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Wir sind die Wolfskinder Wir sind die Wolfskinder - eBook-Ausgabe

Sonya Winterberg
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Verlassen in Ostpreußen

„Es ist ein erschütterndes Dokument, das schon deshalb lesenwert ist, weil es die vielleicht letzten Zeitzeugenberichte enthält.“ - Focus online

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Wir sind die Wolfskinder — Inhalt

Die letzten „Wolfskinder“ erzählen ihr Schicksal

Vermisst, verloren, vergessen: Über 20.000 deutsche Kinder werden ab 1944 in Ostpreußen von ihren Familien getrennt - viele für immer. Gegen Hunger, Kälte und sowjetische Willkür führen sie einen Kampf um Leben und Tod. Monatelang streifen sie, Wölfen gleich, durch die Wälder Litauens. Nach jahrzehntelangem Schweigen erzählen die letzten Wolfskinder erstmals von den Schrecken der Vergangenheit.

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 17.02.2014
Fotograf: Claudia Heinermann
336 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-30264-7
Download Cover
€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 17.09.2012
Fotograf: Claudia Heinermann
336 Seiten
EAN 978-3-492-96083-0
Download Cover

Leseprobe zu „Wir sind die Wolfskinder“

„Sofern es überhaupt ein ›Bewältigen‹ der Vergangenheit gibt, besteht es in dem Nacherzählen dessen, was sich ereignet hat; aber auch dies Nacherzählen, das Geschichte formt, löst keine Probleme und beschwichtigt kein Leiden, es bewältigt nichts endgültig, es hilft aber, ›die innere Wahrheit des Geschehens so transparent in die Erscheinung‹ zu bringen, daß man sagen kann: Ja, so ist es gewesen.“


Hannah Arendt


Vorwort


Sie sind die Kinder des Zweiten Weltkriegs, die Kinder der Flucht und der Vertreibung – und Kinder Ostpreußens. Niemand hatte sie vorbereitet [...]

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„Sofern es überhaupt ein ›Bewältigen‹ der Vergangenheit gibt, besteht es in dem Nacherzählen dessen, was sich ereignet hat; aber auch dies Nacherzählen, das Geschichte formt, löst keine Probleme und beschwichtigt kein Leiden, es bewältigt nichts endgültig, es hilft aber, ›die innere Wahrheit des Geschehens so transparent in die Erscheinung‹ zu bringen, daß man sagen kann: Ja, so ist es gewesen.“


Hannah Arendt


Vorwort


Sie sind die Kinder des Zweiten Weltkriegs, die Kinder der Flucht und der Vertreibung – und Kinder Ostpreußens. Niemand hatte sie vorbereitet auf den gewaltvollen Verlust der Mutter und der Angehörigen, den Hunger, die Kälte und schließlich das jahrzehntelange Verlassensein; auf die Traumata ihrer Kindheit, die sie ein Leben lang begleiten würden und die sich bis in die Gegenwart auswirken – so jedenfalls sieht es die Autorin dieses Buches.


In einem Vortrag anlässlich des Preußenjahrs 2001 konstatierte der Historiker Arnulf Baring, dass in Deutschland kaum öffentlich behandelt werde, was es bedeute, „dass der größere Teil des alten Preußen, das 1701 Königreich wurde, heute polnisch, auch russisch oder litauisch ist“. In einem geeinten Europa, in dem seither auch Polen und Litauen Aufnahme gefunden haben, hat sich daran mehr als zehn Jahre später wenig geändert. So wie das Schicksal dieser Gruppe erst sehr spät bearbeitet wurde, erging es auch den Ostpolen, die als Erste zwangsweise umgesiedelt, vertrieben und traumatisiert wurden.


Eines der drei baltischen Länder ist auf ganz besondere Weise mit Deutschland verbunden – Litauen. Hier fanden nach Ende des Zweiten Weltkriegs zahlreiche der Geflohenen oder Vertriebenen aus Ostpreußen eine Zuflucht, einige von ihnen blieben bis heute. Diese Tatsache spiegelt sich im öffentlichen Bewusstsein kaum wider. Wenn wir auf die dramatische Zeitenwende 1989/90 zurückschauen, sollten wir bedenken, dass sich die damaligen Ereignisse aus litauischer Sicht keinesfalls frei von Gewaltandrohung vollzogen.


Als sich Litauen auf einem Parteitag Ende 1989 von der sowjetischen Führung in Moskau lossagte, stieß das Land auf das deutliche Nein Gorbatschows zur Unabhängigkeit der baltischen Staaten. Deutschland wollte auf keinen Fall einen Konflikt mit Gorbatschow wegen der Unabhängigkeitsforderungen im Baltikum. Das hätte das Ziel der deutschen Einheit gefährden können. Wenn ich auch die Zurückhaltung Kohls und Genschers nachvollziehen konnte, suchten wir damals doch nach Wegen, wie wir die Litauer politisch und praktisch unterstützen konnten. Wir bewunderten den Mut derer, die unbeirrt auf ihren „großen Tag“ zusteuerten, die Erklärung der Unabhängigkeit am 11. März 1990.


Tagtäglich die Aufbruchsstimmung in Deutschland mitzuerleben, auch die Nachrichten von den vielen Menschen zu sehen, die in Litauen für die Unabhängigkeit auf die Straße gingen, und dennoch die eher zurückhaltende Politik zu erleben und als Bundestagspräsidentin zum Teil auch mittragen zu müssen, fiel mir schwer.


Es wurde damals auch nicht gesehen, dass das Einsetzen für die Belange Litauens eng mit dem Schicksal einer dort lebenden deutschen Minderheit zu tun hatte, die, anders als etwa die Russlanddeutschen, über keine Lobby verfügte und deren deutsche Herkunft vonseiten der Bürokratie aufgrund fehlender Dokumente in Zweifel gezogen wurde. Den Lebensgeschichten dieser Kriegskinder geht die Autorin Sonya Winterberg in diesem Buch nach.


Ich kann mich noch gut erinnern, dass innerhalb der Regierung größter Druck auf uns Parlamentariern lastete. Dass ich dennoch Anfang September 1991 als erster hochrangiger Politiker nach Litauen flog, um Gespräche mit der von der Sowjetunion nicht anerkannten Regierung zu führen, stieß auf wenig Gegenliebe. Wir sollten nicht nach Litauen fahren, waren aber dennoch da. Die Eindrücke waren bedrohlich und haben sich mir tief eingeprägt. Rund um das Parlament in Vilnius waren noch die Barrikaden aus Sandsäcken zu sehen, die das Gebäude schützen sollten, um dem Angriff sowjetischer Truppen zu widerstehen. Der blutige 13./14. Januar 1991 forderte 14 Menschenleben und weit über 100 Verletzte.


Ich nahm damals unbürokratisch und ohne protokollarische Abstimmung mit Bonn einen schwer verletzten litauischen Soldaten mit zurück nach Hamburg, dem die dringend notwendige medizinische Hilfe sonst verwehrt geblieben wäre. Im Bundeswehrkrankenhaus wurde er sechs Monate behandelt und konnte danach wieder gesund in seine Heimat zurückkehren.


In außenpolitischen Belangen haben Kanzleramt und Außenministerium größeres Gewicht als der Bundestag. Mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln wurden die Parlamentarier aber dennoch sehr früh aktiv. Der Deutsch-Baltische Freundeskreis war es in erster Linie, der wichtige Hilfe im Bestreben nach Unabhängigkeit Litauens leistete. Damals gehörten ihm rund 100 Parlamentarier aller Fraktionen (außer der PDS ) an. Gegründet wurde er im Frühjahr 1991 durch Wolfgang Freiherr von Stetten, der zudem den Vorsitz übernahm.


Wie kein zweiter Politiker engagierte sich fortan Wolfgang von Stetten für die neuen deutsch-baltischen Beziehungen. Sein Büro im Langen Eugen in Bonn wurde kurzerhand zum Deutsch-Baltischen Informationsbüro, einer Art Übergangsbotschaft, und seine persönlichen Beziehungen zu den führenden Parlamentariern der Region bereiteten den Boden für die vertrauensvolle Zusammenarbeit, die nicht zuletzt 2004 in den Beitritt der baltischen Staaten zur Europäischen Union und zur NATO mündete. Damit war das kollektive Trauma, die Angst vor einem erneuten Übergriff Moskaus, beendet.


In diesem Kontext muss das außerordentliche Engagement Wolfgang von Stettens für Litauen, aber auch für die deutsche Minderheit gewürdigt werden. Im Jahr 1992 kam er erstmals in Kontakt mit dem Verein „Edelweiß“, in dem sich viele Betroffene kurz zuvor zusammengeschlossen hatten. Ihre Sache machte er sich in den folgenden Jahren zu eigen. Ob es um Familienzusammenführungen, den komplizierten Staatsbürgerschaftsnachweis, Wiedereinbürgerungsverfahren oder schlicht humanitäre Hilfe ging, von Stetten wurde für viele Betroffene zum Vater, den sie nie hatten. Unermüdlich stand er ihnen zur Seite, wenn sich die Bürokratie der Ämter und Behörden unerbittlich zeigte, und unermüdlich sammelt er bis heute Spenden, um, wie er selbst sagt, „ ein wenig die Not zu lindern “. Eine Not, die das Leben ohne elementarste Schulbildung und unterhalb des Existenzminimums in Litauen trotz EU-Mitgliedschaft mit sich bringt.


In seiner damaligen Rede forderte Arnulf Baring übrigens auch, unseren Schulkindern solle das Schicksal der traumatisierten Kinder und jungen Erwachsenen im Baltikum viel stärker erschlossen und vermittelt werden, als es bisher der Fall ist. Diese Notwendigkeit besteht in der Tat.


Prof. Dr. Rita Süssmuth Berlin, im März 2012
Bundestagspräsidentin a. D.


Prolog


Es ist der 21. März 1992 – eine kleine Wohnung im zweiten Stock eines Backsteingebäudes im norddeutschen Flensburg. Mit zitternden Händen hält Anna Unkat ein maschinell erstelltes Schreiben des Roten Kreuzes in Händen. Tränen rinnen über das zerfurchte Gesicht der alten Dame. Es ist lange her, dass sie zum letzten Mal geweint hat. Fast fünf Jahrzehnte sind vergangen, seit sie ihren jüngsten Sohn auf der Flucht aus Ostpreußen verlor. Endlos scheinende Jahre, die sie in Sorge um ihn war, in denen sie tagtäglich, wieder und wieder, die letzten Momente Revue passieren ließ, bevor der Zug losrollte und sie begriff, dass der kleine Günter am Bahnhof Insterburg zurückgeblieben war. Nie hat sie den Glauben verloren, dass er noch am Leben sei. In all den Jahren hat sie nichts unversucht gelassen, um ihn zu finden. Und doch mussten 50 Jahre bis zu diesem Moment vergehen. Die Greisin wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und bittet die Pflegerin, ohne deren Betreuung sie seit einigen Jahren nicht mehr zurechtkommt, um einen Stift. Mit großer Mühe bringt sie zu Papier, was ihr in diesen Minuten durch den Kopf geht:


Mein lieber Sohn!


Ich habe heute den Brief vom Suchdienst erhalten, dass Du, liebes Günterchen, noch lebst! Ich brach in Freudentränen aus. Du schreibst, dass Du einen anderen Namen angenommen hast. Ist das der Name Deiner Pflegeeltern? Bist Du allein oder hast Du Familie? Bring alles mit, was Du hast. Platz habe ich genug. Mein liebes Günterchen! Gott hat mein Gebet erhört! Komm, so schnell Du kannst. Ich schreibe nicht viel, aber ich möchte, dass wir uns bald wiedersehen. Ich bin ganz aufgeregt und kann einfach nicht mehr schreiben.


Viele herzliche Grüße aus dem fernen Flensburg.
Deine Dich liebende Mutter.


Hans Neumann steht in den späten Abendstunden des 2. September 1991 am Hauptbahnhof in Braunschweig und wird von seinen Gefühlen überwältigt. Vor ihm steht sein Bruder Gerhard, den er zuletzt an einem warmen Frühlingstag 1945 gesehen hatte. Hans war sieben, als er auf der Flucht von Mutter und Bruder getrennt wurde. Zwei Jahre schlug er sich im Grenzgebiet zwischen Königsberg und Litauen in den Wäldern entlang der Memel durch, immer in der Hoffnung, nach Deutschland zu gelangen und die Familie wiederzufinden – ohne Erfolg. Ab 1947 wohnte Hans bei einer litauischen Bauernfamilie. Aus dem deutschen Hans wurde Jonas, ein litauischer Junge. Seine deutschen Wurzeln, die Eltern und seine drei Geschwister vergaß er dennoch nie.
Erst Anfang 1991 gelang es den deutschen Geschwistern, Hans über den Suchdienst der Kirchen und des Roten Kreuzes ausfindig zu machen. Wenige Monate später sind die bürokratischen Hürden genommen, und die beiden Brüder liegen sich in den Armen. Hans Neumann ringt lange um Worte : „ Der Himmel öffnet sich … “ Anders, weniger pathetisch, kann er seine Gefühle nicht ausdrücken. Auch der Vater lebt noch. Hermann Neumann ist 89 Jahre alt und wohnt in einem Dortmunder Seniorenheim. Ungläubig gibt er dem verlorenen Sohn die Hand. Nur die Mutter wird Hans nicht wiedersehen. Sie ist kurz nach Kriegsende nach Sibirien verschleppt worden und 1948 in einem Lager umgekommen.


Nicht immer gibt es nach so langer Zeit ein Wiedersehen. Ob ihre Mutter noch lebt, weiß ein anderes Wolfskind bis heute nicht: „Ich war vielleicht fünf Jahre alt. Die Bäuerin hielt mich im Stall bei den Schweinen. Als meine Mutter überraschend kam, um mich abzuholen, denn es sollte nach Deutschland gehen, schämte sich die Bäuerin. Sie belog meine Mutter und sagte ihr, dass ich gestorben sei. “ So bleibt das Mädchen im litauischen Kaunas. Erst auf dem Totenbett gesteht die katholische Bäuerin ihrer Pflegetochter diese Lüge. Eine unverzeihliche Sünde, die ihr ein ganzes Leben auf dem Gewissen lastete. Sie bittet ihre Ziehtochter um Vergebung. Nach dem Tod der Bäuerin vertraut das einstige Wolfskind seine Geschichte der Historikerin Ruth Kibelka an. Doch nirgendwo in Deutschland findet sich eine Spur.


Drei Schicksale von vielen, welche von deutschen Kindern erzählen, die in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs oder kurz nach Kriegsende ihre Eltern verloren haben.


Damals flohen Zehntausende Familien aus dem nördlichen Ostpreußen vor der Roten Armee. Zahlreich sind die Fälle, in denen auf der Flucht die Kinder zurückblieben. Manche erlebten die Erschießung der eigenen Familie. Andere mussten ohnmächtig zusehen, wie jüngere Geschwister verhungerten oder aus Schwäche starben, wie die Mutter einer Epidemie erlag. Diese Kinder, oft nicht älter als vier oder fünf Jahre, waren plötzlich auf sich allein gestellt und überlebten monatelang, manchmal über Jahre in kleinen Gruppen in der freien Natur Ostpreußens, Königsbergs und des Baltikums. Deshalb nennen sie sich bis heute „Wolfskinder“.


Viele Wolfskinder kamen um, verhungerten, wurden nach dem Krieg von Soldaten der Roten Armee erschossen, weil sie verzweifelt nach Nahrung suchten – oder auch nur, weil sie Deutsche waren. Einige Tausend wurden bis 1951 in Viehwaggons geladen und in die Sowjetische Besatzungszone, später die DDR gebracht, wo man sie auf Kinderheime verteilte und ihnen verbot, von ihrem Schicksal zu erzählen. Eine ebenso große Zahl verblieb in der Sowjetunion. Die meisten gelangten nach Litauen, wo sie als billige Arbeitskräfte eingesetzt wurden. Weil das verboten war, erhielten sie die litauischen Namen der Bauern, galten als Familienmitglieder. Im besten Falle wurden sie wie Pflegekinder behandelt und später adoptiert. Dennoch besuchten die meisten nie eine Schule, lernten nie Lesen und Schreiben. Manche von ihnen glaubten, Deutschland sei nach dem Krieg untergegangen und existiere nicht mehr. Sie glaubten es auch selbst noch, als sie zu Beginn der Neunzigerjahre vom Kindersuchdienst aufgespürt wurden. Über Jahrzehnte hatten sie ihre alten Namen verleugnen müssen, ihre Muttersprache nicht sprechen dürfen. Manchen gelang es, ihre Vergangenheit zu vergessen; andere zerbrachen daran. In vielen jedoch offenbarte sich eine überraschend starke und trotzige Kinderseele. Obwohl sie ihre Eltern nur wenige Jahre lang erlebt hatten, blieben sie lebenslang auf der inneren Suche nach ihren Familien – bis heute.


Das Schicksal der Wolfskinder beschäftigt mich schon lange. Im Jahr 2007 erschüttert mich eine Analyse des ehemaligen Bundestagsabgeordneten Wolfgang von Stetten: „Sie leben letztlich in erbärmlichen Verhältnissen, und es ist eine Schande für den deutschen Staat, dass es trotz aller Anstrengungen nicht gelungen ist, diesen Menschen eine kleine Rente zuzusprechen. Diese nicht einmal hundert Menschen verlieren auch nach 62 Jahren noch immer den Krieg, fühlen sich verraten, verlassen und letztlich vom Vaterland vergessen. “


Im Jahr 2011 begleite ich eine Gruppe Wolfskinder aus Litauen bei ihrem Deutschlandbesuch. Eine von ihnen ist Waltraut Minnt. „ Sie ist eine Wanderin ! “, raunt mir jemand zu, der sie seit Jahren kennt und damit meint, sie sei eigentlich eine Landstreicherin und nie wirklich sesshaft geworden. Und so hält sie sich stets ein bisschen abseits und ist doch auf Gruppenfotos immer gut zu erkennen – sie steht meist am Rand, ein paar Schritte neben den anderen, als gehöre sie eigentlich gar nicht dazu.
Waltraut ist in diesen Tagen in Deutschland ganz unruhig. Immer wieder hält sie die Gruppe auf, kommt nicht zu verabredeten Zeiten zum Bus zurück. Irgendwann bricht es während unseres Aufenthalts in Berlin aus ihr heraus. Sie erzählt von einem Bruder, der offenbar ganz in der Nähe lebt – Fritz. Dabei weint und strahlt sie zugleich und ist so froh, eine Adresse zu haben, zu wissen, dass es ihn noch gibt. Doch sie traut sich nicht, ihn aufzusuchen. Drei Tage und drei Nächte hat sie nun immerzu überlegt, ob und wie sie ihn doch noch treffen könnte. „Aber wie sollen wir uns verständigen?“ – das ist ihre größte Sorge. Wie so viele in Litauen verbliebene Wolfskinder hat auch sie das meiste Deutsch vergessen. Erst später wird sich herausstellen, dass der Bruder Waltraut gar nicht sehen will. Sie ist ihm peinlich, war auch „nur“ eine Halbschwester, und überhaupt wisse man ja nicht, „was diese Leute aus dem Osten für Ansprüche hätten“. Alles, was Waltraut bleibt, sind die guten Erinnerungen. Zumindest die kann ihr keiner mehr nehmen.

Sonya Winterberg

Über Sonya Winterberg

Biografie

Sonya Winterberg, Jahrgang 1970, arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren als Journalistin für Print und Fernsehen in Europa und Nordamerika. Nach Stationen in Belgien, den USA und Deutschland lebt sie heute in Halifax, Nova Scotia. Sie beherrscht beide Landessprachen und hat sich schon im Studium mit...

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„Es ist ein erschütterndes Dokument, das schon deshalb lesenwert ist, weil es die vielleicht letzten Zeitzeugenberichte enthält.“

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