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All die Frauen, die du warst

Sedef Ecer
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Roman

„Ecer erzählt von Verletzungen, Trauer und Versöhnung. Voll emotionaler Wucht und Zärtlichkeit.“ - Süddeutsche Zeitung

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All die Frauen, die du warst — Inhalt

Das schillernde Leben eines Filmstars in Zeiten der türkischen Diktatur

„Als Esra Zaman mich bat, für ihre Beerdigung eine Trauerrede zu schreiben, jagte mir diese Idee panische Angst ein. Denn Esra Zaman ist meine Mutter. Ich muss schon im Prolog das unvermeidliche Unheil ankündigen. Deshalb will ich mit den drei Militärputschen beginnen, die unser Leben bestimmt haben.“ 

Hülya hat längst alle Brücken zu ihrer Mutter abgebrochen und lebt seit vielen Jahren in Paris. Widerstrebend beginnt sie, sich mit ihrer Kindheit als Tochter einer Filmdiva im Istanbul der 70er zu beschäftigen. Dabei kommt sie ihrer Mutter näher – und der Antwort auf das Verschwinden ihres Vaters.

€ 24,00 [D], € 24,70 [A]
Erschienen am 01.09.2022
Übersetzt von: Sonja Finck
288 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-492-07131-4
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€ 19,99 [D], € 19,99 [A]
Erschienen am 01.09.2022
Übersetzt von: Sonja Finck
288 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-60287-7
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„Ecer erzählt von Verletzungen, Trauer und Versöhnung. Voll emotionaler Wucht und Zärtlichkeit.“
Süddeutsche Zeitung

Leseprobe zu „All die Frauen, die du warst“

Prolog

Als Esra Zaman mich bat, für ihre Beerdigung – die sie im Stadttheater von Istanbul feiern wollte – eine Trauerrede zu schreiben, wurde ich wütend und weigerte mich entschieden. Doch dann setzte sich die Idee in mir fest. Nach ein paar Tagen begann sie mir sogar zu gefallen, auch wenn sie mir immer noch panische Angst einjagte, und zwar aus einem simplen Grund: Esra Zaman ist meine Mutter. Und die größte Ikone des türkischen Kinos.

Eines Morgens im Jahr 2016, einige Wochen nach dem Putsch, der die Türkei erschüttert hatte, begann ich zu schreiben. [...]

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Prolog

Als Esra Zaman mich bat, für ihre Beerdigung – die sie im Stadttheater von Istanbul feiern wollte – eine Trauerrede zu schreiben, wurde ich wütend und weigerte mich entschieden. Doch dann setzte sich die Idee in mir fest. Nach ein paar Tagen begann sie mir sogar zu gefallen, auch wenn sie mir immer noch panische Angst einjagte, und zwar aus einem simplen Grund: Esra Zaman ist meine Mutter. Und die größte Ikone des türkischen Kinos.

Eines Morgens im Jahr 2016, einige Wochen nach dem Putsch, der die Türkei erschüttert hatte, begann ich zu schreiben. Und konnte nicht mehr aufhören. Nicht, weil die Thematisierung meiner töchterlichen Schuldgefühle mich nicht mehr in Panik versetzt hätte, nein, der Schwindel war noch da, sogar schlimmer denn je. Nein, einfach, weil es zu spät war, ich konnte an nichts anderes mehr denken.

Und auch wenn ich wohl nie an Baudelaire, Virginia Woolf, Colette, Romain Gary, Albert Cohen, Jean Cocteau, Sartre, Marguerite Duras, André Gide, Camus, Toni Morrison und viele andere, die sich an ihrem „Leiden an der Mutter“ abgearbeitet haben, heranreichen werde, begriff ich beim Schreiben, wie romanhaft das Leben meiner Mutter gewesen war und wie außergewöhnlich unser Schicksal.

Jetzt musste ich nur noch berichten. Vom ersten Satz an zum Wesentlichen vordringen. Zur Erzählung. Zu den Tatsachen.

Ich sagte mir: Ich muss von Anfang an Farbe bekennen. Es so halten wie der Koryphäe in der antiken Tragödie und schon im Prolog das unvermeidliche Unheil ankündigen.

Deshalb will ich mit den drei Militärputschen beginnen, die unser Leben bestimmt haben.

Drei Militärputsche,
wie ein Dreiakter im Theater Der erste Putsch
27. Mai 1960

Du bist sechsundzwanzig Jahre alt.

Noch bist du nicht „die Sultanin der Leinwand“, aber man munkelt bereits, du seist „die türkische Antwort auf Claudia Cardinale“. Ein Journalist hat diesen Spitznamen geprägt, er macht dich rasend, aber du wirst ihn nicht mehr los. Du hast tatsächlich etwas von Claudia Cardinale: den Mund, vielleicht auch die Augen, vor allem aber den Gang und die weiblichen Rundungen, dieses maggiorata-hafte einer italienischen Schauspielerin aus den Fünfzigerjahren.

Seit dem Frühjahr tourst du durch Anatolien. Gemeinsam mit dem Regisseur und einer Handvoll Schauspielern nimmst du an den Premierenfeiern von Frucht des Vergessens teil, einem wunderschönen Schwarz-Weiß-Film à la Antonioni, in dem du die Hauptrolle spielst. Jeden Abend seid ihr in einer anderen Stadt, die Säle sind ausverkauft, ihr besucht Galas, und nach den Vorführungen buhlen die Bürgermeister darum, dich an ihren Tisch zu holen.

Die letzte Premierenfeier findet am 26. Mai in Ankara statt, der Hauptstadt der jungen Republik. Vor dem Sinema Majestik entsteigst du einem Cadillac wie eine Hollywooddiva: Etuikleid, Perlenkette, tiefes Dekolleté, Frisur allabardo (ein nachlässig geschlungener Haarknoten à la Brigitte Bardot). Du siehst dein Gesicht auf einem überdimensionalen Plakat und lächelst. Im Foyer hängen Fotos von dir und Zeitungsartikel über den Film und über dein Leben. Journalisten und Zuschauer belagern dich, wollen dich sehen, anfassen, betteln um ein Autogramm.

Du weißt nicht, dass die umliegenden Straßen wenige Stunden zuvor der Schauplatz gewaltsamer Zusammenstöße zwischen Studenten und Polizei waren.

Im Foyer stellt dich der Produzent einigen Anwesenden vor, darunter einem jungen Journalisten, İshak, der Fotos von dir machen soll. Hochmütig erklärt er, er sei wegen einer Reportage über die demonstrierenden Studenten in der Stadt und nur auf Bitten der Zeitung kurz im Majestik vorbeigekommen, ganz so, als wollte er von Anfang an klarstellen, dass er sonst keine so trivialen Fotos mache. Er bittet dich, vor dem Filmplakat zu posieren, erst mit der ganzen Crew, dann allein. „Etwas weiter nach rechts, ja, gut so, nein, das ist zu weit, stopp, ich habe nicht die richtige Kamera für Porträts dabei, einen Schritt nach vorn, wären Sie so freundlich?“ Er hat keine Ahnung, wer du bist, und das bringt dich auf die Palme. „Verzeihen Sie meine Unwissenheit, die Welt der Stars ist nicht meine.“ Du fragst, welche Art von Fotos er denn sonst so mache. Da lächelt er endlich und murmelt: „Ein Filmstar, der den Journalisten befragt, das ist doch eine verkehrte Welt.“ Ihr lacht. Er erzählt, dass er viel unterwegs sei und auf der ganzen Welt über politische Konflikte berichte. Mit seinen beiden Leicas um den Hals hat er bereits den gesamten Osten der Türkei bereist, aber auch Indochina und Algerien. Er ist anders als die Männer, die dich sonst umschwirren. Du beeindruckst ihn nicht. So ist İshak, kein überflüssiges Wort, keine Prahlerei, er erwähnt seine Fotos aus Kalifornien nicht, die in Frankreich Furore gemacht haben. Er gefällt dir, dieser junge Mann aus gutem Hause.

Es wird Zeit, die Zuschauer sitzen auf ihren Plätzen, der Produzent ruft nach dir, du sollst die Vorführung eröffnen. „Sehen wir uns nachher beim Umtrunk?“ Er verneint, er verlässt noch am selben Abend die Stadt. Er hat alle Fotos im Kasten und muss die Negative in der Redaktion vorbeibringen, morgen früh geht es wieder auf Reisen. „Wohin?“ – „Weit weg.“ – „Wie weit?“ – „Havanna. Eine französische Agentur hat mich mit einer Reportage über Kuba beauftragt. Ich weiß noch nicht, wann ich zurückkomme, es kann Wochen dauern.“ – „Kuba?“ – „Ja, die Lage dort spitzt sich zu.“ – „Tatsächlich?“ – „Ja.“ – „Mir wäre es lieber, man hätte Sie mit einer Reportage über eine türkische Schauspielerin beauftragt.“ Wieder lacht ihr, und in dem Moment spürst du, dass du ihn wiedersehen wirst, für so etwas hast du eine Antenne. Du wirst ihn ausfindig machen, wirst Freunde nach seiner Adresse fragen, wirst bei seiner Zeitung vorbeischauen, es wird eine Lösung geben, diesen Mann kannst du nicht ziehen lassen. Ihr schüttelt euch die Hand, und er geht.

Der Saal ist voll besetzt. Achthundert Zuschauer, das einfache Volk auf dem Balkon, die bessere Gesellschaft im Orchester, dazwischen zwei Reihen mit Würdenträgern. Du betrittst die Bühne, Blumen, Applaus, Jubel, Pfiffe. Die neue Mittelschicht hat sich in Schale geworfen und ist außer Rand und Band. Diese Bauerntrampel werden nie wissen, wie man sich in einer richtigen Stadt benimmt. Es wird „pst“ und „es reicht“ gerufen, endlich wird es still im Saal, du kündigst den Film an, verlässt die Bühne, das Licht erlischt, und sobald die ersten Bilder über die Leinwand flackern, ziehst du das Publikum in deinen Bann.

Während der Vorführung geht dir İshak nicht aus dem Kopf. Beim Umtrunk langweilst du dich zu Tode. Du gibst Autogramme, unterhältst dich mit Geschäftsmännern und ihren wie Hollywood-Filmstars gekleideten Ehefrauen. Du trinkst zu viel, lächelst zu viel, redest zu viel.

Und dann geschieht ein Wunder.

Plötzlich ist İshak wieder da. Er bleibt an der Tür stehen. Du bist von Menschen umringt, er traut sich nicht näher. Du brichst das Gespräch mitten im Satz ab und gehst zu ihm. Sein Redakteur hat sich gemeldet, die Armee rückt an. Er will mit der Kamera vor Ort sein, es wird sicher eine ereignisreiche Nacht. Du zündest dir eine Zigarette an. Er sagt leise: „Vielleicht gibt es sogar einen Putsch.“ – „Einen Putsch?“ – „Ja.“ – „Und was bedeutet das?“ – „Ich weiß es nicht, aber es verheißt nichts Gutes.“

Die Auslandsreise ist abgeblasen.

Ihr weicht einander nicht mehr von der Seite. Fünf Jahre später komme ich zur Welt. Ich nenne euch nur selten Mama und Papa. Für mich seid ihr Esra und İshak, Held und Heldin eines Films in Technicolor.


Der zweite Putsch
12. März 1971

Ich bin sechs, du siebenunddreißig. Nach einer Feier im Stadttheater von Istanbul hat euch ein Dienstwagen nach Hause gebracht. Ich höre euch mit Melek reden, unserer Concierge, die abends oft auf mich aufpasst, und im Flur laut lachen.

Du kommst in mein Zimmer, İshak im Schlepptau. In deinem langen fuchsiafarbenen Kleid mit dem psychedelischen Muster, den falschen blaugetuschten Wimpern und dem orangenen Lippenstift strahlst du wie eine Sonne. Ihr seid jung, schön und beschwipst. Du sagst: „Der Minister hat mich zum nationalen Heiligtum ernannt.“ Ich verstehe kein Wort, du wiederholst: „Stell dir nur vor, er hat gesagt, ich ernenne Sie zum nationalen Heiligtum“, du wiederholst noch einmal „nationales Heiligtum“. Ihr lacht. Ich weiß nicht, was das bedeutet. Du zeigst mir eine Statue, auf der in goldenen Lettern dein Name steht. Ich frage, wie die Blume auf der Statue heißt. Papa antwortet, das sei ein Lotus und er habe Zauberkräfte. Ihr müsst wieder lachen. Dann setzt du dich auf mein Bett und erzählst mir folgende Geschichte, die – wie ich später erfahren werde – aus der Odyssee stammt: „Ein Schiff strandet nach einem Sturm auf einer Insel. Die Bewohner der Insel ernähren sich ausschließlich von Lotusfrüchten, der Frucht des Vergessens. Der Kapitän schickt drei Männer los, sie sollen das Dorf erkunden, und als sie nicht zurückkommen, macht er sich auf die Suche nach ihnen. Er findet sie, aber seine Gefährten erkennen ihn nicht wieder: Die Schiffbrüchigen haben von der Lotusfrucht gekostet und schlagartig vergessen, wo sie herkamen, genau wie die Inselbewohner. Sie wollen nichts, als auf der Insel bleiben und sich ewig an Lotusfrüchten laben. Der Kapitän isst von den Früchten und vergisst ebenfalls, wer er ist.“

(Einige Jahre später werde ich überprüfen, ob deine Version der Geschichte mit Homers Erzählung übereinstimmt. Odysseus berichtet nicht viel über die Inselbewohner. Man erfährt nur, dass sie Lotophagen heißen und eine Gesellschaft erschaffen haben, in der alle damit zufrieden sind, Früchte zu essen und in Erinnerungslosigkeit zu versinken. Mehr wollen sie nicht vom Leben.)

Mit sechs Jahren macht mir diese absolute Selbstaufgabe Angst. Ich frage, ob die Bewohner der Insel unglücklich seien. Nach kurzem Nachdenken antwortest du, dass sie weder glücklich noch unglücklich seien, weil sie sich an nichts erinnern. Zum ersten Mal bin ich mit der Vorstellung vom Nichts konfrontiert. Als ihr meinen erschrockenen Blick seht, lacht ihr wieder, du gibst mir einen Kuss und murmelst: „Gute Nacht, meine Șeker“ (du nanntest mich oft „mein Zuckerstück“). Dann verlässt du mein Zimmer, deine Statue in der Hand. Ich höre euch im Flur, du äffst den salbungsvollen Ton des Festredners nach: „Verehrte Frau Zaman, hiermit ernenne ich Sie zum nationalen Heiligtum“, und Papa sagt lachend: „Stell dir nur vor, Liebling, jetzt bist du ein nationaler Lotus.“ Die Haustür fällt hinter euch ins Schloss, ihr geht das Ereignis mit euren Freunden in Monsieur Sironyans armenischem Lokal feiern.

An diesem Abend im März 1971, verängstigt von der Geschichte über Menschen ohne Erinnerung und ohne Herkunft, kann ich lange nicht einschlafen.

 

Am nächsten Morgen sitzt ihr mit euren Freunden im Wohnzimmer, Nilüfer, Aziz, Fırat, Bahar und ein paar anderen. Überall auf dem Boden stehen Gläser, Flaschen, volle Aschenbecher. Offenbar habt ihr am Abend vorher spontan beschlossen, zu uns nach Hause zu gehen, und habt die ganze Nacht durchdiskutiert. Du zündest dir eine Zigarette an und sagst: „Die Paschas haben die Macht übernommen, meine Șeker. Das verheißt nichts Gutes.“

Papa nimmt mich in den Arm und hält mich fest. Ein paar Wochen später wird er verhaftet und verschwindet. Wie Tausende von politischen Gefangenen.

Ich würde ihn nie mehr wiedersehen.


Der dritte Putsch
12. September 1980

Ich bin fünfzehn. Es ist die Premiere von Klytämnestra im Stadttheater. Ich sitze in der ersten Reihe neben İsmail, der seit Papas Verschwinden dein Liebhaber ist. Hin und wieder übernachtet er bei uns, aber ihr zeigt euch nur selten zusammen in der Öffentlichkeit. Er ist verheiratet und hat Kinder.

Während der Vorstellung habe ich Bauchschmerzen. Ich will nicht neben İsmail sitzen, und ich hasse es, dich in der Rolle der Königin von Argos, einer Ehebrecherin und Verräterin, zu sehen. Ich kenne die Geschichte, weil ich bei den Proben dabei war, ich weiß, dass dein Sohn den ersten Stein werfen wird, und dass du am Ende zu Tode gesteinigt wirst, weil du deinen Ehemann Agamemnon nach seiner Rückkehr aus dem trojanischen Krieg ermordet hast, mithilfe deines Liebhabers.

Schlussmonolog, Musik von Wagner, Vorhang, Standing Ovations.

Wie alle anderen muss ich aufstehen und applaudieren. Ich bin eine normale Jugendliche: Ich habe eine nahezu körperliche Abneigung gegen dich. Es ist nicht gerade originell, sich in Abgrenzung zu den Eltern zu konstruieren. Gezwungen zu sein, die eigene Mutter öffentlich zu bewundern, ist es schon eher. Du verlässt achtmal die Bühne und kommst wieder heraus, um dich zu verbeugen, zwei kleine Mädchen überreichen dir einen Blumenstrauß, es dauert ewig, und die ganze Zeit muss ich dir Beifall klatschen.

Nach der Vorstellung gehen wir nach unten in deine Garderobe, wie immer ist dort kein Platz. Überall Kostüme, Schminkutensilien, Blumensträuße, Premierengeschenke, wartende Fans. Du sagst: „Geht schon mal vor, wir sehen uns im Restaurant.“ İsmail und ich haben beide gelernt, mit deiner Berühmtheit umzugehen, wir verlassen das Theater und machen uns zu Fuß auf den Weg zu Monsieur Sironyans Lokal. Er fragt, wie mir deine Darbietung gefallen hat.

„Ich hasse es, sie auf der Bühne zu sehen. Ich hasse es, wenn sie all diese Frauen spielt. Ich finde sie unehrlich, nicht authentisch. Schauspielerinnen sind Lügnerinnen!“

Erschrocken über meine heftigen Worte antwortet İsmail, dass genau darin ja dein Talent bestehe, all diese Rollen mit Leben zu füllen und sich sogar in eine Gattenmörderin einfühlen zu können. Ich will nicht mit ihm diskutieren, ich fand von Anfang an, dass er eine dunkle Seite hat. Ich spüre, dass sich hinter seiner Freundlichkeit etwas Finsteres verbirgt.

Im Lokal gesellst du dich zu uns. Wir essen mit der Filmcrew, deinen Freunden und ein paar Journalisten zu Abend. Nach einer Stunde holt ein Mann mit Mütze und Schnurrbart İsmail ab. Er flüstert ihm etwas ins Ohr. Dann sagt İsmail leise ein paar Worte zu dir und geht.

Ich nutze die Gelegenheit und mache mich ebenfalls auf den Weg. Zu viele Komplimente, zu viel Fröhlichkeit, zu viel Gläserklirren, zu viel Gelächter, zu viel Alkohol, zu viel Zigarettenrauch. Ich verabschiede mich von allen Anwesenden und gehe nach Hause, wir wohnen nur zwei Straßen entfernt.

 

Am nächsten Morgen sitzt du genau dort, wo du auch beim vorigen Putsch gesessen hast, in deinem grünen Sessel mit Blick aufs Meer.

„Sie haben eine Ausgangssperre verhängt, meine Șeker, du musst zu Hause bleiben.“

Der Fernseher läuft, man hört nationalistische Sprechchöre, Demonstranten preisen die Tapferkeit der Soldaten, dann verkündet ein Nachrichtensprecher, die Generäle hätten die Macht übernommen.

In der Ferne, weit unter uns, rollen Panzer auf den Eingang des Bosporus zu. Du zündest dir eine Zigarette an und sagst tonlos: „Das verheißt nichts Gutes, all diese Panzer.“

 

Im Winter bestätigen sich dann meine schlimmsten Befürchtungen. Ich erfahre alles über İsmail und über Papas Verschwinden, und im nächsten Sommer ziehe ich von zu Hause aus und kehre nicht mehr zurück.

Sedef Ecer

Über Sedef Ecer

Biografie

Sedef Ecer wurde in Istanbul geboren und ging mit 20 Jahren nach Frankreich. Heute lebt sie als Schriftstellerin und Regisseurin in Paris. „All die Frauen, die du warst“ ist ihr erster Roman.

Interview mit Sedef Ecer

Frau Ecer, Ihr erster Roman erzählt eine sehr persönliche Geschichte zwischen der Erzählerin und ihrer Mutter, gleichzeitig aber auch die Geschichte der Türkei. Warum haben Sie die beiden Themen miteinander verbunden? 
Der Roman erzählt in der Tat eine Mutter-Tochter-Geschichte, aber obwohl es nicht meine eigene ist, spielt sie in einer Zeit, die ich gut kenne. Die Tochterfigur ist in meinem Alter, und die Erinnerung an meine eigene Kindheit ist in dem Roman sehr präsent – deshalb habe ich diese Familiengeschichte auch mit der der Türkei verwoben. Meine eigenen Eltern haben die Staatsstreiche, die Zensur und die politisch motivierten Morde erlebt, und ich hätte das nicht erzählen können, ohne es in den politischen Kontext der Zeit einzubetten.

Das Schicksal unseres Landes prägt unser persönliches Schicksal, die Geschichte im Großen hat Einfluss auf unsere kleinen persönlichen Geschichten. Ich habe mich sehr mit der Zeit, die meine Figuren durchleben, auseinandergesetzt, also ein ganzes Jahrhundert, und dann habe ich es dramaturgisch so bearbeitet, dass sich die historischen Fakten mit ihren Liebesbeziehungen und Enttäuschungen verweben. In Frankreich wird gerade eine Adaption für die Bühne vorbereitet, und auch im Theaterstück wird die Geschichte sehr präsent sein.

Die Mutter in dem Text ist eine Diva, eine Frau von Welt mit einem glamourösen Beruf. War es schwierig, von diesem Reichtum in der Türkei der Sechzigerjahre zu erzählen und gleichzeitig von der Armut, wie sie ihr Liebhaber erfährt? 
Es geht nicht wirklich um materiellen Reichtum, denn eigentlich hat meine Heldin Esra sogar oft Geldprobleme, wie so viele Künstler. Sie muss Rollen in Werbe- oder Schundfilmen annehmen oder Unterricht geben. Außerdem habe ich den Eindruck, dass zu dieser Zeit in der Türkei, abgesehen von wenigen Familien, niemand besonders reich war. Aber das Leben der Elite war selbstverständlich anders als das der unteren Schichten.

Mit der Landflucht kamen viele Menschen nach Istanbul und mussten sich in Barackensiedlungen ohne jede Infrastruktur niederlassen, sie besaßen nichts. Und die Künstler, von denen ich erzähle, waren immerhin Teil eines westlich orientierten Milieus, polyglott, kultiviert, mit gutem Geschmack. Es handelt sich also mehr um unterschiedliche Milieus als um eine Frage von Besitz. 

Der Roman ist so facettenreich und authentisch, dass man sich fragt, ob Sie darin autobiografische Momente oder Details schildern? 
Autobiografisch daran ist, dass ich in derselben Epoche wie die Erzählerin viele Künstler kannte. Ich habe meine Kindheit selbst auf dem Präsentierteller verbracht. Außerdem ist die Protagonistin in meinem Alter und führt später ein ähnliches Leben in Paris. Meine echte Mutter ist zudem im selben Jahr geboren wie die Heldin des Romans. 

Welchen Bezug haben Sie zur heutigen Türkei? 
Das ist schwierig. Es gibt dort Menschen, die ich sehr liebe, Landschaften, Orte, das Essen, die Sprache (die Art, wie sie gesprochen und geschrieben wird), die Großzügigkeit, die man dort noch findet. Aber ich habe natürlich Schwierigkeiten mit den politischen und historischen Unwahrheiten, der Frauenfeindlichkeit, der Korruption, dem Verhältnis zur Religion. Aber die Türkei wird immer der Ort bleiben, aus dem ich stamme, wo meine Wurzeln sind. 

Pressestimmen
Süddeutsche Zeitung

„Ecer erzählt von Verletzungen, Trauer und Versöhnung. Voll emotionaler Wucht und Zärtlichkeit.“

an.schläge

„Berührender Roman.“

Die Presse am Sonntag

„Sie legt einen schönen und durchaus aktuellen Roman vor.“

Ruhr Nachrichten

„Die Autorin versteht es, anhand dieser privaten Mutter-Tochter-Geschichte auch die der Türkei in den 1960 / 70er-Jahren wieder aufleben zu lassen.“

Woman

„Mit ›All die Frauen, die du warst‹ ist der Pariser Theaterregisseurin Sedef Ecer ein fulminanter Debütroman gelungen.“

echo_books

„Mit großem Gespür für konzeptionelle Dramatik und erzählerischer Finesse bringt Ecer die politischen Verästelungen und die Familiengeschichte innerhalb eines roten Fadens zusammen. (...) Ein durch und durch atmosphärischer Roman, den ich mit großer Freude gelesen habe und der, ohne sich im Strudel der Ereignisse und Themen zu verlieren, die Spannung bewahren konnte. Ich freue mich auf mehr von Ecer!“

emotion

„Umwerfend! Und so faszinierend, dass man sofort in Istanbul auf Spurensuche will.“

Radio SRF 1 „Buchzeichen“

„Fein, mitreißend, eindrücklich.“

Bremer Nachrichten

„Er ist eine Hommage an die emotionale Kraft von Kino, Literatur und Theater für den Einzelnen. Aber auch an die Macht, die ein fiktionaler Entwurf von Realität entfalten kann, wenn viele sich davon inspirieren lassen.“

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