatte. Heute würde ein solches Buch womöglich gar nicht erst gedruckt. Denn in Südtirol sind Publikationen in erster Linie dazu da, um das Land zu preisen. Weder jene gut 530 000 Einwohner, die im Lande leben, noch all jene – es sind viel mehr, es sind Millionen –, die auf ihrer Urlaubsreise das lokale Bruttosozialprodukt aufbessern, sollen mehr über Land und Leute wissen als unbedingt notwendig. Gegen die Aufklärung haben schließlich schon die Schützen unter Andreas Hofer gekämpft.
Einen objektiven Ratgeber in Sachen Südtirol allerdings werden Sie auch in mir nicht finden, denn wie alle Südtiroler liebe auch ich meine Heimat. Nicht etwa, weil dies meine Pflicht wäre. Zuallererst weil sie so einzigartig ist.
Wenn ich von meinen Reisen nach Tibet, in die Antarktis oder nach Patagonien zurückkomme, empfinde ich dies in besonderem Maße. Denn aus der Ferne sieht man seine Heimat immer „schöner“. Es liegt also allein an mir, wenn meine Erwartungen beim Zurückkommen oft enttäuscht werden. Vielleicht hat mich nur diese Sehnsucht und dann der Schock, wenn das „Ideal“ nicht den vorgefundenen Tatsachen entsprach, zu einem kritischen Südtiroler werden lassen. Trotzdem bin ich Südtiroler geblieben. Für mein Selbstwertgefühl allerdings brauche ich kein Vaterland und keine Heimatfahne, keine Nation und keine Revolution, auch keine Nationalhymne. Ich bin nicht stolz, Südtiroler zu sein, höchstens dankbar dafür, in diesem kleinen „Land an der Etsch und im Gebirge“ groß geworden zu sein, und bereit, Verantwortung für die Zukunft dieses Landes zu übernehmen.
Als Südtiroler habe ich kein national geprägtes Selbstverständnis. Mir reicht ein lokales. Also bin ich weder Italiener noch Österreicher oder Deutscher. Ich bin Südtiroler, als solcher italienischer Staatsbürger, auch Europäer und ein bisschen Weltenbürger. Bin ich doch viel auf diesem Planeten herumgekommen. Vor allem dort, wo die Erde wild geblieben ist: in den Sand- und Eiswüsten, in den großen Gebirgen und auf menschenleeren Hochflächen. Das Überleben war dort oft das einzige Problem.
Leicht hat man mir das Leben auch daheim nicht gemacht. Denn als moderner Nomade war ich rasch zum heimatlosen Gesellen abgestempelt, gar zum Egomanen, zum Nestbeschmutzer auch, weil ich vergessen hatte, die Heimatfahne am Gipfel des Everest zu hissen. Als gelte die Selbstbestimmung, die wir Südtiroler unentwegt fordern, nur im Kollektiv, nicht für den Einzelnen.
Trotz alledem aber bin ich Südtiroler geblieben. Auch werde ich immer wieder in dieses Land zwischen Ortler und Dolomiten, zwischen Brenner und Salurn zurückkehren. Ich habe vor hierzubleiben. Nicht nur, weil ich mit meinem Bergmuseum endlich eine Chance erhalten habe, mich auch hier auszudrücken, meine Erfahrungen einzubringen, vor allem, weil ich kein lebenswerteres Fleckchen Erde in Mitteleuropa kenne. Zwischen Weinreben und Gletscherfirn, zwischen Dörfern und Höfen sind es gerade dieses Landschaftsbild, dieses Licht, dieser Menschenschlag, die zu mir gehören. Dieses mir Eigene, das Lokale, das Unsere ist es, das mir Heimat bedeutet. Ja, ich stehe zu Südtirol, dieser kleinen Provinz, und ich bin überzeugt davon, dass es vor allem das Provinzielle ist – sollten wir es bewahren können –, das uns Südtiroler in einer globalisierten Welt auszeichnet und bestehen lässt. Meine Lieblingshütten will ich hier indessen nicht nennen; sie sollen nicht zu überlaufenen Hotspots werden. Aber es gilt: Je weiter weg von der Straße, desto ruhiger und desto größer der Erholungswert.

Vor 5300 Jahren, als sich ein fellbekleideter Mann in den Ötztalern, einen Steinwurf weit vom Alpenhauptkamm entfernt, zum Sterben niederlegte, gab es weder nationale noch regionale Grenzen. Die Menschen lebten als Halbnomaden und zogen sommers, Steinböcke jagend und Beeren sammelnd, mit ihren domestizierten Tieren umher. Im Frühling ging es bergwärts, im Herbst talwärts. An ihren Winterplätzen, wo sie Hirse und Gerste anbauten, blieben sie nur ein paar Monate lang. Dort, in festen Behausungen, wurden Kraxen, Hausrat, Waffen und Kleider ergänzt, alles, was sie zum Überleben brauchten, wenn sie im Sommer wieder auf die Weideflächen über der Waldgrenze zogen, wo die Tiere stark und widerstandsfähig für die harten Winter wurden. Diese späten Steinzeitmenschen wussten nichts von Vitaminen und Mineralien. Sie teilten sich ihr Territorium, das sie in Tagesmärschen ausmaßen, mit anderen Sippen und gehorchten den Gesetzen der Natur. Ihre Religion entsprach der Natur draußen, der Menschennatur und dem Lauf der Gestirne.
Wir wissen nicht, wie der Mensch, den wir heute Ötzi oder Similaunmann nennen – für die Amerikaner heißt er Frozen Fritz –, in einen Hinterhalt geriet. Auch nicht wann und wo. Ausgekannt allerdings hat er sich gut zwischen den Fernern und Felsen hoch oben über der Baumgrenze. Er ist wohl ein Stück weit geflohen – nach überstandenem Nahkampf, angeschossen, die Pfeilspitze im Rücken, am Schulterblatt. Ob er an seinen Verletzungen, an Schwäche oder an Unterkühlung gestorben ist, muss vorerst offenbleiben. Jedenfalls hatte er alles bei sich, was ein Halbnomade damals so brauchte: Kupferbeil, Bärenfellmütze, Messer, Pfeile, bestens isolierte Schuhe und einen noch unfertigen Langbogen.
Als man ihn 1991 am Hauslabjoch in Südtirol aus dem Eis pickelte, entschlüsselte sich der Wissenschaft das alpine Leben in der Kupferzeit. Heute ist die Eisleiche weltberühmt. Gewebeproben des ausgetrockneten, spindeldürren Körpers, mit einer Haut wie gegerbt, wurden von Wissenschaftlern rund um den Globus angefordert. Sein Mageninhalt, sein Stuhl, seine Tätowierungen wurden untersucht, seine Lebensweise studiert. Diese Mumie ist inzwischen Forschungsobjekt und Ausstellungsstück zugleich, sie wird weiter untersucht, beschrieben und ausgestellt. Ihre Zelle im großzügig gestalteten Archäologiemuseum in der Bozener Altstadt ist ein- und ausbruchsicher, bestens isoliert und offensichtlich anziehender als jeder Reliquienschrein. Denn Ötzis Anblick lässt niemanden kalt. Auch wenn er den meisten Museumsbesuchern einen kalten Schauer ins Herz jagt. Obwohl Temperatur und Luftfeuchtigkeit nur in der Zelle konstant wie im Gletschereis gehalten werden. Das kleine Guckloch, durch das Millionen einen Blick geworfen haben, besteht aus acht Zentimeter dickem Panzerglas. Niemand allerdings fragt sich: Ob sich Ötzi auch jodelnd unterhalten hat? Wie die Südtiroler es heute noch tun, wenn sie von Bergkamm zu Bergkamm rufen. Aber das Einsteigen in fremde Behausungen, „Fensterln“ genannt, gehörte sicherlich schon damals zum männlichen Vorspiel im Sexualverhalten! Denn es gibt seit alters her sonderbare Verhaltensmuster der Gebirgler. Auch seltene Krankheitsbilder. Wie das „Ausrichten“, die schlechte Nachrede hinterm Rücken des Betroffenen zum Beispiel. Vermutlich waren die Regeln des menschlichen Zusammenlebens vor gut fünftausend Jahren lockerer als jene in einem modernen Südtirol, wo fast alles verboten ist, was Bürokraten der EU in Brüssel und das Heer von Beamten in Rom oder Bozen nicht ausdrücklich erlaubt haben.
Ötzi hat seine Tiere noch selbst geschlachtet, das Fleisch zerlegt, gekocht oder gebraten und zuletzt mit den Seinen verspeist. Für den Selbstgebrauch ist diese Vorgehensweise bei uns heute noch erlaubt. Will ich das Öko-Fleisch vom eigenen Hof aber Gästen, die vorbeikommen, vorsetzen, brauche ich neben einer Gasthauslizenz ein Schlachthaus, das EU-konform sein muss und damit mehr kostet, als ein Hof in einer Generation abwirft. Die EU-Regeln erlauben das Schlachten und Vermarkten am eigenen Hof zwar ohne besondere Auflagen, Rom duldet es, Bozen aber hat so strikte Regelungen erlassen, dass dem professionellen Schlachter mindestens ein Rechtsanwalt und ein Verwalter zur Seite gestellt werden müssten, will er als Öko-Bauer nach einer Hofschlachtung straffrei bleiben. Die Tiere in ein gemeinschaftliches Schlachthaus zu liefern, was Stresshormone im Fleisch zur Folge hat, bedeutet zwar weniger Sorgen, verursacht aber viel mehr Kosten, als das Tier auf dem freien Markt wert ist. Weil die allermeisten Bauern aber Subventionsempfänger sind, dulden sie diese gesetzlichen Regelungen aus der Landeshauptstadt und sind still.
Nur was der Papst sagt, nimmt kaum jemand mehr ernst. Auch wenn ihn in seiner Weltfreundlichkeit alle beklatschen. Das bringt die Popkultur so mit sich, die inzwischen Berg und Alm, Vatikan und Kirche gleichermaßen erobert hat.
Jedem Land, jedem Sender, jeder Sekte ihre Stars. Wir Südtiroler haben Ötzi. Dabei wissen wir nicht einmal, ob Ötzi ein neolithischer Häuptling, eine Art Clanchef also, ein Schamane oder ein Händler gewesen ist. Nein, wir wissen es nicht wirklich. Vielleicht war er ja auch nur unterwegs, um nach seinen Schafen zu sehen. Er war tätowiert, besaß wohl heilende Fähigkeiten, denn in seinem Medizinbeutel fand man einen bewusstseinsverändernden Pilz. Hexen aber konnte er so wenig wie spätere Generationen von Südtirolern. Auch zaubern nicht. Er kannte sich nur gut aus in seinem Gebirge. Es ist jedenfalls anzunehmen, dass auch er schon das heutige Hoch- oder Niederjoch als Übergang über den Alpenhauptkamm gewählt hat, ehe er irgendwo hoch oben im Gebirge in einen Hinterhalt geriet. Was in den letzten Stunden im Leben des Eismannes dann geschah, bleibt ein unaufgeklärter Mordfall, ein „Steinzeitcrime“, zu dem die Wissenschaft zwar immer neue Indizien, aber keinerlei Beweise liefern kann. Dass es Mord war, ist klar. Die Pfeilspitze in Ötzis Schulter und Blutspuren von vier Menschen an seinen Kleidern und Waffen sind Beweise genug. Der alte Mann – immerhin 47 – muss sich also mächtig gewehrt haben. Dann ist er wohl geflohen. Dorthin, wo er sich verstecken konnte? Dorthin, wo sich seine Verfolger nicht auskannten? Dorthin, wo er sie abschütteln konnte? Zwischen Hoch- und Niederjoch gibt es nur diesen einen Fluchtweg über den Gletscher, den Übergang, den Ötzi gewählt hat. Kein Problem für einen Steinzeitbergsteiger. Auch vor 5300 Jahren nicht. So vereist, wie es heute ist, würde auch ich mich dort aus dem Staub machen, wenn ich in Bedrängnis geriete. Nein, Ötzi hat sich nicht im Gebirge verlaufen, er hat seine Kenntnisse von den Bergen zur Flucht nach vorne genutzt. Wie wir Südtiroler es heute noch tun.
Hinterhältigen Mord gab es also zu allen Zeiten. „Im Land an der Etsch und im Gebirge“ ebenso wie im Zweistromland oder in den zentralasiatischen Steppen. Auch in unseren Bergen ersannen die Menschen folglich Möglichkeiten des Entkommens, der Verteidigung und der Abgrenzung. Berge sind schließlich keineswegs nur als hoch gelegene Weide- und Jagdgründe zu gebrauchen. Bereits Jahrtausende vor dem Zeitalter der Nationen und Nationalismen muss es also im hiesigen Gebirge so etwas wie ein lokales Zusammengehörigkeitsgefühl gegeben haben, das später in Freiheitskämpfen, Sonderrechten – über Jahrhunderte hinweg zusammen mit dem Rest von Tirol – und einem selbstbewussten Bauernstand seinen Ausdruck gefunden hat. Kein Wunder, trotz verbreiteter Armut und zeitweise vernachlässigt von den Habsburgern, blieb der Großteil der Südtiroler bis zum Ersten Weltkrieg kaisertreu, bodenständig und konservativ. Dann erst geriet das dreisprachige Land, das zu keiner „Kulturnation“ passen wollte, in den Sog nationalstaatlicher und nationalistischer Auseinandersetzungen, deren Folgen bis heute nachklingen. Erst ein wachsendes Europabewusstsein hat Südtirol zur Brücke zwischen Süd und Nord, uns Südtiroler zu einem lebendigen Teil im Gärteig des Europa der Vielfalt werden lassen. Südtirol ist heute zugleich Grenzregion und Kontaktzone zwischen dem deutschen und dem italienischen Kulturraum. Bei inzwischen offenen Grenzen sind wir Südtiroler dabei, uns zu positionieren, unsere Nische, unseren Stellenwert zu finden. Dass dabei immer wieder Abgrenzung und Vereinnahmung, Selbstbehauptung und Fremdbestimmung hochkochen, ist wohl normal in einem Land, das erst seit zwei, drei Generationen eine klare territoriale Eingrenzung kennt.

Auch weil Südtirol im Norden des Brenners Jahr für Jahr zur österreichischen „Herzensangelegenheit“ erklärt wird, verstummen die Forderungen nach Wiederherstellung der Landeseinheit im Süden des Brenners nicht mehr. Dazu immer diese Bitte um Schutz. Auch wenn die Vision eines „Europa der Regionen“ an Strahlkraft verliert, die politische und kulturelle Eigenständigkeit des autonomen Südtirol wäre stark genug, um seine Kinderkrankheiten zu überstehen.
Zum Beispiel die Toponomastik. 2010 kam es wieder zum Streit zwischen staatlichen Behörden und Südtiroler Landesregierung, weil der Südtiroler Alpenverein mehr als 30 000 nur deutschsprachige Wegweiser aufgestellt hatte. Der Landtagsabgeordnete der SÜD-TIROLER FREIHEIT, Sven Knoll, warnte lautstark davor, das Militär nach Südtirol zu schicken, auf dass dieses alle deutsch- und ladinischsprachigen Hinweisschilder entfernt, wie angedroht. Dies sei eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit.
„Nicht auszudenken, was passieren kann, wenn bewaffnete Militäreinheiten durch die Wälder Südtirols streifen und es zu Auseinandersetzungen mit Bürgern kommt, die gegen dieses Vorhaben protestieren, oder sich die Eigentümer von Privatgrund weigern, die auf ihrem Grund befindlichen Hinweisschilder zu entfernen.
Wenn Italien seine Drohungen wahr macht, ist damit nicht nur die Autonomie am Ende, sondern auch der Schutz der deutsch- und ladinischsprachigen Bevölkerung.
Auf erschreckende Art und Weise wird der Bevölkerung vor Augen geführt, mit was für einem Staat man es mit Italien zu tun hat, der zur Durchsetzung seiner nationalistischen Politik sogar vor militärischen Initiativen in Südtirol nicht zurückschreckt.
Angesichts derart besorgniserregender Entwicklungen ist die Einschaltung der Schutzmachtfunktion Österreichs absolut notwendig. “
Nun, Südtirol ist seit 1919 Teil von Italien, und auch die Italienisch sprechenden Südtiroler haben das Recht, sich im Land anhand von italienischen Hinweisschildern zu orientieren. Deswegen müssen nicht, wie es während des Faschismus leider passiert ist, Eigennamen ins Italienische übersetzt werden. Aber wir Deutsch sprechenden Südtiroler dürfen die Landeshauptstadt auch weiterhin Bozen nennen, obwohl die Mehrheit in dieser Stadt von Bolzano spricht. Toleranz, Augenmaß und die Kunst des Miteinander sind in diesem Zusammenhang gefordert und nicht das alte „nationale“ – oder Kirchturm-Denken: „Siamo in Italia“ und „Mir sein mir“. Schließlich leben wir von einem internationalen Tourismus und sind stolz auf unsere Mehrsprachigkeit.
Die Autonomie, die alle drei Südtiroler Sprachgruppen schützt, garantiert dem Land heute weitgehende Selbstverwaltung in Italien und im Rahmen der EU. Ob diese Südtirol-Autonomie allerdings zum Modell für andere Minderheiten wird, hängt zuletzt wohl davon ab, wie weit sich die drei Sprachgruppen mit ihrer gemeinsamen Verwaltung identifizieren können. Selbstbestimmung garantiert nicht nur Rechte, sie ist auch Verpflichtung. Ich gehöre gerne dazu und verteidige wo auch immer unsere Autonomie. Meinen starken Drang zu einem selbstbestimmten Leben allerdings will ich für das Dazugehören nicht opfern müssen. Deshalb werde ich als Südtiroler weiterhin für mehr Südtiroler Selbstverständnis, für mehr Autonomie des Einzelnen und vor allem für den Erhalt unserer einmaligen Landschaft streiten.
Ich bin in diesem Land nicht nur deshalb auf Widerstände gestoßen, weil dieses Land von Tälern zerfurcht, von Wildbächen durchflossen und von schroffen Bergen umstanden ist. Es waren immer wieder Monopole – Verwaltungsmonopol, Sammelpartei, Medienmonopol –, die versuchten, sich das Land zur Beute zu machen. Dabei gehört Südtirol uns allen gemeinsam, vor allem jenen, die bereit sind, die Verantwortung für das Morgen zu übernehmen. Denn unser Reichtum ist schnell verspielt, wenn wir im weltweiten Wettbewerb unser Südtiroler-Sein, unsere Landschaft und unsere persönliche Autonomie dem billigen und schnellen Erfolg opfern. Und damit meine ich auch und vor allem die Selbstbestimmung des Einzelnen. Ob wir dabei Dichter, Handwerker oder Bergbauern sind, bleibt sekundär.
Heute ist Südtirol auch mit dem Flugzeug zu erreichen; Linienflüge verbinden den Flughafen Bozen mit Düsseldorf, Hamburg, Berlin, London, Brüssel, Kopenhagen und Rotterdam. In seinem Landschaftsbild ist Südtirol immer noch unverwechselbar, und der Brenner-Basistunnel scheint realisierbar. Er kommt spät, wenn auch nicht zu spät. Wegen fehlender Zulaufstrecken in Bayern und steigendem Schwerverkehr ist die Brenner-Autobahn maßlos überlastet. Der Brenner-Basistunnel wird den Verkehr mitten durchs Land entlasten.


II Heimat aus Gottes Hand
„Wer die schwierige Kunst des Zusammenlebens schätzt oder gar erlernen möchte, wisse, dass gemischte Gruppen der beste Weg dazu sind. Sie stellen heute wohl das einfachste und gleichzeitig das wirksamste Gegenmittel gegen den allerorts aufflackernden ethnischen Konflikt und gegen den Rückfall in ethnozentrische Barbarei dar.“
Alexander Langer, Die Mehrheit der Minderheiten

Wie vielen anderen ist auch den Südtirolern ihre Heimat heilig. Aber wer sind wir Südtiroler überhaupt, und wessen Heimat ist Südtirol? Gibt es da nicht mehrere Kulturen, viele Minderheiten, mehrere Sprachgruppen in diesem kleinen Land? Ladiner, Italienisch sprechende, deutsche Südtiroler? Und haben wirklich alle Südtiroler das gleiche Heimatrecht? 
Natürlich, alle Südtiroler haben ein ganz eigenes Bild von ihrer Stadt, ihrem Land, ob Bauer oder Fabrikarbeiter, Händler oder Hausfrau. Alle haben ihren unmittelbaren Bezug zu ihrer Geschichte, zu ihrem Haus. Wie zu ihren Vorfahren, Nachbarn und Verwaltern auch. Für jede und jeden ist ein anderer Winkel von besonderem Flair. Diese Südtiroler aber sind nicht immer und überall zu jedermann gleich. Zudem neigen deutschsprachige Südtiroler bei all ihrer Liebe zu Ordnung, Disziplin und Geradlinigkeit zur Unberechenbarkeit. Italienisch sprechende Südtiroler sind in ihrer Kreativität oft sprunghaft, aber sofort in der Defensive, wenn es um ihre Rechte geht. Aus dieser Art Unbehagen heraus sind ihre Klagen um mehr Mitsprache zwar nicht gerechtfertigt, dennoch ist da ein ungutes Gefühl. Der Bevölkerungsteil Südtirols, der einen rätoromanischen Dialekt spricht, die Ladiner – die weitaus kleinste Gruppe zwischen grob einem Drittel „Italienern“ und zwei Drittel „Deutschen“ im Lande –, sind die Einzigen, die stets in der Minderheit sind. Außer in ihren Tälern, wo sie Gäste aus aller Welt verwöhnen. Sie sind die einzig wahre Minderheit im Lande.
Benachteiligt aber fühlen sich nur Italiener. Wie kommt es denn dazu? Gehören doch jene Südtiroler mit Italienisch als Muttersprache zur Mehrheit in Italien. Nur weil sich die Deutschsprachigen, die zur größten Sprachgruppe im Rahmen der EU zählen und in Italien eine Minderheit darstellen, als die eigentlichen Landesherren fühlen? Wie es umgekehrt bis vor fünfzig Jahren die Italiener im Lande taten. Ja, der Schlüssel zum Verständnis dieser Spannung, der heutigen Südtirol-Problematik also, ist die Tatsache, dass die „Deutschen“ die Mehrheit im Lande bilden. Mit ihrer Politik der Sammelpartei – eine Mittepartei, die einst drei Viertel der deutschen Stimmen auf sich vereinte – wurde das Land lange Zeit politisch monopolisiert. Ich will dies weder kritisieren noch gutheißen – jedes freie Volk wählt sich das politische System, das es verdient. Es gilt nur darauf hinzuweisen, dass dieser Zustand beim Italienisch sprechenden Teil der Bevölkerung zu Unbehagen führen musste. Mindestens so lange, bis endlich die Vielfalt als bereichernder Wert über dem gemeinsamen Ganzen stand. Alle Normierung und Nivellierung – für den inneren Ausgleich erdacht – wird zuletzt für alle drei Sprachgruppen Verarmung bedeuten. Auch wenn sie kurzfristig dem sozialen und ethnischen Frieden dienen sollten. Ich stelle in diesem Zusammenhang also die Frage, ob eine starke deutsche Sammelpartei ohne Italiener heute noch gut fürs Land ist.
Über Südtirol gehen schließlich für alle Südtiroler die Globalisierung und alle vier Jahreszeiten hinweg. Wir alle hören dieselben Vögel singen, riechen Mist und Heu, leiden in den Städten an Lärm und Feinstaub. Nur im Wettbewerb der Ideen ist seit Jahrzehnten Stillstand. Viele sehen sich benachteiligt, wenige privilegiert. „Mir sein mir“, sagen die alteingesessenen Südtiroler, „Siamo in Italia“, antworten die italienischen Nationalisten, „Südtirol muss deutsch bleiben“, fordern die Deutschtümler.
Wie es dazu kommen konnte? Das ist eine lange Geschichte: Schon Joseph von Sperges gebraucht auf seiner 1762 erschienenen Karte den Ausdruck „südliches Tirol“. Mit „Südtirol“, die Bedeutung ist zunächst nicht klar, meint Beda Weber 1837 den südlich des Alpenhauptkammes gelegenen Teil des Kronlandes Tirol, also mit Einschluss des heutigen Trentino. Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert haben sich dann die Begriffe „Welschtirol“ für das Trentino und „Deutschtirol“ für das Land zwischen Salurn und Kufstein durchgesetzt.
Die Menschen beider Landesteile waren damals sehr arm. Dafür galten sie als gesund. Heinrich Heine meinte, nur weil sie zu dumm wären, um krank zu sein. Mit der Romantik ist die Vorstellung vom gesunden Tiroler Alpenvolk entstanden. Im Gegensatz zum Bild vom ungesunden Städter. Damit kam eine Art „Tirolomanie“ auf. Man hielt sich „Hoftiroler“ in der Stadt. Weil diese Bergler eine „Gabe hatten, durch Witzeinfälle zu unterhalten“? Ja, und bereits zur Zeit Maria Theresias hatte es „wandernde, sonnenverbrannte Tiroler“ in die Städte verschlagen: „Öfters von dem erbländischen Adel in Sold genommen, um melancholische Damen zur Lustigkeit zu stimmen und die Eingeweide hypochondrischer Herren heilsam zu erschüttern.“ Nicht selten wurden die sonderbaren Käuze bei Festen und bei Hofe vorgeführt wie Exoten. Auch Spielleute, Wanderhändlerinnen und reisende Jodlerinnen gehörten dazu. Sie galten als typisch südtirolerisch. Der „Südtiroler“ und die „Südtirolerin“ wurden damals sogar als Berufsbezeichnung verwendet.
Das Image des „Tirolers“ als Hofnarr und der „Tirolerin“ als Jodlerin wurde im 19. Jahrhundert abgelöst durch das zum Teil heute noch gängige Bild vom sturen, vaterlandstreuen, gottesfürchtigen und freiheitsliebenden Tiroler auf der einen und des verschlagenen, krämerischen Welschtirolers auf der anderen Seite. Als passten beide nicht zusammen. Männer und Frauen aus armen Verhältnissen, die sich dem fahrenden Volk anschlossen und versuchten, auf Jahrmärkten ihre Kramwaren an die Frau und den Mann zu bringen, galten jetzt als typische „Südtiroler“. Es waren aber großteils Trentiner.
Mit dem Ersten Weltkrieg und dem Faschismus ist aber erst jenes Misstrauen zwischen Welsch- und Südtirolern entstanden, das Außenstehende kaum nachempfinden können. Es hat zuletzt zu zwei autonomen Provinzen in der autonomen Region Trentino-Südtirol geführt. Nein, nicht etwa weil die Menschen in Südtirol seltsam unwirklich an den Berghängen oder in tiefen Tälern leben und einen oft unverständlichen Dialekt, ihre Sprache, sprechen, brauchen sie Feindbilder. Wir Südtiroler bleiben auch als Kriegsbeute eigen. Wir stellen uns nie infrage. Umgekehrt: wer nicht dazugehört zur Mehrheit vor Ort, wer andere Minderheiten in Schutz nimmt oder ein Unbehagen beim Namen nennt, ist schnell ausgegrenzt, als Fremdkörper allenfalls geduldet. Unsere Autonomie ist also ein Glück und trägt doch gleichzeitig ein Dilemma in sich: Misstrauen.
Müssen wir uns denn alle verbiegen, frage ich mich, um jene Sonderrechte in Anspruch zu nehmen, die so mühsam erkämpft worden sind? Warum sonst beengen uns so viele Gesetze, Regeln, Bestimmungen? Die Autonomie, die die Menschen im Land einen und nicht trennen sollte, setzt also viel mehr voraus als Durchführungsbestimmungen und Proporz.
Als Gast müssen Sie sich all diese Gedanken nicht machen. Sie werden in den allermeisten Orten bestens bedient. Nicken Sie verständnisvoll, wenn Sie den „Tölderer“ Dialekt oder die Bedienung aus Tschechien nicht verstehen, man will Sie nur verwöhnen. Der Gast ist auch in Südtirol König. Solange er/sie nicht frech wird. Denn wir Südtiroler sind immer im Recht. Schließlich haben wir doch unsere Autonomie. Wo Minderheitenschutz – also Heimatrecht und Wohlstand aller – garantiert ist, müssten doch auch Solidarität und das Miteinander wachsen, denken Sie vielleicht. Leider nicht nur. Auch Neid, Rechthaberei, Feindseligkeit, Missgunst haben um sich gegriffen. Vor allem das Misstrauen. Als ob der Sonderstatus, den wir Südtiroler heute genießen, auch den Egoismus des Einzelnen fördere. Und dies, obwohl Zeit und Geist hier seit Jahrhunderten stehen geblieben sind. In vielerlei Hinsicht jedenfalls.
Vielleicht spüren nur wenige Minderheiten dieses Unbehagen – ein paar Italienisch sprechende Südtiroler, weil sie keine Identifikationsfigur haben wie ihre deutschsprachigen Mitbürger im Landeshauptmann; ein paar Ladiner und die wenigen Unangepassten im Lande, die keine Lobby wollen – jene vor allem, denen ein Heimatrecht öffentlich abgesprochen wird, weil sie es für alle einfordern.
Trotz allem, unsere Südtirol-Autonomie hat sich nicht aufgebraucht. Noch nicht. Denn emotionaler, ideologischer, ja, auch politischer Kern dieser autonomen Volksgemeinschaft bleibt „die Heimat“. Nicht mehr „die Heimat aus Gottes Hand“, wie sie der Filmemacher Luis Trenker gezeigt hat, sondern die Heimat als „Wirgefühl“. Auf diese „Heimat“, Ursprung aller Legitimationen, berufen sich die eine „Zeitung“, mehrere „Parteien“, die Schützen und vor allem die vielen selbstgerechten Heimatpfleger. Pech für all jene, die Toleranz als ihre erste Verpflichtung sehen oder deren Sprache keinen Heimatbegriff kennt. Denn der Wert Heimat war und ist auch als Waffe zu gebrauchen. Er bleibt also Angelpunkt eines fragwürdigen Proporz-Systems missbrauchbar.
In diesem Land bestimmte – wie einst der kaiserliche Apparat – ein halbes Jahrhundert lang de facto eine Partei, die Südtiroler Volkspartei, der diese Heimat also auch alleine „gehörte“. Nein, verstehen Sie mich nicht falsch, wir zahlen keinen „Zehent“, wir bezahlen Steuern, die mit Rom verrechnet werden, und bekommen Subventionen vom Land, was die Güte der Landesväter unterstreicht! Auch klar, wer sich diesem Segen nicht unterwirft, wird nicht geächtet, nur belächelt. Selbstbestimmte sind nirgendwo beliebt, zwar keine Belastung für das System, aber gefährlich, weil frei.
Die zweite Säule dieses Systems war das sorgfältig gehütete Informationsmonopol. Nur ein Verlagshaus definierte in Südtirol über Generationen Gut und Böse sowie den Wert „Heimat“: ein Gefühl, das aus den Werten Tirols, Kirche und „gesunder Volksmeinung“ zusammengesetzt blieb. Zu widersprechen wagte kaum jemand. Es konnte das Ende eines Lebensweges bedeuten. Totgeschwiegen, verleumdet, ausgegrenzt verschwand zuerst das Bild Andersdenkender aus den Zeitungsspalten, dann war ihre Glaubwürdigkeit dahin, am Ende ihre Kraft. Das Tagblatt der Südtiroler erzwang oft, was Verführung durch Parteipropaganda und Subventionen nicht vermochten. Sie schuf so jenes Klima, das die eine und tausend kleinere Minderheiten lähmte. Und genau das war die Tragödie. Vom Land, das heißt, von der „Partei“ oder von der „Zeitung“, war einst jeder/jede irgendwie abhängig, und wer abhängig ist, kann keine unabhängige Meinung äußern. Inzwischen kommen neue Medien zum Tragen. Auch bei uns.
Das System Autonomie konnte so auch zur Falle werden. Denn wehe denen, die nicht dazugehören. Nur weil der Grad an Sonderstatus der Provinz zum Maßstab des Erfolges einer einst bedrohten Minderheit geworden ist, die im Lande aber die Mehrheit aus Angepassten und Subventionsempfängern ausmacht, bleibt, trotz der Maßlosigkeit an Sonderregelungen, das Unbehagen vorerst begrenzt. Bei so viel Autonomie, wie wir sie zurzeit haben, bei den zahlreichen Subventionen und wie sie verteilt werden, wachsen nicht nur Wohlstand und Stolz, sondern auch Abhängigkeiten. Dieses kleine Land hallt also nicht nur wider von Gier, auch Minderheitenfeindlichkeit gehört dazu und sehr viel Arroganz. Der Proporz regelt regelrecht Ungerechtigkeiten, die „Kirche“ die „Moral“ und die eine „Zeitung“ Information und Erwartungshaltung. Die Machthaber, einst legitimiert durch eine schweigende Mehrheit und angewiesen auf greifbare Erfolge, verkünden unter diesem Druck immerzu ein Mehr. Gemeinsam halten die Machtmonopole ein System aufrecht, das sich enger und enger schließt. Ausgestattet mit immer mehr Kompetenzen, müssen zuletzt Intoleranz, Maßlosigkeit und Egoismen überschwappen ins eigene Lager. Was wir Autonomie-Erfolg nennen, ist also auch das Gegenteil davon. Weil eben Minderheitenschutz nicht immer vor Ausgrenzung innerhalb der „Minderheit“ schützt.
Kleine autonome Regionen tendieren generell zur Implosion, wenn die Machtstrukturen zentralisiert sind: Einparteienregierung, Medienmonopol, Subventionen aus einer Hand – damit ist es zum Glück vorbei. Wenn nun mit den Kompetenzen auch die Demokratisierung, die Transparenz durch Medienvielfalt, die Verteilersysteme anwachsen, kann ein Land wie Südtirol nachhaltig aufblühen – auch zum Vorteil umliegender Regionen.
Was ich in diesem Zusammenhang im heutigen Südtirol am meisten vermisse, ist der Wettbewerb der Ideen. Ohne diesen Wettbewerb aber gibt es keine Veränderung und auf lange Sicht keine Erneuerung. Wenn Aufträge, Anerkennung und Subventionen nur an Angepasste gehen und in den Medien vor allem Vorurteile widerhallen, herrscht Stillstand. Urteile sind widerlegbar, Vorurteile nicht.
Verwöhnt durch das Monopol auf Macht und Meinung, beschwört eine Mehrheit, die sich als Minderheit ausgibt, immerzu ihre Sonderrechte. Ohne zu hinterfragen, was diese kosten: Vetternwirtschaft, hohe Verwaltungskosten, steigende Preise. Am Ende, auf Subventionen angewiesen, leben dann zwar alle in ihrer wettbewerbsfreien Nische – aber ohne Zivilcourage. Als wäre Kritik etwas Verächtliches, wird sie stigmatisiert. Wer sich wehrt, ist verloren. Die Erneuerer sind verschwunden: in die innere Emigration, ins Ausland, ins Jenseits. Den selbstbestimmten Südtiroler, gibt es ihn noch?
Das Bleiben und Mitmachen in Südtirol fällt auch mir nicht leicht. Ich sehe so viel Desinformation, lese monopolverwöhnte Kommentatoren, spüre die Häme der Gutgläubigen. Muss in Südtirol wirklich außen vor bleiben, wer sich nicht selbst verleugnen will? Bei der Selbstverleugnung aber endet meine Duldsamkeit.
Ich habe zwanzig Jahre Jugend, zwanzig Jahre als Kämpfer und mehr als zwanzig Jahre als Familienvater in diesem Land hinter mir – und ich hätte meine letzten zwanzig Jahre gerne damit verbracht, unser Erbe zu pflegen. Das müsste ich aber zuvor, so scheint es mir wenigstens, den Geschichtsklitterern und Jasagern wieder aus ihren Fängen reißen.
Wir brauchen in Südtirol mehr Platz für Zweifler und Visionäre. Und dringend Spielraum in der politischen Diskussion. Wo das Parteienspiel aufhört, ist Wüste. Wer in sie hineingeht, kommt nicht wieder. Wo ist in der Parteienlandschaft, frage ich mich, die viel gepriesene Öffnung geblieben? Nach einem ersten Lichtblick in Gestalt von Luis Durnwalder als Landeshauptmann ist auch er immer wieder zurückgepfiffen worden. Immer noch gibt es Sprachgruppenzugehörigkeitserklärungen statt allgemeiner Dreisprachigkeit. Und viel zu viel Vernünftelei, Besserwisserei, zu viel Meinungsdiktatur. Sicher, wir sind gut verwaltet in einer Provinz, die funktioniert; allerdings hinters Licht geführt von allerlei Nörglern, die das System stärken und benützen zugleich. Als Werbekunden sind wir Zahlmeister und Stimmvieh zugleich.
Und sonst? Ja, Südtirol hat sich gewaltig verändert. Das Land meiner Kindheit ist kaum wiederzuerkennen: Die Dörfer sind gewachsen, auch die Obstwiesen und Weinberge, die Feuerwehrhallen und Stadttheater. An jedem Dorfrand steht heute eine gesichtslose Handwerkerzone. Fürwahr ein reiches Land! Reich an allem, nur nicht an Selbstkritik. Auch nicht an Veränderungskraft. Alles andere wird mehr. Was zu schrumpfen scheint, ist die Kreativität, die Streitkultur und die Toleranz. Und von Verantwortung fürs Ganze ist in unserer Subventionswirtschaft und Proporzkultur kaum etwas übrig geblieben. Jede(r) für sich, und Rom bzw. die EU gegen alle, heißt die Schelte. Als wäre es beim Paket der auszuhandelnden Sonderrechte für Südtirol nur um Rechte und nicht auch um Pflichten gegangen.
Es ist in Bozen, wie in Rom auch, gelungen, zu zentralisieren oder zu monopolisieren. Was alle betrifft – Energie, Logistik und Marketing –, soll möglichst in eine Hand. Andernorts wird privatisiert, bei uns wird zentralisiert, und wer sich nicht ins Machtzentrum setzt, sitzt daneben.
Und mit Gott, zu dem die allermeisten immer brav gebetet haben, ist es wie mit der „Partei“. Irgendwie weiß man, wird er/sie es schon richten, auch wenn man nicht an ihn oder sie glaubt.
Südtirol hat ohne Zweifel Anteil an den schönsten Landschaften dieser Erde. Wo die Obstplantagen enden, fängt der Wald an, mit Lichtungen und Einödhöfen und jahrhundertealtem Stillschweigen. Darüber kahle Hügelkuppen, verwitterte Berge, namenlose Schluchten. Ein schönes Land! Auch wenn es allerorten kreuzelt und murt.
Heute steht neben dem Gipfelkreuz zwar ein ganzer Wust von Umsetzern – Radio-, TV- und Telefon-Antennen –, die Frage, von wem und wofür unsere Berge missbraucht werden, darf trotzdem nicht gestellt werden. Weil diese Berge ja niemandem und damit allen gehören: „Auf den Bergen wohnt die Freiheit!“ Oder etwa nicht? Soll eine Alm, die sonst aufgelassen würde – wie zum Beispiel 2010 Antersasc in der Puez – mit einem Forstweg erschlossen werden, gibt es einen Aufschrei im Land. Umwelt- und Heimatschützer, die sonst im Chor den Ensembleschutz oder den Erhalt von Feuchtwiesen einfordern, sehen eine jahrhundertealte Bausubstanz mit Kalkofen, Stall, Almhütte, dazu Wiesen und Weiden mit einzigartiger Biodiversität lieber verfallen und veröden, als dass der Bauer einen schmalen Traktorweg subventioniert bekommt, um seine Alm, oft die Basis für den Fortbestand des Hofes im Tal, weiter bewirtschaften zu können.
Natürlich ist es auch hoch oben am Berg nicht möglich, den Status quo der Erschließung einzufrieren – ohne Wege ist die Almbewirtschaftung heute kaum noch möglich. Über der Wald- und Weidegrenze in circa 2400 m Höhe aber würde eine einfache Regelung reichen, die Naturlandschaft von Infrastruktur jeder Art – Heliskiing, weiterer Lift- und Hüttenerschließung – freizuhalten. Wird unser Südtiroler Landschaftsbild doch getragen von gepflegter Kulturlandschaft, die seit Jahrtausenden bearbeitet wird, und einer unverwechselbaren Naturlandschaft, die in Zukunft als Wildnis unangetastet bleiben sollte. Solange aber Almflächen als Wildnis und die Wildnis als Ressource für Infrastrukturen gesehen werden, sind wir auf dem Holzweg. Dorthin, wo nichts zu holen ist, ist der Bauer früher nicht gegangen, und auf Dauer hat die Wildnis nur als Wildnis, also unangetastet, einen Wert, der in der globalisierten Welt Voraussetzung ist, um tiefer unten in den Tälern unverwechselbare regionale Produkte anbieten zu können. Jede andere Wirtschaftsform verspricht weniger Erfolg.
Wer dieses einmalige Stück Erde nur in den Ferien erlebt, kann genießen, entspannen, wird verwöhnt. Ja, wir sind gute Gastgeber. Dabei jodeln wir Südtiroler keineswegs aus innerer Notwendigkeit oder Gewohnheit. Als wäre aber das Jodeln die Urform unserer Verständigung, wird es von Volkskundlern und Gästen immerzu eingefordert. Als apolitische Lebensäußerung.
Aber in unserem Land – mit Schnee und Wintersonne, Blütenpracht im Frühjahr, Bergferien im Sommer und reicher Ernte im Herbst –, wo nichts die Jahreszeiten verschleiert, der Handschlag als Vertrag und die Heimatliebe als oberste Tugend gilt, ist es mit der Wahrhaftigkeit wie mit Wind und Wetter. Fast alles wird dem Profit geopfert. Sogar das Sich-selbst-Sein.
Wie jeder Volksstamm sind wir stolz auf unsere Stärken, auch wenn das meiste davon schon abhandengekommen ist. Dem Ansturm der Pizzabäcker und Bauunternehmer kann kaum jemand widerstehen. Und so mancher von denen, die am lautesten ihr Südtirol, ihre „über alles geliebte Heimat“, preisen, verkauft morgen Grund und Boden meistbietend an irgendwelche Investoren, die Zweitwohnungen an Ausländer verkaufen. Die Preise für Grund und Boden sind auch deshalb exorbitant gestiegen. Für junge Südtiroler Familien sind Wohnungen unerschwinglich.
Auf die wichtigsten Fragen gibt es bei uns keine Antworten, und vieles von dem, was in der einen „Zeitung“ steht, ist manipuliert. Also gilt es, immer wieder Fragen zu stellen und diese eine Zeitung zu lesen. Um Land, Leute und Lokalpolitik zu verstehen!
Ich persönlich fühle mich inzwischen frei und wohl in Südtirol, vogelfrei. Nur so kam ich zu meinem Selbstverständnis. Die Haltung des „echten“ Südtirolers ist auch die meine geworden, obwohl sie niemand mit mir teilen will. Wenn Sie nun als Gast in diesem verherrlichten Land die Leute nicht verstehen: Es genügt, Kommentare und Leserbriefe in der „Zeitung“ zu lesen, Sie werden wenigstens den Volkszorn nachempfinden, der Tag für Tag geschürt wird. Wer seine Geisteshaltung nicht aufgeben will, wird im Tageblatt der Südtiroler vorgeführt, verhöhnt, lächerlich gemacht. Denn in der „Heimat aus Gottes Hand“ wird das als der gerechte Zorn Gottes verstanden.

Reinhold Messner

Über Reinhold Messner

Biografie

Reinhold Messner, Grenzgänger, Autor und Bergbauer, wurde 1944 in Südtirol geboren und wuchs in einem Bauerndorf auf. Bereits 1949 ging er zum ersten Mal in Begleitung seines Vaters auf einen Dreitausender. Nach seinem Technik-Studium arbeitete er kurze Zeit als Mittelschullehrer, ehe er sich ganz...

Pressestimmen
StadtRadio Göttingen „Mittendrin“

„Ein humorvolles und interessantes Südtirol-ABC erklärt von A bis Z die Eigenheiten der italienischen Region von Autonomie über Bürokratie und Quasi, als einer der meistgebrauchten Ausdrücke der Südtiroler:innen, bis zu Zukunftsfähig.“

Backnanger Kreiszeitung

„Eine erhellende, jedem Urlauber zu empfehlende Liebeserklärung an die Region.“

Bücherrundschau

„Für alle Südtirol Besucher eine äußerst lesens- und empfehlenswerte Einführung in das Land zwischen Ortler und Dolomiten, an Eisack, Etsch und Rienz!“

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