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Gebrauchsanweisung für Hamburg

Stefan Beuse
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„Eine wunderbare Einstimmung auf Hamburg, oder eine schöne Nachschau auf eine schon vergangene Reise.“ - Oberösterreichisches Volksblatt (A)

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Gebrauchsanweisung für Hamburg — Inhalt

Hamburg, meine Perle

Willkommen in Europas Brückenhauptstadt!
2496 Brücken hat Hamburg – und das ist wenig verwunderlich, denn Wasser ist hier allgegenwärtig. Zwei Meere liegen vor der Haustür, Elbe und Alster durchziehen die Stadt, und der Hafen ist der größte Seehafen Deutschlands. Die Hansestadt lockt mit rotem Backstein und prachtvollen Villen, Reeperbahn und Elbphilharmonie, Fischbrötchen und Franzbrötchen. Erkunden Sie Hamburg zu Fuß, mit dem Rad oder gar auf dem Stand-up-Paddle-Board. Tauchen Sie ein in die Geschichte und die Geschichten dieser Stadt, und entdecken Sie gemeinsam mit Stefan Beuse hanseatisches Understatement und nordische Ausgelassenheit.

„Der Leser wird sein Herz an Hamburg verlieren.“ Hamburger Wirtschaft

€ 15,00 [D], € 15,50 [A]
Erschienen am 29.07.2021
224 Seiten, Flexcover mit Klappen
EAN 978-3-492-27755-6
Download Cover
€ 12,99 [D], € 12,99 [A]
Erschienen am 29.07.2021
224 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99914-4
Download Cover

Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung für Hamburg“

Eine Reise zum Kern des Hanseaten
Über Hamburg gibt es weit mehr als tausend Bücher. Sie tragen seltsame Titel wie „Mit Hund in Hamburg“ oder „Hamburg von hinten“. Was immer damit gemeint sein mag. Über Hamburg sind mehr Bücher geschrieben worden als über München oder Berlin oder irgendeine andere europäische Stadt. Abgesehen von Rom vielleicht oder Paris, aber selbst da bin ich mir nicht sicher.
Sie könnten sich also fragen, wozu Sie ausgerechnet dieses Buch hier lesen sollten. Zumal es keine Ausflugstipps enthält, keinen Restaurantführer, keinen genauen [...]

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Eine Reise zum Kern des Hanseaten
Über Hamburg gibt es weit mehr als tausend Bücher. Sie tragen seltsame Titel wie „Mit Hund in Hamburg“ oder „Hamburg von hinten“. Was immer damit gemeint sein mag. Über Hamburg sind mehr Bücher geschrieben worden als über München oder Berlin oder irgendeine andere europäische Stadt. Abgesehen von Rom vielleicht oder Paris, aber selbst da bin ich mir nicht sicher.
Sie könnten sich also fragen, wozu Sie ausgerechnet dieses Buch hier lesen sollten. Zumal es keine Ausflugstipps enthält, keinen Restaurantführer, keinen genauen historischen Abriss, keinen „Szene-Guide“ und keine Angaben über die Länge des Abwasserkanalsystems. Dieses Buch hier bietet nichts von alldem, und trotzdem kann es Ihnen helfen, sich besser zurechtzufinden. Den Hamburger als solchen ein bisschen zu verstehen. Sogar wenn Sie selbst Hamburger sind.
Denn eins steht fest: Als Zugereister, als „Quiddje“, bekommen Sie Probleme mit den Hanseaten. Es ist schwer, ihr Herz zu erobern. Es ist sogar unmöglich, wenn Sie nicht wissen, was den Hamburger umtreibt und was sein Herz bewegt. Wenn er denn eins hat. Und darüber darf man durchaus geteilter Meinung sein.
Was Sie hier in den Händen halten, ist also kein Reiseführer, sondern eine Reise. Eine Reise zum Wesen einer Stadt und zu den Menschen, die darin leben. Eine Reise, die Ihnen den Hamburger und seine oft sonderbaren Verhaltensweisen näherbringen soll. Wir begleiten ihn durch den Tag, erleben ihn bei seinen Lieblingsbeschäftigungen, beobachten seine Gepflogenheiten und folgen ihm an Plätze, an denen er sich wohlfühlt.
Nach und nach werden Sie zum Kern der Hanseatenseele vorstoßen. Sie werden dabei Umwege gehen, sich von hinten anschleichen und die Ohren spitzen müssen, denn leicht wird es nicht werden, dem Hamburger seine Geheimnisse zu entlocken.
Doch wenn er Sie einmal in sein Herz geschlossen hat, können Sie sicher sein, dass Sie da so schnell nicht wieder rauskommen. Und aus Hamburg übrigens auch nicht. Denn der älteste und modernste Hamburger, die schönste und verruchteste Hamburgerin, eine zwischen Glamour und Gosse, Konvention und Übermut torkelnde Diva, die nie genug davon bekommt, ihre Lungen mit der frischen, leicht salzig riechenden Luft der Freiheit zu füllen, das ist Hamburg selbst: eine Stadt, die gerade in ihrer Zerrissenheit zwischen Inszenierung und Authentizität, arm und reich, zwischen prollig und chic, Backstein und Marmor unwiderstehlich charmant ist – und sich auf unvergleichliche Art immer dann entzieht, wenn man meint, auch nur einen Aspekt dieser vielschichtigen Persönlichkeit verstanden zu haben.
Denn mit Städten ist es wie mit Menschen: Der erste Blick, das spontane Gefühl entscheidet oft zwischen schockverliebt, heftiger Ablehnung und irgendwie egal. Es gibt Städte, aus denen ich sofort rausmusste, kaum dass ich angekommen war. Bei Hamburg wusste ich von der ersten Sekunde an: Hier will ich bleiben. Natürlich ist beides vollkommen irrational. Und natürlich relativiert sich dieser erste Blick, je mehr man kennenlernt, je mehr man weiß über die Stadt, die Person oder die Stadtpersönlichkeit.
Der zweite Blick ist rationaler, weil er sich auf Kenntnis und ein besseres Verständnis gründet. Man weiß schon viel, kennt Vorlieben, Neigungen, Eigenarten. Der zweite Blick widerlegt oft den ersten Eindruck, kann Sympathie in Antipathie drehen und umgekehrt.
Entscheidend jedoch ist der dritte Blick, in dem sich Wissen, Erfahrung und ein spezifisches Gefühl zu einer gut abgehangenen Mischung ausbalancieren. Der dritte Blick stellt den optimalen Betrachtungsabstand her, und es mag verwundern (oder eben nicht), dass sich ganz am Ende oft der allererste Eindruck wieder bestätigt. Dieser erste Blick, mit dem man in der Lage ist, einen Menschen, eine Stadt komplett zu erfassen; ein Eindruck, dem man viel zu selten traut, weil er sich auf nichts gründet als auf eine Ahnung, eine Intuition.
Deshalb lautet der erste und wichtigste Tipp dieser Gebrauchsanweisung: Gehen Sie raus auf die Straße. Denken Sie nichts, benutzen Sie keinen Stadtplan, lassen Sie sich einfach treiben, ziehen, locken … das ist der größte Luxus, den Sie sich bieten können. Denn am Ende ist sich jeder immer noch selbst der beste Stadtführer.
Und da wir die Dinge im Grunde nicht wahrnehmen, wie sie sind, sondern wie wir sind, lernen Sie dabei bestenfalls auch noch eine ganze Menge über einen sehr interessanten Menschen: über sich.


Hamburg reloaded
In Extremsituationen oder unter Alkoholeinfluss zeigen Menschen bekanntlich ihr wahres Gesicht. Spätestens seit der Fußball-WM 2006 gilt das auch für deutsche Städte. Über Hamburg jedenfalls konnte man sich damals jeden Tag aufs Neue wundern – weil dort plötzlich Dinge geschahen, die nichts, wirklich gar nichts mehr mit dem zu tun hatten, was die Hansestadt angeblich ausmacht. Vornehme Zurückhaltung? Hanseatisches Understatement? Hochnäsige Pfeffersäcke und stocksteife Reedergattinnen, die mit perlenbehängten Elbletten Ascot spielen oder bei Jil Sander ihren Reiche-Leute-Ennui kompensieren müssen? Das alles gab es natürlich immer noch, genauso wie auf der anderen Seite des Klischees randalierende Autonome.
Aber hinter der Maske dessen, was man zu sehen erwartete – und vielleicht genau deswegen auch sah –, war Hamburg in jenem Sommermärchensommer zu einer Stadt geworden, die ausgelassen tanzte, die begeistert die Arme in den Himmel warf, die feierte und laut war, die lachte und heulte, fieberte und schrie. Dieser Sommer 2006 hatte Hamburg fest im Griff, und er verwandelte es täglich aufs Neue in ein kunterbuntes Fahnenmeer. Es war, als hätten virtuelle Begriffe wie Weltoffenheit und Toleranz plötzlich ein Gesicht bekommen. Auf dem FIFA-Fanfest versammelte sich da, wo sonst dreimal im Jahr mit dem Hamburger DOM das größte Volksfest des Nordens stattfindet, ein außergewöhnlich vielfältiges Volk, um gemeinsam ein Fest der Nationen zu feiern. Egal, wann und wo man zu der Zeit in der Stadt unterwegs war, man wusste selbst bei abseitigen Spielpaarungen immer, wann ein Tor gefallen war, weil sich der Jubel aus jedem Fenster, jeder Gasse, jedem Café zum kollektiven Sound jenes Sommers verband. Und spätestens beim anschließenden Autokorso mit Hupkonzert und Flaggenparade quer durch die Stadt konnte man anschaulich erleben, dass in Hamburg Menschen aus rund 200 Ländern leben. Besonders im Schanzenviertel und auf St. Pauli gab es kein Durchkommen nach den Spielen, Fahnenschwenker tanzten ausgelassen auf Kühlerhauben, Bars, Kneipen und Cafés platzten aus allen Nähten. Hier war die Welt nicht zu Gast bei Freunden, hier feierte die Welt wochenlang eine Party, die Hamburg einte und verzauberte. Ein Gefühl, das wie ein chronisch entrücktes Lächeln über der Stadt lag. Häuser, Straßen und Gesichter schienen die Glut des Tages nachts noch abzustrahlen, alles Starre und Verkrustete aufzulösen zu einem gemeinsamen Fest der Liebe.
Sie merken: Auch ich lasse mich noch immer ganz unhanseatisch hinreißen von diesem Sommer, in dem die Stadt wie im Fieberrausch war und man sich eher auf einer vor Leben pulsierenden italienischen Piazza wähnte als in der als kühl verschrienen Metropole.
Man konnte sich durchaus fragen: Ist das noch mein Hamburg? – und wurde überrascht von den Antworten. Denn auch die Stadt selbst schien sich plötzlich in jeder Hinsicht neu zu erfinden – was unter anderem daran lag, dass hier plötzlich so viel passierte wie in kaum einer anderen Metropole. Dinge, die das Gesicht der Stadt massiv veränderten: die HafenCity als Europas größtes innerstädtisches Bauprojekt, mit einer Elbphilharmonie als gigantischem Wahrzeichen und architektonischen Meisterwerken, die kaum mehr mit hanseatischer Bescheidenheit in Einklang zu bringen sind. Eine Neukonzeption der Reeperbahn, die mit verschwiemelten Vorstellungen von Seefahrerromantik, miefigen
Butzenscheibenkaschemmen und schwitzigem Altherrensex rigoros aufräumt. Und eines der geheimen Wahrzeichen der Stadt, der ehemalige Hochbunker in der Feldstraße, fügt seiner spannenden und wechselvollen Geschichte eine weitere spektakuläre Wendung hinzu.
Hier muss ich ausnahmsweise etwas ausholen: Der Flakturm IV, 1942 ursprünglich als Gefechtsstation für die Luftraumverteidigung unter der Leitung von Albert Speer von tausend Zwangsarbeitern in 300 Tagen erbaut, gehört zu den größten jemals errichteten Bunkern. Ein beeindruckender grauer Koloss mitten in St. Pauli, 38 Meter hoch, dreieinhalb Meter dicke Wände, fünf Meter dicke Decke. Während der heftigen Luftangriffe auf Hamburg im Sommer 1943 suchten dort 25 000 Menschen Schutz. Nach dem Krieg bot er bitter benötigten Wohnraum, aktuell ist dort mit dem Uebel & Gefährlich ein Leuchtturm der Hamburger Clubszene untergebracht. Und jetzt soll aus Grau plötzlich Grün werden: Fünf neue Stockwerke, pyramidenähnlich auf das flache Dach gesetzt, sollen den Bunker nicht nur auf fast sechzig Meter erhöhen, der graue Klotz wird auch komplett begrünt. Allein auf dem öffentlich über Außenaufzüge zugänglichen Dachgarten sollen mehr als hundert Bäume und dreißig große Sträucher stehen. Auf den Visualisierungen erinnert es an eine Mischung aus Maya-Tempel, Märchenschloss und einem Felsen aus „Planet der Affen“.
Natürlich wird ein solch visionäres Vorhaben in Hamburg von pausenlosen Klagen, Protesten, Petitionen und empörten Aufschreien begleitet, wir kennen das schon von der Elbphilharmonie und der HafenCity – um nur zwei Beispiele zu nennen. Auch da hieß es über Jahre hinweg, die Projekte verschandelten das Stadtbild, seien viel zu teuer, eine Totgeburt, passten nicht zu Hamburg und so weiter. Kaum konnte man das Ganze jedoch umgesetzt in seiner ganzen Pracht erleben und bestaunen, verstummten diese Stimmen, und die Mahner von damals waren zumindest im Geheimen stolz auf die neuen Errungenschaften.
Der neue Bunker jedenfalls hat in seiner skurrilen Einzigartigkeit das Zeug dazu, als „Wahrzeichen der Herzen“ der Elbphilharmonie Konkurrenz zu machen. Oder wenigstens zu einem futuristischen City-Volkspark zu werden – der als erster und einziger gleichzeitig ein Dachgarten ist.
Überhaupt entdeckt Hamburg plötzlich ganz unhanseatisch seine Superlative neu: Laut dem „Glücksatlas“, einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach, sind die Menschen in Deutschland nirgendwo so zufrieden wie in Hamburg. Die Hansestadt gehört regelmäßig zu den Städten mit der höchsten Lebensqualität und erreicht in Rankings von Mercer oder The Economist stets Spitzenplätze. Im gigantischen Airbus-Werk werden plötzlich die größten und modernsten Passagierflugzeuge der Welt gebaut, und Hamburg verfügt, obwohl es nicht mal am Meer liegt, über den größten Seehafen Deutschlands und das weltweit modernste Containerterminal. Die Elbmetropole hat mehr Brücken als die Vorzeige-Brückenstädte London, Amsterdam und Venedig zusammen und gehört mit 1460 staatlichen Parkanlagen zu den grünsten Großstädten Europas. Allein der Ohlsdorfer Friedhof hat eine Ausdehnung von über 400 Hektar – und ist damit der weltgrößte Parkfriedhof. Und dank der Flüsse und Fleete, Kanäle und Seen kann man in Hamburg sogar mitten in der City Wassersport treiben.
Wie die Stadt mit diesem neuen Rampenlicht umgeht? Man könnte fast sagen: gewohnt souverän. Wenn das nicht ein Widerspruch wäre. Aber genau darum geht es ja. Um die Widersprüche. Denn auch wenn Hamburg heute frischer und lebendiger denn je wirkt, tut es das dem etablierten, dem sprichwörtlichen Hamburg gegenüber aus demselben Gestus heraus, mit dem pubertierende Kinder versuchen, bloß nicht wie ihre Eltern zu sein. Trotzdem ist es für das Verständnis der Kinder natürlich hilfreich, die Eltern zu kennen. Und am besten auch noch die Großeltern.
Dass aber trotzdem immer noch (und immer wieder) alles mit dem ersten Blick anfängt – darum soll es in der ersten Station auf unserer Reise zum Wesen der Stadt gehen.


1. Station:
Lockruf der Kräne
Nachts, an der Elbe, machen die Containerkräne Geräusche, die wie ein seltsames Weinen klingen. Sie stehen orangefarben gegen einen blauschwarzen Himmel, die Luft ist ein duftiges Laken, und es geht ein Wind, der alle Sorten von Hamburgern eint, der Standesunterschiede aufhebt und Gehaltsklassen verwischt: Er zippelt an den Hermès-Tüchern der Hautevolee, zaust die geölten Bärte der Generation Y und fährt in die Lagerfeuer der Camper und Studenten, die dasitzen, Astra aus der Flasche trinken und alles grillen, was nicht bei drei auf dem Baum ist. Man sieht den Mond und die Sterne, hört das Knistern der Lagerfeuer und das Lachen glückstrunkener Menschen, das Klirren der Gläser. Im Sommer ist es wie sonst nur in der Silvesternacht oder beim Hafengeburtstag: Die Nacht führt sie alle zusammen, am Ufer der Elbe; die einen an den warmen Asphalt bei den Landungsbrücken, die anderen an den Sandstrand am Falkensteiner Ufer in Blankenese und eine ganz andere Sorte wieder auf die Stufen der neu geschaffenen Terrassen und Plätze der HafenCity. Wie ein Säulendiagramm zur Veranschaulichung gesellschaftlicher Gruppen säumt die Hamburger Bevölkerung den Flusslauf, überragt von der Erhabenheit der Containerkräne, die nichts beweisen wollen, sondern einfach sind – und sich deswegen auf wundersame Art in die Poesie einer Stadt fügen, die man erst begreift, wenn es dunkel wird.
Bei mir jedenfalls hat alles damit angefangen. Mit diesen Kränen. Vielleicht sind Sie mal Richtung Elbtunnel nach Hamburg gefahren, eine monotone Autobahn entlang, die nichts zu bieten hatte außer gleichmäßigen Fahrgeräuschen und Lichtern, die in betäubender Regelmäßigkeit an Ihnen vorbeiflogen. Vielleicht dachten Sie gerade daran, etwas zu kaufen. Ein Eis vielleicht, um nicht einzuschlafen. Und plötzlich, als tauchte vor Ihnen eine neue Welt auf, erhebt sich dieser Containerhafen aus dem Dunkel, und Sie möchten sich die Augen reiben. Weil Sie sich wie in Disneyland fühlen. Nicht ganz so bunt, nicht ganz so schrill, aber dennoch verzaubert.
Es war an einem zweiten Weihnachtstag, als ich zum ersten Mal nach Hamburg gefahren bin. Wir waren auf einem Zweiter-Weihnachtstag-Verwandtschaftstreffen, mit selbst gemachter Stachelbeercremetorte und Kaffee und zotigen Witzen, mit all der Enge und den beklemmenden Gefühlen, die von Cordsitzgruppen und Wurzelholzmännchen auf Fernsehgeräten ausgehen; es muss zwischen dem dritten Kaffee und dem ersten Bier gewesen sein; die Schnittchen waren kurz davor, ins Wohnzimmer getragen zu werden, Salzstangen steckten im Käse, und Gurkenhälften durchweichten die Salami, als ich meine Cousine ansah und verstand: Raus hier. Nur weg. Das ist das Ziel.
Wir drückten also Papierservietten mit Tannenbäumen gegen unsere Münder, schoben die Stühle, auf denen wir saßen, nach hinten und sagten: „Wir fahren.“
„Wo wollt ihr denn hin?“, fragten unsere Verwandten.
„Nach Hamburg“, sagte meine Cousine, weil ihr nichts Besseres einfiel. Und: „Wir kommen morgen wieder.“
Unsere Verwandtschaft schaute ungläubig. Kuchengabeln und Gläser und Tassen verharrten auf halbem Wege zum Mund, und eilig nickend schob ich nach: „Ja. Nach Hamburg. Wir fahren nach Hamburg. Und morgen kommen wir wieder.“
Ich weiß nicht, ob ich zu dem Zeitpunkt schon mal daran gedacht hatte, nach Hamburg zu fahren, aber Hamburg klang gut, also stiegen wir in den Wagen und fuhren los. Als wir auf der Autobahn waren, drückte ich ein Bad-Religion-Tape ins Kassettendeck – und spätestens jetzt merken Sie: Dieser zweite Weihnachtstag ist ganz schön lange her. Es war die Zeit, in der die Hamburger Hafenstraße noch jeden Abend in den Nachrichten vorkam und wir Lederjacken trugen. Ich glaube, wir kamen uns ziemlich verwegen vor, mit unseren Lederjacken und Bad Religion im Kassettendeck, so plötzlich dem Schoß unserer Verwandtschaft entflohen, aus dem überheizten Wohnzimmer in die Kälte dieses zweiten Weihnachtstags. Wir hörten „21st Century Digital Boy“ und berauschten uns an unserer Wildheit. Meine Cousine sprach von Leuten, die sie in der Hafenstraße kenne, von einer Kneipe, die Störtebeker heiße und eigentlich gar keine Kneipe, sondern bloß eine Bretterbude sei, die die Hafenstraßenbewohner errichtet hätten, alles total wild und total frei. Wild und frei, das war genau das, was ich an diesem Abend wollte, und so bekam ein Lebensgefühl für mich zum ersten Mal ein Ortsschild. „Hamburg“ stand darauf, und es verdeckte alles, was ich bisher mit der Stadt in Verbindung gebracht hatte, ohnehin nicht mehr als eine blasse Mischung aus Hans Albers, den Beatles und einem langweiligen Ehepaar, das irgendwie mit den Eltern meiner Cousine befreundet war.
Als kurz vor Hamburg ein Schild mit der Aufschrift „Tötensen“ kam, imitierte meine Cousine ein Monster; ihre Hände erstarrten zu Krallen, und mit Grabesstimme sagte sie: „Tööötensenn!“, was so ähnlich klang wie ein alkoholvernuscheltes „Töten Sie ihn“. Zu ihrer Ehrenrettung muss ich hinzufügen, dass Dieter Bohlen damals wohl noch nicht dort wohnte, und selbst wenn, hätten wir es nicht gewusst. Sowieso wussten wir eigentlich gar nichts (was, wie gesagt, nicht die schlechteste Art ist, sich einer Stadt zu nähern), und gerade als ich mich fragte, wo wir eigentlich übernachten sollten, tauchte Hamburg vor uns auf wie ein gigantischer Sonnenuntergang. Die Nacht erstrahlte in orangefarbenem Licht, ein riesiges Gelände aus Schiffen, Kränen, Containern hob sich aus der Dunkelheit, und plötzlich war ich verliebt. Noch bevor ich ausgestiegen war. Noch bevor ich den Wind gespürt hatte. Und lange bevor ich den eigentümlichen Charme meiner zukünftigen Mitbewohner schätzen lernte.


2. Station:
Am Ende des Tunnels
Wer mit dem Auto nach Hamburg will und es nicht besser weiß, fährt durch den Elbtunnel. Und zwar ganz langsam. Weil’s so schön ist.
Es soll ja Leute geben, die geradezu süchtig nach Staus sind. Die irgendwie das Gefühl brauchen, im Kollektiv Widrigkeiten ausgesetzt zu sein, die sie nicht selbst zu verantworten haben: „Ich bin ein Spielball der Elemente“, denken diese Freizeitmasochisten und freuen sich dann, dass es anderen auch nicht besser geht. Trotzdem, und das unterscheidet sie von den meisten ihrer Leidensgenossen, sind sie auf alles vorbereitet. Das heißt: Sie haben ihren Picknickkorb immer dabei. Per Handy informieren sie den ADAC über die aktuelle Verkehrslage. Über Seiten- und Rückspiegel und durch Fensterscheiben kommunizieren sie nonverbal mit den Staugenossen, jovialen ein „Tja, was soll man machen“-Schulterzucken nach rechts, dokumentieren ihre Komplizenschaft mit dem „Herrgott, wann geht das denn endlich weiter“-Choleriker mit pausenlosem Gehämmere auf das Lenkrad nach links und fühlen sich bei alldem im Grunde pudelwohl.
Diesen Leuten ist der chronische Elbtunnelstau die tägliche Dosis Methadon bis zum Beginn der Sommerferien. Und wie bei allen wirklich großen Staus weiß auch bei diesem niemand so recht, wie er überhaupt zustande kommt. Denn wie durch ein Wunder geht es nach dem Tunnel – egal, von welcher Seite man durchfährt – plötzlich zügig weiter, und das kann nicht nur damit zu tun haben, dass wieder irgendeine Röhre gesperrt ist oder neu gebaut wird. Das hat mit etwas Grundsätzlichem zu tun. So etwas wie einem Geburtskanaltrauma. Wie sonst ist es zu erklären, dass es bis zur tiefsten Stelle, die knapp dreißig Meter unter der Wasseroberfläche liegt, kaum vorangeht (ein tastendes, sich gegen die Schwerkraft stemmendes und bremsendes „Nein, ich will nicht“), und wenn diese Stelle überwunden ist, geben plötzlich alle Gas?
Ich weiß es nicht. Und ich weiß auch nicht, warum das nach der Eröffnung der vierten Tunnelröhre, die bis 2002 mithilfe des weltweit größten Bohrkopfs „Trude“ (vielleicht eine Abkürzung für „Tief runter unter die Elbe“, vielleicht auch nicht) gefräst wurde, nicht besser geworden ist. Aber vielleicht ist es sogar gut, gewisse Hamburger Eigenarten nicht zu verstehen. Nur: Kennen sollte man sie. Denn am Ende des Tunnels wartet eine ganz neue Welt. Eine Welt aus Wasser, Wind und Möwengeschrei, aus rotem Backstein und prunkvollen Villen, aus hypermodernen Businesstempeln und dem Geruch von Teer und Fisch. Es ist eine ganz eigene Mischung aus Understatement und Größenwahn, mit der Sie konfrontiert werden, und je nach eigener Befindlichkeit werden Sie das entweder schizophren oder interessant finden.
Überhaupt funktioniert diese Stadt im Grunde wie ein Vexierbild, das mit der eigenen Stimmung kippt. Wie ein Spiegel, der vor allem wiedergibt, wer hineinsieht.
Hamburg ist eine Stadt, die jedes Vorurteil sofort bestätigt. Und sich gleichzeitig in dem Maße entzieht, in dem man versucht, sie auf etwas festzulegen. Eine Stadt, deren Menschen umso britischer tun, je näher man dem Stadtteil Blankenese kommt (in Blankenese selbst braucht ein der englischen Sprache ohnmächtiger Besucher ein Wörterbuch, um zu begreifen, vor was für einem Geschäft er gerade steht), und vielleicht liegt da ja der wahre Grund für den Elbtunnelstau. Vielleicht möchte man die Einreisedauer schlicht der Fahrt durch den britischen chunnel angleichen, jenen fünfzig Kilometer langen Kanaltunnel zwischen Großbritannien und Kontinentaleuropa, dessen Durchquerung mit dem Hochgeschwindigkeitszug immerhin eine gute halbe Stunde dauert. Denn so lange braucht man auch in etwa, um die drei Kilometer unter der Elbe durchzufahren. Egal, zu welcher Zeit. Egal, wie viel Verkehr ist. Egal, wie oft Polizeidurchsagen gemahnen, bitte zügig weiterzufahren, weil der nachfolgende Verkehr behindert werde: Es finden sich immer ein paar Hamburger, die die Röhren verstopfen, um den Neuankömmlingen Respekt beizubringen. Sie fühlen sich dann wie Eltern am Heiligen Abend, die ihre neugierigen Kinder im dunklen Zimmer eingesperrt lassen, in der irrigen Annahme, das Warten auf die Bescherung sei doch immer noch das Schönste und die Gaben würden sie reich entlohnen.
Dass es sich lohnt, das Warten, daran besteht für Hamburger natürlich überhaupt kein Zweifel. Schließlich leben sie in der schönsten Stadt Deutschlands. Wo sonst, bitte schön, gibt es mitten im Zentrum einen riesengroßen See, auf dem man sogar segeln kann? Wo sonst gibt es so viele gut aussehende Menschen, einen Hafen, der keinen Vergleich scheuen muss, wo gibt es so viel Grün, so viel Geld, so viele Legenden?
„Hamburg, meine Perle, du wunderschöne Stadt“, sang Lokalmatador Lotto King Karl, der auch Stadionsprecher war, vierzehn Jahre lang vor jedem Heimspiel des HSV von der Hebebühne des Volksparkstadions zusammen mit 57 000 Fans, und der Privatsender Radio Hamburg bringt jede Stunde Wetter und Verkehr „aus der schönsten Stadt der Welt“.
Ja, die Hamburger sind stolz auf ihre Stadt, und sie haben allen Grund dazu. Vom Flugzeug aus sieht man schon von Weitem, wie die Elbe ihre schlanken Seitenarme ausbreitet und großzügig goldenes Licht verteilt. Nähert man sich mit der Bahn, lohnt es sich, am Hauptbahnhof im Abteil sitzen zu bleiben. Denn fünf Minuten und ein „Senk ju for träwweling“ später setzt sich der Zug wieder in Bewegung – und rollt ganz gemächlich über die Lombardsbrücke weiter zum Bahnhof Dammtor. Rechts und links genießen Sie jetzt mehrere Hamburg-Postkartenmotive auf einmal: Ansichten der großen, stillen Konkurrentin der Elbe. Rechts die Außenalster und das Hotel Atlantic, links die Binnenalster mit ihrer turmhohen Wasserfontäne: ein Empfang, den Sie so in keiner anderen Stadt erleben.
Dass Hamburg eine hohe Lebensqualität hat, liegt schon mit diesem ersten Blick so offensichtlich auf der Hand, dass es für die zur Tiefstapelei neigenden Hamburger auch nicht den geringsten Grund gibt, das ständig zu betonen. Hamburg muss man nicht erklären. Hamburg ist.
Andererseits gibt es keine andere Stadt, die derart unsentimental mit den Zeugnissen ihrer eigenen Geschichte umgeht. An der Stelle, an der Hamburg einst gegründet wurde, findet sich heute keine Gedenktafel, sondern: ein staubiger Parkplatz. Der mittelalterliche Dom ist längst abgerissen. Die Keimzelle des Hafens zugeschüttet. Und das einstige Gängeviertel zwischen Rathaus und Bahnhof wurde einfach plattgemacht.
Ende des vorvergangenen Jahrhunderts fiel sogar ein ganzes Stadtviertel mit immerhin fast 25 000 Einwohnern einer rigorosen Sanierung zum Opfer. Dort entstand ab 1883 die weltweit einzigartige Speicherstadt, die bis 2004 Zollausland gewesen ist und zu den bedeutendsten Hamburger Baudenkmälern gehört – was den Senat 1988 nicht davon abhielt, über ihren Verkauf an private Investoren nachzudenken.
Nur wenige Dutzend Bauwerke sind überhaupt noch aus der Zeit vor 1800 erhalten, und maßgeblich schuld daran sind weder der Große Brand von 1842 noch der Erste Weltkrieg, der Hamburg weitgehend unversehrt ließ, und auch nicht der Bombenhagel von 1943, sondern: die Neubauwut der Hanseaten. Diese Herzlosigkeit gegenüber der eigenen Vergangenheit ist es wohl, die den Kunsthistoriker Alfred Lichtwark bereits vor über hundert Jahren dazu veranlasste, Hamburg mit dem wenig rühmlichen Zusatz „Freie und Abrissstadt“ zu versehen.
Allein: Den Hanseaten kümmert’s wenig. Ausgestattet mit der Poesie eines Frachtbriefs, hauen die Enkel der viel geschmähten „Pfeffersäcke“ (eine Bezeichnung für den hanseatischen Kaufmann, den es ständig nach Geschäften drängt und der es zu was gebracht hat – vielleicht sogar mit Pfeffer, der einst so kostbar war, dass er mit Gold aufgewogen wurde) alles kaputt, was ihnen im Weg steht. Ohne Rücksicht auf Geschichte. Aber mit viel Rücksicht auf Verluste: Wenn’s um Geld geht, kennt die Hanseatenseele weder Freunde noch Verwandte. Ganz zu schweigen von Ikonen. Hamburg würde vermutlich sogar im Michel einen McDrive eröffnen, kalt lächelnd und ohne mit der Wimper zu zucken. Vorausgesetzt natürlich, das Angebot stimmt.
Ein Freund sagte letztens, er habe sich eine Weile spaßeshalber per Google Streetview durch die Stadt bewegt, und das sei wie eine historische Begehung gewesen, weil so viel von dem, was zur Zeit der Aufzeichnung (das meiste stammt aus dem Jahr 2008) zum Stadtbild gehört habe, schlicht nicht mehr da sei. Dabei meinte er nicht etwa Ladenlokale, sondern ehemalige Wahrzeichen wie das Deutschlandhaus am Gänsemarkt, eines der bekanntesten Hamburger Gebäude, das 2019 abgerissen wurde. Den inzwischen planierten City-Hof gegenüber den Deichtorhallen. Das alte Frappant-Gebäude in Altona. Oder die Sternbrücke, eine historische Eisenbahnbrücke über der Kreuzung von Stresemannstraße und Max-Brauer-Allee, die mit ihren zahlreichen ebenso kleinen wie legendären Clubs einem futuristisch anmutenden Neubau-Monster weichen soll. Die Gänsemarkt Passage wird abgerissen, der Jungfernstieg komplett umgestaltet, und ob der Feldstraßen-Bunker am Ende wirklich so grün aussieht wie erhofft, wird sich zeigen.
Gerade bin ich für ein paar Monate in Rom gewesen, und angesichts der Tatsache, dass dort an jeder Straßenecke noch Zeug von vor dem Beginn unserer Zeitrechnung rumsteht und dass Gebäude aus Respekt vor diesen Zeitzeugen einfach drumherum gebaut werden (und zwar: buchstäblich drumherum; ich habe ein Kaufhaus gesehen, in dessen Erdgeschoss einfach ein Stück Säule stand, eingezäunt wie ein Ausstellungsstück, weil niemand in der Stadt auf die Idee käme, ein solches Monument wegen eines Neubaus auch nur ein paar Zentimeter nach rechts zu bewegen), erscheint die Abriss- und Neubauwut der Hanseaten in einem besonders kalten Licht.
Vielleicht aber ist das alles auch ganz einfach historisch und tiefenpsychologisch zu erklären: Die Hansestadt hat ein tief sitzendes Kindheitstrauma und fackelt heute nicht lange, um dieses Trauma überzukompensieren. Die größten historischen Katastrophen wären nämlich nicht geschehen, wenn die Pfeffersäcke nicht so zögerlich gewesen wären. Zum
Beispiel der Große Brand im Mai 1842, der drei Tage lang wütete und fast die gesamte Innenstadt zerstörte. Hätte man rechtzeitig Schneisen in die Häuserzeilen gesprengt, wäre das Schlimmste verhindert worden. Doch der Senat lehnte ab – weil er Regressansprüche der Hausbesitzer fürchtete. Das Einzige, das man bezeichnenderweise zu retten verstand, war: die Börse.
Hausgemacht war auch die große Choleraepidemie von 1892, bei der fast 10 000 Menschen starben, weil eine
Sanierung der Gängeviertel verschleppt worden war. Dort herrschten hygienische Zustände, die Robert Koch, den Entdecker des Choleraerregers, in blankes Entsetzen trieben. Im selben Jahr schrieb er dem Kaiser: „Eure Hoheit, ich vergesse, dass ich in Europa bin. Ich habe noch nie solche ungesunden Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten für jeden Ansteckungskeim angetroffen wie hier.“ Die Häuser des Gängeviertels waren so dicht aneinandergebaut, dass ein Verkehr mit Fuhrwerken unmöglich war, die Bewohner wurden von Wasserträgern mit Trinkwasser versorgt. Das Viertel war eine Hochburg der Kriminalität, und liest man die Beschreibung von Johann Hinrich Wichern aus dem Jahre 1847, wähnt man sich eher in den Slums von Manila
als in Hamburg: „Schreiber dieses suchte neulich Arme in Hamburg auf. Sein Weg führte ihn in eine enge Durchpassage mit hohen Häusern zu beiden Seiten, links und rechts Wohnung über Wohnung und wieder Wohnung in der anderen, fast alle eng neben- und ineinandergeschachtelt. Die scheußlichste Pestluft aus den Gossen erfüllt zuzeiten die enge Straße, in welcher die Bewohner einander in die Fenster sehen. Unter manchen dieser Häuser sind wieder Eingänge in neue Labyrinthe. Nur gebückt ist das Innere dieser zweiten Höfe zu erreichen. Als ich in einen dieser Gänge eingetreten war, waren links und rechts Fenster
und Türen geöffnet, Lärmen, Schelten und Zuschauer und Zuhörer für beides, Alte und Kinder, Dirnen und Jungen bildeten die Bevölkerung zwischen den zusammengehenden Mauern. Wieder links ab war eine noch engere von Wohnungen gebildete Linie; der Atem wurde von der Stickluft, die sich an dieser Stelle entwickelt hatte, gehemmt; hier wohnte rechts die gesuchte Familie in einer förmlichen Höhle; im untern Teile der elenden Baracke war fast im Finstern ein zusammengelaufenes Paar einquartiert, eine Art Hühnertreppe führte nach oben, wo wieder zwei bis drei voneinander unabhängige Partien ihr Obdach hatten; alles strotzte von Schmutz aller Art an Wänden, Fenstern, Fußböden; 5 Kinder und 3 Weiber und ein kaum herangewachsener Bube mit seiner Dirne aßen und tranken hier durcheinander. Frechheit, Verzweiflung und völliger Stumpfsinn warfen dunkle Schatten auf die Gesichtszüge der Versammelten, um das Bild des leiblichen und sittlichen Elends, das hier hauste, zu vollenden.“
Das Hamburg-Bild hingegen, das sich auch heute noch hartnäckig hält, trifft eher die Äußerung eines späteren Besuchers: „Begegnet man zufällig einem Kaufmann auf der Straße und begrüßt ihn, so macht er ein Gesicht, als erwarte er zwei Prozent für die Erwiderung des Grußes.“ Und geht man an einen der wenigen Orte, an denen die gute hanseatische Kaufmannstradition noch in Reinkultur gepflegt wird, so stellt man fest, dass sich daran zumindest in diesen Kreisen kaum etwas geändert hat. Nur der Prozentsatz ist – der schleichenden Inflation entsprechend – angemessen erhöht worden.
Generell aber sollten Sie schnell alles vergessen, was Sie je über Hamburger Seefahrerromantik gehört haben. Über die Reeperbahn nachts um halb eins. Über die Beatles im Star-Club. Über Blaue Jungs und Hamburger Deerns. Hamburg ist anders. Ganz anders. Die Männer in der Hansestadt sehen nicht aus wie eine Kreuzung aus Helmut Schmidt und Hans Albers. Und die Frauen sehen auch nicht aus wie eine Kreuzung aus Veronica Ferres und Marlene Dietrich. Wenn Sie auf St. Pauli tatsächlich noch einen Seemann treffen sollten, können Sie sicher sein, dass er arbeitslos ist: Die Liegezeiten der Schiffe im Hafen sind mittlerweile so kurz, dass die Matrosen gar nicht mehr an Land können. Echte Seeleute gibt es kaum noch. Und wenn Sie doch mal jemanden treffen, der wie ein Seemann aussieht, haben Sie es mit einem hoffnungslosen Nostalgiker zu tun, der sich verkleidet hat und sich jede Nacht im Silbersack nahe der Reeperbahn betrinkt – der letzten Bastion Hamburger Klischees. Dort, wo einst Heinz Rühmann, Hildegard Knef, Curd Jürgens, Freddy Quinn und natürlich Hans Albers ein und aus gingen, gibt es noch heute eine alte Jukebox, in der Sie sämtliche Hans-Albers-Singles finden. Nur dort segeln noch „Veermaster“, und es wird laut und falsch und begeistert „Junge, komm bald wieder“ mitgesungen. Aus Kehlen, die rau sind wie die Nordsee.
Aber außerhalb weht ein ganz anderer Wind. Der Wind einer Freiheit, die nichts mit Seefahrerei und nichts mit der berühmten „Großen Freiheit Nr. 7“ zu tun hat, sondern mit der Freiheit des Handels und der Freiheit, seine eigenen Gesetze machen zu können.
Diese Freiheit hat eine lange Tradition, denn seit mehr als 500 Jahren gibt es keine Fürsten oder sonstigen Herrscher mehr in dem Stadtstaat. Das von Ludwig dem Frommen um 831 in der bereits bestehenden Hammaburg (die übrigens immer noch weiß auf rotem Grund das Stadtwappen ziert) begründete Bistum sowie die später errichtete Neue Burg standen meist unter dänischer oder holsteinischer Herrschaft, bis die Freie Reichs- und Hansestadt ab 1400 selbstbewusst zu Wasser und zu Lande agierte – weshalb den Hamburgern auch heute noch gerne nachgesagt wird, sie trügen zwar den Kopf, nicht aber die Nase oben.
Ihre Nase halten sie bestenfalls in den Wind, der natürlich immer weht. Schon morgens ab sechs Uhr, wenn er die Hansestädter zum Joggen um die Alster ruft. Auch an diesem zweiten großen Gewässer sind alle Hamburger gleich: Studenten, Start-up-Stars und -Strategen, Medienleute, Trendglatzen, Bartträger und natürlich die versammelten Kreativabteilungen der großen Werbeagenturen laufen und schwitzen (freilich in unterschiedlich teurem Tuch) nebeneinander und fühlen sich unsagbar: frei. Frei von Fett, frei von der Unbill des Alltags und frei von finanziellen Beschränkungen. Prominenz trifft hier rund um die Uhr auf gemeines Volk, Sehen auf Gesehenwerden, Schaulaufen auf Schauerlaufen, und alle haben einen anderen Takt im Ohr, einen anderen Rhythmus, eine andere Melodie, aus jedem iPod dirigiert ein anderer Choreograf den Soundtrack zum Alsterlauf. Großartig bläht dazu der Wind der Freiheit die Segel auf dem anderthalb Quadratkilometer weiten Gewässer, und nicht minder großartig bläht er die Brust der Villenbesitzer und Kaffeeröster an dessen Ufer.
Ein Bootsanleger, an dem gern auch gespeist und getrunken wird, nennt sich programmatisch Bobby Reich, stellt so etwas wie die hanseatische Variation zum Thema Biergarten dar und darf mit Recht eine Hamburger Institution geheißen werden. Auch wenn der reiche Bobby längst mit seinem vielen Geld nach Afrika gegangen ist – oder sonst wohin, wo immer die Sonne scheint, jedenfalls weg aus Hamburg –, kommt trotzdem noch jeden Tag der Geruch gutbürgerlichen Essens aus dem Lokal, und dieser Geruch trägt uns geradewegs zu unserer nächsten Station.

Über Stefan Beuse

Biografie

Stefan Beuse, 1967 in Münster geboren, lebt als freier Autor mit seiner Familie in Hamburg. Für seine Romane und Erzählungen wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis des Landes Kärnten beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb sowie zweimal mit einem Literaturförderpreis der Freien und Hansestadt...

Zu schön, um lange geheim zu bleiben: 5 Tipps, um sich garantiert (neu) in Hamburg zu verlieben

1. Im Kanu oder auf dem SUP-Board verwunschene Kanäle und Fleete erkunden, die Stille und das leise Plätschern genießen und sich dabei von den Blättern der Büsche streicheln lassen

2. Sich zum Preis eines HVV-Tickets mit der Fähre 62 eine spektakuläre Elb-Kreuzfahrt erschleichen

3. Auf dem Altonaer Balkon den besten Ausblick der Stadt feiern

4. Sandstrand, Cocktails, Schiffe und Fernweh zum Sonnenuntergang am Falkensteiner Ufer oder an der Strandperle erleben

5. Nachts den Gesängen der Kräne auf der anderen Elbseite lauschen – schöner klingt Schwermut nur bei Buckelwalen

Pressestimmen
Oberösterreichisches Volksblatt (A)

„Eine wunderbare Einstimmung auf Hamburg, oder eine schöne Nachschau auf eine schon vergangene Reise.“

StadtRadio Göttingen „Book’s n‘ Rock’s“

„Ein informatives, mit überraschenden Einblicken und spannenden Fakten gespicktes Buch für jeden Hamburg-Fan und alle die es werden wollen.“

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