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Gebrauchsanweisung für Norwegen

Ebba D. Drolshagen
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Gebrauchsanweisung für Norwegen — Inhalt

Hurtig auf nach Norwegen!

Wilde Fjorde und moderne Urbanität
Ein unvergesslicher Besuch im Land am Golfstrom, wo Bürgersteige beheizt sind, Politiker gern in Tracht erscheinen und es die höchste Lebensqualität der Welt gibt. Die Autorin erklärt, was ein norwegisches „vorspiel“ ist, warum in Norwegen so viele Krimis geschrieben werden, die Königsfamilie unentbehrlich ist und das Landeswappen kein Elch, sondern ein Löwe ziert.

Sie nimmt uns mit nach Oslo im Süden und zu den Rentier-Samen im Norden, zum Baden ans Meer und zum Skilaufen in die Berge. Und berichtet, wie das Land nach den Ereignissen auf Utøya mit seiner Haltung weltweit ein Exempel statuierte. Das grundsympathische Porträt eines Landes, das fast 2000 Kilometer lang ist und weniger Einwohner hat als Barcelona.

„Faktenreicher und einfühlsamer Einstieg in die Begegnung mit Land und Leuten“ Globetrotter

Komplett aktualisierte Neuausgabe des erfolgreichen Longsellers


€ 16,00 [D], € 16,50 [A]
Erschienen am 29.06.2023
256 Seiten, Flexcover mit Klappen
EAN 978-3-492-27763-1
Download Cover
€ 13,99 [D], € 13,99 [A]
Erschienen am 29.06.2023
240 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-60479-6
Download Cover

Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung für Norwegen“

Dann fangen wir mal an

Sie interessieren sich also für Norwegen.

Vermutlich haben Sie über das Land schon dieses und jenes gehört und gelesen. Dass es weit im Norden liegt, beispielsweise. Dass es dort immer dunkel (oder immer hell) ist. Dass es kalt ist, im Winter kälter als im Sommer, aber nicht viel. Dass alles unfassbar teuer ist. Dass Norwegen Öl und Gas ohne Ende hat und darum märchenhaft reich ist. Dass Norwegen Öl und Gas ohne Ende hat und Europa nicht genug davon abgeben will. Dass es bei der Winterolympiade immer gewinnt. Dass Alkohol geradezu [...]

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Dann fangen wir mal an

Sie interessieren sich also für Norwegen.

Vermutlich haben Sie über das Land schon dieses und jenes gehört und gelesen. Dass es weit im Norden liegt, beispielsweise. Dass es dort immer dunkel (oder immer hell) ist. Dass es kalt ist, im Winter kälter als im Sommer, aber nicht viel. Dass alles unfassbar teuer ist. Dass Norwegen Öl und Gas ohne Ende hat und darum märchenhaft reich ist. Dass Norwegen Öl und Gas ohne Ende hat und Europa nicht genug davon abgeben will. Dass es bei der Winterolympiade immer gewinnt. Dass Alkohol geradezu unerschwinglich ist. Dass die Wikinger da herkommen. Dass es jede Menge spektakuläre Natur gibt. Dass es nicht in der EU ist. Dass sie da Lachs haben. Dass da dieses Schiff die Küste entlang fährt. Dass es da Elche gibt. Und Trolle, natürlich. Dass da das Nordkap ist.

Und Sie wissen natürlich, dass man da angeln und wandern und den Campingwagen an den schönsten Stellen abstellen kann, ohne dass man weggeschickt werden darf.

Vielleicht interessieren Sie sich auch für die Bevölkerung. Es heißt, die Norweger und Norwegerinnen seien groß und blond und blauäugig. Wortkarg. Sportlich. Unendlich reich. Verschlossen. Sie betrinken sich oft. Sehr oft. Sie töten Wale. Sie schreiben Krimis. Sie wohnen in roten Holzhäusern. Sie fahren Elektro-Autos. Sie tragen bunte Pullover. Sie haben einen König. Sie haben Mette-Marit. Und natürlich Erling Haaland.

Nun ja. Manches könnte man differenzieren.

Los geht's.

 

Die lauschige Idylle im fernen Norwegen

Wer nach Norwegen reist, will nichts weniger als action and nightlife. Die meisten suchen Ruhe, ein Eckchen heile Welt und vor allem unberührte Natur. Kaum jemand kommt (nur) wegen der Küche, der Museen oder der Festivals, nur wenige kommen wegen der Menschen, die dort leben. „Ich war zehn Tage in Norwegen wandern und habe die ganze Zeit keine Menschenseele getroffen!“ schildert in aller Regel einen gelungenen Urlaub, während es schwer vorstellbar ist, dass der Satz „Ich war zehn Tage in der Toskana wandern und habe keine Menschenseele getroffen!“ etwas anderes einleiten kann als die Beschreibung einer ziemlichen Enttäuschung.

Das Idealbild eines unberührten, menschenleeren Freilichtmuseums wird von der norwegischen Tourismusindustrie verständlicherweise gepflegt und gehegt, was dazu führen kann, dass Besucher das Eindringen „echter“ Norweger, Einheimischer also, die weder Fremdenführer:innen noch Hüttenvermieter:innen sind, als unangenehm, ja bedrohlich empfinden. Sie führen sich auf, als gehöre ihnen das alles, und machen das wahre Norwegen kaputt, das man selbst in Erbpacht genommen hat. Im Reiseteil einer deutschen Kleinstadtzeitung kam ein zornbebender Journalist zu Wort, der Norwegen aus tiefstem und reinstem Herzen liebt und es nicht fassen kann, mit welcher Niedertracht sein Refugium von Leuten zerstört wird, die dort wirklich nichts verloren haben:

„Alles hatte den Charme von gestern, vorgestern, dem vorigen Jahrhundert. Eine Ansammlung von verwitterten Blockhütten, ein einziges Berggasthaus hat überlebt, wo drei Hotels aufgegeben haben: eine lauschige Idylle im fernen Norwegen, wo man nichts tun kann außer Skilanglauf, den aber ausgiebig. Skilangläufer gehen abends nicht auf die Walz, sie sind froh, früh im Bett zu sein, um am nächsten Morgen wieder fit in die Loipe zu gehen. Das war zwanzig Jahre so. Und es war gut so. Dieses Jahr aber hat die Zivilisation ausgeholt, das norwegische Idyll zu vereinnahmen: Ein neu gebautes Blockhäuschen am andern dokumentiert den Drang neureicher Norweger aus der Hauptstadt Oslo, ihren neuen Reichtum nicht allein mit ihrer eigenen Ölbohrinsel in der Nordsee und ihrer riesigen Jacht im Hafen öffentlich zur Schau zu stellen. Sie wollen in ihrem Bekanntenkreis noch eins draufsetzen mit ihrem Ferienhäuschen dort im Gebirge, wo zwanzig Jahre die wenigen Ortsansässigen und ein paar Touristen unter sich waren … So erfährt man als Tourist zum ersten Mal das Gefühl, das den einstigen Helden der Jugendzeit, James Fenimore Coopers unvergessenen Lederstrumpf, beseelt haben muss, als ihn im fernen Westen der USA die beginnende Zivilisation zu umzingeln begann: Man sieht ihrem Vordringen fassungslos zu und versteht die Welt nicht mehr.“

Die Welt kann ich ihm nicht erklären. Aber ich erzähle gern etwas über ein Land, das eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft hat. Dieses Land ist weder „idyllisch“ noch „lauschig“. Von Mitternachtssonne und ekstatischem Naturerleben wird ebenso wenig die Rede sein wie – beispielsweise – von dem Triumvirat Ibsen, Munch und Grieg, das bis heute die Fahne der norwegischen Kultur hochhalten muss, als habe es nach ihnen nichts Lohnendes mehr gegeben.

Die Wahrheit, meinte Ingeborg Bachmann, sei dem Menschen zumutbar.

Dem Norwegenreisenden auch. Auch wenn die Reise im heimischen Lesesessel stattfindet.

 

Erste Lernschritte

Der Osloer Flughafen Gardermoen ist sehr schön. Er ist aus einheimischen Materialien wie Granit, Schiefer und Holz erbaut – Materialien also, die man eher in Einfamilienhäusern der gehobenen Preisklasse erwarten würde. Die Konstruktion vermittelt ein Gefühl von Geräumigkeit, Leichtigkeit, rätselhafterweise aber auch von Verankerung. Man verbinde mit dem Bauwerk „Ruhe“, „Klarheit“, „Übersichtlichkeit“ sowie eine „besondere Lichtfülle“, schreibt die norwegische Architekturhistorikerin Ingerid Helsing Almaas. Sie findet die Wortwahl „bezeichnend. Sie beschreibt nicht nur die räumlichen Ideale der Gebäude, sie zeichnet auch ein Bild des idealisierten norwegischen Bürgers: gut organisiert, offen, einfach, dabei voller Vertrauen in die Authentizität lokaler Erfahrungen, vom nördlichen Licht erhellt, von Holz und Stein gestärkt. Mit seiner geschwungenen Laminatholzdecke begrüßt das Terminalgebäude die Welt wie ein betuchter und großzügiger Gastgeber – wohlmeinend, elegant, nach der letzten Mode gekleidet, das Beste, was das kleine Land zu bieten hat.“ Die Zeiten, als ein schwedischer SAS-Präsident Oslos Flugplatz – den Gardermoen-Vorgänger Fornebu – als „Cafeteria mit Landebahn“ verspotten konnte, sind sehr lange vorbei.

Vom nördlichen Licht erhellt. Und zwar vom ersten Moment an, denn man verlässt das Flugzeug durch einen Glastunnel und findet sich nicht in einem neonbeleuchteten, ortlosen Airport-Land wieder, sondern an einem Ort, der noch nicht Oslo ist, aber bereits dessen Licht und Wetter hat. Wer aufmerksam ist, kann ab jetzt, also vom ersten Moment an, einiges über Norwegen lernen:

1. Bei einigen Gates führt der Weg zum Koffer an einer Glaswand entlang, auf einem Steg, hoch über den Abfluggates und den dort wartenden Abreisenden. Auf der einen Seite sieht man die Wartenden, auf der anderen Seite geht der Blick auf einen Wald jenseits des Rollfelds, der während der Bauarbeiten mit großem Aufwand bewahrt wurde. Während man so vor sich hingeht, kann man über das Reisen, über Ankommen und Abfahren nachdenken und die Aussicht genießen. Glücklich ist, wer sein Handgepäck nicht tragen muss, denn in der Zeit, die man zum Ausgang unterwegs ist, absolviert man in anderen europäischen Ländern einen Sonntagsspaziergang. Wir lernen: In Norwegen wandert man in der Höhe, denkt nach und guckt auf Natur.

Natürlich gibt es ein paar Meter Rollband. Die dienen aber nur dem Nachweis, dass man dergleichen in Norwegen kennt. Man ist nicht rückständig. Man läuft einfach gern.

2. Von anderen Gates aus geht es ebenerdig zum Koffer, in beiden Fällen landet man in einem riesigen Wein- und Spirituosenhandel mit integrierter Parfümerie und Süßwarenladen. In Norwegen darf man auch bei der Einreise Duty free einkaufen, der Weg zum Koffer führt mitten hindurch. Am Sortiment erkennen Sie, dass der Norweger als solcher Rotwein liebt. Was Sie nicht sehen, aber jetzt von mir erfahren, ist zweierlei: Tabak gilt als so gefährlich, dass er in einem abgetrennten Raum versteckt wird. Und Oslo hat Europas größte Duty-Free-Läden. Sie finanzieren im Grunde den Flughafen.

3. In der Ankunftshalle passiert man mehrere Kioske. Hier könnte man lernen, dass Norwegen sehr viele Tageszeitungen hat. Das aber geht unter, weil man nur die Zeitungen mit Titelseiten sieht, deren Schrift und Bild etwa dreimal so groß sind wie bei der deutschen Bild-Zeitung. Auf die erste Seite passen kaum mehr als eine Vier-Wort-Überschrift und ein großes Foto. So entsteht der (falsche) Eindruck: Hier leben extrem kurzsichtige Menschen.

4. Wenn man für die zwanzigminütige Zugfahrt in die Stadt die geforderten 210 Kronen bezahlt hat, fällt einem wieder ein, dass Oslo eine der teuersten Städte der Welt ist. Und spätestens, wenn der Taxifahrer für die zehn Minuten vom Osloer Hauptbahnhof ins Hotel 30 Euro verlangt, sollte man das Umrechnen in eine vertrautere Währung einstellen. Das macht schlechte Laune und ändert nichts.

5. Der Zug fährt lange an Bauernhöfen, Ackerflächen, Weiden und Pferdekoppeln vorbei. Man sitzt nicht im falschen Zug, etwa zehn Minuten vor der Stadt tauchen erste Industriegebiete und Wohnhäuser auf, aber das ist Lillestrøm, nicht Oslo. Merke: Die norwegische Hauptstadt klein.

6. Dann rauscht der Zug in einen Tunnel. Kein besonderer Tunnel, eben lang genug, um anzudeuten, dass sich die Norweger auf Tunnelbau verstehen. Der dezente Hinweis lautet: Wir haben sehr viele Tunnels. Auf den einhundert Kilometern zwischen Bergen und Voss beispielsweise sind es neununddreißig. Wer eine Tunnelphobie hat, hat noch Zeit zum Umkehren.

7. Man geht, man sitzt, man schaut sich um. Irgendwann wird einem bewusst, dass viele junge Norwegerinnen tatsächlich sehr blond und sehr schön sind. Die jungen Männer sind auch blond und schön – aber die Frauen fallen eben mehr auf. Wie überall.


Die Tragödie 

Oslo, im Juni 2011. Der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg, der Schriftsteller Jo Nesbø sowie ein weiterer Freund radeln durch die Stadt. Ihnen folgen, ebenfalls auf Rädern, zwei Leibwächter. Das Grüppchen hält an einer roten Ampel, neben ihnen wartet ein Auto auf grünes Licht. Durch das offene Fenster ruft dessen Fahrer dem Ministerpräsidenten zu: „Jens! Hier ist ein kleiner Junge, der es cool fände, dir mal Guten Tag zu sagen!“ Stoltenberg lächelt, schüttelt dem kleinen Jungen auf dem Rücksitz die Hand und sagt: „Guten Tag, ich heiße Jens.“

Jo Nesbø hat diese kleine Begebenheit in der New York Times erzählt: „Der Ministerpräsident trägt einen Fahrradhelm, der Junge einen Sicherheitsgurt; sie haben an einer roten Ampel angehalten. Die Leibwächter stehen dahinter, in diskretem Abstand. Lächelnd. Ein Bild von Sicherheit und gegenseitigem Vertrauen. Ein Bild der normalen, idyllischen Gesellschaft, die wir alle für selbstverständlich hielten. Wie sollte da etwas schiefgehen? Wir trugen Fahrradhelme und Sicherheitsgurte, wir beachteten die Verkehrsregeln.“

Wenig später ging etwas wirklich furchtbar schief. Am 22. Juli 2011, um 15 Uhr 25[WA3] , explodierte vor dem Bürogebäude des Ministerpräsidenten eine Autobombe. Teile des Regierungsgeländes im Zentrum Oslos wurden verwüstet, acht Menschen starben. Auf die Täter und deren Motive gab es keinerlei Hinweise. Wenig später sprach Ministerpräsident Stoltenberg im Fernsehen von dem „größten Verbrechen, das Norwegen seit dem Zweiten Weltkrieg“ getroffen habe. Man wisse nicht, wer dafür verantwortlich sei, es sei aber „in einer solchen Stunde wichtig, für das einzustehen, woran wir glauben. Sie werden uns nicht zerstören. Wenn es darauf ankommt, wird die norwegische Demokratie stärker.“

In die ersten chaotischen Berichte platzte die Nachricht, dass es im Sommerlager der Sozialdemokratischen Jugend auf der Insel Utøya 30 Kilometer nordwestlich von Oslo eine Schießerei gegeben habe. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 69 Menschen geradezu hingerichtet, zahllose verletzt worden, einige sehr schwer. Die ersten Polizisten kamen mehr als eine Stunde nach dem ersten Hilferuf auf die Insel. Es gab nur einen Täter, der sich bereitwillig festnehmen ließ. Er habe den Bombenanschlag und die Morde jahrelang vorbereitet, sie seien „grausam, aber notwendig“ gewesen, um Norwegen vor „Kulturmarxismus und Islamisierung“ zu bewahren.

Regierungschef Jens Stoltenberg blieb dabei, dass man auf diese ungeheure Tragödie mit mehr Demokratie und mehr Freiheit reagieren müsse. und er erwies sich als großer Staatsmann, indem er zunächst ostentativ nichts tat – jedenfalls nichts, was auch nur im Entferntesten als politische Tat zu werten gewesen wäre. Was er (sichtbar) tat, war vor allem das: Er umarmte die Überlebenden der Anschläge und die Angehörigen der Ermordeten, weinte mit ihnen, sprach mit ihnen. Er mahnte immer wieder: „Halten wir inne, nehmen wir uns Zeit, zu trauern.“ Seine Reaktion war das Gegenteil von dem, was spätestens seit dem 11. September 2001 zur Regel geworden ist: Führungskraft demonstrieren und etwas tun. Vor allem das: etwas tun.

Es war eine Sensation, die weltweit Aufsehen erregte und verwirrte: In einer der größten Krisen seines Landes nahm ein Regierungschef sich das Recht, nichts zu tun. Innezuhalten und das Volk zum Innehalten aufzufordern. Eine weitere Sensation war, dass 96 Prozent der Norweger das nicht als Führungsschwäche interpretierten, sondern als eine besonnene Art der Krisenbewältigung, die sie befürworteten. Sie wussten, dass Stoltenberg diese Betroffenheit und Trauer nicht spielte. Er hatte Mitarbeiter verloren, er kannte die Familien einiger ermordeter Kinder und Jugendlicher. Auch die Königsfamilie war unmittelbar betroffen, denn unter den Toten war ein Stiefbruder von Kronprinzessin Mette-Marit.

Dieses Nichthandeln spiegelte die Sprachlosigkeit und Lähmung der ganzen Nation, es beruhigte die Norweger und bestätigte sie in ihrem tiefen Vertrauen in ihren Staat: Wenn wir ihn wirklich brauchen, ist er für uns da. Wir werden von Menschen regiert, die gar nicht so anders sind als wir. Sie sahen ihren König mit hochrotem Kopf weinen und fühlten sich getröstet, denn alle weinten, trauerten, waren vor Entsetzen gelähmt.

Drei Tage nach den Anschlägen fanden im ganzen Land Gedenkfeiern statt. Es wurde nicht geschrien, es wurden keine aufpeitschenden Reden gehalten. Es herrschte Stille, alle hatten Rosen dabei. Seit dem Kriegsende im Mai 1945 waren nicht mehr so viele Menschen gleichzeitig auf der Straße gewesen, 200 000 sollen es allein in Oslo gewesen sein, in einem entlegenen Weiler an der Westküste waren es acht. Als Stoltenberg seine Rede vor den 200 000 Osloern (und der Nation) mit den Worten schloss: „Unsere Mütter und Väter haben gesagt: ›Nie mehr 9. April!‹ Wir sagen: ›Nie mehr 22. Juli!‹“, verstand ihn jedes Kind. Kein Ereignis in der norwegischen Geschichte hat die Nation so tief und so dauerhaft traumatisiert wie der deutsche Überfall vom 9. April 1940. Was er meinte, war also: Damals standen wir gegen den übermächtigen Feind zusammen, wir sind gestärkt aus den Zeiten des Leids hervorgegangen. So wird es auch diesmal sein. Wir haben eine Zukunft.

Alle Parteien einigten sich sofort darauf, die Geschehnisse nicht in Politik umzumünzen. Es wurde heruntergespielt, dass der Mörder eine Zeit lang Mitglied der rechtspopulistischen Fortschrittspartei gewesen war, die rechten Tendenzen in der norwegischen Gesellschaft blieben unerwähnt. Die Botschaft lautete: Der Angriff galt uns allen.

Es sollte zehn Jahre dauern, bis an dieser Sprachregelung gerüttelt wurde und die Überlebenden das Eingeständnis forderten, dass es ein gezielter Angriff auf die Sozialdemokraten und somit ein politisches Attentat war.

Die Anschläge haben das Land verändert. Nachdem Untersuchungen des Tages eine unglaubliche Häufung von Inkompetenz, Fehlentscheidungen, Schlampereien und schierem Pech zutage gefördert hatten, wurde die Polizei grundlegend reformiert (aber Polizist:innen sind in der Regel weiterhin unbewaffnet). Politiker und Politikerinnen haben mehr Personenschutz, öffentliche Gebäude sind stärker gesichert. Auf Utøya, weiterhin Ort des Sommerlagers, gibt es mehrere Erinnerungsorte für die dort Ermordeten; im Sommer 2022 wurde am Fähranleger auf der Landseite eine nationale Gedenkstätte für alle 77 Todesopfer der Anschläge eingeweiht, um dessen Gestaltung zehn Jahre lang nicht immer würdig gestritten wurde. Die Zerstörungen im Regierungsviertel haben das Stadtbild unwiderruflich gezeichnet. Da dies das Zentrum des demokratischen Norwegens ist, könnte die Symbolkraft des Wiederaufbaus nicht größer sein, entsprechend kontrovers wird um jedes Detail gestritten, besonders erbittert wurde um den Abriss eines Gebäudes mit Wandmalereien nach Entwürfen von Pablo Picasso gekämpft. Diese sollen im neuen Viertel prominent platziert werden. Doch der (Wieder)Aufbau kommt bestürzend langsam voran, die geschätzten Kosten für das Bauprojekt „Neues Regierungsviertel“ werden in zehn Milliarden Kronen-Schritten nach oben justiert.

Der Täter, der 77 Menschen ermordet, Hunderten schwerste körperliche und seelische Schäden zugefügt, Zahllosen einen geliebten Menschen genommen hat, wurde nach einem vorbildlichen Prozess zu lebenslanger – das heißt in Norwegen: maximal 21 Jahre – Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Er sitzt in Isolationshaft, ein Antrag auf vorzeitige Haftentlassung wurde abgelehnt.

Er konnte die Sicherheit und das gegenseitige Vertrauen, von denen Jo Nesbø sprach, nicht zerstören. Trotz „Utøya“, wie der 22. Juli 2011 genannt wird, mischen sich Politiker:innen und die Königsfamilie (vermutlich zum Kummer ihrer Leibwächter) weiterhin unter das Volk, das Königspaar fährt in einer Limousine durch Oslo, die – wie alle – an der roten Ampel hält.

Niemand, sagte Kronprinz Haakon, könne die Anschläge vom 22. Juli ungeschehen machen, „aber wir können wählen, was sie mit uns machen“.

Seither ist Norwegen nicht von Hasskriminalität verschont geblieben. 2022 schoss ein aus dem Iran stammender Norweger in einem Schwulenlokal in die Menge; zwei Menschen wurden getötet, mindestens einundzwanzig weitere verletzt. Die Polizei sprach von einer „extremen islamistischen Terrorhandlung“ und erhöhte die Bedrohungslage vorübergehend von moderat auf außergewöhnlich hoch.

Norwegen ist weiterhin eine offene Gesellschaft und ein offenes Land. Aber auch dort lebt man nicht auf der Insel der Seligen.

Ebba D. Drolshagen

Über Ebba D. Drolshagen

Biografie

Ebba D. Drolshagen, geboren in Büdingen, wuchs bis zu ihrem fünften Lebensjahr in Norwegen auf. Heute lebt sie als Journalistin, Autorin und Übersetzerin in Frankfurt am Main. Neben politischen Sachbüchern veröffentlichte sie bei Piper ihre erfolgreiche „Gebrauchsanweisung für Norwegen“ und bei...

Kommentare zum Buch
Gebrauchsanweisung für Norwegen
Detlef Fischer am 11.05.2013

Ich habe dieses köstliche Buch gelesen wie einen Roman. Es verleitet mit seiner wunderbaren Sprache nach jedem Kapitel zu Mehrkonsum. Die Paarung von sehr guter Recherche und eigener manchmal ironisch-suffisanter Eigenbeurteilung ermuntert zum Besuch des dargestellten Landes. Darauf freut sich im Sommer 2013 Detlef Fischer.

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