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Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns

Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns

Judy Batalion
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Die vergessene Geschichte jüdischer Freiheitskämpferinnen

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Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns — Inhalt

Jüdische Frauen im Widerstand gegen die Nazis

Vor einiger Zeit stieß Judy Batalion auf die Berichte junger jüdischer Frauen, die im Widerstand gegen die Nazis kämpften. Diese „Ghetto-Mädchen“ versteckten Revolver in Brotlaiben und bombardierten Züge. Sie flirteten mit den Nazis, bestachen sie mit Schnaps – und töteten sie. Warum hatte Batalion, die in einer Familie von Holocaust-Überlebenden aufgewachsen war, nie davon gehört? Hier erzählt sie die wahre Geschichte dieser mutigen Frauen. Im Zentrum steht die Polin Renia Kukielka, die sich durch ihr vom Krieg gezeichnetes Land bewegt und ständig riskiert, für den Widerstand zu sterben.

€ 12,99 [D], € 12,99 [A]
Erschienen am 29.07.2021
624 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-60032-3
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Leseprobe zu „Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns“

Einleitung – Weibliche Identitäten

Im Lesesaal der British Library roch es nach alten Büchern. Ich schaute auf den Stapel von historischen Werken über Frauen, den ich bestellt hatte – nicht zu viele, beruhigte ich mich, nicht zu erdrückend. Der Band zuunterst war der ungewöhnlichste: vergilbtes Büttenpapier, eingebunden in ein festes Cover aus einem verschlissenen blauen Gewebe. Ihn schlug ich zuerst auf und fand um die zweihundert Blätter in winziger Schreibschrift – auf Jiddisch. Ich beherrschte diese Sprache zwar, hatte sie aber mehr als fünfzehn [...]

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Einleitung – Weibliche Identitäten

Im Lesesaal der British Library roch es nach alten Büchern. Ich schaute auf den Stapel von historischen Werken über Frauen, den ich bestellt hatte – nicht zu viele, beruhigte ich mich, nicht zu erdrückend. Der Band zuunterst war der ungewöhnlichste: vergilbtes Büttenpapier, eingebunden in ein festes Cover aus einem verschlissenen blauen Gewebe. Ihn schlug ich zuerst auf und fand um die zweihundert Blätter in winziger Schreibschrift – auf Jiddisch. Ich beherrschte diese Sprache zwar, hatte sie aber mehr als fünfzehn Jahre nicht mehr benutzt.

Fast hätte ich das Ganze ungelesen wieder auf den Stapel gelegt. Doch irgendetwas drängte mich weiterzulesen, also warf ich einen flüchtigen Blick auf ein paar von den Seiten. Und dann noch welche. Ich hatte erwartet, auf langweilige hagiografische Klagen und schwammige talmudische Erörterungen weiblicher Stärke und Tapferkeit zu stoßen. Doch stattdessen: Frauen, Sabotage, Schusswaffen, Tarnung, Dynamit. Ich hatte einen Thriller aufgespürt.

Konnte das sein?

Ich war total perplex.

*

Gesucht hatte ich nach starken jüdischen Frauen.

In meinen Zwanzigern, zu Anfang des 21. Jahrhunderts, lebte ich in London, wo ich tagsüber als Kunsthistorikerin arbeitete und abends als Comedienne. In beiden Milieus wurde meine jüdische Identität zu einem Stein des Anstoßes. Vermeintlich spaßige Bemerkungen durch die Blume über mein angeblich „semitisches“ Aussehen und Gehabe waren von Akademikern, Galeristen, Zuschauern, Künstlerkollegen und Produzenten gleichermaßen an der Tagesordnung. Nach und nach dämmerte mir: Es ging den Briten gegen den Strich, dass ich mein Jüdischsein so offen, so zwanglos zur Schau stellte. Ich bin in einer eingeschworenen jüdischen Gemeinde in Kanada aufgewachsen und dann im Nordosten der Vereinigten Staaten aufs College gegangen. Weder an dem einen noch an dem anderen Ort waren meine Wurzeln etwas Ungewöhnliches. Ich hatte eine Identität für den öffentlichen Bereich und eine andere für den privaten. In England jedoch mit meiner Andersartigkeit so „atypisch“ zu sein, nun, das wirkte dreist und verursachte Unbehagen. Der Schock, nachdem ich dahintergekommen war, machte mich befangen. Ich war mir nicht sicher, wie ich damit umgehen sollte: Ignorieren? Zurückscherzen? Vorsicht walten lassen? Überreagieren? Unterreagieren? Undercover gehen und eine doppelte Identität annehmen? Fliehen?

Zur Lösung des Problems bediente ich mich der Kunst und der Recherche. Ich schrieb ein Stück über weibliche jüdische Identität und generationsübergreifendes Trauma. Mein Leitbild für jüdischen weiblichen Wagemut war Hannah Szenes, eine der wenigen Widerstandskämpferinnen im Zweiten Weltkrieg, die nicht in den Wirren der Geschichte verloren gegangen ist. Als Kind ging ich auf eine säkulare jüdische Schule – ihr Weltbild gründete auf polnischen jüdischen Strömungen –, auf der wir auch hebräische Lyrik und jiddische Romane durchnahmen. In meinem Jiddisch-Unterricht in der fünften Klasse erfuhren wir von Hannah und davon, dass sie als 22-Jährige in Palästina den britischen Fallschirmtruppen für den Kampf gegen die Nazis beitrat und nach Europa zurückkehrte, um dort den Widerstand zu unterstützen. Mit ihrer Mission war sie zwar nicht erfolgreich, doch wurde sie eine Inspiration in Sachen Mut. Bei ihrer Hinrichtung wollte sie sich partout nicht die Augen verbinden lassen, sondern die Kugel direkt auf sich zukommen sehen. Hannah sah der Wahrheit ins Auge, lebte und starb für ihre Überzeugungen und war stolz darauf, ungeniert sie selbst zu sein.

In jenem Frühjahr 2007 saß ich also in der British Library in London und suchte nach Informationen über Szenes, nach differenzierten Auseinandersetzungen mit ihrem Charakter. Wie sich herausstellte, gab es nicht viele Bücher über sie, deshalb ließ ich mir alle kommen, die sie wenigstens erwähnten. Eins davon war auf Jiddisch. Fast hätte ich es wieder zurückgeschickt.

Doch dann nahm ich Freuen in di Ghettos (Frauen in den Ghettos) in die Hand und blätterte es durch. In dieser 185 Seiten umfassenden Anthologie kam Hannah erst im letzten Kapitel vor. Die 170 Seiten davor waren voll von Geschichten anderer Frauen – Dutzender unbekannter junger Jüdinnen, die, überwiegend aus polnischen Ghettos heraus, im Widerstand gegen die Nazis gekämpft hatten. Diese „Ghetto-Girls“ bestachen Gestapo-Wachleute, versteckten Revolver in Brotlaiben und halfen beim Bau unterirdischer Bunkersysteme mit. Sie flirteten mit Nazis und machten sie mit Wein, Whiskey und Gebäck gefügig, bevor sie sie mit Tücke und List umbrachten. Sie führten Spionagemissionen für Moskau durch, verteilten gefälschte Papiere und Untergrundflugblätter und waren Übermittler der traurigen Wahrheit über das Schicksal der Juden. Sie halfen den Kranken und unterrichteten die Kinder. Sie verübten Anschläge auf deutsche Bahnlinien und sprengten das Stromnetz von Wilna in die Luft. Sie verkleideten sich als Nichtjüdinnen, arbeiteten als Hausmädchen auf den arischen Seiten der Städte und halfen Juden, durch Kanalschächte und Kamine aus den Ghettos zu entkommen, beziehungsweise indem sie Löcher in Mauern gruben und über Dächer krochen. Sie schmierten Scharfrichter, schrieben Funksprüche aus dem Untergrund, hielten den Kampfgeist aufrecht, verhandelten mit polnischen Grundbesitzern, brachten die Gestapo dazu, ihnen ihr Gepäck voller Waffen zu tragen, riefen eine Gruppe von AntinaziNazis ins Leben, und nicht zu vergessen: Sie erledigten den Hauptteil der Verwaltungsarbeit im Untergrund.

In all den Jahren jüdischen Unterrichts hatte ich noch nie so unglaubliche Berichte mit Details des tagtäglichen und außerordentlichen weiblichen Kampfeinsatzes gelesen. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie viele jüdische Frauen sich im Widerstand engagiert hatten und in welchem Ausmaß.

Diese Geschichten versetzten mich nicht nur in Erstaunen, sie berührten mich ganz persönlich und stellten mein Verständnis von meiner eigenen Geschichte auf den Kopf. Ich stamme aus einer Familie von polnisch-jüdischen Holocaust-Überlebenden. Meine Bubbe Zelda (Namensgeberin meiner ältesten Tochter) kämpfte nicht im Widerstand. Ihre erfolgreiche, wenn auch tragische Fluchtgeschichte prägte meine Vorstellung von Überleben. Sie – die mit ihren hohen Wangenknochen und ihrer Stupsnase nicht aussah, wie sich die Deutschen einen Juden dachten – floh aus dem besetzten Warschau, schwamm durch Flüsse, versteckte sich in einem Kloster, flirtete mit einem Nazi, der ein Auge zudrückte, und wurde in einem Lastwagen voller Orangen gen Osten mitgenommen, wo sie sich schließlich über die russische Grenze stahl und wo ihr Leben, ironischerweise, durch die Zwangsarbeit in einem sibirischen Arbeitslager gerettet wurde. Meine Bubbe war stark wie ein Ochse, doch sie hatte ihre Eltern und drei ihrer vier Schwestern verloren, die alle in Warschau geblieben waren. Sie erzählte mir diese furchtbare Geschichte jeden einzelnen Nachmittag, wenn sie nach der Schule bei mir Babysitter spielte, und hatte dabei vor Zorn Tränen in den Augen. Meine jüdische Gemeinde in Montreal bestand größtenteils aus Familien von Holocaust-Überlebenden. Sowohl meine eigene Familie als auch die der Nachbarn konnten ein ähnliches Lied von Schmerz und Leid singen. Meine Gene wurden entscheidend geprägt – ja sogar verändert, wie Neurowissenschaftler inzwischen für möglich halten – durch Traumata. Ich wuchs auf in einer Aura der Viktimisierung und der Angst.

Doch hier, in Freuen in di Ghettos, gab es eine andere Version des Kapitels „Frauen im Krieg“. Diese Geschichten der Tatkraft rüttelten mich auf. Da waren Frauen, die mit Verbissenheit und innerer Stärke – ja sogar mit Gewalt – ans Werk gingen, die schmuggelten, geheime Informationen zusammentrugen, Sabotage begingen und sich am Kampfgeschehen beteiligten. Sie waren stolz auf ihre Inbrunst. Die Autorinnen baten nicht um Mitleid, sie feierten gelebte Tapferkeit und Unerschrockenheit. Frauen zeigten sich, trotz des Hungers und der Folter, denen sie ausgesetzt waren, beherzt und unverfroren. Mehr als eine von ihnen hatte die Chance zu entkommen, nutzte sie aber nicht. Einige entschieden sich sogar dafür, zurückzukehren und zu kämpfen. Meine Bubbe war meine Heldin, doch was, wenn sie den Entschluss gefasst hätte, unter Einsatz ihres Lebens dazubleiben und zu kämpfen? Mich ließ die Frage nicht mehr los: Was würde ich in einer ähnlichen Situation machen? Kämpfen oder fliehen?

*

Anfangs dachte ich, bei den mehreren Dutzend in Freuen in die Ghettos genannten Widerstandsagentinnen handele es sich um alle. Doch als ich das Thema erst einmal angerissen hatte, begegneten mir an jeder Ecke unglaubliche Geschichten über weibliche Kämpfer: in Archiven, Verzeichnissen, in E-Mails von fremden Menschen, die mir von ihrer Familie erzählten. Ich fand Dutzende Lebenserinnerungen von Frauen, herausgegeben von kleinen Verlagshäusern, sowie Hunderte Zeitzeugenberichte in polnischer, russischer, hebräischer, jiddischer, deutscher, französischer, holländischer, dänischer, griechischer, italienischer und englischer Sprache, von den 1940er-Jahren bis heute.

Holocaust-Forscher diskutieren schon seit Langem, was als Akt jüdischen Widerstands „zählt“. Viele legen die weitreichendste Definition zugrunde: jede Aktion, die das Menschsein eines Juden bekräftigte; jede Einzel- oder gemeinschaftliche Tat, die, selbst wenn unbeabsichtigt, der Nazipolitik oder -ideologie trotzte, wozu auch das bloße Überleben gehört. Andere finden, dass eine zu allgemeine Definition die Leistungen derjenigen schmälert, die unter Einsatz ihres Lebens aktiv einem Regime die Stirn boten, und dass ein Unterschied besteht zwischen Widerstand und Durchhaltevermögen.

Die rebellischen Akte, die ich unter den Jüdinnen in Polen, wo mein Fokus lag, ausfindig machte, deckten das gesamte Spektrum ab – von solchen Aktionen, die knifflige Vorausplanungen notwendig machten, wie die Zündung großer Mengen TNT, bis hin zu spontanen, unkomplizierten, fast schon slapstickartigen, bei denen es um Verkleidung, Beißen und Kratzen oder das Herauswinden aus den Armen von Nazis ging. Für viele war das Ziel, Juden zu retten, für andere, in Würde zu sterben und so in Erinnerung zu bleiben. Freuen in di Ghettos beleuchtet die Aktivitäten weiblicher „Ghettokämpfer“: Untergrundagentinnen, die aus der jüdischen Jugendbewegung hervorgingen und in den Ghettos tätig waren. Diese jungen Frauen waren Kämpferinnen, Herausgeberinnen von Untergrundverlautbarungen und Aktivistinnen. Vor allem stellten Frauen die überwiegende Zahl der „Kuriere“, eine ganz besondere Funktion im Herzen der Operationen. Sie verkleideten sich als Nichtjüdinnen und pendelten zwischen abgeriegelten Ghettos und Städten hin und her, während sie Menschen, Bargeld, Papiere, Informationen und Waffen heraus- beziehungsweise hineinschmuggelten, wobei sie vieles selbst beschafft hatten.

Doch jüdische Frauen waren nicht nur Ghettokämpferinnen. Sie flüchteten sich auch in die Wälder und traten Partisanengruppen bei, für die sie Sabotageakte und geheimdienstliche Missionen durchführten. Manche Widerstandsaktionen liefen als „ungeregelte“ einmalige Angelegenheiten ab. Mehrere polnische Jüdinnen schlossen sich ausländischen Widerstandsverbänden an, während andere mit dem polnischen Untergrund zusammenarbeiteten. Frauen bauten Rettungsnetzwerke auf, die anderen Juden zu einem Versteck oder zur Flucht verhalfen. Schließlich leisteten sie moralischen, spirituellen und auch kulturellen Widerstand, indem sie ihre Identität verschleierten, jüdische Bücher unter die Leute brachten, auf Transporten Witze erzählten, um die Angst zu lindern, Quartiergefährten umarmten, um sie warm zu halten, und Suppenküchen für Waisen einrichteten. Manchmal war die letztgenannte Aktivität organisiert, öffentlich und illegal, andere Male fand sie im privaten, kleinen Rahmen statt.

Nach Monaten der Recherche ging es mir wie so vielen Autoren: Ich stand vor einem wahren Schatz und gleichzeitig auch vor einer Herausforderung, denn ich hatte mehr ungeheuerliche Widerstandsgeschichten zusammengetragen, als ich je für möglich gehalten hätte. Wie sollte ich das alles nur eingrenzen und meine Hauptfiguren auswählen?

Am Ende entschied ich mich, meiner Inspirationsquelle, Freuen in die Ghettos, zu folgen mit ihrem Fokus auf Ghettokämpferinnen aus den Jugendbewegungen Freiheit (Dror) und Der Junge Wächter (Hashomer Hatzair). Das Kernstück des Buches und sein längster Beitrag war von einer Kurierin geschrieben, die mit „Renia K.“ unterzeichnet hatte. Ich fühlte mich von Renia magisch angezogen – nicht weil sie die bekannteste, militanteste oder charismatischste Führungsgestalt gewesen wäre, sondern eher aus dem gegenteiligen Grund. Renia war weder eine Idealistin noch eine Revolutionärin, sondern ein Mädchen mit Köpfchen aus dem bürgerlichen Milieu, das sich unversehens in einen erbarmungslosen Albtraum versetzt sah. Sie zeigte sich der Situation gewachsen, befeuert von einem inneren Gerechtigkeitsgefühl und von Zorn. Ich war fasziniert von ihren ungeheuren Geschichten über verstohlene Grenzüberquerungen und Granatenschmuggel sowie von den detaillierten Schilderungen ihrer Undercovermissionen. Mit zwanzig Jahren dokumentierte Renia ihre Erlebnisse der vorangegangenen fünf Jahre in ausgewogener, reflektierender Prosa, anschaulich durch die lebendigen Charakterisierungen, unverblümten Eindrücke und sogar mit einer gehörigen Portion Witz.

Später fand ich heraus, dass Renias Beitrag in Freuen in die Ghettos ein Auszug aus einer langen Lebenserinnerung war, die sie auf Polnisch verfasst hatte und die 1945 in Palästina in hebräischer Sprache veröffentlicht wurde. Ihr Buch war einer der ersten (manche sagen, der erste überhaupt) ausführlichen Augenzeuginnenberichte über den Holocaust. 1947 gab ein jüdischer Verlag in Downtown New York eine englische Version heraus mit einer Einleitung von einem namhaften Übersetzer. Doch nur wenig später gerieten das Buch und seine Welt in Vergessenheit. Ich bin auf Renia nur noch in flüchtigen Erwähnungen oder akademischen Kommentaren gestoßen. Hier hole ich ihre Geschichte aus den Fußnoten in den Haupttext und lüfte den Schleier dieser unbekannten jüdischen Frau, die unglaublich mutige Taten vollbracht hat. In Renias Chronik habe ich weitere Geschichten von polnischen jüdischen Widerstandskämpferinnen aus verschiedenen Untergrundbewegungen und mit vielfältigen Missionen verwoben, um ein Bild von der ganzen Bandbreite weiblichen Wagemuts zu geben.

*

Die jüdische Überlieferung ist voll von Geschichten über Triumphe von augenscheinlich Schwachen: David gegen Goliath, die israelitischen Sklaven, die den Pharao zur Weißglut trieben, die Makkabäer-Brüder, die das Seleukidenreich besiegten.

Das folgende ist keine derartige Geschichte.

Die polnische jüdische Widerstandsbewegung erzielte, was militärische Erfolge, Verluste aufseiten der Nazis und Anzahl der geretteten Juden angeht, eher minimale Triumphe.

Doch die Anstrengungen, die sie unternahmen, waren größer und besser organisiert, als ich jemals für möglich gehalten hätte, und, gemessen an den Holocaust-Berichten, mit denen ich aufgewachsen war, geradezu gigantisch. Bewaffnete jüdische Untergrundgruppen waren in mehr als 90 osteuropäischen Ghettos im Einsatz. Kleinere „Aktionen“ und Aufstände fanden in Warschau statt sowie in Będzin, Wilna, Bialystok, Krakau, Lwów, Częstochowa, Sosnowiec und Tarnow. Bewaffneten jüdischen Widerstand gab es in mindestens fünf größeren Konzentrations- beziehungsweise Vernichtungslagern – darunter Auschwitz, Treblinka und Sobibór – sowie in 18 Arbeitslagern. 30 000 Juden schlossen sich Partisanentrupps in den Wäldern an. Jüdische Netzwerke unterstützten 12 000 in Warschau untergetauchte Juden finanziell. Und darüber hinaus ließen sich noch zahllose weitere Beispiele für tagtägliche Akte der Auflehnung anführen.

Warum, so fragte ich mich immerzu, hatte ich von alldem noch nie etwas gehört? Warum hatte ich nichts von den Hunderten, ja sogar Tausenden von jüdischen Frauen erfahren, die in alle Aspekte dieser Rebellion eingebunden waren, nicht selten an vorderster Front? Warum war Freuen in die Ghettos lediglich ein unbekannter Titel und nicht vielmehr ein Klassiker der Holocaust-Literatur?

Wie ich allmählich in Erfahrung brachte, haben viele Faktoren, sowohl persönliche als auch politische, die Entwicklung der Dokumentation des Holocaust beeinflusst. Unser kollektives Gedächtnis wurde geprägt von einem übergreifenden Widerstand gegen den Widerstand. Schweigen ist ein Mittel, mit dem sich Wahrnehmung steuern und Macht verlagern lässt. Es hat im Lauf der Jahrzehnte in Polen, Israel und Nordamerika unterschiedliche Wirkung entfaltet. Schweigen ist aber auch eine Strategie, um etwas bewältigen und weiterleben zu können.

Selbst wenn Chronisten gegen den Strom schwammen und von Widerstand erzählten, standen so gut wie nie Frauen im Fokus. In den einzelnen Fällen, in denen Frauen eine Rolle spielen, werden sie meist in stereotype Muster eingebettet. In dem fesselnden Fernsehfilm Uprising – Der Aufstand von 2001 über das Warschauer Ghetto kommen zwar weibliche Kämpfer vor, doch sind sie auch hier in typischer Weise falsch dargestellt. Führungsgestalten sind zu Nebenfiguren herabgestuft, zu „Freundinnen von“. Die einzige weibliche Hauptrolle hat Tosia Altman, und obwohl man sie furchtlos Waffen schmuggeln sieht, wird sie als hübsches, schüchternes junges Mädchen gezeichnet, das sich um seinen kranken Vater kümmert und – völlig naiv und sanftmütig – eher passiv in den Widerstand hineingezogen wird. In Wirklichkeit hatte Tosia schon lange vor dem Krieg eine Führungsrolle beim Jungen Wächter inne. Ihre Biografin stellt ihren Ruf als „Glamourgirl“ heraus. Indem der Film ihre Vorgeschichte regelrecht neu schreibt, verzerrt er nicht nur ihren Charakter, er löscht auch die ganze Welt von Bildung, militärischem Training und Wirken jüdischer Frauen aus, die Tosia zu dem gemacht hatte, was sie war.

Natürlich war der jüdische Widerstand gegen die Nazis in Polen keine radikal feministische Mission. Männer waren aktive Kämpfer, Anführer und Kommandanten. Doch aufgrund ihres Geschlechts und damit ihrer Fähigkeit, ihr Jüdischsein zu verschleiern, waren Frauen einzigartig dafür geeignet, einige wesentliche und lebensgefährliche Aufgaben zu übernehmen, insbesondere als Kurierinnen. Wie die Kämpferin Chaika Grossman es ausdrückte: „Die jüdischen Mädchen waren der Lebensnerv der Bewegung.“

*

Bei der Veröffentlichung, 1946, war das einzige Ziel von Freuen, die amerikanischen Juden über die ungeheuren Anstrengungen jüdischer Frauen in den Ghettos zu informieren. Mehrere der Mitwirkenden gingen schlicht davon aus, dass diese Frauen bald allen ein Begriff sein würden, und vertrauten darauf, dass künftige Historiker dieses unbegreifliche Feld schon beackern würden. Die Kämpferin Ruzka Korczak schrieb, diese Geschichten von weiblichem Widerstand seien „der große Schatz unserer Nation“ und würden zu einem wesentlichen Bestandteil der jüdischen Erzähltradition werden.

Fünfundsiebzig Jahre später sind diese Heldinnen immer noch weitestgehend unbekannt und ihre Seiten im „Buch ewiger Erinnerung“ ungeschrieben. Bis jetzt.

Judy Batalion

Über Judy Batalion

Biografie

Judy Batalion wurde in Montreal geboren, studierte Wissenschaftsgeschichte in Harvard und promovierte in Kunstgeschichte an der University of London. Danach arbeitete sie als Kuratorin und Komikerin in London, bevor sie sich in New York City niederließ. Sie ist Autorin von »White Walls: A Memoir...

Judy Batalion zur Entstehung des Buches

„Vor zehn Jahren recherchierte ich in der britischen Nationalbibliothek über jüdische Frauen und stieß dabei auf ›Freuen in di Ghettos‹ – ein verstaubtes, schmales Buch von 1946, das auf Jiddisch verfasst ist. Da ich aufgrund meines familiären Hintergrunds jiddisch spreche, schlug ich es auf, eingestellt auf Trauer und Trübsal. Doch stattdessen erwartete mich eine Geschichte voller Waffen, Explosionen und Spionage.

Das Buch war ein jiddischer Thriller der von polnisch-jüdischen ›Ghettomädchen‹ erzählt, die Gestapo-Männer bestachen, Revolver in Teddybären versteckten und halfen, Systeme von unterirdischen Bunkern zu errichten. Sie flirteten mit den Nazis, schmierten sie mit Schnaps und Süßigkeiten – und töteten sie später.

Sie agierten als Kurierinnen für geheime Nachrichten, bombardierten Züge, organisierten Suppenküchen und wurden immer und immer wieder Zeuginnen des unfassbaren Grauen, das den Juden während des zweiten Weltkrieges widerfuhr. Ich war fassungslos. Warum hatte ich, die in einer Familie von Holocaustüberlebenden aufgewachsen war, nie von dieser Seite der Geschichte gehört? Ich wusste sofort, dass ich einen Schatz gefunden hatte, über den ich mehr herausfinden musste…“


Über jüdische Frauen, die im Widerstand gegen die Nazis kämpften, ist kaum etwas bekannt. In „Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns“ erzählt Judy Batalion ihre wahre Geschichte. Wir folgen einer Gruppe von Widerstandskämpfer*innen, die sich auf den Aufstand vorbereiten und dabei immer größeren Gefahren aussetzen. Im Zentrum steht Renia Kukielka, eine Schmugglerin und Botin aus der kleinen Stadt Będzin in Polen, die sich durch ihr vom Krieg gezeichnetes Land bewegt und ständig Gefahr läuft, im Dienste des Widerstands gegen Hitler zu sterben.

Kommentare zum Buch
Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns
Rudi Eifert am 19.04.2022

Vom Inhalt her ist das Buch verstörend, grausam und kaum fassbar. Verstörend deshalb, weil jüdische Frauen und Männer in einer Zeit brutaler Auslöschung durch die Nazis soviel Chuzpe besessen haben, sich gegen eine strangulierende Vernichtungspolitik zu wehren, wohl wissend, dass alle Bemühungen gegen eine militärische Übermacht kaum Aussicht auf Erfolg haben konnten. Gleichwohl möchte ich einige kritische Anmerkungen machen, die nichts mit den Schilderungen selbst zu tun haben, sondern mit der deutschen Fassung dieses Buches. Mir hat sich der Eindruck aufgedrängt, dass die deutsche Syntax einiges zu wünschen übrig lässt. Bisweilen hören sich Passagen an, als hätte die Übersetzerin ab und an ein Übersetzungsprogramm bemüht, wobei ich natürlich nicht den Satzaufbau der Originalfassung kenne, die u.U. ähnlich aufgebaut sein mag, wie die deutsche. Satzstrukturen hören sich häufig hölzern und von der Wortwahl her recht holprig an. Bei dieser entsetzlichen Thematik hätte ich mir beim Lesen dieses Buches flüssigere Strukturen gewünscht. Das Lektorat beim PIPER-Verlag hat m.E. hier keine gute Arbeit geleistet.

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