Lieferung innerhalb 1-3 Werktage
Bezahlmöglichkeiten
Vorbestellung möglich
Kostenloser Versand*
Blick ins Buch
Blick ins Buch

Fische haben keine Beine

Jón Kalman Stefánsson
Folgen
Nicht mehr folgen

Roman

„Ein poetischer, teils auch schwermütiger Roman über Familie und Heimat, Flucht und Rückkehr. Geschrieben von Jón Kalman Stefánsson, einem großen isländischen Erzähler, der die Gefühlslage seiner Landsleute bestens kennt.“ - Ruhr Nachrichten

Alle Pressestimmen (5)

Taschenbuch (12,00 €) E-Book (10,99 €)
€ 12,00 inkl. MwSt.
sofort lieferbar
In den Warenkorb Im Buchshop Ihrer Wahl bestellen
Geschenk-Service
Für den Versand als Geschenk können eine gesonderte Lieferadresse eingeben sowie eine Geschenkverpackung und einen Grußtext wählen. Einem Geschenkpaket wird keine Rechnung beigelegt, diese wird gesondert per Post versendet.
Kostenlose Lieferung
Bestellungen ab 9,00 € liefern wir innerhalb von Deutschland versandkostenfrei
€ 10,99 inkl. MwSt.
sofort per Download lieferbar
In den Warenkorb
Geschenk-Service
Für den Versand als Geschenk können eine gesonderte Lieferadresse eingeben sowie eine Geschenkverpackung und einen Grußtext wählen. Einem Geschenkpaket wird keine Rechnung beigelegt, diese wird gesondert per Post versendet.
Kostenlose Lieferung
Bestellungen ab 9,00 € liefern wir innerhalb von Deutschland versandkostenfrei

Fische haben keine Beine — Inhalt

Das hier ist Aris Geschichte. Und die seiner isländischen Familie. Sie umspannt ein Jahrhundert voller Erinnerungen: an Aris Großvater Oddur, die Beatles, junge Mädchen und schmerzliche Trennungen. Und sie beginnt damit, dass Ari seine Frau am Frühstückstisch sitzen lässt, um vorerst nach Kopenhagen zu verschwinden. 

Der preisgekrönte, wortmächtige Menschenschilderer Jón Kalman Stefánsson läuft in diesem großen Familienroman zur Höchstform auf!

„Stefánssons Sprache verbindet Sinnlichkeit und Abstraktion, Lyrismus und Rauheit, satte Bildoptik und philosophische Reflexion.“ NZZ

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 03.04.2017
Übersetzt von: Karl-Ludwig Wetzig
416 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31061-1
Download Cover
€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 09.03.2015
Übersetzt von: Karl-Ludwig Wetzig
416 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97027-3
Download Cover

Leseprobe zu „Fische haben keine Beine“

Prolog

Es hat selbst der Sonnenschein nichts dagegen ausrichten können und erst recht keine schönen Worte wie Regenbogen oder Liebe, die vollkommen nutzlos waren, man konnte sie auch unbesorgt wegwerfen – es hat alles mit dem Tod angefangen.

Wir haben so vieles: Gott, Gebete, Musik, Wissenschaft und Technik, jeden Tag neue Erfindungen, immer perfektere Mobiltelefone, stärkere Radioteleskope, doch dann stirbt jemand, und du hast gar nichts mehr, du tastest nach Gott, greifst nach der Enttäuschung, nach seinem Kaffeebecher, der Bürste mit ihren Haaren [...]

weiterlesen

Prolog

Es hat selbst der Sonnenschein nichts dagegen ausrichten können und erst recht keine schönen Worte wie Regenbogen oder Liebe, die vollkommen nutzlos waren, man konnte sie auch unbesorgt wegwerfen – es hat alles mit dem Tod angefangen.

Wir haben so vieles: Gott, Gebete, Musik, Wissenschaft und Technik, jeden Tag neue Erfindungen, immer perfektere Mobiltelefone, stärkere Radioteleskope, doch dann stirbt jemand, und du hast gar nichts mehr, du tastest nach Gott, greifst nach der Enttäuschung, nach seinem Kaffeebecher, der Bürste mit ihren Haaren darin, du bewahrst die Dinge auf wie einen Trost, wie etwas Verzauberndes, wie Tränen, wie das, was nie wiederkommt. Was ist dazu zu sagen? Wahrscheinlich nichts, das Leben ist nicht zu begreifen, es ist ungerecht, aber wir leben es trotzdem, kommen nicht darum herum, können nicht anders, das Leben ist das Einzige, was wir mit Sicherheit besitzen, dieser Schatz, dieser wertlose Plunder. Nach dem Leben kommt wahrscheinlich nichts. Und trotzdem hat alles mit dem Tod angefangen.

Nein, das kann kaum sein, denn der Tod ist das Ende, das, was uns zum Schweigen bringt, uns mitten im Satz den Bleistift aus der Hand nimmt, den Computer herunterfährt, die Sonne verschwinden und den Himmel verbrennen lässt, der Tod ist die Sinnlosigkeit selbst, ihm sollten wir keinen Anfang zuerkennen, das darf nicht sein. Der Tod ist die geistige Bankrotterklärung Gottes, das, was entstand, als Gott – womöglich aus Verzweiflung – Grausamkeit und Verlangen mischte, weil die Patience seiner Schöpfung nicht aufzugehen schien. Und trotzdem wohnt jedem Tod neues Leben inne –

 

Nicht der Gegenwert einer Kuh, und nirgends

wurde ein größerer Abstand des Himmels

von der Erde gemessen

Ich meine es nicht böse, aber Ari ist der einzige Mensch, der mich hierher hätte zurückbringen können, über diese ausgedehnte, schwarze Lava, die vor Jahrhunderten in Schmerz erstarrte, mancherorts nackt, anderswo hat das Moos sie weicher gemacht und getröstet, in Schweigen und Verträglichkeit gekleidet. Aus der Stadt fährt man an der lang gestreckten Aluminiumhütte vorbei und dann hinein in Lava, die zuerst ein alter Schrei, dann moosüberwachsenes Schweigen ist.

Der Himmel ist grau bedeckt, dunkle Wolken haben die zögerliche Dezemberhelligkeit erstickt, und die Lava liegt wie Nacht beiderseits der Straße hinaus zur Halbinsel Reykjanes. Auf halber Strecke gehen auf einmal die Straßenlaternen an, die mit ihrem gleichmäßigen Licht entlang der gesamten Straße über die Menschen wachen und ihnen die Sterne und die Aussicht rauben, Licht, das den Blick verstellt. Ich fahre durch Grau und diffuse Gefühle, wer weggeht, kommt nie wieder, ich hingegen komme gerade zurück, nicht zögerlich, sondern mit 110 Sachen, auf dem Weg nach Keflavík.

Keflavík, das es gar nicht gibt.

Ich weiß nicht, ob es von dieser anmaßenden Gedichtzeile kommt, von der Wahrheit des Gedichts, aber nach Keflavík zu fahren ist immer, als führe man aus der Welt und hinein in das, was es nicht gibt. Dabei sind es von der langen Aluminiumhütte und dem winzigen Pflanzenwuchs um sie herum keine zwanzig Minuten mehr, bis die ersten Häuser von Njarðvík aus der Lava aufragen, in graue Wolken und Distanz gehüllt. Ari und ich hören nie auf, uns zu wundern, dass sich hier Leben verstecken soll, dass das hier eine bewohnte Gegend ist, sogar eine ganze Menge Häuser, irgendetwas daran fordert die Vernunft und historische Begründungen heraus. Trotzdem, die Häuser von Njarðvík sollten nicht überraschend auftauchen, man ist darauf vorbereitet worden; wenn man weit mehr als die Hälfte der Strecke hinter sich hat, liegt rechter Hand Stapaþorp, dieses winzige Örtchen, das durch die Armee wuchs und gedieh, jetzt aber halb versunken am Fuß des Stapi in der Lava kauert, am Fuß jenes Felsens also, nach dem es seinen Namen hat und der wie eine Riesenfaust oder wie ein Schrei ins aufgewühlte Meer vorspringt. Und wenige Kilometer weiter steht ein großes Schild, auf dem langsam wie ein matter Herzschlag ein Name über dem Verkehr blinkt:

REYKJANESBÆR

Das Blinken ist wie eine Warnung an den Reisenden: Letzte Gelegenheit zur Umkehr, hier endet die Welt.

Reykjanesbær, diese farblose Gesamtbezeichnung für die drei Ortschaften mit den alten Namen Njarðvík, Keflavík, Hafnir.

Zehntausend Menschen. Und ein Meer ohne Fangquote.

Ich kehre nicht um, ich fahre an dem Warnschild vorbei aus der Welt, und bald taucht auf, was schwer zu begreifen ist. Als Erstes der riesengroße Flugzeughangar auf der alten Luftwaffenbasis, lange Zeit das größte Bauwerk Islands, von der U.S. Air Force errichtet, seine Größe eine Demonstration ihrer Überlegenheit. Dann ragen die Häuser von Njarðvík aus der Lava auf, und hinter ihnen dehnt sich Keflavík aus, der Ort birgt wichtige Jahre aus Aris und meinem Leben, der Ort dreier Himmelsrichtungen.

Island ist ein hartes Land, heißt es irgendwo: „und in schlechten Jahren kaum bewohnbar.“ Es ist eine wohl zutreffende Feststellung. Den Bergen wohnt ein wildes Temperament inne, sie halten in den Falten ihrer Abhänge den Tod versteckt, der Wind kann gnadenlos sein, der Frost kann Hoffnungslosigkeit verbreiten. Ein hartes Land, und die Isländer wurden von brutalen Bedingungen, Krankheiten und Vulkanausbrüchen zweimal fast ausradiert, aber Keflavík ist wahrscheinlich der kargste Landstrich von allen.

Im Vergleich mit Keflavík strahlen Biskupstungur und die Landschaft im Skagafjörður geradezu himmlische Lieblichkeit aus, die Milde südlicher Gefilde. Wenn der Fisch ausblieb, gab es weniges, womit man stattdessen sein Leben fristen konnte, der salzige Sturm drosch auf die Bewohner ein, das Leben spendende Süßwasser versickerte zusammen mit der Hoffnung in der Lava, und nirgends wurde ein größerer Abstand des Himmels von der Erde gemessen. Nicht der Wert einer Kuh, heißt es im Inventar aller Bauernhöfe des Landes, das Árni Magnússon und Páll Vídalín im 18. Jahrhundert erstellten. Ihre mit der gründlichen Durchdachtheit von Wissenschaftlern angefertigte Beschreibung ist die erste umfassende von Keflavík. Bei ihnen hatten Gefühle und Poesie oder negative Pauschalurteile keinen Platz, das alles wich Genauigkeit und ausgewogenem Urteil: „Fangboote gibt es keine, schlecht zum Landen. Keine Weiden, unkultiviertes Grasland besser, Wasserstellen sommers wie winters mit äußerst niedrigem Wasserstand. Weg zur Kirche weit und im Winter sehr oft unpassierbar. Nirgendwo im Land wohnen Menschen so nah am Tode.“

Ari und ich verließen Keflavík Ende der Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, bestiegen mit allen wichtigen Utensilien den Bus, Klamotten, Büchern, Erinnerungen, Schallplatten, und schauten kein einziges Mal zurück. Der Busfahrer, ein in Ehren ergrauter, netter älterer Herr, schob beim Losfahren eine Kassette in den Rekorder, drehte an der Lautstärke – er hörte nicht mehr gut –, und die ganze Fahrt nach Reykjavík dröhnte uns wie eine grausame Rache Wham! in den Ohren. Wir schlichen aus Keflavík hinaus, am Hafen entlang und vorbei am Gelände der Militärbasis mit ihren Kampfflugzeugen und sechstausend amerikanischen Soldaten, die inzwischen weg sind, vor ein paar Jahren wurden sie abgezogen, nahmen ihre Waffen und ihre Toten mit, Arbeit und Hamburger, Radiosender und Bars, ließen nichts zurück bis auf leer stehende Häuser und Arbeitslosigkeit. Der Bus rollte durch Njarðvík und dann auf die Reykjanesbraut, damals noch schmal und weniger ausgebaut, die Fahrt nach Reykjavík dauerte mindestens eine Stunde, der Busfahrer spielte „Wake Me Up Before You Go-go“ unterwegs mindestens dreimal, und seine sanfte Ausgeglichenheit verwandelte sich in Gnadenlosigkeit.

„Es freut mich, in den schlimmsten Ort des Landes zu kommen“, erklärte der isländische Präsident, als er Keflavík im September 1944 besuchte, drei Monate nach Gründung der Republik. Es waren seine ersten Worte beim bisher einzigen Besuch eines Präsidenten in Keflavík. Der schlimmste Ort – wie hatte man hier vor der Ankunft der Amerikaner, vor dem Maschinenzeitalter leben können?

Das ist schnell beantwortet: Man konnte es schlichtweg nicht.

„Nirgendwo im Land wohnen Menschen so nah am Tode.“

Der ewige Wind schien aus zwei Richtungen gleichzeitig wehen zu können, Salz oder Flugsand peitschten uns abwechselnd, der Himmel war so weit weg, dass unsere Gebete nicht einmal die halbe Entfernung hinter sich brachten, bevor sie wie tote Vögel abstürzten oder zu Hagel wurden, das Trinkwasser war so salzig, dass wir glaubten, das Meer zu trinken. Hier lässt sich nicht leben, es spricht alles dagegen, die Vernunft, der Wind, die Lava. Und dennoch haben wir all die Jahre hier gelebt, die Jahrhunderte hindurch, verbohrt wie die Lava, stumm durch die Geschichte wie das Moos, das über die Steine wächst und sie in Erde verwandelt. Jemand sollte uns ausstopfen, uns einen Orden verleihen, ein Buch über uns schreiben.

Über uns?

Ari und ich sind natürlich nicht von hier – woher sollten wir auch schon sein? Also nicht wirklich, wir sind mit zwölf hierhergezogen, waren dann zehn Jahre später wieder weg, abgehauen, nachdem wir die Schulpflicht hinter uns gebracht, auf dem Bau Mauern hochgezogen und in Keflavík und Sandgerði im Fisch gearbeitet hatten, drei Jahre in eingesalzenem und luftgetrocknetem Fisch, Gesamtschule absolviert; als Kinder sind wir gekommen, als etwas anderes gegangen. Wir sind beim besten Willen nicht von hier, aber warum klopft mir das Herz, als der Wagen Njarðvík erreicht, den Ort, der immer und ewig aussehen wird, als spielte er den Anheizer für Keflavík, irgendeine namenlose Gruppe, und der nichts Nennenswertes enthält bis auf das Gemeinschaftshaus Stapi? Ein neues Wohnviertel ist da entstanden, wo sich ein kahler Buckel Richtung US-Stützpunkt erstreckte, meist große Einfamilienhäuser, manche stehen leer und ragen über der Straße auf wie ein Leben, das man zu leben vergaß. Unterhalb der Häuser Flächen mit niedrigem Gebüsch, Reihen schlanker Bäumchen fest verzurrt, wie um zu verhindern, dass sie sich aus dem Staub machen. Dann rollt der Wagen über die unsichtbare Linie, die Njarðvík von Keflavík trennt. Das Herz klopft, dieser seltsame Muskel, diese mysteriöse Raumkapsel, Behausung ewiger Kindheit, und ich erreiche Lundúnartorg, Londoner Platz, den ersten Kreisverkehr der Ortschaft – der nächste heißt New-York-Torg. Ich finde diesen angestrengten Versuch der Keflvíkinger, sich über ihre Lebenswirklichkeit zu erheben oder ihrer Geschichte zu entfliehen, leicht peinlich. Ich verlasse den zweiten Kreisverkehr und halte unweit von einer der unzähligen fahrbaren Hamburgerbuden Keflavíks. Von da aus hat man einen guten Blick über den Hafen, klaffend leer und ohne Hoffnung, als hätte eine Gottheit ihn verloren und dann vergessen. Drei alte Seeleute stehen am äußersten Ende der Mole, wo sie das Meer besser sehen können, ihre Hände hängen herab, leer, beschäftigungslos, und sie beobachten den einziger Trawler, der an diesem Tag einlaufen wird. Ich hole das Fernglas aus dem Wagen, setze es an die Augen. Es liegt ein Anflug von Schmerz oder banger Befürchtung in den Augen der Fischer – als wären sie zur Mole gekommen, um zu gucken, ob womöglich verlorene Jahre ins Netz gegangen sind.

 

 

 

 

Dieser Schmerz, dieses abgedrückte Herz,

diese Möwen und Jonnis Kracherburger

Ari hat mich und Island vor bald zwei Jahren mit einer kurzen Notiz verlassen: „In kleinen Gesellschaften bekommt man manchmal keine Luft mehr, der Sauerstoffmangel kann erstickend sein, ich haue ab, bevor ich ersticke.“ Ein Supergrund, um abzuhauen. Wer Island lieben will, muss es manchmal verlassen.

Mangelnde Luft zum Atmen engt einen in kleinen Gesellschaften ein, und wer nicht genug Sauerstoff bekommt, denkt weniger oder kleiner, das Weltbild wird immer egozentrischer und somit verächtlich. Und Ari hat ja recht, unsere Gesellschaft leidet an Sauerstoffmangel, dabei könnten die Berge uns denken lehren, sie erheben sich hoch in die Luft, dem Himmel entgegen, und holen sich da Sauerstoff und freien Blick, während wir unten zwischen den Wiesenhöckern kauern. Obwohl, die Wiesenhöcker sind wichtig, sie sind schlafende Hunde, die Gedanken der Erde, die Stille, die wir vermissen. Die Wiesenhöcker sind Island, sagt Ari oft, zuletzt erst vor einer Woche in einer Mail an mich. Und weiter schrieb er: „Das Verlangen nach diesen Bülten nimmt mit. Die Dänen haben weder Berge noch Bülten, und das ist unverzeihlich von ihnen.“

Diesen Worten folgte kein Gruß, sondern nur ein Datum mit Zeitangabe, dann ein Smiley. Es war seine Art, mich wissen zu lassen, dass er auf dem Weg war, deutlicher würde er sich nicht äußern. Ari kam mütterlicherseits aus einer gefühlsbetonten Familie, wuchs aber, seit er sechs war, einerseits mit einem stummen Stockfisch von den Strandir und andererseits mit einem emotional Gestörten auf, der aus den Ostfjorden stammte. Eine solche Kombination kann nicht gut gehen, muss irgendwelche Schäden hinterlassen, Kummer, eine Unmenge schwerer Stunden und schlafloser Nächte. Und das tat sie auch, es wird hier noch auf die eine oder andere Weise sichtbar werden, daran führt kein Weg vorbei; wer mit dem Schreiben anfängt, darf nichts verschweigen, das ist das erste Gebot, die Grundvoraussetzung für alles. Ich wusste also, Datum und Zeitangabe bedeuteten, dass Ari auf dem Heimweg war. Am angegebenen Tag und zur festgesetzten Stunde würde er auf der Miðnesheiði landen, und ich antwortete ihm entsprechend mit einem Ausdruck aus unseren früheren Zeiten, als die Welt noch ein anderes Gesicht hatte: Vertrinken wir den Zoll zusammen! Wo wirst du absteigen? Die Antwort war eine Überraschung: Flughotel in Keflavík.

Das Geheimnis von Aris Rückkehr war vielleicht nicht besonders geheim, und es bedurfte keines Ari-Spezialisten, um es aufzudecken, aber seine Abschiedsworte von vor zwei Jahren: „In kleinen Gesellschaften bekommt man manchmal keine Luft …“ sind dagegen von jemand anderem als mir kaum aufzulösen, denn ihre eigentliche Bedeutung war in etwa diese: Der Schmerz jagt mich von hier fort, er drückt mir das Herz ab und macht es kaputt. Was ist ein Mensch mit einem kaputten Herzen? Ich verschwinde von hier, um mich selbst zu retten.

Der Schmerz, die Trauer waren es.

Oder das, was so schnell, so unerwartet, so schrecklich in seinem Leben kaputtgegangen war, in seinem, in ihrem und in dem der drei Kinder. Oder so schnell und unerwartet kaputtzugehen schien. Ein Arm über dem Küchentisch wie ein Donnerschlag, und nichts war mehr wie vorher.

Nichts. Ein schwieriges Wort.

Ari jagte sich selbst davon. Oder das Leben tat es, der Alltag, das Ungeklärte, das, vor dessen Klärung er sich gedrückt hatte, samt den vielen Kleinigkeiten, die sich ansammeln, ohne dass wir ihnen Beachtung schenken, wir sind zu sehr von anderem in Anspruch genommen, nehme ich an, sind zu achtlos, zu gedankenlos, vielleicht etwas von alledem. Erst ein Arm wie ein Donnerschlag über dem Küchentisch, wenig später kam die Leere, die anschließend von Trauer und Verlangen – Blume und Dolch in einem Wort – langsam, aber sicher ausgefüllt wurde.

Jetzt aber kommt er also mit seinem abgedrückten Herzen zurück, nach zwei Jahren in Dänemark, das streng genommen nicht als Ausland zählt.

Ich stehe immer noch über dem Hafen von Keflavík und schaue dem einen Trawler zu, der mit seinem Fang einläuft. Die alten Fischer haben die Hände in die Hosentaschen gestopft, reden miteinander, und der Schmerz, den ich in ihren Mienen zu lesen meinte, ist verschwunden wie ein Missverständnis, sie lachen, ein paar Möwen folgen dem Schiff, aber auffällig uninteressiert, als hätten sie das Zutrauen in die seemännischen Fähigkeiten und Fischereikenntnisse der Keflvíkinger verloren und kreisten lediglich pro forma über dem Schiff. Ich setze das Fernglas an und beobachte die Möwen, sie gucken geradezu verlegen, was natürlich Blödsinn ist, denn Möwen verziehen keine Miene, außer es geht um Gier oder Todesangst – sind eben Scheißliberale, würde Ari sagen. Ich zucke zusammen, als plötzlich in nächster Nähe ein Auto hupt. Fünf Autos, zwei Jeeps, ein großer Pick-up und zwei normale Pkws warten am rollenden Würstchen- und Hamburgerstand. Jonnis Kracherburger steht auf einem großen und leuchtenden Aluminiumschild auf seinem Dach und darunter, genauso groß, auf Englisch oder vielleicht Amerikanisch: Jonny’s Thunder-Burgers! Alte Gewohnheit, nehme ich an, der Einfluss von fünfzig Jahren Nachbarschaft mit der US-Armee. Ich blicke zu den Autos hinüber und hebe unwillkürlich wieder das Fernglas an die Augen. Ein Wagen hupt ein zweites Mal, vielleicht aus Langeweile, vielleicht um gegen das Leben zu protestieren oder gegen die Zustände auf der Halbinsel, gegen Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, dagegen, dass die Quoten futsch sind und ebenso der Hering, hupt vielleicht vor Unzufriedenheit mit der Aluminiumhütte in Helguvík oder mit der amerikanischen Müllverbrennungsanlage, die Bürgermeister Sigurjón hierherholen möchte, hupt vor Ungeduld beim Warten auf mehr Sicherheit, mehr Glück im Leben, hupt, weil die Lust auf Sex nachgelassen hat oder im Gegenteil gar nicht nachlassen will, oder er hupt einfach aus Ungeduld, weil er endlich drankommen will, es ist sicher kein Vergnügen, hungrig auf Jonnis Kracherburger warten zu müssen. Oder er hupt mich an, weil ich hier stehe und auf den Hafen gucke, dieses Wahrzeichen einer besseren Zeit, als der Hafen noch die zentrale Rolle spielte und das Herz des Ortes war, sein Sinn und Ziel, die Bestätigung seiner Bedeutung, und als er noch eine unverbrüchliche Verbindung zur Geschichte und zum inneren Kern des Landes darstellte und damit ein kostbares Gegengewicht zur Armee und zu dem Einfluss, den sie auf Leben und Verhalten der Keflvíkinger ausübte. Ich gehe zu meinem Wagen zurück, weiß ja, dass man in Keflavík Menschen ohne Auto misstraut, denn solche Typen erweisen sich meist als Kommunisten und abgebrannte Säufer. Ich werfe noch einen Blick über die Schulter zurück, die Möwen sind verschwunden, wo sie eben schwebten, ist nur noch dunkelnde Luft, der Tag versinkt langsam im Meer, das jahrhundertelang die Grundlage für das Leben in Keflavík bildete, versinkt mit einer vor Müdigkeit rot glühenden Wintersonne, versinkt mit den Möwen, Autohupen, Jonny’s Thunder-Burgers, sinkt in ein freigebiges Meer zu den Fischen, die da ohne Gefahr vor den Keflvíkingern herumschwimmen, die meisten Schiffe wurden im Kielwasser der Fangquoten verkauft, der Ort hat fast keine Quote mehr, Gerechtigkeit und Gleichbehandlung machen seit Langem einen Bogen um Keflavík, den schlimmsten Ort des Landes, wir gucken aus dem Küchen- oder Wohnzimmerfenster, brummen, da ist das Meer, das ist ja dermaßen groß, und ziehen die Gardinen vor, denn wer will sich schon von etwas derart Großartigem an bessere Zeiten erinnern lassen, an Zeiten der Vollbeschäftigung, als es noch leicht war, mit erhobenem Kopf herumzulaufen, sich daran erinnern lassen, dass man mit seinem Schweigen zugestimmt hat, dass die Fischbestände des Meeres in Bankkonten der Reeder und ihrer Erben umgewandelt wurden, der das Maul aufklappende Dorsch, der glänzende Hering zu ihrem Blut und das Meer privatisiert wurde – rasch ziehen wir die Vorhänge zu, denn es tut weh, die See vor Fisch wimmeln zu sehen und nicht fischen zu dürfen, eine Fischfabrik, aber keine Arbeit zu haben.

Ich kann die Möwen nirgends sehen, die alten Fischer auch nicht, sie sind zusammen mit dem Tag verschwunden, sind vielleicht mit der Sonne im Meer versunken, mit den Möwen und der Autohupe. Ich richte das Fernglas auf den Himmel, für den gibt es hoffentlich noch kein Quotensystem, ich blicke durch die aufziehende Dunkelheit nach Osten, in die Richtung, aus der Aris Maschine kommt. Pilot, flieg vorsichtig mit dieser Ladung Traurigkeit, mit diesem abgedrückten Herzen!

 

 

Zehn Tipps, um mit dem Weinen aufzuhören

Von oben betrachtet, aus dem Blickwinkel der Götter, sind die Berge weder bedrohlich noch schwindelerregend steile Schönheiten, sondern violettblaue Kräuter, die der Schnee des Winters in Eisblumen verwandelt hat, in alte Rosen, die dem Himmel über Island verehrt wurden sowie dem Flugzeug, in dem Ari auf Fensterplatz 19A sitzt. Sein leicht angeschlagenes Herz klopft vor Aufregung, und er schämt sich dafür; es klopft so, seit die Wolken plötzlich aufrissen und Island unter ihm lag mit seinen alten Rosen, Gletschern und dem schwarzen Küstensaum des Südlands. Ari reibt sich die Brust, wie um sein Herz zu beruhigen, dieses kleine Tierchen, das uns so übel mitspielen kann, er schließt die Augen, um sich auf das Gefühl zu konzentrieren, das ihn befällt, lebhafte Erinnerungen, unerträgliche Sehnsucht und etwas, das er nicht einordnen kann. Die Frau neben ihm, klein und dick, blinzelt hinter dicken Brillengläsern und hat bald die zweite Kartoffelchipstüte auf dem Flug verputzt, sie gräbt noch eine Handvoll Chips heraus und redet ohne Pause auf den Mann im Sitz am Gang ein, einen Koloss mit dicken Lippen und kräftigen Armen, seine Hände, riesige Pranken, reiben andauernd die Knie. Er hat den ganzen Flug über fast nichts gesagt, kaum einen Mucks von sich gegeben, nichts gegessen, nur die Knie gerieben, manchmal fest, wütend, als müsste er sich vor dem Redefluss der Frau zusammenreißen; wenn der Flug noch länger dauerte, würde er sie umbringen, hat Ari auf halber Strecke über den Färöern gedacht, achtzehn grünen Steinen mitten im Atlantik. Ansonsten hat er sich nicht mit den Leuten abgegeben, versucht, sie auszublenden, aber der Geruch der Chips wallte jedes Mal auf, wenn die Frau wieder eine Handvoll herausgriff. Ari hatte sich die kleinen Kopfhörer in die Ohren gestopft, sobald die Maschine über die Wolken und Vögel aufgestiegen war, Kerosin verbrennend, um gegen die Anziehungskraft der Erde anzukommen, eine Kraft, die uns am Boden und den Mond auf seiner Bahn hält, eine unsichtbare Kraft, die wir in jeder Sekunde unseres Lebens spüren, im Wachen wie im Schlafen, und so ist es mit allen mächtigen Kräften in dieser Welt der Extreme und Enttäuschungen, der Schönheit und der Alltäglichkeit: Liebe, Neid, Hass, Inspiration, Lust, Ehrgeiz, Mitleid. „Don’t know if I saw you if I would kiss you or kill you“, sang Bob Dylan, als das flache Dänemark außer Sicht geriet und das offene Meer kam, niemals ruhig und mit nicht weniger gewaltigen Kräften ausgestattet als der Mensch. Dann verdeckten Wolken alles. Manchmal wühlen wir im Schmerz, in der Sehnsucht und bohren in der Wunde. Wir schlucken beruhigende, aufputschende, dämpfende Pillen, um den Alltag auszuhalten. Die Jahre gehen dahin, der Sinn des Lebens ist nicht klar, was wir begreifen, ist undeutlich, wir werden fett, die Nerven werden dünner und reißen, ewig werden wir von irgendeiner Unzufriedenheit geplagt, von einem nicht erfüllten Verlangen. Wir wollen Lösungen, wollen Klarheit, haben aber keine Zeit, keine innere Ruhe, nicht die Ausdauer, um nach ihr zu suchen, und schlucken dankbar die schnellen Lösungen, schnelles Essen, schnellen Sex, alles, was schnelle Erfüllung verheißt, wir leben im Zeitalter der Schnelllebigkeit. Ratgeberbroschüren versprechen uns ein besseres Leben, ein erfüllteres Dasein: Zehn Tipps, um mit dem Trinken, Dickwerden, Trauern, Ängstlichsein aufzuhören. Zehn Tipps, um zu leben, selten einmal mehr als zehn, mehr verkraften wir kaum, zehn wie die Zahl der Finger, die Zahl der Gebote. Zehn Tipps, wie man leben sollte. Ich hätte nicht auf das blöde Lied hören sollen, dachte er über den Wolken und dem Ozean, über achtzehn grünen Steinen, tat es aber doch, viermal, fünfmal, ob er sie küssen oder killen wolle, wenn er sie das nächste Mal sah. Tauche ein in die Wunde, hieß es in dem Ratgeber Zehn Tipps, um ein wundes Herz zu heilen, das ist der Weg, um damit fertigzuwerden. Ari kennt das Buch, er hat es in dem Verlag redigiert, der es in Dänemark herausgibt; in den ersten fünf Monaten wurden 160 000 Exemplare davon verkauft. Es gibt viele wunde Herzen. Die hiesigen Zeitungen berichteten von dem Erfolg auf die übliche isländische Art, indem sie den Anteil des Isländers kräftig übertrieben: „Isländischer Herausgeber erobert den dänischen Buchmarkt!“

Ich bin drin in der Wunde, denkt er und bürstet sich heimlich Kartoffelchipsmehl von der Hose und hört weiter Dylans Herzprobleme. So ist der Lauf der Welt: Als junger Mann sang Dylan mit brennendem Eifer von der Revolution, von neuen Zeiten und Veränderungen, und jetzt, all diese Jahrzehnte später, singt er fast nur noch von Herzschmerz, Sehnsucht, schwer zu ertragender Ungewissheit. Vielleicht ist es einfacher, die Welt zu ändern, als ein verwundetes Herz zu heilen, leichter, neue Zeiten zu fordern, als die Einsamkeit zu durchbrechen.

Aris Leben hatte immer eine Reise durch grandiose Landschaft sein sollen, ein Weg hinauf zu Reife und den Sternen, aber jetzt ist er hier, bald fünfzig, kennt Religionen, Musik, Bücher, kann den Rauminhalt einer Kugel berechnen, kennt sich in Geschichte und in der Geschichte des Fußballs aus, weiß aber im Grunde genommen überhaupt nichts, ist nirgends zu Hause, weiß nicht ein noch aus, als wäre er verloren, ist am Boden zerstört aus Sehnsucht nach seinen groß gewordenen Kindern und nach ihr, mit der er zwanzig Jahre zusammengelebt hat, aber trotz all dieser Sehnsucht hatte er nicht die Kraft in sich, nach Hause zu gehen, es fühlte sich ganz so an, als würde etwas Unerklärliches ihn ebenso zurückhalten, wie es dieses bohrende Heimweh in ihm schürte. Das hielt ihn so lange fest, bis er eine überraschende Mail von seinem Vater Jakob erhielt. Überraschend wegen des Inhalts, aber auch, weil sie einander nie besonders nahe gewesen waren, in den letzten zwei Jahren schon gar nicht. Die Mail enthielt nur zwei Sätze:

„Jaja, Junge, jetzt ist es so weit, ich muss den Löffel abgeben, Scheißkrebs. Mach dich auf ein Päckchen gefasst :-)“

Ari nahm es nicht allzu ernst. Sein Vater hatte schon oft so geredet, dass er vom Tod gezeichnet sei und so weiter, und wer setzte schon ein Smiley hinter eine solche Eröffnung, wenn sie denn wirklich wahr wäre? Trotzdem wusste er, dass irgendetwas im Busch war, denn nur wenige Wochen vorher hatte er einen Brief von seiner Stiefmutter bekommen, und aus der Richtung Post zu erhalten war noch ungewöhnlicher, etwa ebenso überraschend, wie am hellen Tag vom Mond aus angesprochen zu werden. Dieser Brief schien – Ari musste ihn noch einmal ordentlich zu Ende lesen – ungewohnt offen zu sein, und ihm lag ein Zeitungsausschnitt mit einem Artikel von Sigríður Egilsdóttir bei, von Sigga, die Ari und ich von früher gut kannten. Ari hatte angefangen, den Brief zu lesen, sich dann aber sofort entschieden, vorerst nicht weiter an ihn und den Artikel zu denken, er wollte ihn aufheben, wie so vieles andere, ihn beiseitelegen, Gras drüber wachsen und ihn so langsam in Vergessenheit geraten lassen. Die Stiefmutter und der Vater waren seit Langem getrennt, sie schien ihn seit mehr als einem Jahr nicht gesehen zu haben und hatte nun etwas gehört, das Anlass zu Besorgnis gab, nur damit Ari Bescheid wusste. Unwillkürlich hatte er gedacht, es ist der Alkohol, Papa hat wieder mit dem Saufen angefangen, ich werde ihm da nicht nachlaufen, kommt gar nicht infrage, und er hatte sich wieder in seine Arbeit vertieft, Zehn Tipps, mit dem Sinn des Lebens umzugehen musste fertig redigiert werden. Doch dann war diese Mail eingetrudelt, irgendetwas musste passiert sein. Er rief seinen Vater an, aber es nahm keiner ab. Da war er erschrocken. Wieso nimmt keiner ab, was hat das zu bedeuten? Minuten später war eine SMS von seinem Vater gekommen: „Hier ist alles in Ordnung. Warte nur das Päckchen ab.“

Das kam zwei Tage später mit der Post, will sagen mit der alten, der, die noch auf zwei flinken Beinen über die Straßen von Städten und Dörfern geht, wie eine freundliche Erinnerung an vergangene Zeiten. Sie brachte ein kleines Päckchen für Ari. Darin zwei Umschläge. Ari öffnete den ersten und zog ein Bild von seinen Eltern heraus, ein sehr altes Bild natürlich, denn Aris Mutter war vor mehr als vierzig Jahren gestorben. Sie starb und wurde zu einer Abwesenheit. Verwandelte sich in ein schwarzes Loch. Wurde zu einer Wunde, über die nie gesprochen wurde, und eine Wunde, über die nie gesprochen, die nie verarztet wird, entwickelt sich mit der Zeit zu einer unheilbaren inneren Krankheit.

Seine Eltern sitzen dicht beieinander. Er hat den Arm um sie gelegt, sie lehnt sich an ihn, beide lächeln und blicken direkt in die Kamera. Aus irgendeinem Grund hatte Ari dieses Foto noch nie gesehen oder es nie zu sehen bekommen, und so war es eine echte Überraschung. Allerdings keine frohe, sondern eher ein Schlag, ein Schock. Er starrte dieses Bild an, diesen entschwundenen Augenblick in der Vergangenheit. Er war wie betäubt. Er fühlte sich nicht gut, ohne zu wissen, warum. Bis es ihm endlich aufging: Die beiden schienen nämlich glücklich miteinander zu sein. Er konnte sich an kein Glück zwischen ihnen erinnern. Da gab es ihn, Ari, und seine Mutter. Sie beide, erst dann kam sein Vater, Jakob, ins Bild. So war es in seiner Erinnerung. Und sein Vater, war der wirklich einmal so jung gewesen, und hatte der einmal so selig lächeln können?

Andere Frage: Warum schickte er Ari dieses Bild jetzt, und das in Zusammenhang mit seinem eventuellen Sterben? Dritte Frage: Warum bekam Ari das Bild erst jetzt zu sehen, vierundvierzig Jahre nach dem Tod seiner Mutter?

Das Päckchen hatte auf Ari gewartet, als er von der Arbeit nach Hause kam, aus dem Verlag, in dem er seit gut einem Jahr bei einem alten Bekannten aus der Buchbranche als Lektor arbeitete. Er kam spät, um die Abendbrotzeit, er beeilte sich nie, in die Dreizimmerwohnung in Østerbro zurückzugehen, wozu auch, da wartete ja doch keiner auf ihn – abgesehen von den drei Saiten seines persönlichen Instruments: Einsamkeit, Reue, Vermissen. Er hatte das Päckchen aufgerissen, den einen Umschlag geöffnet, und das Unterste hatte sich in ihm zuoberst gekehrt. Er saß da und guckte das Bild an, während es draußen dunkel wurde, bei den Nachbarn die Fernseher angingen und die Lampen über den Lesesesseln angeknipst wurden. Er dachte an nichts, an nichts Besonderes, konnte es nicht, Gedanken und Gefühle schossen in ihm herum, prallten aufeinander, dass es Funken schlug. Er war froh, dass er das Bild weit von seinem Vater in sicherer Entfernung betrachten konnte, dass ein ganzer Ozean zwischen ihnen lag. Wahrscheinlich haben sie nie zusammen Bilder von ihr angesehen, das haben sie sich nie getraut, auf den Gedanken sind sie nie gekommen.

Er guckte nur.

Vergaß sich völlig.

Im Abend draußen dröhnte ein Auto, Sirenengeheul jaulte durch die zunehmende Dunkelheit.

Anfangs sah er fast nur seine Mutter an, ihr Lächeln, ihre Augen, blaugrau, groß, strahlend, als hätten sie gerade alles Licht der Welt, von Sonne, Mond und Sternen und dem Nordlicht in sich aufgenommen, Augen, die seit Langem aus der Welt verschwunden waren, ausgelöscht, erloschen, nicht mehr da, ebenso wenig wie sie selbst, ihre Gedanken, ihr Gesichtsausdruck, das spöttisch herausfordernde Blinken in den Augen, ihre Umarmung. Wie kann etwas so Großes verschwinden, ohne dass die Welt aus den Angeln gerät, ohne dass sie auf ihrer Umlaufbahn stockt und den Mond verliert? Ari konnte vergessen oder ausblenden, dass auch sein Vater mit auf dem Bild war, bis das Heulen eines Krankenwagens, das sich wie Verzweiflungsschreie anhörte, draußen den Abend durchschnitt und drinnen seine Gedanken, da erst sah er auch seinen Vater und erinnerte sich an ihn. Ari sah, dass sie beide glücklich waren – vielleicht gerade deshalb, weil sie zusammen waren. Er lauschte dem verhallenden Geheul des Krankenwagens nach und fühlte, wie hasserfüllte Eifersucht auf seinen Vater in ihm aufwallte und die ganze Welt ausfüllte. Er sah seinen Vater an und spürte nur noch Hass, reinen, schieren Hass. Er sah ihm in die Augen und dachte: Hoffentlich stirbst du.

Der Nachbar unter ihm lachte.

Es war so, als hätte Aris Vater ihm mit diesem Bild die Mutter geraubt. Als hätte er ihm das Foto geschickt, um zu sagen, guck, wir waren glücklich zusammen, guck mal, wie sie sich an meine Schulter schmiegt, sieh mal, wie sie lächelt, sieh hin, wir brauchten nichts als einander, und jetzt sterbe ich bald, und dann komme ich zu ihr, sieh mal, da sind nur wir beide, sie und ich. Guck, du bist nicht mit auf dem Bild, du bist nicht das Glück. Du bist aus dem Spiel. Sie ist mein.

Ari stand auf und trank eine halbe Flasche Whisky.

Super, dachte er, sehr erwachsen. Und trank.

Am nächsten Tag erschien er nicht zur Arbeit, das war okay, das Buch Zehn Tipps, mit dem Sinn des Lebens umzugehen war im Druck, er hatte es verdient, mal freizumachen. Er wachte mit einem Kater auf. Betrachtete beim Frühstück das Bild, er hatte sich wieder im Griff, der Hass war verflogen, nur Scham war zurückgeblieben. Und vielleicht ein winziger Rest von Eifersucht oder auch mehr als ein winziger Rest, sie lauerte noch irgendwo in ihm, dagegen konnte er nichts machen. Aber er konnte sich jetzt über ihr Glück freuen, er wusste, dass ihnen später schlimme Dinge noch übel mitgespielt hatten: der Alltag, Enttäuschungen, der Alkohol, Gewalt, dann ihre Krankheit, die dunkle Ankündigung des Todes.

Erst nach dem ersten Morgenkaffee fiel ihm der andere Umschlag in dem Päckchen wieder ein, er schnitt ihn hastig auf, und vor lauter Überraschung stieß er einen Fluch aus, als er eine gerahmte Urkunde seines Großvaters Oddur herauszog. Eine blassbeige Urkunde in Schönschrift und Goldrahmen, das Ding, das immer an einem Ehrenplatz im Wohnzimmer gehangen hatte, erst in Safamýri in Reykjavík, dann in den drei folgenden Wohnungen seines Vaters in Keflavík, eine Ehrenurkunde für den Kapitän und Schiffseigner Oddur Jónsson. Sie hing an einem Ehrenplatz, das Erste, was jedem Besucher ins Auge fallen musste, das Glas stets sauber geputzt, und trotzdem wurde nie darüber geredet, außer wenn sein Vater getrunken hatte, wenn er lange allein im Wohnzimmer gesessen, getrunken und Johnny Cash und Megas gehört hatte. Dann rief er Ari gewöhnlich zu sich herein, forderte ihn mit sanfter, aber undeutlicher Trinkerstimme auf, Platz zu nehmen, setzte die Brille auf und las ihm den Text vor. Oft hatte seine Stimme gezittert, als würde er leiden, und Ari hatte derweil zu Boden gestarrt. Aus unklaren Gründen war die Urkunde das Einzige, was Jakob von seinem Vater geblieben war, und mit Sicherheit das Erste, was er im Fall eines Brandes aus der Wohnung retten würde. Aber nun schickte er sie Ari mit der Post nach Dänemark. Ohne ein Wort der Erklärung. „Mach dich auf ein Päckchen gefasst.“

Ari trank Kaffee, etliche Tassen, er betrachtete abwechselnd das Foto und die Urkunde, draußen toste die Großstadt, er ging ins Internet, buchte ein Flugticket nach Hause, one-way, griff zum Telefon, rief unseren Freund, den Verleger, an und sagte, er sei auf dem Weg heim nach Island, für immer, er wiederholte noch einmal das Adverb „heim“. Dann machte er sich ans Packen, und jetzt sitzt er im Flieger, hoch über dem Meer und den Wolken, zerrt sein Handgepäck unter dem Sitz hervor, holt die Urkunde heraus und sieht den Text an, den er seit seiner Kindheit auswendig kann, er liest ihn noch einmal leise:

Anerkennung für Oddur Jónsson,

Kapitän und Schiffseigner.

Da wir in diesem Jahr zum ersten Mal feierlich …

Doch da steckt die Frau neben ihm ihre Hand wieder in die halb leere Chipstüte, der Mief wallt auf, Ari guckt aus dem Fenster, sieht die Wolken aufreißen, das Flugzeug ist schon im Sinkflug, hat die Reiseflughöhe verlassen, das Vorzimmer des Himmels, und Island liegt mit seinen alten Rosen vor ihm. Ari liest nicht weiter. Er schließt die Augen und befindet sich nicht mehr in einem Flugzeug, sondern vor knapp vierzig Jahren in einem grünen Überlandbus, einem Bus auf langsamer Fahrt nach Westen mit einer langen Staubfahne im Schlepptau, denn es war, lange bevor die Straßen asphaltiert wurden, der Bus kriecht voran, es knackt immer wieder im Getriebe, wenn er sich eine Steigung hinaufquält, auch der Fahrer, ein erloschenes Zigarillo zwischen den Lippen, macht ein gequältes Gesicht, als müsste er die Anstrengung mitmachen, dann ragt rechts die Baula auf, der Aussichtspunkt der Engel, von da können sie das ganze Westland überblicken, Lachen und Freude und Tod messen und nach oben an den Himmel melden. Ari und ich sitzen im Bus vorn, haben seit vier Stunden gegen Reisekrankheit angekämpft, unsere Augen haben die Hauswiesen und Außenweiden in den unterschiedlichen Farbtönen des Frühjahrs in sich aufgenommen, doch als der Bus endlich wie ein grünes Frohlocken, ein grüner Freudenschrei die Brattabrekka hinabrollt und das Tal mit dem Bátsfell in der Mitte vor uns liegt, da klopft das Herz vor so großer Vorfreude, dass der Blick zu flackern beginnt.

Genauso flackert er jetzt, als er sie auf dem Fensterplatz 19A aufschlägt und verwelkte Blumen, weiße Gletscher und der schwarze Küstensaum unten liegen. Er öffnet die Augen, und es fühlt sich an, als würde das Herz in seiner Brust abstürzen. Er holt tief Luft, die Aufregung bringt ihn völlig durcheinander, er lässt die Urkunde auf den Boden fallen, zerrt sein Buch aus der Rückentasche vor sich und legt es wieder weg, er drückt den Knopf für die Stewardess, um sich, als sie kommt, dann lediglich zu entschuldigen, er kneift die Augen zusammen, schaut nach draußen, obwohl er kaum etwas sieht, weil der Blick von einer salzigen Flüssigkeit getrübt wird. Als er sich einigermaßen wieder eingekriegt hat, bückt sich seine Sitznachbarin nach der Urkunde, reicht sie ihm und streichelt Ari mit ihren fettigen Kartoffelchipsfingern über den Handrücken, wobei sie leise auf Englisch sagt: Wer gegenüber dem Dasein keinen Schmerz oder keine Aufregung empfinde, habe ein gefühlloses Herz und nie gelebt. „Sie sollten für Ihre Tränen dankbar sein.“

Über Jón Kalman Stefánsson

Biografie

Jón Kalman Stefánsson, geboren 1963 in Reykjavík, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern Islands. Er arbeitete in der Fischindustrie, als Maurer und Polizist, bevor er sich in Mosfellsbær bei Reykjavík niederließ. Der internationale Durchbruch gelang ihm mit „Himmel und Hölle“ (2009), seither...

Pressestimmen
Ruhr Nachrichten

„Ein poetischer, teils auch schwermütiger Roman über Familie und Heimat, Flucht und Rückkehr. Geschrieben von Jón Kalman Stefánsson, einem großen isländischen Erzähler, der die Gefühlslage seiner Landsleute bestens kennt.“

buchreport express

„In Stefánssons Sprache steckt die Kargheit einer Küste, an der der Fischfang auch dann noch das Leben bestimmt, als es schon gar keinen Fisch mehr gibt. Und das ehrliche Pathos aller Gefühle, die in einem Menschenleben Platz finden. Ein großartiges Buch.“

icelandoverview.com

„Wie in allen Romanen geht es Jón Kalman um die großen Fragen, um Liebe, Verantwortung und Schuld und ihre Verknüpfung mit dem Alltäglichen, der Familie, der Arbeit, dem Zustand des Gemeinwesens.“

nobilis - Lebensart aus Hannover

„Eine Familiengeschichte über drei Generationen mit allen großen Themen, die ein Buch lesenswert machen. Klug und spannend erzählt!“

mare

„Poetisch, melancholisch und realistisch zugleich, mit einem tiefgründigen Blick auf das Leben und die Menschen hat Jón Kalman Stefánsson ein Buch geschrieben, das man nicht so schnell vergessen wird.“

Kommentare zum Buch
Kommentieren Sie diesen Beitrag:
(* Pflichtfeld)

Jón Kalman Stefánsson - NEWS

Erhalten Sie Updates zu Neuerscheinungen und individuelle Empfehlungen.

Beim Absenden ist ein Fehler aufgetreten!

Jón Kalman Stefánsson - NEWS

Sind Sie sicher, dass Sie Jón Kalman Stefánsson nicht mehr folgen möchten?

Beim Absenden ist ein Fehler aufgetreten!

Abbrechen