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Gebrauchsanweisung für Schleswig-Holstein

Jan Christophersen
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„So strahlt dieses Buch, jenseits von Ableitungen der Ortsnamen, Einführungen in die bedrohten Sprachwelten des Friesischen wie des Plattdeutschen, dann Wetterbeobachtungen, immer wieder einen ganz eigenen, stillen Glanz aus. Früher sagte man schlicht ›Heimatliebe‹ dazu.“ - die tageszeitung

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Gebrauchsanweisung für Schleswig-Holstein — Inhalt

Zwischen Ostsee und Nordsee

Deutschland ganz oben

Zwischen den Zehen der Schlick: Mareike Krügel und Jan Christophersen sind da zu Hause, wo andere Urlaub machen, und schreiben eine passionierte Liebeserklärung an Deutschlands Norden. Sie erzählen vom Leben zwischen Ostsee und Nordsee, von stolzen Städten am Meer, von Kiel, Lübeck, Flensburg und Husum. Vom Alltag am Wasser, vom Wattenmeer und den Halligen, Nordseeinseln, Fehmarn und Helgoland – und vom Wetterbericht als beliebtestem Small-Talk-Thema. Von Moorleichen und anderen Sehenswürdigkeiten, von Wikingern und Windkraftgegnern, Theodor Storm und Emil Nolde, von typisch norddeutschen Bräuchen und Klischees, Seemannsgarn und Platt. Von Pharisäern, Fischbrötchen und Rübenmus, toten Tanten, errötenden Jungfrauen und weiteren kulinarischen Besonderheiten.

€ 16,00 [D], € 16,50 [A]
Erschienen am 30.06.2022
224 Seiten, Flexcover mit Klappen
EAN 978-3-492-27757-0
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€ 13,99 [D], € 13,99 [A]
Erschienen am 30.06.2022
224 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-60281-5
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Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung für Schleswig-Holstein“

Einleitung
Eine Gebrauchsanweisung für die Gebrauchsanweisung
Folgende Situation: Fernsehinterview barfuß im Watt. Das kommt vor, wenn man schreibt und in Schleswig-Holstein lebt. Das Mikrofon, das an langer Stange möglichst nicht ins Bild gehalten wird, trägt einen Fusselpelz – im Fachjargon „Tote Katze“ genannt –, damit der ewig wehende Westwind die Tonaufnahme nicht völlig unbrauchbar macht. Auf dem nahe gelegenen Grasdeich niest ein Salzwiesenlamm, und von irgendwoher ruft ein Kuckuck, sodass die Tontechnikerin unzufrieden den Kopf schüttelt. Ein [...]

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Einleitung
Eine Gebrauchsanweisung für die Gebrauchsanweisung
Folgende Situation: Fernsehinterview barfuß im Watt. Das kommt vor, wenn man schreibt und in Schleswig-Holstein lebt. Das Mikrofon, das an langer Stange möglichst nicht ins Bild gehalten wird, trägt einen Fusselpelz – im Fachjargon „Tote Katze“ genannt –, damit der ewig wehende Westwind die Tonaufnahme nicht völlig unbrauchbar macht. Auf dem nahe gelegenen Grasdeich niest ein Salzwiesenlamm, und von irgendwoher ruft ein Kuckuck, sodass die Tontechnikerin unzufrieden den Kopf schüttelt. Ein Kuckuck? Hier? Kein Baum weit und breit – das nimmt einem doch keiner ab. Der Wind zerzaust jeden Rest von Frisur. Nasskalt ist es. Kurz: eher ungemütlich. Und die erste Interviewfrage lautet: „Was ist eigentlich so norddeutsch an den Norddeutschen?“
Wie antwortet man da?
Manchmal ist es unmöglich, sich über etwas klar zu werden, wenn man mittendrin steht. Für jedes Vorurteil, jede Pauschalaussage muss man mindestens einen Schritt zur Seite treten. Tom Waits sang einst in seiner San Diego Serenade: „I never saw the east coast until I moved to the west“. Dass da etwas dran ist, dämmert einem womöglich zum ersten Mal, wenn man vom Studienort nach Hause fährt, irgendwann in Hamburg in die Regionalbahn umsteigt und bei der Durchsage des Bahnpersonals nicht länger rätselt, was man da gerade hört: Hochdeutsch, keine Frage. Je öfter man diese Reise unternimmt, desto klarer kristallisiert sich heraus, dass das, was man für Hochdeutsch hält, in Wahrheit wohl doch eine leichte oder stärkere Färbung besitzt. Erst in der Fremde lernt man, die Feinheiten der eigenen Sprache zu erkennen. Bisher hat man vielleicht gedacht, solang man nicht redet wie Werner, der Lehrling bei Meister Röhrich aus dem gleichnamigen Comic („Und ich sach noch, mach das nich…“) oder bei jeder Gelegenheit niedliche Wörter mit plattdeutschem Einschlag benutzt (Dösbaddel, Tüddelbüddel, Ohaueha), merkt niemand, wo man aufgewachsen ist. Und ganz langsam kommt einem der Verdacht, dass man unter Umständen noch einiges mehr an sich für verallgemeinerbar gehalten hat, das in Wirklichkeit regionaltypisch ist. Dann hat man zwei Möglichkeiten: es verbergen oder dazu stehen.
Was ist denn nun so norddeutsch an den Norddeutschen?
Gar nicht einfach zu sagen. Schon gar nicht für uns Norddeutsche selbst, die wir bekanntlich wortkarg und zurückhaltend sind und uns höchst ungern angreifbar machen. Wir schieben unsere Pfeife in den Mundwinkel und murmeln ein paar weise Worte in unseren Seemannsbart, wenn wir denn einen haben. Ansonsten nicken wir, aber nur genau ein Mal. Sture Fischköppe, die wir sind.
Oder ganz anders: Wir Norddeutschen können unseren „Sabbel“ nicht halten und reden über den Gartenzaun hinweg in breitestem Plattdeutsch so schnell und so meinungsstark, dass allen die Ohren schlackern. Klatsch und Tratsch und gesundes Misstrauen gegen die ganze Welt sind unsere liebsten Gesprächsinhalte.
Stimmt nicht? Wir Norddeutschen stehen überhaupt nicht an Gartenzäunen. Wir sind zähe Personen, Nachkommen von Wikingern, groß und blond und mit dunkelblauen Strickpullovern. Wir sind die härtesten Griller. Mögen Lakritz. In unserer Freizeit segeln wir, reiten oder jagen. Wir züchten Pferde und gewinnen Regatten. Manche von uns führen erfolgreich Expeditionen zum Nordpol durch.
Allzu schnell landet man bei Abziehbildern, und das ist für eine Autorin und einen Autor selbstredend völlig unverantwortlich. Zumal wir es besser wissen sollten. Wir sind beide in Schleswig-Holstein geboren, bei Kiel und Flensburg aufgewachsen, waren allein und zusammen draußen in der Welt unterwegs und leben hier nun wieder seit bald 15 Jahren mit unserer Familie unter einem Dach, oben rechts, an der Ostküste des Landes, bei Kappeln. Wir sollten folglich genug Anschauung haben, sodass sich billige Gemeinplätze bei uns nicht unbemerkt einschleichen können. Es verbietet sich nicht zuletzt von Berufs wegen, auch nur in diese Richtung zu denken. Das Ziel ist es doch gerade, Klischees zu vermeiden. Normalerweise jedenfalls. Obwohl diese gelegentlich natürlich Spaß machen.
Dürfen wir nun also in einer Gebrauchsanweisung für Schleswig-Holstein so richtig gemütlich dem Affen Zucker geben? Uns suhlen im Vorurteilssumpf und endlich mal schön undifferenziert Behauptungen aufstellen? Ursprünglich hatten wir uns genau darauf gefreut. Einfach mal die Fesseln der Belletristik abschütteln und hemdsärmelig verkünden, die Schleswig-Holsteiner seien eben so oder so. Dazu mussten wir uns erst mal im Sinne der oben erzählten Anekdote auf die Suche nach dem machen, was denn eigentlich typisch ist. Um am Ende festzustellen, dass wir es nicht mögen, das Verallgemeinern. Es liegt uns nicht, jedenfalls nicht in Schriftform, und es wird auch dem Land, von dem wir erzählen wollen, nicht gerecht.
Oberflächlich betrachtet scheint die Sache eh klar zu sein: Einmal eine Folge einer Fernsehserie wie Neues aus Büttenwarder gucken, und schon weiß man, wie das übrige Deutschland die Leute hier oben sieht und wie manche sich selbst gern sehen. Es ist die bäuerliche Variante des Hamburgers, die einem da präsentiert wird. Helmut Schmidt in Gummistiefeln, Heidi Kabel in Ölzeug. Viel Viehzeug und Gülle, viel Piefigkeit und dörfliches KleinKlein. Obendrein behauptet das Land in seinem offiziellen Werbeslogan, der allen Reisenden etwas anmaßend auf massigen Straßenschildern präsentiert wird, hier in Schleswig-Holstein befinde sich Der echte Norden. Das ist aus Sicht der anderen nördlichen Bundesländer natürlich arg vereinfachend ausgedrückt. Aber so kann man hier eben manchmal sein. Punktum. Im Kieler Tatort scheint selbstverständlich nie die Sonne. Graue Menschen begehen in grauen Städten am grauen Meer selbstsüchtige Verbrechen. Norddeutsche Comedians schweigen viel und lieben es, das Publikum zu deprimieren. Oder sie stellen sich ungebildeter, als sie sind, um ihre Bauernschläue zu beweisen. Die frühen Filme von Detlev Buck zeigen eine Welt, in der Sätze fallen wie: „Doch, doch, der Funkverkehr ist an und für sich spannend.“ Zeitgenössische Lyrik spart mit Worten.
In der bildenden Kunst ist selbst auf den pastosen Ölgemälden wilder Outdoormaler hauptsächlich luftige Weite zu sehen. Und als sich der Physiker Klaus Hasselmann im Herbst 2021 zu der Tatsache äußerte, den Nobelpreis zuerkannt bekommen zu haben, feierte ihn das restliche Deutschland – und nicht zuletzt das nördlichste Bundesland – für seine typisch norddeutsche Reaktion. Er wisse gar nicht, wie das mit dem Nobelpreis passiert sei. Dass Hasselmann eigentlich Hamburger ist, mit Zweitwohnsitz auf Sylt, störte in diesem Fall nicht. Manchmal zählt man hier die Hamburger mit Ferienhaus großzügig dazu, manchmal nicht. Je nach Situation.
Alles an Schleswig-Holstein scheint erst mal moderat, zum Teil langweilig, ein bisschen diesig wie das Wetter im Herbst. Und zugleich gibt es die einmalige Lage des Landes zwischen zwei Meeren, die in ihrer Art so unterschiedlich sind, dass man kaum eine Aussage treffen kann, die für beide gilt. Hier die langen Strände, sandig oder steinig, Wasser, in dem sich nicht zuletzt Quallen wohlfühlen, Steilküsten und niedliche Küstenorte; dort das geriffelte Watt, die Inseln mit ihren reetgedeckten Friesenhäusern, Deiche, Schafe und ihre „schwarzgrünen Kugeln“, mit denen sie diese garnieren. Oben Dänemark, unten das übrige Deutschland. Und dazwischen ein Gebiet, das viele nur vom Blick aus dem Autofenster kennen, wenn sie auf der A7 Richtung Skandinavien oder wieder zurück durchs Land brettern.
Es gibt hier eine markante, freundlich-unfreundliche Zurückhaltung in allem, die nicht wenigen Menschen durchaus gefällt und die gerade in aufgebrachten Zeiten heilsam wirken kann. Irgendwie hat es dieses Bundesland zum Beispiel fertiggebracht, in der Coronapandemie zunächst und für längere Zeit zu den Gebieten zu gehören, in denen die Infektionszahlen noch einigermaßen tolerabel waren. Warum das so war, konnte niemand genau sagen. Lag es an den Leuten und ihrer Art? Oder doch am Wind? Um ein typisches Vorurteil zu zitieren: Die Schleswig-Holsteiner sollen sehr unzufrieden gewesen sein mit der 1,5-Meter-Abstandsregel, die zur Pandemiebekämpfung ausgerufen wurde – sie wollten so schnell wie möglich zurück zu ihren üblichen drei Meter Abstand. Ob etwas Wahres dran ist? Wer weiß.
Auf den zweiten Blick sind die Dinge oft ein bisschen komplizierter. Manchmal passen sie einfach nicht zusammen. Da ruft dann eben ein Kuckuck im Wattenmeer. Das hätte man nicht erwartet, ist aber so. Es gab und gibt im zweitkleinsten Flächenland der Republik eine mitunter verwirrende Gleichzeitigkeit. Von Reichtum und Entbehrung zum Beispiel. Von Großbauerntum und Selbstversorgung. Wie in den USA, wo im Wilden Westen die Gesetzlosen ihre Duelle zur Mittagszeit austrugen, während an der Ostküste die Universitäten internationalen Ruf erlangten. In Schleswig-Holstein wurde einst irgendwo mühsam Torf gestochen, während die Dichter und Denker des Landes in den Parks von Herrenhäusern herumsaßen und sich gegenseitig Lyrik vorlasen. Und während heute in so mancher Gegend Höfe um ihre Existenz kämpfen, Dörfer überaltern und langsam sterben, boomt an den Küsten und Förden der Immobilienmarkt, weil reiche Leute aus sonst wo in der Nähe ihrer Segelboote wohnen wollen.
Und um das auch gleich festzuhalten: Natürlich hat Schleswig-Holstein einige Superlative zu bieten. Jedes Bundesland hat einen tiefsten Landpunkt – aber nur in Schleswig-Holstein ist es auch der tiefste Punkt Deutschlands. Der liegt mit 3,54 Metern unter Normalnull in der Wilstermarsch im Kreis Stormarn. Es geht hier aber sogar noch weiter runter, unter Wasser im Hemmelsdorfer See bei Travemünde nämlich. Dort befindet sich mit 39,5 Metern unter Normalnull der tiefste Festlandspunkt der Republik. Wissen wir das. Einen Skilift besitzt das Bundesland tatsächlich auch, am Bungsberg, der mit seinen 168 Metern überm Meeresspiegel die höchste Erhebung weit und breit darstellt. Knapp 200 Meter Höhenunterschied insgesamt. Dazwischen spielt sich Schleswig-Holstein ab.
In Heide gibt es den größten Marktplatz Europas, wobei Krakau dasselbe von sich behauptet, genauso wie Freudenstadt im Schwarzwald. Da sind dann Details wie unbebaut, bebaut oder umbaut plötzlich sehr entscheidend. Arnis an der Schlei ist mit weniger als 300 Einwohnern auf einer Fläche von einem halben Quadratkilometer die kleinste deutsche Stadt. Die Bräutigamseiche bei Eutin besitzt als erster Baum weltweit eine eigene Postanschrift (Bräutigamseiche, Dodauer Forst, 23701 Eutin); mittlerweile gibt es einige Nachahmer anderswo. Täglich treffen hier bis zu 50 Briefe aus aller Welt ein, die im Astloch der 500-jährigen Eiche deponiert werden. Mehr als zehn Ehen sollen über diese Kontaktadresse zustande gekommen sein. In der Landeshauptstadt Kiel befindet sich seit 1953 die angeblich erste Fußgängerzone Deutschlands. Am Nord-Ostsee-Kanal steht mit über 500 Metern die längste Bank der Welt. Und so weiter. Und so fort.
Alles, was Sie über das Bundesland Schleswig-Holstein und dessen Bewohner denken, stimmt. Und es stimmt nicht. Es wird in diesem Buch jedenfalls nicht darum gehen, mit allen gängigen Vorurteilen aufzuräumen. Was wir in einer Gebrauchsanweisung bieten können, ist, hier und da genauer hinzusehen. Und für das eine oder andere Erklärungen anzubieten. Im Großen und Ganzen müssen Sie Schleswig-Holstein ja nicht verstehen, um es einschätzen zu können. Genauso wie man bei einem Auto nicht wissen muss, wie der Motor funktioniert, damit man es fahren kann. Man muss allerdings wissen, wo der Zündschlüssel reingehört, was passiert, wenn man irgendwelche Knöpfe drückt, und was es bedeutet, wenn ein bestimmtes Lämpchen aufleuchtet.
In diesem Sinne ist das, was Sie gerade in der Hand halten, dann tatsächlich eine Gebrauchsanweisung für Schleswig-Holstein.


Nordisch by Nature
Steine, Torf und ungefährliche Tiere
Seit einiger Zeit weiß ich es: Ich lebe auf Resten von Skandinavien. Wenn ich von meinem Wohnhaus aus den Feldweg entlang unseren etwas außerhalb liegenden Kirchenhügel hinaufspaziere, gehe ich auf schwedischem Gestein, vor Jahrmillionen hier zusammengeschoben, abgelegt, zurückgelassen und nach und nach zu einer welligen, freundlichen Landschaft gewandelt. Etwas skandinavisch kann Schleswig-Holstein einem natürlich leicht vorkommen. Wegen der dänischen Hotdogs zum Beispiel, die man in vielen Fußgängerzonen an kleinen Buden mit Dannebrog-Flagge kaufen kann. Oder wegen der baumwollenen Vorhangstoffe an den Fenstern, der Vorgärten voller Bauernrosen, der vielen Brittas, Ingas und Oles, die hier nicht erst neuerdings ganz selbstverständlich herumlaufen. Aber nicht nur oberflächlich ist es hier so nordisch, sondern auch irgendwie unsichtbarer, atmosphärischer – grundlegender eben.
Bereits in der Grundschule lernt man bei uns, die dreifaltige Struktur der schleswig-holsteinischen Landschaft zu benennen. Von West nach Ost: Marsch, Geest und Östliches Hügelland. Man lernt, dass all das, was wir täglich sehen, von Eiszeiten geformt wurde. Wenn ich als Kind von meinem Wohnort bei Kiel aus mit dem Fahrrad zum nächsten Strand fahren wollte, kam ich durch eine Senke, die einfach nur „das Urstromtal“ hieß. Die Steine, die ich am Fuß der Steilküsten an der Ostsee fand und aufsammelte, ein Stück mitschleppte und wieder fallen ließ, sobald ich einen hübscheren sah, hatten skandinavische Namen – Oslobasalt, Schonengranulit, Larvikit.
Aber erst als Erwachsene, als es anfing, mich wirklich zu interessieren, wurde mir klar, dass dort, wo jetzt Schleswig-Holstein liegt, kein Land wäre – abgesehen von einer Insel aus Gipsgestein, dem Segeberger Kalkberg, der aus dem Wasser ragen würde –, wenn nicht Schweden und Norwegen aus Felsen beständen. Und wenn die Gletscher während der Kaltzeiten auf ihrem langsamen, unbeirrbaren Weg nach Süden nicht jede Menge davon mitgenommen hätten. Das Land, auf dem ich stehe, wenn ich vom Kirchenhügel meines Wohnortes aus Richtung Küste blicke, ist insofern eigentlich nicht geformt durch Eiszeiten, wie ich in der Schule lernte. Es ist entstanden durch Eiszeiten.
Schleswig-Holstein ist längs gestreift. Zwar sind die Farben Blau, Weiß und Rot auf der Flagge quer aufeinandergeschichtet, wenn man jedoch aus der Vogelperspektive auf das Bundesland blickt, erkennt man seine klare vertikale Dreiteilung. Und die Streifen, die von Norden nach Süden verlaufen, sind derart unterschiedlich, dass man beim Querdurchfahren von einem Meer zum anderen deutlich merkt, in welchem von ihnen man sich gerade befindet.
So hat die Geest, der mittlere Abschnitt, einen sandigen, wenig fruchtbaren Boden, denn die Gletscher haben hier alles Gestein unter sich zermahlen. Auf diesem Drei-K-Boden – nur geeignet für Kiefern, Kartoffeln und Karnickel – braucht die Landwirtschaft Erfindungsreichtum. Und das Grundwasser kratzt wegen des dringend nötigen Düngens ständig an der Grenze zur bedenklichen Nitratbelastung. Der Name dieser Region kommt von dem niederdeutschen Wort für „trocken“ und „unfruchtbar“ – gest. Einen Katzensprung nördlich der Elbe, bei St. Michaelisdonn, sieht man den Rand der Geest ganz deutlich: eine 40 Meter hohe, steile Abbruchkante mitten im Land, dort, wo irgendwann im Pleistozän einmal eine Gletscherzunge endete. Davor lag früher das Meer. Und heute liegt dort die Marsch.
In der Marsch hatten die Gletscher nichts mitzureden. Dort ist der Boden dem Meer abgetrotzt, entweder neu hinzugewonnen, zurückerobert oder mit aller Kraft festgehalten. In der Marsch sind die Böden nährstoffreich und fruchtbar, sie eignen sich gut für Gemüse, aber sie müssen entwässert werden, denn das Wasser von oben und das von unten streben zueinander und wollen sich vereinen. Wenn man am Strand ein Loch buddelt, braucht es nur wenige Handbreit tief zu sein, bevor es sich mit Wasser füllt. Probiert man dieses, stellt man fest, dass es sich um Süßwasser handelt. Am Strand und in den Wiesen der schleswig-holsteinischen Marsch im Westen spürt man, wie dünn das Land sein kann, das einen trägt.
Im Osten dagegen finden sich Hügel und Seenplatten – nicht umsonst heißt eine Gegend dort Holsteinische Schweiz –, Steilküsten und Steinstrände. Ehemalige End- und Seitenmoränen bestimmen das Aussehen der Landschaft. Der lehmige Boden, auf dem im Frühsommer Raps bis zum Horizont gelb blüht, drückt Jahr für Jahr Gesteinsbrocken an die Oberfläche: kleine Feldsteine, die in mühsamer Handarbeit in den späten Wintermonaten von den Äckern gesammelt werden müssen, damit die Pflüge und Eggen keinen Schaden nehmen. An den Feldrändern werden sie zu Haufen aufgeschüttet, und nicht wenige, die ihren Garten neu anlegen, bezahlen viel Geld für eine Ladung davon. Aber auch die sogenannten Findlinge, die übermannshoch sein können, arbeiten sich nach oben. Manche von ihnen sind als örtliche Attraktion zu besichtigen, andere bekommen eine Inschrift und dienen als Denkmal, und wieder andere bilden die Grundlage für die übliche, immer gleiche Legende: Ein Riese (interessanterweise ist es in manchen Geschichten auch ausdrücklich eine Riesin) warf in seiner Wut mit einem Stein, und wo der landete, liegt er noch heute. Eine andere Version erzählt, dass es der Teufel selbst war, der den Stein warf, um eine Kirche zu zerstören. Immer warf er zu kurz. Mehrere große Findlinge, die vor der Küste Angelns, Schwansens und der Landschaft Dänischer Wohld, die zwischen Eckernförder Bucht und Kieler Förde liegt, aus dem Wasser ragen, tragen den Namen Teufelstein. Viele der Kirchen sind wiederum aus genau solchen Feldsteinen erbaut und stehen wie kleine Burgen immer auf der höchsten Stelle eines Dorfes. Der Weiße Stein vom Windebyer Noor hingegen, einer vom Meer getrennten ehemaligen Bucht, die jetzt einen großen See bildet und nur noch unterirdisch mit der Ostsee verbunden ist, heißt so, weil er von Seevögeln gern als Rast- oder Aussichtsplatz benutzt wird. Der Stein stammt ursprünglich aus dem schwedischen Värmland, und eigentlich ist er auch nicht weiß, sondern rötlich, aber das lässt sich unter den generationenalten Schichten von Kormorankot nicht mehr erkennen.
Und nicht wenige der riesigen Steine sind zu kleinen Häuschen aufgeschichtet und geben Zeugnis von einer Zeit, in der ohne Maschinen Gräber für die Toten mit 
so viel Mühe gestaltet wurden, dass sie buchstäblich für die Ewigkeit geschaffen sind. Die steinzeitlichen Gräber Schleswig-Holsteins gehören zu den ältesten erhaltenen Bauwerken Europas.
Das Wasser, das im Östlichen Hügelland aus den Leitungen kommt, ist hart und ausgesprochen wohlschmeckend. Es wird aus tief in der Erde liegenden Wasserdepots hochgepumpt, in denen es, durch Erdschichten gereinigt, seit den Eiszeiten lagert.
Man geht also im weitaus größten Teil Schleswig-Holsteins auf klein gemahlenem skandinavischen Festland. Entweder durch Gletscher zusammengeschoben, platt gewalzt oder abgeschliffen, durch Abflüsse zerfräst und von Toteisvorkommen zerlöchert. Oder hochgehoben durch das Salz, das tief unten im Boden lagert und die darüberliegenden Schichten nach oben drückt.
Eines der ersten Dinge, die man daher tun sollte, wenn man Schleswig-Holstein verstehen möchte, ist, sich mit der Bodenbeschaffenheit zu beschäftigen. Denn wenn man die Wirtschaft, die Politik, die Mentalität, die Landwirtschaft, den Städtebau und die Animositäten untereinander begreifen möchte, kommt man um die Geologie des Landes kaum herum, die in all diesen Belangen stets genauso kräftig mitbestimmt hat wie das Wetter.
Es ist jener skandinavische Schutt, der es mir mitunter schwer macht, bei einem Spaziergang an den schmalen Stränden unter den Steilküstenabschnitten zwischen Lübecker Bucht und Flensburger Förde entlang der Ostsee, so hübsch, dramatisch oder beeindruckend sie sich auch präsentieren mag, den Blick nicht auf den Boden geheftet zu halten. Wonach ich in der Hauptsache Ausschau halte, sind Butterstullen. Ob man das im Norden überall so nennt, bezweifle ich. In meiner Familie, deren einer Teil brandenburgische Wurzeln hat, weiß allerdings jeder, was gemeint ist: flache, glatte Steine, die man „flitschen“ lassen kann. Die Technik ist nicht ganz einfach, und je nach Wellengang gelingt das Hüpfenlassen der Steinscheiben über die Wasseroberfläche mal besser, mal schlechter. In vielen Fällen versinkt der Stein einfach mit einem satten Plopp, statt in flachen Bögen Richtung Horizont mehrmals auf dem Wasser aufzutitschen. Der derzeitige Weltrekord liegt übrigens bei 88 Sprüngen.
Aber nicht nur Butterstullen sind Steine, für die das Bücken sich lohnt. Donnerkeile, Hühnergötter, Feuersteine, Kreide – sie alle liegen herum und sind in ihrer Art besonders und faszinierend. Feuersteine, auch Flintsteine genannt, können aus einem Stück Stahl Funken schlagen und wurden früher in Flinten verwendet. Donnerkeile sind versteinerte Teile von Urzeitlebewesen. Hühnergötter – Steine mit einem durchgehenden Loch – gibt es so zahlreich, dass die kleine Kindergartengruppe meines Sohnes einmal nur zwei Stunden brauchte, um über 70 Stück zu finden. Dazu all die kleinen und großen Brocken in Rosa und Blaugrau, gebändert, geädert, gesprenkelt, mit Einschlüssen und Versteinerungen, scharfkantig wie Messer oder glatt geschliffen wie Handschmeichler, manche mit Gesichtern oder in Herzform. Unmöglich, an einem Strand der schleswig-holsteinischen Ostseeküste zu spazieren, ohne dass einem hinterher die Hosen rutschen, weil die Taschen voller Steine sind. Man kann seine Blumenbeete damit dekorieren, ein Glas mit ihnen füllen und auf den Schreibtisch stellen, auf dem Fensterbrett ein maritimes Staubfängerarrangement legen oder Papier mit ihnen beschweren. Aber sie müssen auch gar nicht nützlich sein, um die menschliche Sammelleidenschaft auszulösen.
Ich jedenfalls hege eine heimliche Verachtung für Sandstrände. Die dürfen alle, die hier Urlaub machen, gern haben, ich schenke sie ihnen. Mögen sie zwischen Dünen, in Strandkörben, in selbst errichteten Sandfestungen mit Muschelmosaik glücklich werden. Aber lasst mich allein an meinen Steinstränden, am Fuß der Steilküstenabschnitte, in deren Lehm und Ton die Steine stecken, die seit Jahrmillionen in der Erde liegen, durch Bewegung und Erosion erst sichtbar gemacht, dann herausgeschoben und geboren werden, auf dem Strand liegen und warten, bis das Meer kommt und sie holt, überspült, mitnimmt, irgendwo wieder ausspuckt. Ich stehe oft am Wassersaum und werfe halb fertige Hühnergötter weit ins Meer hinaus, damit es seine Arbeit beendet und in ein paar Tausend Jahren den Stein wieder auf den Strand legt, mit einem perfekten Tunnel darin, sodass man ein Band hindurchziehen und ihn in den Hühnerstall hängen kann, um böse Geister abzuwehren.
Auch in den Städten und Städtchen im Land kann es sich lohnen, den Blick auf den Boden zu lenken. Viele Kopfsteinpflaster bestehen aus den skandinavischen Mitbringseln der Eiszeit und ergeben ein buntes Mosaik.
Was tut man aber, wenn man kein gutes Verhältnis zu Steinen hat und in Schleswig-Holstein lebt? Wie wäre es stattdessen mit Sand? Mit Schlick? Lehm? Torf? Alles nicht so das, was einen vom Hocker reißt? Ich fürchte, da bleibt nur, sich einen anderen Lebensmittelpunkt zu suchen.
Denn endlose, düster raunende Wälder hat das Bundesland nicht zu bieten. Lilafarbene Heideflächen, Apfelplantagen, die im Frühjahr ihre zarten rosa Blüten wie einen geheimnisvollen Schleier tragen, Flussniederungen mit verwunschenen Uferbänken, über denen die Trauerweiden herabhängen – das alles muss man schon gezielt suchen. Aber Knicks gibt es, und zwar jede Menge. Diese langen Streifen buschiger Vegetation zwischen den Feldern und Weiden mit im vorgeschriebenen Abstand aufragenden Bäumen, die den seltsamen Namen „Überhälter“ tragen, sind zugleich Biotop und Erosionsschutz und prägen das Bild so eindrücklich, dass man von „norddeutscher Knicklandschaft“ spricht. Auch Wäldchen und Flüsschen und Seechen findet man, darunter kreisrunde Toteisseen ohne Zu- oder Abfluss von geheimnisvoller Tiefe. Moore und Binnendünen. Es gibt Buchenhaine, manche von ihnen schaffen es, auf einem kleinen Abschnitt der Steilküste zu stehen und ein gutes Fotomotiv abzugeben, auch wenn sie in keiner Weise mit denen in Mecklenburg mithalten können. Auf einigen Feldern stehen Eichen. Einzelgängereichen, die ihre knorrigen Äste in den Himmel strecken, sodass sie im Winter vor dem fahlen Himmel in der scheinbar immerwährenden Dämmerung wie riesige Hände von Zombies aussehen, die aus dem Grab wachsen. Im Sommer, belaubt und von der Sonne in Szene gesetzt, wirken diese Bäume wie der holzgewordene Kinderklettertraum.
An den Dorfrändern findet man gelegentlich Doppeleichen: zwei am Stamm zusammengewachsene Bäume, gepflanzt im 19. Jahrhundert in Erinnerung an den Vertrag von Ripen aus dem Jahre 1460, in dem festgeschrieben wurde, dass die Landesteile Schleswig – nördlich des Flusses Eider gelegen – und Holstein – südlich der Eider – „auf ewig ungeteilt“ sein sollten. (In der letzten Strophe des literarisch eher wenig hochwertigen Schleswig-Holstein-Liedes heißt es sogar: „Teures Land, du Doppeleiche,/unter einer Krone Dach,/stehe fest und nimmer weiche,/wie der Feind auch dräuen mag!“)
Befindet man sich im Westen, gibt es nicht nur deutlich weniger Bäume – von Wäldern gar nicht zu sprechen –, sie wachsen auch alle auffallend schief. Das liegt natürlich am steten Wind, der häufig aus der immer gleichen Richtung kommt: aus Westen. Diese Bäume haben die schöne Bezeichnung „Windflüchter“, und besonders hübsch ist es, wenn man durch eine Allee fährt oder geht. Aus Mangel an anderen optischen Anhaltspunkten kann es durchaus zu einer kurzfristigen Verwirrung darüber kommen, wer denn nun eigentlich schief ist – der Mensch oder die Bäume. Aber inzwischen findet sich fast immer in Sichtweite mindestens ein Windrad, das mit seiner senkrechten und unverrückbaren Haltung alle geometrischen Fragen klärt.
Melancholisch-düster wirken die Moore, von denen es immerhin einige gibt. Kein Wunder, hier ist es, übers Jahr gesehen, schließlich ziemlich nass, und wo lange genug das Wasser steht, ohne abzufließen, bilden sich Hochmoore. Im Dosenmoor bei Neumünster kann man auf Bohlenwegen laufen und nach dem fleischfressenden Sonnentau Ausschau halten. Aber in den meisten noch erhaltenen Mooren erinnern eckige Gruben an die lange Geschichte des Torfstechens. Schwer zu glauben, aber als die ersten Menschen hier sesshaft wurden, muss ganz Schleswig-Holstein bewaldet gewesen sein. Die Bäume wurden spätestens im Mittelalter abgeholzt, um Weide- und Ackerflächen zu schaffen. Die Winter jedoch blieben kalt, windig und feucht, und wenn man es auch ohne Brennholz warm haben wollte, verheizte man eben Torf. Das Torfstechen hat eine so lange Geschichte in Schleswig-Holstein, dass eine bekannte regionale Band sich den Namen Torfrock gegeben hat, um ihre Herkunft zu kennzeichnen. Selbst in ihren Songs kommt gelegentlich der Torf vor: „Rut mit’m Torf, hau rin un hol rut.“ Inzwischen sind die Torfvorkommen geschützt, auf jeder Packung Pflanzerde, die im Baumarkt zu kaufen ist, steht groß drauf, sie sei torffrei.
Die Landschaft Schleswig-Holsteins mit ihren kleinen, unzusammenhängenden Restwäldchen und ihren Bohlenwegen über Moore, die mit Mühe erhalten und renaturiert werden, erzählt deutlicher sichtbar als anderswo die Geschichte der Ausbeutung der Natur durch den Menschen.
Schleswig-Holstein ist, geologisch betrachtet, ein junges Land. Und im Westen, in der Marsch, ist es so jung, dass es eigentlich noch gar nicht erwachsen ist. Ob es das jemals werden kann, ist ebenfalls fraglich, denn es liegt kaum höher als der derzeitige Meeresspiegel. Steht man auf einer der Flächen, die zwischen zwei Deichen liegen und „Koog“ genannt werden, befindet man sich auf Land, das nicht freiwillig entstanden ist. Es ist herbeigerufen und festgehalten worden. Diejenigen, die hier leben, haben seit Jahrhunderten Möglichkeiten gefunden, die Vorgänge der Natur zu nutzen, um Land zu gewinnen. Die Techniken sind alt, bewährt und kaum verändert, sie lenken, was die Natur ohnehin tut. Eine Win-win-Situation, wenn man davon ausgeht, dass es für die Natur vorteilhaft ist, nicht routinemäßig ausgebremst zu werden.
Und so kommt es auch hier zu dieser seltsamen Gleichzeitigkeit Schleswig-Holsteins, von der schon die Rede war: Alles an der Westküste, von Niebüll bis Brunsbüttel, wirkt uralt. Die Bewohner in ihrer behäbigen Art und bedächtigen Sprache, die Häuser, die selbst dort, wo sie modern sind, schon nach kurzer Zeit – von Wind und Regen bearbeitet – Used-Look tragen. Die Fischerboote, Hafenanlagen, die Straßen am Fuß der Deiche, all das verwitterte Holz der Bänke, der Treppen und Handläufe, der Zäune; all die algenbewehrten Bojen und Fischernetze, die ächzenden Autofähren und eingesalzenen Kassiererhäuschen – nichts bleibt lange glänzend und frisch. Der Wind ist der Wind, seit Urzeiten, und die See ist die See. Wir können uns auf den Kopf stellen, sie folgt ihren eigenen Gesetzen, man muss sich ihr fügen, und so bleibt das Bewährte zugleich immer auch das Praktischste. Der Fortschritt zeigt sich höchstens im Detail. Und hier, wo die Zeit stillzustehen scheint, steht man dann unter Umständen auf einem Untergrund, der jünger ist als jedes andere Festland auf diesem Planeten. Der das Werk von Menschen ist. Hier, wo alles sich den Kräften und Rhythmen der Natur beugen muss, ist die Natur, so weit das Auge reicht, von uns überhaupt erst erschaffen worden. Auf die mühsame, altbewährte Art, mit Geduld und Spucke und ganz viel trial and error.
Der Vorgang der Landgewinnung am Wattenmeer ist im Übrigen in seinen Grundzügen so einfach zu begreifen, dass ich ihn schon in der dritten Klasse als Unterrichtseinheit gelehrt bekam. Sehr gut erinnere ich mich an einen Test im Fach Sachkunde, der aus einem Bild bestand, dessen Einzelteile ich korrekt beschriften musste. Ich schrieb alle Begriffe hin, und weil ich ein Gedächtnis für schöne Wörter habe, fallen sie mir stets ein, wenn ich über den Damm auf die Insel Nordstrand fahre und rechts und links die jungen Felder sehe, jung im buchstäblichen Sinn. Und wenn keiner zuhört, sage ich die Wörter laut und lausche auf ihren Klang: Buhnen, Lahnungen, Faschinen, Queller.
Im Grunde läuft es so: Das Meer zieht sich bei Ebbe zurück, der Meeresboden liegt frei. Mit der Flut bringt das Wasser Sedimente, feine Partikel, die nach unten sinken. Nun muss man dafür sorgen, dass die Ablagerungen da bleiben, wohin sie sich gelegt haben, und nicht vom ablaufenden Wasser wieder mitgenommen werden. Zu diesem Zweck baut man längs zum Ufer Bremsen ein, die Lahnungen, die aus Pflöcken bestehen, zwischen die man Reisigbündel gestopft hat. Die Bündel, Faschinen genannt, halten die Sedimente fest. Außerdem beruhigen diese Anlagen die Wellen und verschaffen den kleinen Erdpartikeln mehr Zeit, um zu sinken. Nach und nach – so etwas dauert ungefähr 10 bis 20 Jahre – baut sich 
zwischen den Lahnungen eine Bodenschicht auf. Irgendwann wird sie kaum noch überspült, die Meeresbodenhöhe ist erreicht. Legt man jetzt Gräben an, wird das Land entwässert. Fortan heißt dieses Gebiet Vorland, denn es liegt ja vor dem Deich.
Und nun kommt der Teil, der mich immer am meisten fasziniert. Eine einzige Pflanzenart gibt es an der Nordsee, die auf einem derartigen Boden wachsen kann: den Queller. Der Boden ist noch immer voller Salz, wie man sich denken kann, außerdem ist eben doch mal die eine oder andere Flut etwas höher und überspült das neue Vorland. Der Queller aber kommt damit klar. Vermutlich hat jedes Kind, das in der Grundschule einen Ausflug an die Nordsee machen musste, ein Stückchen Queller probiert, um festzustellen, dass er tatsächlich salzig schmeckt. Während also der Queller den Boden befestigt, sodass das Meer ihn nicht mehr einfach davontragen kann, sorgt der gute alte norddeutsche Regen dafür, dass nach und nach das Salz weggewaschen wird.
Ob die Westküstenbewohner den Queller für seine Eigenschaften lieben? Man wird es vielleicht nie erfahren, denn sie sind üblicherweise wenig enthusiastisch in ihren Äußerungen. Aber ich vermute es. Und wenn man es schon nicht Liebe nennen will, dann einigen wir uns darauf, dass sie sich ihm verbunden fühlen. Auch sie wachsen und gedeihen auf angehobenem Meeresboden, auch sie sind letztlich Pionierpflanzen in Menschengestalt.
Ist das Salz aus dem Boden verschwunden, merkt man es daran, dass andere Pflanzen sich ansiedeln. Es heißt, man sehe es am Weißklee. Wächst er, dann wird es Zeit, das neue Land einzudeichen. Eine Weide, die immer wieder überspült wird, ist nicht das Richtige für Rinder, und ein Acker, der regelmäßig nachgesalzen wird, bringt keinen Ertrag. Der neue Deich hält das Meer endgültig draußen. Der alte Deich bleibt stehen und wird zum Binnendeich (nach dem plattdeutschen Wort binnen für „innen“). Das nagelneue Land zwischen den beiden Deichen, dem Binnen- und dem Außendeich, ist dann ein Koog. Er bekommt einen schönen eigenen Namen. Einige sind nach Adligen benannt, die ihren eigenen Wohnsitz meistens in einem der schicken Herrenhäuser im Osten zwischen den Hügeln hatten. Vielleicht auch nach weiblichen Verwandten oder Ehefrauen, denn wenn sie schon weder Macht noch Besitz erbten, konnte man ihnen wenigstens eine Freude machen, indem man einen baumlosen Acker zwischen zwei Deichen nach ihnen benannte. Die meisten Köge tragen natürlich Namen von Ortschaften oder Flurbezeichnungen (gerne auch Altkoog, Oster- und Westerkoog). Einige heißen wie wichtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Der Adolf-Hitler-, der Hermann-Göring- und auch der Horst-Wessel-Koog wurden inzwischen umbenannt.
Auch wenn der Boden skandinavisch ist, die Fauna ist es nicht. Wo wenig Bäume wachsen, braucht man nicht auf Elche oder Bären zu hoffen. Die Tiere, die man in Schleswig-Holstein zu sehen bekommt, sind in großer Überzahl Nutztiere. Ansonsten gibt es die üblichen Eichhörnchen, Baummarder und Maulwürfe. Seehunde und Kegelrobben liegen träge auf Sandbänken, mit viel Glück erspäht man einen Schweinswal.
Aber Vögel gibt es. So viele, dass sie ein eigenes Kapitel wert wären. Knutts verdunkeln im Frühjahr den Himmel über den Nordfriesischen Inseln mit ihren Schwärmen, Singschwäne tröten wie verstimmte Blasorchester, während sie in Reihen über die Felder fliegen. Im Herbst ziehen die pfeilförmigen Formationen der Wildgänse nach Süden und lösen beim Betrachten eine erdschwere Sehnsucht aus. Denn wir müssen – ortstreue Standvögel, die wir nun mal von Natur aus sind – im Winter hierbleiben, und das ist weiß Gott keine leichte Sache in diesen Breitengraden, für kein Lebewesen, auch keines, das einen dänischen Bollerofen und einen hübsch abgelagerten Holzvorrat besitzt. Störche ziehen im Frühling hier ihre Kinder groß. Und während ich früher immer dachte, Vogelbeobachtung sei nur etwas für exzentrische amerikanische Autoren, die Katzen hassen, haben mich die spektakulären Balzflüge der Kiebitze auf dem Feld vor unserem Haus eines Besseren belehrt. Die Nachfahren der Schwalbe, die Hans Christian Andersen einst an seinem Fenster in Kopenhagen von Däumelinchens Schicksal erzählte, nisten in unserem Carport und bringen über dem Autodach ihren Kindern das Fliegen bei, bevor sie sich im Herbst auf den unfassbar langen Weg nach Afrika machen. Die Kormorane, die ihr teilweise Wasser aufnehmendes Gefieder trocknen lassen müssen, indem sie mit ausgebreiteten Flügeln in Sonne und Wind sitzen, sind ein unheimlicher, düsterer Anblick. Und wer danach fragt, wovor man sich in Schleswig-Holstein in Acht nehmen muss, dem ist zu raten, auf den Uferpromenaden sein Fischbrötchen richtig festzuhalten, wenn Möwen in der Nähe sind (und das sind sie immer). Es gibt Berichte über Möwen, die statt Backfisch auch gern kleine Hunde erbeuten, aber ich weiß nicht, ob sie wirklich stimmen.
Die Katzenhaie in der Ostsee sind hingegen ungefährlich. Mit den Feuerquallen ist natürlich nicht zu spaßen. Aber meine Antwort, wenn die Kinder früher vor etwas Angst hatten, war stets: gibt es hier nicht. In Schleswig-Holstein gibt es keine Erdbeben. Keine Vulkanausbrüche und Tsunamis. Keine giftigen Spinnen, wilden Löwen, angriffslustigen Vielfraße. Offenbar hausen in kleineren Biotopen einige Exemplare von Kreuzottern, aber damit konnten meine Kinder leben. Schleswig-Holstein ist – so herrscht in unserer Familie Einigkeit – der harmloseste Ort der Welt. Es sei denn, man wohnt auf einer Hallig, aber das ist eine andere Geschichte.
Sollte sich jemand jetzt die Frage stellen, warum ich mich so lang und wortreich mit der Geologie und den Landschaften in Schleswig-Holstein aufhalte, so stelle ich gern ganz offen meine These zur Debatte, dass die Menschen überall gleich sind und das, was wir Mentalität nennen, in allererster Linie eine Reaktion auf die Umwelt ist, in der man lebt. Will man die Leute hier im Norden verstehen, muss man auf die Bedingungen schauen, denen sie ausgesetzt sind – und zwar alle, seit Generationen, von Geburt an. „Jo, ik weer in jungen Johren an de Waterkant boorn./Ne steife Brise von vorn gifft mi jümmer koole Ohren“, heißt es in dem Song Nordisch by Nature der Band Fettes Brot – ein Leben ohne kalte Ohren ist hier leider nicht zu haben.
Wie soll man nicht wortkarg werden, wenn der Wind einem die langen Sätze aus dem Mund reißt und unverständlich macht? Wie soll man fröhliche, mediterrane Geselligkeit praktizieren, wenn die frühe Dunkelheit und das unwirtliche Wetter alle Lebewesen nach drinnen treiben? Wie soll man Weltoffenheit erlernen, wenn die Winter eine derartige Steilvorlage für Depressionen bieten, dass niemand, der nicht von Anfang an daran gewöhnt ist, lange bleiben möchte? Wie soll man nicht einen resignierten Humor entwickeln, wenn in jedem Frühjahr die Felder erneut von Gesteinsbrocken übersät sind, die seit Jahrmillionen im Boden liegen und einen daran erinnern, dass die Menschheit nichts weiter ist als eine winzige Episode in der Geschichte der Erde? Und wie soll man nicht seine Heimat ganz besonders lieben, demütig und ohne den Anspruch, dass andere es nachvollziehen können, wenn der Himmel darüber so unglaublich weit ist, die Steine am Strand Geschichten erzählen oder der Boden, den man bewirtschaftet, ein Geschenk des Meeres ist? Und man schon als Kind zerkleinerte Reste von Skandinavien über das Wasser hat flitschen lassen?

Jan Christophersen

Über Jan Christophersen

Biografie

Jan Christophersen, 1974 in Flensburg geboren, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Sein Roman „Schneetage“ (mare 2009) wurde mit dem Debütpreis des Buddenbrookhauses ausgezeichnet. Mit seiner Frau Mareike Krügel und den gemeinsamen Kindern...

Mareike Krügel

Über Mareike Krügel

Biografie

Mareike Krügel, 1977 in Kiel geboren, studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Sie erhielt zahlreiche Stipendien, u.a. in der Villa Decius in Krakau, und ist Mitglied im PEN Deutschland. Im Jahr 2003 bekam sie den Förderpreis der Stadt Hamburg und wurde 2006 mit dem...

Medien zu „Gebrauchsanweisung für Schleswig-Holstein“
Pressestimmen
Frankfurter Rundschau online

„Man erhält einen lesenswerten und liebevollen Überblick über die Geschichte, die Sprache, die Entwicklung und die Eigenheiten des nördlichsten Bundeslandes, gespickt mit humorvollen Seitenhieben.“

Lebensart

„Krügel und Christophersen faszinieren mit ihren Texten, die selbst für Einheimische noch so manche schöne Überraschung parat halten.“

die tageszeitung

„So strahlt dieses Buch, jenseits von Ableitungen der Ortsnamen, Einführungen in die bedrohten Sprachwelten des Friesischen wie des Plattdeutschen, dann Wetterbeobachtungen, immer wieder einen ganz eigenen, stillen Glanz aus. Früher sagte man schlicht ›Heimatliebe‹ dazu.“

StadtRadio Göttingen „Book's n' Rock's“

„Sie schreiben mit einer lockeren Art und viel nordischem Humor.“

Flensburger Tageblatt

„Von diesen persönlichen Eindrücken und nicht ganz ernst gemeinten Tiraden finden sich unzählige in diesem Buch, das vielleicht nicht die Gebrauchsanweisung ist, die man unbedingt erwarten würde, dafür aber wirklich Spaß beim Lesen macht. Und, ganz ehrlich: Das würde man über viele Reiseführer nicht unbedingt sagen.“

Stern

„Viel mehr als ein Reiseführer!“

NDR Kultur "Neue Bücher"

„Unaufdringlich, mit viel Wärme und manchmal liebevollem Spott.“

Kommentare zum Buch
Volltreffer
Christiane am 13.08.2022

Als Schleswig Holsteinerin (hier geboren-hier geblieben) würde /werde ich dieses Buch jedem schenken, dem ich unseren Flecken Erde an's Herz legen möchte. Viele Informationen, tolle Tipps und das Ganze in einem wunderbaren Schreibstil! Viel! mehr als eine Gebrauchsanweisung oder einen Touristenführer...ein Lesegenuss. Danke!! C.Werner

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