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Weißes Teufelskraut (Die Apothekerin ermittelt 3)

Jürgen Seibold
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Die Apothekerin ermittelt

„Bis zu allerletzten Zeile ein hochspannender Kriminalfall“ - Eßlinger Zeitung

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Weißes Teufelskraut (Die Apothekerin ermittelt 3) — Inhalt

Diese Entgiftungskur ist reines Gift.
Ein Guru der Detox-Szene wird beschuldigt, einen wohlhabenden Geschäftsmann vergiftet zu haben – doch die Faktenlage ist widersprüchlich und die Lebensgeschichte des Toten sorgt für Irritationen. Die junge Apothekerin Maja Ursinus will den Fall nutzen, um sich als Expertin zu profilieren. Aber dabei unterläuft ihr ein entscheidender Fehler: Viel zu spät begreift sie, wie brisant der Fall wirklich ist und dass jemand ihre Nachforschungen um jeden Preis verhindern will. Jemand, den Maja nur allzu gut kennt ...

Nach „Schwarzer Nachtschatten“ und „Rote Belladonna“ der neue Fall für die Apothekerin und Giftpflanzenexpertin Maja Ursinus, hochspannend und hervorragend recherchiert von SPIEGEL-Bestsellerautor Jürgen Seibold!

€ 11,00 [D], € 11,40 [A]
Erschienen am 28.10.2021
256 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-31764-1
Download Cover
€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 28.10.2021
272 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99970-0
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Leseprobe zu „Weißes Teufelskraut (Die Apothekerin ermittelt 3)“

1

Es herrschte Erkältungswetter, draußen fiel Nieselregen, die Temperaturen lagen knapp über dem Gefrierpunkt, und ein kalter Wind strich durch Münchens Straßen. Jedes Mal, wenn neue Kundschaft die Dachstein-Apotheke im Stadtteil Laim betrat, ließ die Glastür einen Schwall feuchtkalter Luft herein. Maja Ursinus hatte an diesem Dienstag Ende Januar zahlreiche Triefnasen, gerötete Augen und heisere Kehlen vor sich, und zum Glück hatten sich inzwischen sogar die Rücksichtslosesten angewöhnt, in die Armbeuge zu husten oder zu niesen. Sie nahm Rezepte in [...]

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1

Es herrschte Erkältungswetter, draußen fiel Nieselregen, die Temperaturen lagen knapp über dem Gefrierpunkt, und ein kalter Wind strich durch Münchens Straßen. Jedes Mal, wenn neue Kundschaft die Dachstein-Apotheke im Stadtteil Laim betrat, ließ die Glastür einen Schwall feuchtkalter Luft herein. Maja Ursinus hatte an diesem Dienstag Ende Januar zahlreiche Triefnasen, gerötete Augen und heisere Kehlen vor sich, und zum Glück hatten sich inzwischen sogar die Rücksichtslosesten angewöhnt, in die Armbeuge zu husten oder zu niesen. Sie nahm Rezepte in Empfang, gab Arzneien aus und beantwortete Fragen zu passenden Hausmitteln. Auch die Kollegin neben ihr arbeitete schnell und effizient, und genau wie Maja fand sie zwischendurch immer noch Zeit für ein Lächeln und ein nettes Wort.

Christiane Adamek, die Inhaberin der Apotheke, kam nach vorn und winkte Maja mit dem Mobilteil des Telefons. Maja verabschiedete noch rasch ihre Kundin, dann ließ sie sich das Telefon geben, eilte in den Aufenthaltsraum, nahm den Hörer ans Ohr und meldete sich. Sie wusste zwar noch nicht, wer am anderen Ende auf sie wartete, aber vielleicht hatte es mit ihrem Bruder Michael zu tun, um den sie sich gerade große Sorgen machte.

„Mein Name ist Rappsteyn“, sagte eine sonore Männerstimme.

„Worum geht’s, bitte?“

„Ich bin Anwalt und rufe im Auftrag eines Mandanten an. Es geht um ein bevorstehendes Verfahren am Landgericht Mannheim.“

Als der Name der Stadt fiel, horchte Maja auf, denn in der Nähe von Mannheim hatte ihr Bruder vor etwa einem Jahr eine neue Anstellung gefunden. Über die unverhoffte zweite Chance für einen Pharmazeuten, der im Studium erst geglänzt, sich dann aber vor allem um den Verkauf und Verbrauch selbst hergestellter Betäubungsmittel gekümmert hatte, war Michael ganz aus dem Häuschen gewesen. Er hatte zu diesem Zeitpunkt schon probiert, von den Drogen wegzukommen, doch das Jobangebot war der Anschub gewesen, den er brauchte. Er schaffte den Entzug recht schnell und arbeitete seither in der Apotheke der Fastenklinik Birkner, einer privaten Einrichtung, die vor zehn, fünfzehn Jahren zu einer Institution des Heilfastens geworden war.

Damals hatte Hans Birkner Fernsehsendungen moderiert, in denen Patienten mit Übergewicht, Diabetes und Bluthochdruck durch eine von ihm entwickelte Fastenkur von ihren gesundheitlichen Problemen befreit werden konnten. Das Medienecho war so groß, dass Birkner die Gunst der Stunde nutzte und eine pleitegegangene Privatklinik kaufte und renovierte. Seither sah man Birkner zwar nicht mehr regelmäßig im Fernsehen, aber er schaltete Anzeigen in allen gängigen Frauenzeitschriften, in denen er seine Fastenklinik bewarb. Maja erinnerte sich an einen dünnen, fröhlich lächelnden Mann von fünfzig Jahren mit klaren Augen hinter der randlosen Brille und einer hohen Stirn, über der das blonde Resthaar schon schütter wurde.

„Frau Ursinus?“, kam es vom anderen Ende der Leitung.

„Entschuldigen Sie bitte, ich war kurz in Gedanken. Ich erwarte tatsächlich einen Anruf aus Mannheim, aber nicht gerade von einem Anwalt.“ Dann erschrak sie. „Ihr … Ihr Mandant ist nicht mein Bruder Michael, oder?“

„Michael Ursinus? Ich habe zwar vor Kurzem mit ihm gesprochen, aber nein: Der Mann, den ich vertrete, ist Hans Birkner. Er ist des Mordes angeklagt, und ich wollte Sie um ein Gutachten bitten.“

Von draußen war Stimmengemurmel zu hören, und Christiane Adamek, die Maja am Tresen vertrat, streckte den Kopf zur Tür herein. Mit einer Geste gab Maja ihrer Chefin zu verstehen, dass sie gleich in den Verkaufsraum zurückkommen werde.

„Können wir das vielleicht heute Abend besprechen? Ich muss jetzt wieder nach vorn, hier ist gerade ziemlich viel los. Erkältungswetter …“

„Natürlich, natürlich, entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie während der Arbeit störe. Wann kann ich Sie denn erreichen?“

„Um sieben. Nein, lieber erst ab halb acht. Ginge das?“

„Aber sicher doch. Ich bin ja froh, dass Sie sich überhaupt Zeit für mich nehmen. Möchten Sie mir Ihre Handynummer geben?“

Maja nannte sie ihm, und während er sich verabschiedete, fiel ihr ein, was sie den Anwalt unbedingt noch hatte fragen wollen.

„Können Sie mir sagen, was mit Michael ist? Ich erreiche ihn seit …“

Sie verstummte. Der Anwalt hatte aufgelegt. Einen Moment lang erwog sie, die Rückruftaste zu drücken, dann beschloss sie, dass ihre Frage noch bis heute Abend warten konnte. Bis zum Ladenschluss hatte sie auch keine ruhige Minute mehr, um auch nur einen Gedanken an Michael und den Mannheimer Anwalt zu fassen.

 

Die Justizvollzugsanstalt Mannheim lag still in der fortschreitenden Dämmerung. Das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich in den Pfützen vor dem Torgebäude, das sich mit seinen Türmen trotzig gegen das widrige Wetter zu stemmen schien, und die nassen Mauersteine in ihren Braunschattierungen wirkten am Abend noch abweisender als tagsüber.

Hans Birkner lag auf seinem Bett und starrte an die Decke. Er sah den Sterbenden vor sich, erinnerte sich an die verzweifelten Stunden nach dem Tod des Mannes und die vergebliche Suche nach einem Ausweg.

Sein Anwalt war ein Ass, aber Birkner hatte kaum Hoffnung, dass das reichen würde, um ihm und seinem Fahrer Maxim, den ein anderer Anwalt aus Rappsteyns Kanzlei vertrat, eine Haftstrafe zu ersparen. Zu erdrückend wirkte das, was die Polizei an Indizien zusammengetragen hatte. Und in Verbindung mit dem Gutachten des Heidelberger Professors würde ihn niemand vom Vorwurf des Mordes freisprechen. Birkner war nicht einmal sicher, ob Rappsteyn noch an seine Unschuld glaubte. Die Gespräche mit ihm waren zuletzt eigenartig gewesen. Auch von dem zweiten Gutachten, das sein Anwalt erstellen lassen wollte, versprach er sich nicht viel. Wie sollte jemand etwas anderes herausfinden als Professor Fogl? Galt der nicht als der führende Experte auf seinem Gebiet?

Birkner lachte freudlos in sich hinein. Ausgerechnet Fogl hatte das Gutachten verfasst, einer von der alten Garde, von denen, die ihn als Pharmazeuten nie für voll genommen hatten und ihm den wirtschaftlichen Erfolg mit seiner Variante des Heilfastens nicht gönnten. Aber er hatte sich mit dem Gegenwind arrangiert, der ihm als Pharmazeut ins Gesicht blies, und einen neuen Weg eingeschlagen. Mittlerweile erinnerte er sich nur noch selten daran, wie abschätzig die lieben Kollegen über ihn gedacht und gesprochen hatten.

Auch auf seine jetzige Situation hatte er sich erstaunlich schnell eingestellt. In den Nächten tat er zwar manchmal kein Auge zu, weil ihm die Wände zu eng beieinanderstanden, weil durch das Fenster zu wenig Licht in den Raum fiel, weil er durch jedes Geräusch aufgeschreckt wurde, das im Gang vor seiner Zellentür ungewohnt laut widerhallte. Aber er ließ sich durch den monotonen Tagesablauf treiben, selbst an das Essen hatte er sich gewöhnt. Die Gefängnismitarbeiter behandelten ihn korrekt, einige sogar freundlich.

Den im Tagesplan vollmundig „Spaziergang“ genannten Rundgang über den Gefängnishof hatte er in den ersten Tagen noch als bedrückend empfunden, inzwischen sog er die Luft draußen begierig ein und störte sich auch nicht an Regen oder Schnee. Sein Fahrer Maxim Frank, der ebenfalls hier untergebracht war, kam vermutlich noch besser als er mit der U-Haft zurecht. Er hatte schon mehrmals hier eingesessen, und seine geradezu furchterregende Statur bewahrte ihn davor, dass andere Häftlinge Streit mit ihm suchten.

Maxim war ein guter Kerl, treu, loyal bis zur Selbstaufgabe. Aber seine Prognosen standen schlecht wegen seiner Vorstrafen, die auf die ihm vorgeworfene Tat passten wie die Faust aufs Auge. Birkner hätte ihm gern Mut gemacht, aber sie wurden voneinander ferngehalten.

Von einem Wärter hatte er erfahren, dass sich Maxim freiwillig für die Arbeit in der Gefängnisschlosserei gemeldet hatte. Birkner fand das gut. Es war zwar lange her, dass sein Fahrer seine Lehre abgeschlossen und einige Jahre im erlernten Beruf gearbeitet hatte, aber alles konnte er nicht vergessen haben, und er würde zupacken, sich körperlich verausgaben können. Das half ihm sicher dabei, seine Aggressionen im Griff zu behalten.

Was aber sollte Birkner gegen seine eigene innere Unruhe in den Nächten hinter Gittern unternehmen, gegen dieses Gefühl des Eingesperrtseins, das ja leider nicht nur ein Gefühl war? Kurz hatte er erwogen, sich für den Küchendienst zu melden, und er hatte halb gespannt, halb amüsiert darüber nachgedacht, ob das wohl jemandem gestattet wurde, dem die Staatsanwaltschaft Giftmord vorwarf. Doch weder hatte er Talent fürs Kochen, noch hatte er Lust, sich in dieser Einrichtung an irgendetwas zu binden, sich für irgendetwas zu engagieren, bevor er dazu gezwungen sein würde.

Und so hatte er sich für stilles Ausharren entschieden.

 

Die Wohnung war klein, aber praktisch geschnitten. Neben einem Bad und einem Schlafzimmer gab es ein geräumiges Wohnzimmer, in dem eine Küchenecke mit einer Theke abgetrennt war. Durch die bodentiefen Fenster und die Terrassentür blickte man in den Park, der die Klinik und die Wohngebäude umschloss. Diese Glasfront sorgte dafür, dass die Wohnung sehr hell war. Das machte sich sogar jetzt im Januar bemerkbar, wenn die Sonne früh unterging, weil dann die Laternen draußen im Park die Räume in ein sanftes gelbliches Licht tauchten.

Die meisten Apartments hatten denselben Grundriss, allerdings verfügten die Wohnungen in den oberen Geschossen über einen Balkon statt einer Terrasse. Jedes Wohngebäude bot außerdem zwei größere Wohnungen, die zusätzlich mit einem Kinderzimmer ausgestattet waren, sowie eine großzügige Penthouse-Wohnung, die für die Führungskräfte der Klinik reserviert war.

Von dort oben konnte man bis zu dem Haus schauen, in dem Dr. Birkner lebte. Michael Ursinus war die Sicht auf Birkners Heim durch einen der sanften Hügel versperrt, die das weitläufige Gelände der Fastenklinik prägten. Auch von seinem Labor aus, das im Untergeschoss der Klinik eingerichtet war, konnte er das Gebäude nicht sehen. Aber er war schon dort gewesen, an einem der Abende, an denen der Chef seine Mitarbeiter zu kleinen Feiern versammelte. Und auch den Blick aus einer der Penthouse-Wohnungen hatte er schon genießen dürfen: Dr. Florian Holsten, der als Chefarzt der Klinik fungierte und Birkner im Tagesgeschäft den Rücken freihielt, lud regelmäßig Gruppen von Mitarbeitern zu sich ins Penthouse von Gebäude vier ein, um der Stimmung in den Teams nachzuspüren, wie er es ausdrückte.

Michael hatte es gut getroffen mit seinem Job. Überwiegend nette Kollegen, interessante Aufgaben, und außer der Betriebswohnung bekam er dafür auch noch ein anständiges Gehalt. Natürlich hatten Holsten und die kaufmännische Leiterin Mariana Rombach für alle Beschäftigten nur beruhigende Worte, wenn es um die Zukunft des Unternehmens ging. Aber für den Fall, dass Birkner als Mörder verurteilt wurde, sah Michael schwarz für die Fastenklinik. Und wer würde ihm dann Arbeit geben? Wer außer Birkner würde über seine Drogensucht hinwegsehen, die er erst vor einem Jahr überwunden hatte?

Er lächelte traurig. Sein Blick streifte die kleine Plastikdose auf seinem Couchtisch, dann schob er sie etwas von sich weg. Noch ging es ohne. Stattdessen schenkte er sich großzügig Whisky nach und hielt das Glas in die Höhe. Es war kein besonders hochwertiger Whisky, aber immerhin beruhigte ihn der Alkohol ein wenig. Durch die golden schimmernde Flüssigkeit hindurch wirkte das Licht der Laternen draußen im Park wie gedämpft. Einen Moment war es ihm, als schiebe sich ein Schatten zwischen den Whisky und die Laterne, die seiner Terrasse am nächsten stand. Doch als er das Glas zur Seite nahm, war draußen niemand zu sehen.

Michael lehnte sich zurück, prostete dem leeren Zimmer zu und ließ einen großen Schluck durch seine Kehle rinnen.

 

Der Nieselregen hatte inzwischen aufgehört, und Maja ging auf einem Umweg nach Hause. Ihre Wohnung lag keine zweihundert Meter von der Apotheke entfernt, was für den Weg zur Arbeit zwar praktisch war, nach Feierabend aber nicht ausreichte, um den Kopf freizubekommen. Und so streifte sie noch eine Weile durch kleine Grünanlagen und leidlich ruhige Nebenstraßen, bevor sie das Haus betrat, in dem sie schon während des Studiums gelebt hatte. Im ersten Stock befand sich die WG, deren Hauptmieterin sie war. Unterwegs hatte sie eine Textnachricht von ihrem Freund Markus Brodtbeck erhalten, der in der Wohnung gegenüber lebte. Er würde noch eine Zeit lang im Kommissariat bleiben müssen und erst gegen halb neun heimkommen. Sie hatten inzwischen natürlich den Schlüssel für die Wohnung des jeweils anderen, aber Maja fühlte sich ohne Markus in dessen Räumen nicht wohl, also beschloss sie, auch diesmal in der WG auf ihn zu warten.

Im Wohnzimmer saßen ihre Mitbewohner beisammen und schöpften Suppe in ihre Teller. Es roch seltsam, und alle bedienten sich eher sparsam und nahmen dafür viel Brot. Daniel trug noch die Schürze, was alles erklärte. Er war ein begeisterter, aber lausiger Koch, und die anderen brachten es nicht immer übers Herz, ihm zu sagen, wie sehr ihm seine Gerichte missrieten.

„Setz dich, Maja“, sagte er und deutete strahlend auf den dampfenden Kochtopf. „Es ist noch genügend da, ich hol dir schnell einen Teller.“

In diesem Moment klingelte ihr Handy, und Maja war sehr dankbar für diese Möglichkeit, Daniels Einladung zu entkommen. Sie hielt das Telefon in die Höhe, machte eine entschuldigende Miene und verschwand in ihrem Zimmer.

„Rappsteyn hier“, meldete sich der Anwalt, nachdem sie es ein paarmal hatte klingeln lassen. „Rufe ich ungelegen an?“

„Nein, gar nicht.“

„Ich hatte schon erwähnt, dass ich Hans Birkner vertrete und dass er des Mordes angeklagt ist.“

„Mein Bruder arbeitet für Ihren Mandanten.“

„Ich weiß.“

„Und ich erreiche ihn seit einiger Zeit nicht mehr. Hat das womöglich mit Ihrem Fall zu tun? Und können Sie mir sagen, ob es Michael gut geht?“

„Ich habe vorgestern mit ihm gesprochen, aber er hat nichts mit der Anklage gegen meinen Mandanten zu tun. Zumindest habe ich bisher keine Hinweise in diese Richtung bekommen. Wie es ihm im Moment geht … ich fürchte, die Geschichte um Herrn Birkner hat ihn sehr mitgenommen.“

„Ich dachte, er hat nichts mit der Mordanklage zu tun?“

„Das nicht, aber … wie soll ich es sagen? Ihr Bruder und die anderen Beschäftigten der Fastenklinik machen sich Sorgen um ihre Arbeitsplätze. Wenn Herr Birkner verurteilt wird und ins Gefängnis muss, ist die Zukunft der Klinik ungewiss, um es vorsichtig auszudrücken. Und selbst wenn er freigesprochen wird: Diese Anklage ist ganz sicher nicht die Form von Öffentlichkeit, die einer solchen Einrichtung zuträglich ist.“

„Das kann ich mir vorstellen. Sie sagten, dass das alles meinen Bruder sehr mitgenommen hat. Was genau wollten Sie damit andeuten?“

„Ich kenne Ihren Bruder nicht näher, aber als ich mit ihm gesprochen habe, machte er auf mich einen sehr verzweifelten Eindruck. Und ich könnte mir vorstellen, dass ihn die Angst um seinen Arbeitsplatz … aus der Bahn werfen könnte.“

Maja wusste nur zu gut, wie Michael in den vergangenen Jahren mit Belastungen umgegangen war. Sie versank in Gedanken, bis Rappsteyn sie wieder in die Gegenwart zurückholte.

„Ich hatte erwähnt, dass ich Sie gern mit einem Gutachten beauftragen würde.“

„Im Zusammenhang mit der Mordanklage?“

„Ja. Der Mann, der zu Tode gekommen ist, starb an einem Wirkstoff, der aus Schierling gewonnen wird.“

„Aus welcher Art?“

„Geflecktem Schierling.“

„Oh, das ist kein schöner Tod“, entfuhr es Maja. „Das Coniin verursacht Lähmungen, die sich allmählich von den Füßen nach oben ausbreiten. Man stirbt am Ende durch Atemlähmung, und der Tod tritt bei vollem Bewusstsein ein.“

„So habe ich es auch verstanden. Sokrates soll sich mit einem Schierlingsbecher selbst hingerichtet und während seines Sterbens bis zum Schluss mit seinen Schülern gesprochen haben.“

„Na ja, da sollten Sie die Schilderung von Platon nicht allzu wörtlich nehmen. Er wollte das Sterben seines Lehrers sicher möglichst ästhetisch beschreiben, da hätten verzerrte Gesichtszüge und einige unappetitliche Begleiterscheinungen das positive Bild nur gestört. Ich hätte an Sokrates’ Stelle lieber Wasserschierling genommen. Das Cicutoxin, das darin am stärksten wirkt, sorgt wenigstens dafür, dass der Sterbende während der schlimmsten Krämpfe und ganz am Ende das Bewusstsein verliert.“

„Freut mich zu hören, dass ich die Richtige angerufen habe“, bemerkte der Anwalt.

„Ich vermute, dass Sie sich gründlich über mich informiert haben und deshalb wissen, dass ich über pflanzliche Wirkstoffe promoviert habe.“

„Natürlich. Und auch wenn ich an Ihrer Arbeit nicht alles verstanden habe, scheinen Sie sehr gut über die Wirkung der Stoffe Bescheid zu wissen, auch über die Zeiträume, in denen sich diese Wirkung entfaltet. Und genau darauf würde ich Sie bitten, in Ihrem Gutachten das hauptsächliche Augenmerk zu richten. Gesetzt den Fall, Sie würden den Auftrag annehmen. Hätten Sie denn überhaupt Zeit?“

„In den vergangenen Monaten hätte ich, was das betrifft, sofort zugesagt. Aber ich habe morgen ein wichtiges Gespräch, und wenn das positiv verläuft, könnte es sein, dass mich mein Beruf in der nächsten Zeit zu sehr in Anspruch nimmt.“

„Wollen Sie wieder in die Forschung zurück?“ Maja stutzte, und lachend fügte der Anwalt hinzu: „Die Apotheke, in der Sie arbeiten, hätte Sie in den vergangenen Monaten nicht gehindert, den Auftrag anzunehmen – das haben Sie gerade selbst gesagt. Bleibt meines Erachtens nur der Wechsel in eine Forschungsabteilung, vielleicht ja sogar wieder an der LMU, wo Sie früher schon geforscht hatten.“

Rappsteyns Annahmen irritierten sie, aber er hatte recht: Wer ihren Werdegang recherchiert hatte, musste diese Schlussfolgerung ziehen. Tatsächlich hatte sie morgen einen Bewerbungstermin an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, an der sie früher geforscht hatte und wo nun die Leitung einer neuen Forschungsgruppe zu besetzen war.

„Gut geraten, Herr Rappsteyn. Vermutlich gibt es vor Gericht leichtere Gegner als Sie. Herr Birkner wird froh sein, Sie als Anwalt zu haben.“

„Danke für die Blumen, Frau Ursinus. Aber ich kann vor Gericht argumentieren und plädieren, wie ich will: Wenn es die Indizien, die Zeugenaussagen und die Gutachten nicht hergeben, stehe auch ich auf verlorenem Posten.“

„Was müsste mein Gutachten denn hergeben?“

„Das kann ich Ihnen natürlich schlecht vorschreiben. Ich würde nur gern zu einem ganz bestimmten Punkt eine zweite Meinung einholen – denn genau in diesem Punkt kommt das Gutachten eines anderen Sachverständigen aus Sicht meines Mandanten leider zu einem sehr ungünstigen Ergebnis.“

„Ach, es gibt schon ein Gutachten?“

„Ja, von Professor Hubert Fogl aus Heidelberg.“

„Den kenne ich natürlich. Hinter mir im Regal steht ein Lehrbuch von ihm, ein Standardwerk in meinem Fach. Ich habe einige seiner Vorlesungen besucht, als er mal Gastdozent an der LMU war. Fogl ist eine Koryphäe in der Pharmazie, und gerade zu pflanzlichen Wirkstoffen hat er viel geforscht. Nur …“

„Nur?“

„Nun, manche meiner Kollegen berauschen sich mit den Jahren an ihrer Arbeit und gehen neue Projekte nicht mehr hinreichend offen an.“

„Wie meinen Sie das?“

„Sie als Anwalt kennen die Gesetze und müssen Ihre Argumentationen manchmal an Gesetzesänderungen oder neue Auslegungen durch die Gerichte anpassen – aber letztendlich leben Sie von der Gewissheit, Ihr Fachgebiet durchdrungen zu haben. Und je klarer Sie Ihren Standpunkt vertreten, je unerschütterlicher Sie auftreten und je selbstbewusster Sie sich für Ihre Mandanten einsetzen, umso besser.“

„So könnte man es ausdrücken. Ist das in Ihrem Bereich wirklich so viel anders?“

„Wissenschaftliches Arbeiten heißt vor allem, Zweifel zuzulassen, einmal gefasste Meinungen immer wieder zu überprüfen und Ergebnisse auch mal über Bord zu werfen, wenn sie sich als falsch erweisen. In der Wissenschaft sollte es kein Problem sein, sich zu irren, weil niemals irgendjemand alles über ein Fachgebiet weiß. Vieles bleibt im Fluss, und viele Überzeugungen, die jahrzehntelang als richtig galten, können sich durch neue Erkenntnisse als falsch herausstellen. Dafür muss man offen bleiben, und daran kann einen ein allzu ungetrübtes Selbstbewusstsein hindern.“

„Wenn Sie Ihr Gespräch morgen ähnlich engagiert führen, sollte Ihnen die gewünschte Stelle sicher sein. Ich drücke Ihnen die Daumen, auch wenn es für mich eher schlecht wäre. Ich hatte mir viel von Ihrer Expertise versprochen.“

„Welcher Punkt an Fogls Gutachten bereitet Ihnen denn so großen Kummer?“

„Es ist genau so, wie Sie eben sagten: Er hat in einem Punkt keine Zweifel, während zum Beispiel der Bericht der Rechtsmedizin auch andere Schlüsse zulassen würde.“

„Sie hatten vorhin erwähnt, dass es um den Zeitraum geht, in dem Stoffe wirken. Inwiefern ist das wichtig für Ihren Mandanten?“

Rappsteyn lachte leise. „Sollte es Ihre Zeit zulassen, hätte ich Sie jetzt am Haken, stimmt’s?“

„Stimmt“, gab sie zu und hatte fast das Gefühl, der Anwalt konnte am anderen Ende hören, wie sie grinste.

„Darf ich Ihnen etwas vorschlagen?“, fragte er.

„Kommt drauf an.“

„Ich könnte Ihnen Fogls Gutachten mailen, dazu den Bericht der Rechtsmedizin und einige Unterlagen, aus denen die Begründung für die Mordanklage gegen meinen Mandanten hervorgeht. Sie schauen sich das Material an, wenn Sie mögen und Zeit dafür finden – und vielleicht reicht es Ihnen ja, mir eine unverbindliche Einschätzung zu geben, ob es noch andere Schlussfolgerungen gäbe als die von Professor Fogl. Ich kann Ihnen dafür natürlich eine Aufwandsentschädigung anbieten.“

„Wenn ich nicht die Zeit für ein richtiges Gutachten finde, werde ich Ihnen auch nichts berechnen.“

„Herr Birkner ist vermögend genug, um Ihnen …“

„Das glaube ich gern, aber ohne Gutachten schreibe ich keine Rechnung. Aber ich schau mir das Material gern an und maile Ihnen eine kurze Einschätzung, das sollte kein Problem sein. Das Thema interessiert mich sehr.“

„Das freut mich.“

„Aber ich habe trotzdem etwas, das Sie im Gegenzug für mich tun können.“

„Und das wäre?“

„Sie suchen meinen Bruder auf und sprechen mit ihm. Vielleicht bringen Sie ihn dazu, dass er mich anruft oder zumindest meine Anrufe annimmt – oder Sie berichten mir, wie es ihm geht.“

„Ich bin kein Arzt oder Apotheker, aber das kann ich natürlich gern machen. Sobald ich ihn gesprochen habe, gebe ich Ihnen Bescheid. Wann ist denn Ihr Termin morgen?“

„Um zehn Uhr. Aber für Infos zu Michael bin ich immer erreichbar.“

„Wenn ich Ihre Einschätzung zum zeitlichen Ablauf des Abends, für den mein Mandant des Mordes beschuldigt wird, irgendwann in den nächsten fünf, sechs Tagen bekommen könnte, wäre es optimal.“

„Das ist kein Problem. Ich habe mir schon etwas Zeit freigeschaufelt, denn ich wollte ohnehin in den nächsten Tagen mal zu Michael fahren. Vor allem, wenn ich ihn weiterhin nicht ans Telefon bekomme. Ich mache mir wirklich Sorgen um meinen Bruder.“

 

Es hatte Jahre gegeben, in denen Michael teuren Whisky getrunken hatte. Sein Vater hatte eine Schwäche für exquisite Tropfen, und wann immer er während des Pharmaziestudiums nach Hause gekommen war, durfte er sich aus seinen Beständen bedienen. Wie die familieneigene Apotheke in Füssen, das erste Haus am Platz, sollte irgendwann auch die Whiskysammlung auf ihn übergehen. Doch als seinem Vater klar wurde, dass sein Erstgeborener auf keinen Fall seine Nachfolge antreten wollte, wies er ihm die Tür.

Als guter Student und begabter Pharmazeut hatte sich Michael keine Sorgen um seine berufliche Zukunft gemacht. Er war überzeugt gewesen, dass er leicht eine angemessene Stelle finden und an einer Universität oder in der Forschungsabteilung eines Pharmaunternehmens Karriere machen würde. Doch es stellte sich heraus, dass die Kontakte seines Vaters weit reichten. Ein ums andere Mal wurde er abgelehnt, oft genug von dessen alten Studienfreunden, und nicht selten wurde ihm unter der Hand der dringende Rat gegeben, sich mit dem Senior auszusöhnen und sein Angebot anzunehmen.

Michael Ursinus war stolz genug gewesen, das auszuschlagen. In anderer Hinsicht reichte sein Stolz allerdings nicht so weit. Er stellte Drogen her, hielt sich mit deren Verkauf über Wasser und konsumierte das Zeug auch selbst. Seine Eltern zeigten ihm die kalte Schulter, wenn er sich in einem schwachen Moment dazu aufraffte, sie um Geld zu bitten. Nur seine Schwester hielt die ganze Zeit über den Kontakt zu ihm, griff ihm manchmal unter die Arme und unternahm Versuche, ihn aus seiner Lethargie zu reißen, leider ohne Erfolg.

Bis ihn eines Tages Ines anrief. Seine Handynummer aus Studienzeiten galt nicht mehr, aber sie hatte Maja ausfindig gemacht, und seine Schwester stellte den Kontakt gern her. Vor allem, als sie den Grund von Ines’ Anruf erfuhr. Michaels Kommilitonin hatte sich um eine Stelle in der Apotheke einer Fastenklinik in der Nähe von Mannheim beworben, doch sie wurde trotz bester Referenzen und trotz ihres tadellosen Lebenslaufs abgelehnt.

„Genau genommen bin ich sogar wegen meines Lebenslaufs abgelehnt worden“, hatte Ines ihm am Telefon erzählt. „Der Leiter der Klinik hat sich ausführlich mit mir unterhalten, aber es stand wohl schon vor meinem Eintreffen fest, dass ich die Stelle nicht bekomme.“

„Warum das denn?“

„Er erklärte mir, dass fachlich nichts gegen mich sprechen würde, dass er in seiner Einrichtung aber am liebsten Menschen einstellen möchte, die auf dem freien Arbeitsmarkt nur noch schlechte Chancen haben – weil sie zum Beispiel eine Gefängnisstrafe verbüßt oder in der Vergangenheit Probleme mit Drogen gehabt hätten. Erst hielt ich ihn deswegen für einen Spinner, aber er erzählte so beseelt von seinem Team und davon, wie sich alle geradezu für die Fastenklinik zerreißen würden, dass ich ihm seine Begründung schließlich abgekauft habe. Und … wie soll ich sagen … von Maja weiß ich, dass du nach wie vor Drogenprobleme hast.“

Sie legte eine kurze Pause ein, aber er nahm ihre Bemerkung schweigend hin.

„Magst du dich nicht mal in dieser Klinik bewerben? Die suchen noch immer einen Apotheker, und wenn du den Hintern hochbekommst und es schaffst, die Finger von dem Zeug zu lassen, können die dort keinen Besseren bekommen als dich.“

„Ich weiß nicht recht …“

„Und du hättest ja auch die passende Vorgeschichte zu bieten“, fügte Ines hinzu und lachte leise.

Michael lachte ebenfalls und ließ sich die Kontaktdaten geben.

Das lag nun etwa ein Jahr zurück. Er hatte sich beworben, hatte es irgendwie geschafft, Hans Birkner zu vermitteln, dass er in Kürze wieder auf dem Damm sein und seine Sucht in den Griff bekommen würde. Ein paar Wochen war es ihm elend ergangen, aber Birkner ließ ihm die nötige Zeit, und seit er seinen Dienst angetreten und seine Wohnung auf dem Klinikgelände bezogen hatte, erledigte Michael seine Arbeit zu Birkners Zufriedenheit. Er gab keinen Anlass zur Klage, er blieb clean, und erst die Mordanklage gegen seinen Chef hatte ihn aus der Bahn geworfen.

Genau genommen war er schon einen Tag vor Birkners Verhaftung etwas verunsichert gewesen. Eines Abends im November war sein Chef nach Dienstschluss bei ihm aufgekreuzt, mit zwei Flaschen Whisky, um sich „bei einem Gläschen Scotch“ mit ihm über pflanzliche Wirkstoffe auszutauschen. Anfangs hatte Michael nur genippt und sich gefragt, warum sein Vorgesetzter ihm Alkohol mitbrachte, wo er doch wusste, dass er früher Probleme mit allen Arten von Drogen gehabt hatte. Auch Birkners Fragen hatten ihn immer argwöhnischer gemacht, und er hatte den Eindruck gewonnen, als wolle ihn der Chef über seine eigenen Erfahrungen mit selbst hergestellten Drogen aushorchen. Deshalb hatte er immer zögerlicher geantwortet. Das fiel Birkner irgendwann auf, und er versicherte Michael, dass sich das Geheimnis über sein Vorleben bei ihm in guten Händen befinde – er drückte das allerdings etwas eigenartig aus, als ob er seinen Angestellten noch einmal daran erinnern wollte, wie sehr er ihm durch sein Stillschweigen verpflichtet sei. Dann hatte er ihnen beiden großzügig nachgeschenkt und das Gespräch allmählich auf pflanzliche Gifte gelenkt. Erst war Michael erleichtert gewesen, weil es wohl doch nicht um Rauschmittel ging, doch die Fragen seines Chefs wurden immer konkreter.

Irgendwann setzten Michaels Erinnerungen an diesen Abend aus. Am nächsten Morgen war er mit einem ordentlichen Brummschädel erwacht und hatte festgestellt, dass er offenbar einen Filmriss hatte. Später an diesem Tag war ihm wieder eingefallen, dass Birkner ihn am Vorabend nach der Wirkweise von Coniin gefragt hatte. Als er auf dem Heimweg von der Apotheke, in der er auch samstags gern bis in den späten Nachmittag arbeitete, auf ein paar Kollegen von der Fastenklinik traf, erfuhr er, dass Birkner soeben verhaftet worden sei – und dass ihn die Polizei mit dem Mord an einem Mannheimer Geschäftsmann in Verbindung brachte, der an einer Art Schierlingsbecher gestorben war.

Michael hatte sich auf die Terrasse seiner Wohnung gesetzt und im Internet nach einer entsprechenden Meldung gesucht. Auf der Website der Regionalzeitung hatte er einen kurzen Artikel mit der Information gefunden, dass der Geschäftsmann nach Angaben der Polizei am Donnerstag vergiftet worden sei. Doch warum war Birkner dann am Freitagabend zu ihm gekommen? Und weshalb hatte er ihn mit dem Verweis auf seine frühere Drogensucht zur Verschwiegenheit gezwungen? Michael erinnerte sich nicht mehr daran, was sie zum Thema Coniin besprochen hatten, was er gefragt worden war und was er geantwortet hatte. Er hatte sich bis weit in die Nacht hinein den Kopf zerbrochen, aber es wollte ihm nicht mehr einfallen. Und weil die zweite Flasche, die Birkner ihm mitgebracht hatte, noch nicht leer gewesen war, hatte er sich mit dem restlichen Whisky auch am nächsten Abend abgeschossen, erst aus Ärger über sein löchriges Gedächtnis, später aus Sorge um seinen Arbeitsplatz.

Das alles war nun schon zwei Monate her. Michael nahm einen kräftigen Schluck von dem billigen Whisky, der ihm half, die bedrückenden Gefühle zu dämpfen. In der Flasche waren nur noch zwei, drei Fingerbreit der golden schimmernden Flüssigkeit, die er mit einer fahrigen Bewegung ins Glas goss. Auf einmal war es ihm, als habe er vom Flur her ein Geräusch gehört. Umständlich drehte er sich in seinem Sessel herum, aber im Flur war es dunkel und still. Die Tür zum Schlafzimmer stand einen Spalt offen, aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern, ob sie vorhin geschlossen gewesen war.

Er setzte sich wieder bequemer hin, kickte die leere Flasche mit dem linken Fuß weg und legte seine Beine auf den Tisch. Mit dem Glas in den Händen ließ er den Kopf auf die Lehne sinken und atmete tief und ruhig.

Einen Moment lang dachte er darüber nach, ob die Schlafzimmertür vorhin offen oder geschlossen gewesen war, dann gab er auf. Es war ihm schlichtweg entfallen. Doch das störte ihn nicht weiter.

 

Das Telefonat mit dem Anwalt beschäftigte Maja noch eine Weile. Sie checkte ihre Nachrichten, doch Markus hatte sich noch immer nicht gemeldet. Also war noch Zeit für einen Kaffee, vielleicht auch für einen kleinen Snack. Im Wohnzimmer saßen die anderen noch zusammen, sie hatten den Topf und die Suppenteller in die Küche getragen und waren mittlerweile zu Wein und Kuchen übergegangen.

„Wir haben noch Suppe übrig“, sagte Daniel. „Nimm dir ruhig, steht alles in der Küche.“

Der unangenehme Geruch, der im Raum hing, und die großen Kuchenstücke auf den Tellern der anderen zeigten ihr, dass Daniels Suppe nicht sonderlich gelungen war.

„Ach, schade, gerade habe ich mit Markus verabredet, dass wir nachher zusammen kochen“, behauptete sie.

Die anderen grinsten, wurden aber schnell wieder ernst, als sich Daniel zu ihnen umdrehte. Maja verschwand in der Küche und zog die Tür hinter sich zu. In der Suppe schwamm allerlei Unansehnliches. Sie legte den Deckel auf den Topf und riss das Fenster auf, dann machte sie sich einen Kaffee. Bald breitete sich der Duft der frisch gemahlenen Kaffeebohnen in der Küche aus. Sie füllte einen Becher mit Kaffee, setzte sich an den Küchentisch, gab Zucker in ihre Tasse, rührte langsam um.

Professor Fogl hatte ein Gutachten erstellt, und ein Anwalt bat sie, die Arbeit dieser Koryphäe zu überprüfen und gegebenenfalls zu kritisieren. Das schmeichelte ihr, und sie hatte auch gar kein schlechtes Gewissen, wenn sie sich vorstellte, wie die kleine Maja Ursinus dem großen Fogl Nachlässigkeiten oder gar Fehler nachwies. Eigentlich war sie nicht auf Ruhm und Ehre aus, die Forschung an der LMU hatte ihr einfach Freude bereitet. Aber dass sie die Stelle verloren hatte, nagte nach wie vor an ihr. Sie wusste, dass ihr Vater seine Finger im Spiel gehabt hatte, der sie unbedingt zur künftigen Inhaberin der Familienapotheke in Füssen machen wollte. Manfred Ursinus hatte ebenfalls Pharmazie an der LMU studiert, und Professor Zeisinger, der letztendlich ihre Entlassung betrieben hatte, war ein alter Studienfreund. Sie hatte noch nicht viel fachliche Kritik einstecken müssen, ihre Noten waren stets außergewöhnlich und ihre Forschung größtenteils erfolgreich gewesen – umso mehr schmerzte dieser eine Knick in ihrer Karriere.

Natürlich konnte sie sich damit trösten, dass ihr Vater am Ende nicht seinen Willen bekommen hatte. Bevor sie in Füssen den elterlichen Betrieb übernahm, arbeitete sie lieber in der kleinen Apotheke in Laim, auch wenn sie dort ziemlich unterfordert war. Doch als sie von der neuen Forschungsgruppe erfahren hatte, in der mit pflanzlichen Wirkstoffen gearbeitet werden sollte, war sie sofort elektrisiert gewesen. Für morgen war nun das erste Bewerbungsgespräch angesetzt. Sie hatte nicht herausgefunden, wem sie gegenübersitzen würde, aber sie musste sich fachlich vor niemandem verstecken, und die meisten früheren Kollegen an der LMU hatten eine gute Meinung von ihr.

Ihr Handy summte, eine Textnachricht von Markus erschien auf dem Display.

„Hast du schon gegessen?“, schrieb er. „Andernfalls würde ich auf dem Heimweg noch kurz was beim Italiener holen.“

Mit einem breiten Grinsen tippte sie die Antwort.

„Lass uns lieber zusammen kochen, sonst muss ich Daniels Suppe essen!“

„Pasta?“

„Pasta!!!“

Eine Dreiviertelstunde später war er zu Hause und rief sie an. Er hatte Pilze, Parmesan und Spaghetti gekauft, und sie zauberten gemeinsam zu einem ersten Glas Rotwein ein einfaches, aber leckeres Abendessen, ließen es sich zum zweiten Glas schmecken, und zum Espresso erzählte sie ihm von den Anrufen des Anwalts. Markus hörte sich alles in Ruhe an, bevor er seine Hand auf ihre legte.

„Michael wird das schon hinkriegen“, sagte er beruhigend. „Er ist von den Drogen losgekommen, und selbst wenn er jetzt für kurze Zeit einen Rückfall erleiden sollte: Er wird es auch ein zweites Mal schaffen. Dein Bruder ist ein Kämpfer.“

„Aber nur, wenn er einen Sinn darin sieht, zu kämpfen. Jahrelang hat er in diesem Loch im Gewerbegebiet gehaust, und ich hatte schon die Hoffnung aufgegeben, dass er sich noch einmal berappeln könnte.“

„Dann hat er diese Chance in der Fastenklinik erhalten – und ich staune heute noch, wie schnell er dafür auf die Füße gekommen ist. Das schafft nicht jeder, Maja.“

„Ich weiß, und ich bin auch sehr stolz auf meinen Bruder. Aber genau der Job, der ihm damals die Kraft gegeben hat, ist jetzt in Gefahr. Oder zumindest muss Michael das befürchten.“

„Jetzt wart mal ab, was dir der Anwalt morgen berichtet. Du glaubst ihm doch, dass er nach Michael sieht?“

„Ja. Damit wird sich Rappsteyn dafür revanchieren, dass ich mir die Unterlagen ansehe.“

„Hat er sie dir denn schon geschickt?“

Maja zuckte mit den Schultern.

„Eigentlich wollte ich mir meine Mails erst morgen früh wieder anschauen und lieber einen ruhigen Abend mit dir verbringen.“

„Eigentlich?“

„Na ja, Michael geht mir halt nicht aus dem Kopf …“

Markus erhob sich, stellte sich hinter Maja und legte ihr die Hände auf die Schultern.

„Wollen wir doch mal sehen, ob ich dich nicht doch auf andere Gedanken bringen kann.“

 

Hans Birkner wusste nicht, wodurch er aufgewacht war, aber als er im Dunkeln die Augen öffnete und wenige Zentimeter neben sich die kühle Wand der Zelle spürte, schnürte es ihm für einen Moment die Luft ab. Er musste sich zwingen, tief ein- und auszuatmen. Sein Puls raste, und er rollte sich herum, schwang die Beine über die Bettkante, setzte sich auf und massierte seine Schläfen.

Allmählich wurde das Pochen des Blutes wieder leiser, und zwischen den Pulsschlägen nahm er andere Geräusche wahr. Irgendwo hallten die Schritte eines Wärters wider, aus einer Zelle war metallisches Klopfen zu hören, zwei-, dreimal, und irgendjemand warf sich auf seiner Pritsche stöhnend hin und her. Die Laute waren ihm inzwischen halbwegs vertraut, aber noch immer konnte er nicht einschätzen, wie weit entfernt von seiner Zelle die Geräuschquellen waren. Stöhnte der Häftling nebenan, oder brachen sich die Laute kreuz und quer durch die Etagen und Flure, bevor sie ihn erreichten?

Seine Augen gewöhnten sich langsam an das schwache Licht, das von draußen in seine Zelle drang. Die Konturen der Möbel waren zu erkennen, die gegenüberliegende Wand dagegen blieb im Ungefähren – aber das Gefühl, er brauche nur seinen Arm auszustrecken, um die Wand mit den Fingerspitzen zu berühren, machte ihm sofort wieder das Atmen schwerer.

Er versuchte sich abzulenken, und fast gelang es ihm, sich in Gedanken nach Hause zu versetzen, in sein großräumiges Schlafzimmer, wo er nachts gern mit einem Glas Wein am Fenster stand und auf die Lichter von Heidelberg schaute, die in der Ferne blinkten. Würde er dort jemals wieder stehen? Würde sein Lebenswerk ohne ihn Bestand haben? Würden seine leitenden Angestellten, der Chefarzt, die kaufmännische Leiterin, bis zu seiner Rückkehr warten, auch wenn bis dahin Jahre vergingen, oder würden sie sich vor allem um ihr eigenes Fortkommen kümmern? Und was würde dann mit seiner Klinik geschehen?

Der Gedanke, das alles zu verlieren, schmerzte ihn und riss ihn für kurze Zeit aus der Lethargie, die ihn nach seiner Verhaftung allmählich befallen hatte. Aber was sollte sein Anwalt noch ausrichten in dieser vertrackten Lage? Birkner kannte sich selbst ein wenig in der Materie aus, und obwohl pflanzliche Gifte nicht sein Spezialgebiet gewesen waren, war er als promovierter Pharmazeut in dieser Hinsicht natürlich auch kein Laie. Außerdem hatte er sich mit Michael Ursinus besprochen, der nicht nur als Apotheker für ihn arbeitete, sondern sich mit pflanzlichen Wirkstoffen eingehend beschäftigt hatte, mit manchen mehr, als seiner Gesundheit und seiner Karriere zuträglich gewesen war. Aber die Meinung eines ehemaligen Drogensüchtigen und die Behauptung eines angeblichen Mörders konnten nun mal wenig ausrichten gegen das Gutachten einer Koryphäe wie Professor Dr. Hubert Fogl.

Erneut massierte Birkner sich die Schläfen und schloss probeweise die Lider. Als vor seinem geistigen Auge nur dunkle Farbflecken auftauchten, aber keine Bilder von dem Sterbenden oder von seinem panischen Mitarbeiter Maxim Frank, ließ er sich vorsichtig zurück auf sein Bett sinken, zog die Decke bis zu den Schultern und wartete darauf, dass er noch einmal einschlummerte.

 

Das gelbliche Licht der Laternen draußen im Park der Fastenklinik erhellte die Wohnung genug, dass der Mann sich in der Wohnung auch ohne Hilfsmittel zurechtfand. Ganz vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, lautlos und angespannt.

Als er ins Wohnzimmer schlich, stellte sich heraus, dass alle Vorsichtsmaßnahmen überflüssig gewesen waren. Der Bewohner saß in einem Sessel und schnarchte, auf dem Boden unter ihm lag ein leeres Glas. Eine ebenfalls geleerte Flasche war ein Stück weiter weggerollt, neben den auf dem Tisch gelagerten Füßen stand eine kleine Plastikdose ohne Etikett.

Der Eindringling trug an beiden Händen Einmalhandschuhe. Er lüftete den Deckel – die Dose war etwa zur Hälfte mit kleinen Kapseln gefüllt – und schloss ihn wieder. Dann zog er ein Fläschchen aus der Tasche, hielt es direkt unter die schlaffe Rechte des Schlafenden und drückte vorsichtig dessen Fingerkuppen gegen die Glasfläche. Anschließend ließ er das mitgebrachte Fläschchen und die Dose in einem kleinen Plastikbeutel verschwinden.

Der Schlafende regte sich, röchelte leise und legte den Kopf mit einem kaum hörbaren Seufzen zur Seite. Der nächtliche Besucher steckte den Beutel schnell in die Tasche und arbeitete sich rückwärts langsam in den Flur hinaus. Im Schlafzimmer deponierte er das Fläschchen in einer Schublade unter einigen Papieren, in der Küche verstaute er die Plastikdose ganz hinten in einem Schrankfach. Kurz darauf zog er die Wohnungstür ganz leise hinter sich ins Schloss.


2

Es war eine kurze Nacht für Maja. Markus und sie waren spät eingeschlafen, und weil er im Kommissariat noch in Ruhe über einigen Details des aktuellen Falles brüten wollte, bevor die Kollegen eintrafen, stellte er den Wecker auf halb sechs. Markus nahm sich immerhin noch die Zeit, mit ihr zu frühstücken, aber dann flitzte er die Treppe hinunter, und Maja ging in ihre Wohnung, um zu duschen. Von ihren Mitbewohnern war um diese Uhrzeit natürlich noch nichts zu sehen, und sie schlich auf Zehenspitzen vom Bad in ihr Zimmer, um niemanden zu wecken.

Neugierig checkte sie ihre Mails. Das Material zu dem Mannheimer Mordfall war eingegangen, Rappsteyn hatte ihr einige Dateien zusammengestellt, die sie aber nur flüchtig sichtete. Sie würde sich nach ihrem Bewerbungsgespräch darum kümmern. Nebenbei registrierte sie, dass der Anwalt mit vollem Namen Veit Rappsteyn hieß und offenbar Mitinhaber einer Kanzlei namens Rappsteyn/Moeller in Schwetzingen war.

Sie machte Kaffee und setzte sich mit einem Becher an den Küchentisch, während sie noch einmal die Unterlagen zu der ausgeschriebenen Stelle an der Uni durchblätterte. Das Forschungsthema der Arbeitsgruppe, die sie leiten wollte, fiel genau in ihren Fachbereich, allein schon ihre Doktorarbeit wies sie dafür als besonders qualifiziert aus. Also sollte nachher im Gespräch eigentlich nichts schiefgehen, ihre Chancen auf den Posten waren gut.

Nachdem sie sich in Gedanken alle möglichen Antworten auch auf unkonventionelle Fragen zurechtgelegt hatte, stand sie eine Zeit lang vor dem Kleiderschrank und wählte und verwarf verschiedene Outfits. Am Ende hatte sie sich für schwarze Jeans, eine hellblaue Bluse und einen locker fallenden schwarzen Blazer entschieden. Sie kam mit dem Auto gut durch den morgendlichen Verkehr, und als sie den Unicampus am Klinikum Großhadern erreichte, war sie fast eine halbe Stunde zu früh dran.

Sie suchte die Nummer des Raums heraus, in dem sie sich einfinden sollte. Auf den Fluren herrschte reges Treiben, und nachdem sie zehn Minuten wartend in der Nähe des Aufzugs totgeschlagen hatte, ging sie das letzte Stück den Gang entlang. Neben der Tür wartete sie bis eine Minute vor zehn, dann klopfte sie.

„Herein“, ertönte drinnen eine Männerstimme.

Sie zog die Tür auf, betrat den Raum – und sah, wer sie erwartete. Professor Roland Zeisinger war früher gelegentlich in Füssen zu Gast gewesen. Er hatte mit ihrem Vater studiert, und die beiden waren Freunde geblieben. Und er hatte – davon war Maja nach wie vor überzeugt – seine Finger im Spiel gehabt, als sie vor einigen Jahren ihre Stelle an der LMU verloren hatte. Zeisinger saß allein hinter einem Tisch, links und rechts von ihm waren Stühle frei, aber als sie ihn nach einem kurzen Blick auf die leeren Plätze fragend ansah, schüttelte er nur den Kopf und wies ihr gönnerhaft den einzelnen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches zu.

„Nehmen Sie bitte Platz, Frau Ursinus“, begann er, ohne ihr einen Handschlag anzubieten, „Sie müssen nicht auf meine Kollegen warten. Ich kenne Sie ja schon eine ganze Weile, und wie Sie wissen, bin ich auch Ihrem Vater seit Jahren verbunden. Die Kollegen werden sich also ganz auf meine Einschätzung verlassen und sich meiner Entscheidung anschließen, soweit sie Sie betrifft.“

Maja legte ihre Mappe mit Lebenslauf und Zeugnissen vor sich ab, ließ sie aber geschlossen. Zeisinger beobachtete es mit einem Lächeln, das ein wenig mitleidig wirkte.

„Dann erzählen Sie mal, wie Sie auf die Idee gekommen sind, sich für diese anspruchsvolle Stelle zu bewerben.“

Er lehnte sich etwas zurück und verschränkte die Arme. Maja fühlte Wut in sich aufsteigen, aber sie wollte ihrem Gegenüber nicht die Genugtuung gönnen, vor diesem unerwartet schwierigen Gespräch zu kneifen. Also schluckte sie ihren Ärger hinunter, räusperte sich und begann zu erklären, warum sie sich bewarb, was sie an dem Projekt spannend fand und warum sie sich für besonders geeignet hielt. Immerhin: Zeisinger hörte sich alles an, unterbrach sie nicht, und als sie fertig war und auch noch zwei, drei Fragen von ihm beantwortet hatte – souverän, wie sie selbst fand –, setzte er sich gerade hin, legte die Hände auf die Tischplatte und sah ihr in die Augen. Sie hielt seinem Blick stand, und schließlich nickte er.

„Möchten Sie sich noch meine Unterlagen ansehen?“, schlug Maja vor und schob die Mappe ein kleines Stück zu ihm hin.

„Das wird nicht nötig sein“, versetzte er, ohne ihre Unterlagen zu beachten. „Ich fürchte, ich muss Ihnen absagen. Wir werden die Stelle anderweitig vergeben.“

Maja zog die Mappe wieder zu sich heran und schaute einen Moment auf den Tisch, um zu überspielen, dass ihr Blick flackerte. Im nächsten Moment hatte sie sich wieder im Griff, aber ein saurer Geschmack stieg in ihrer Kehle auf.

„Und warum, wenn ich fragen darf?“, brachte sie so ruhig wie möglich hervor.

„Sie waren ja schon einmal hier beschäftigt, und ich war froh, als diese … nun ja … Episode vorüber war. Ich war damals um eine Einschätzung Ihrer fachlichen Qualitäten gebeten worden, und trotz meiner jahrzehntelangen Freundschaft mit Ihrem Vater konnte ich leider keine positive Empfehlung abgeben.“

Maja musste sich beherrschen. Ihre linke Hand presste sie auf die Mappe, die Finger der rechten verkrampften sich um ihren Oberschenkel.

„Wissen Sie, Frau Ursinus, wir pflegen hier an der LMU einen hohen wissenschaftlichen Standard, und dem sind Sie meines Erachtens fachlich nicht gewachsen. Wie Sie wissen, wünscht sich Ihr Vater nichts sehnlicher, als dass Sie in den elterlichen Betrieb eintreten und ihn irgendwann übernehmen. Ich habe noch nie verstanden, warum er sich so sehr darauf versteift. Sicher, Manfred ist auf die Tradition bedacht, hält die Familienbande hoch und so weiter. Aber ich habe ihm mehr als einmal gesagt, dass er eigentlich froh sein sollte, dass Sie mit der Anstellung in dieser …“ Er machte eine abschätzige Handbewegung. „… in dieser kleinen Apotheke in Laim zufrieden sind. Dort sollten Sie keinen allzu großen Schaden anrichten können.“

Nun musste Maja doch kurz nach Luft schnappen, und Zeisinger registrierte ihre Reaktion mit einem zufriedenen Grinsen.

„Außerdem habe ich mitbekommen, dass Sie sich in Ihrer Freizeit gern mit Kriminalfällen beschäftigen. Tun Sie das doch weiterhin, vielleicht wird Ihr Ehrgeiz ja durch solche Abwege etwas besänftigt, und pharmazeutische Laien wie die Herrschaften von der Polizei wissen Ihre Beiträge wohl eher zu schätzen als die Fachwelt.“

Er erhob sich, und der Blick, mit dem er sie streifte, suchte nach Anzeichen für ihre totale Niederlage. Doch Maja hatte den Rücken durchgedrückt, sah ihn fest an und stand nun ebenfalls auf, ruhig, beherrscht, den Kopf erhoben. Sie griff nach ihrer Mappe, brachte ein Lächeln zustande, beugte sich über den Tisch und streckte ihm die rechte Hand hin. Im Reflex griff er zu, überrascht von ihrer Reaktion.

„Grüßen Sie bitte Ihre beiden Kollegen“, sagte Maja und nickte zu den beiden leeren Stühlen neben Zeisinger. „Natürlich nur, falls Sie ihnen überhaupt erzählen, dass ich mich auf diese Stelle beworben habe. Vielleicht wollen Sie ja lieber nicht erklären müssen, aus welchen Gründen Sie mich abgelehnt haben. In diesem Fall grüßen Sie stattdessen meinen Vater, mit dem Sie sich ja sicher im Vorfeld abgestimmt haben.“

Sie nickte ihm noch einmal zu, wandte sich ab und ging kerzengerade zur Tür, die sie leise hinter sich schloss. Kein Türenschlagen, kein wütendes Davonstampfen. Stattdessen gemessene Schritte bis zum Fahrstuhl, die hoffentlich überspielten, dass ihr das Herz bis zum Hals schlug. Als die Lifttüren hinter ihr zuglitten, ließ sie sich mit dem Rücken gegen die Wand des Aufzugs sinken. Was erlaubte sich dieses arrogante Arschloch? Warum musste ausgerechnet dieser Kerl zwischen ihr und der Leitung der Forschungsgruppe stehen? Hatte sie ihre Wut geschickt genug übertüncht? Und hatte sie Zeisinger durch ihren Abschied wenigstens ein bisschen aus seinem perfiden Konzept gebracht?

Vom Zimmer, in dem sie gerade gedemütigt worden war, konnte man den Weg sehen, auf dem sie nun zurück zu ihrem Wagen ging. Maja riss sich weiter zusammen, denn sie wollte vor den Augen dieses Widerlings ganz sicher nicht ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Und so startete sie rasch ihr Auto und fuhr davon.

Erst nach zwei, drei Kilometern bog sie in eine Seitenstraße ab, suchte sich einen Parkplatz, stoppte den Motor, sank vornüber aufs Lenkrad und begann zu weinen.

 

Die Verhandlung war kurzfristig verschoben worden, und statt zum Gericht fuhr Veit Rappsteyn deshalb in den Südosten von Mannheim. Dort, durch ein Waldstück von der A 6 abgeschirmt, erstreckte sich die Fastenklinik Birkner auf einem länglichen Grundstück zwischen Bäumen und Bahnlinie, das schon der Vorbesitzer mit Hügeln, kleinen Wäldchen, künstlichen Wasserläufen und einem Teich sehr hübsch angelegt hatte. Die Gebäude lagen auf Mannheimer Gebiet, von hier aus blickte man aber bis hinüber nach Heidelberg. Auch der Vorbesitzer hatte das Areal als Klinik genutzt, doch sein Geschäftsmodell einer Reha-Einrichtung für wohlhabende Patienten der Heidelberger Uniklinik und der städtischen Klinik in Mannheim ging nicht auf. Die reichen Herrschaften kurten lieber im Schwarzwald, am Bodensee oder an der Ostsee, wenn es sie nicht gleich ins Ausland zog. Als die Rehaklinik pleite war und zum Verkauf stand, suchte Hans Birkner gerade nach einem geeigneten Standort für seine Fastenklinik. Der Preis stimmte, es waren kaum Umbauten notwendig, und sogar die Wohngebäude für ihn selbst und seine Mitarbeiter gab es schon.

Rappsteyn fuhr mit seiner Limousine langsam bis zur Schranke und ließ das Seitenfenster herunter. Der Mann im Pförtnerhäuschen erkannte ihn, tippte zum Gruß an seine Schirmmütze und öffnete die Schranke. Seit der Anklage gegen Birkner war er so oft hier auf dem Gelände gewesen, dass er an der Pforte schon gar nicht mehr gefragt wurde, wann er mit wem einen Termin hatte. Er ließ das Hauptgebäude der Klinik und die Einfahrt zur Tiefgarage rechts liegen und fuhr weiter, bis vor ihm zwischen den künstlich angelegten Hügeln die vier großen Wohngebäude in Sicht kamen. Die nächste Abzweigung führte rechts zu Hans Birkners Villa, die von hier aus noch nicht zu sehen war. Heute lenkte Rappsteyn den Wagen allerdings weiter geradeaus zur Tiefgarage des Wohngebäudes, in dem Michael Ursinus lebte.

Die Häuser waren nicht besonders gesichert, auch der Aufzug konnte von jedem benutzt werden, der die Pforte einmal passiert hatte, nur für die Fahrt hinauf zu den Penthouse-Apartments brauchte man einen Schlüssel. Das für die Patienten zugängliche Areal war mit einem Zaun abgeriegelt, der versteckt in Büschen und Hecken oder hinter efeubewachsenen Mauern verlief. Die Patienten hatten auch so ausreichend Bewegungsfreiheit, dass niemand sich eingesperrt fühlen musste.

Rappsteyn drückte den Klingelknopf neben dem Namensschild von Michael Ursinus. Der Klingelton war deutlich durch die geschlossene Tür zu hören, sonst regte sich nichts. Der Anwalt wartete, läutete erneut und legte schließlich das Ohr an die Tür. Aus der Wohnung drang kein Geräusch. Er lauschte noch einen Moment lang, dann verließ er das Gebäude durch den Haupteingang und folgte dem schmalen Pfad, der um das Haus herumführte. Dort überquerte er die Terrasse und warf einen Blick durch die großen Fenster. Das Sonnenlicht spiegelte sich in den Scheiben, also trat er näher und hielt die Hände rechts und links neben das Gesicht, um etwas Schatten zu schaffen. Das Wohnzimmer wirkte verlassen, doch dann sah er die leblose Gestalt auf dem Sessel liegen, eine leere Wodkaflasche und ein leeres Glas lagen auf dem Fußboden. Der Anwalt hielt die Luft an und kniff die Augen zusammen, aber aus seiner Position konnte er nicht erkennen, ob Ursinus atmete.

Er schlug mehrmals mit der flachen Hand gegen die Scheibe, aber der Mann im Sessel regte sich nicht. Erst als er fester gegen das Glas klopfte, schien Leben in den anderen zu kommen. Michael Ursinus blinzelte ins Morgenlicht, setzte sich ein wenig auf und starrte ungläubig auf die Gestalt, die auf seiner Terrasse stand und durchs Fenster hereinschaute.

 

Maja ließ das Handy ein paarmal klingeln, bevor sie den Kopf zur Seite drehte, um zu sehen, wer sie zu erreichen versuchte. Als sie Rappsteyns Namen auf dem Display las, griff sie schnell nach dem Smartphone und nahm das Gespräch gerade noch rechtzeitig entgegen, bevor die Mailbox ansprang.

„Hallo, Frau Ursinus. Ich hoffe, ich platze nicht in Ihren Termin.“

„Alles gut, ich bin auf dem Heimweg. Konnten Sie schon nach Michael sehen?“

„Ja, mein Gerichtstermin wurde kurzfristig verschoben, deshalb habe ich meinen Besuch bei Ihrem Bruder vorgezogen. Ich sitze gerade neben ihm in seinem Wohnzimmer.“

Maja atmete auf. Das klang weniger bedrohlich, als sie befürchtet hatte.

„Ich habe ihm einen starken Kaffee gemacht, nun geht’s ihm wieder halbwegs.“

„Was war denn mit ihm?“

Rappsteyn schilderte, wie er ihren Bruder vorgefunden und wie viel Mühe er gehabt hatte, ihn zu wecken.

„Kann ich bitte mit ihm sprechen?“

Der Anwalt gab das Handy weiter.

„Hallo, Maja.“

Michaels Stimme klang schrecklich. Brüchig, schwach, undeutlich.

„Pulver oder Schnaps?“, fragte Maja und versuchte, ihre Sorge mit Strenge zu überspielen.

„Whisky.“

„Sonst nichts?“

„Nein, ehrlich nicht.“

„Du weißt schon, dass es mich verrückt macht, wenn ich dich eine Weile nicht erreichen kann, oder?“

„Tut mir leid. Der Anwalt hat mir auch schon gesagt, dass du dir Sorgen um mich machst. Musst du aber nicht. Mir geht es eigentlich ganz gut.“

„So gut, dass du dich mit Whisky abschießt …“

„Du hast von Herrn Rappsteyn ja schon gehört, was hier los ist.“

„Üble Geschichte. Und jetzt machst du dir Gedanken, was aus deinem Job wird?“

„Würdest du doch auch, oder?“

„Vermutlich. Aber selbst wenn dein Chef verurteilt werden sollte, geht deswegen noch nicht zwingend die Fastenklinik den Bach runter.“

„Na ja … Birkner ist nun mal das Aushängeschild der Einrichtung.“

„Du musst erst mal abwarten, was wird.“

„Muss ich wohl.“

Es entstand eine kurze Pause. Sie hörte ihn schwer atmen und dann schlürfend einen Schluck Kaffee trinken.

„Gibst du mir mal Herrn Rappsteyn?“

Der Anwalt übernahm. „Warten Sie bitte einen Moment, ich geh kurz auf die Terrasse.“

Schritte waren zu hören, eine Tür wurde geöffnet und wieder zugedrückt, dann fuhr Rappsteyn fort.

„Jetzt können wir freier reden. Ihrem Bruder geht es im Moment nicht gut, weil er einen ordentlichen Kater hat. Aber ich würde meine Hand nicht dafür ins Feuer legen, dass er nicht gleich heute die nächste Flasche Wodka aufmacht oder zu Schlimmerem greift.“

„Ich auch nicht.“

„Soll ich klären, ob er kurzfristig Urlaub bekommt? Vielleicht wäre es ganz gut, wenn er für ein, zwei Wochen bei Ihnen sein könnte. Dann müsste er in dieser für ihn schwierigen Situation nicht alles mit sich allein ausmachen.“

„Das wird nicht nötig sein. Ich wollte ja ohnehin nach Mannheim fahren und nach ihm sehen.“

„Wann würden Sie eintreffen?“

„Ich muss noch ein paar Dinge regeln, dann fahre ich los. Allerspätestens morgen früh.“

Rappsteyn zögerte.

„Das klingt, als sei Ihr Gespräch vorhin nicht gut gelaufen“, sagte er schließlich.

„Sagen wir es so: Ich kann das Gutachten für Sie schreiben.“

„Das tut mir für Sie wegen der Stelle leid, auf die Sie gehofft hatten. Ich für meinen Teil bin mit der neuen Situation natürlich sehr zufrieden.“

Rappsteyns Stimme klang sympathisch, und sie musste wegen seiner Ausdrucksweise kurz lächeln.

„Ich könnte mir vorstellen“, fuhr er fort, „dass Sie die Absage erst noch verdauen müssen. Was halten Sie denn davon, wenn ich Ihren Bruder für heute Nacht in einem Hotel unterbringe, bis Sie morgen herkommen? Ich glaube, es ist besser, wenn niemand von den anderen Mitarbeitern erfährt, dass er gerade nicht auf dem Damm ist. Alkoholprobleme sind hier nur dann gern gesehen, wenn man sie überwunden hat.“

„Das wäre vielleicht wirklich das Beste. Aber ich kann meinem Bruder auch von hier aus ein Zimmer buchen.“

„Das wäre ja noch schöner! Darum kümmere ich mich, und bezahlt wird das Zimmer von meinem Klienten. Wenn Sie mögen, stelle ich auch Ihnen ein Hotelzimmer zur Verfügung.“

„Nein, ich komme für die paar Nächte gut in der Wohnung meines Bruders unter. Er kann dann ja auch wieder dort wohnen. Schließlich behalte ich ihn im Auge.“

„Und was ist mit dem Urlaub?“

„So, wie Sie ihn mir beschrieben haben, kann er heute sicher nicht arbeiten. Wenn Sie es also möglich machen könnten, dass er zwei Tage freibekommt, wäre es gut.“

„Kein Problem, wird gemacht.“

„Danke, und falls noch etwas sein sollte, bevor ich morgen eintreffe, geben Sie mir bitte kurz Bescheid. Ich bin jederzeit erreichbar.“

„Natürlich, und gleich nachher gebe ich Ihnen durch, in welchem Hotel ich Ihren Bruder untergebracht habe.“

 

An einem Fenster in der obersten Etage der Klinik stand ein Mann in weißem Kittel. Von dort hatte er den Anwalt beobachtet, der durch die Terrassentür die Wohnung von Michael Ursinus betreten hatte. Nun begab er sich zu seinem Versteck, von dem aus er beobachten konnte, wer das Wohngebäude betrat oder verließ, in dem Ursinus wohnte. Er hätte sich noch besser verbergen können, wenn er seinen weißen Kittel irgendwo deponiert hätte, aber so wirkte er unverdächtiger für den Fall, dass er gesehen wurde. In den Häusern im Norden des Klinikgeländes wohnten die meisten Angestellten der Fastenklinik, auch er selbst hatte eine Wohnung hier. Sollte ihn also jemand hier stehen sehen, würde das in seiner Arbeitskleidung unverdächtiger wirken, so als hätte er nur eine kurze Pause eingelegt, um sich etwas zu essen zu holen, und wäre jetzt auf dem Rückweg zu seinem Arbeitsplatz.

Der Anwalt war nun schon eine Weile aus seinem Blickfeld verschwunden, doch der Mann im Arztkittel harrte geduldig aus. Wenn Rappsteyn das Gebäude auf normalem Weg verließ, musste er wieder hier vorbeikommen. Nur wenn er sich davonschlich, konnte er ungesehen das Grundstück verlassen – aber welchen Grund sollte er dafür haben? Und warum sollte er seinen Wagen zurücklassen?

In diesem Moment rollte die Limousine des Anwalts langsam aus der Tiefgarage. Obwohl die Seitenfenster getönt waren, erkannte der Mann die hagere Silhouette von Michael Ursinus, der auf dem Beifahrersitz hockte.

Welche Verbindung zwischen Rappsteyn und diesem Ex-Junkie mochte es geben? Hatte Ursinus doch bemerkt, dass er in der Nacht ungebetenen Besuch gehabt hatte? Holte er sich anwaltlichen Beistand? Aber konnte er sich einen teuren Juristen wie Rappsteyn überhaupt leisten – oder versprach sich der Anwalt nicht eher Hilfe von Ursinus für die Verteidigung seines Mandanten Birkner? Was unweigerlich zu der Frage führte: Was konnte Ursinus wissen, das Birkner womöglich entlastete?

Ein böses Grinsen huschte über das Gesicht des Mannes in seinem Versteck. Vielleicht würde die Idee, Ursinus etwas unterzuschieben, noch viel mehr bewirken als erhofft. Er sah noch eine Weile nachdenklich in die Richtung, in der die Limousine davongefahren war, strich schließlich seinen weißen Kittel glatt und machte sich auf den Weg zurück in die Klinik.

 

Markus Brodtbeck stand eine Nachtschicht bevor. Er hatte seinen Kollegen Hilfe angeboten, die einen Verdächtigen im aktuellen Mordfall rund um die Uhr beschatteten, und sie hatten dankend angenommen. Also würde er gegen sieben seinen Posten beziehen und dort die ganze Nacht ausharren. Deshalb nahm er den Nachmittag frei und wollte sich ein paar Stunden hinlegen, davor war Zeit für eine Mittagspause mit Maja.

Sie hatte nach dem Bewerbungsgespräch und dem Telefonat mit Rappsteyn und ihrem Bruder einen längeren Spaziergang unternommen und auf dem Heimweg für das Treffen mit Markus chinesisches Essen mitgebracht. Das ließen sie sich schmecken, während sie ihm von ihrem Vormittag erzählte. Markus hörte aufmerksam zu, nickte ab und an oder fragte nach, und als Maja ihre Geschichte beendet hatte, wirkte er sehr nachdenklich.

„Und du willst dich wirklich schon wieder in einen Mordfall einmischen?“, fragte er nach einer Weile.

„Was heißt einmischen?“, protestierte sie. „Ich wurde um ein Gutachten gebeten.“

„Obwohl es schon ein Gutachten gibt.“

„Das ich mir mal genauer ansehen soll. Und dem ich widersprechen werde, wenn es die Schwachstellen aufweist, die Rappsteyn unterstellt.“

Markus lehnte sich zurück und musterte seine Freundin.

„Bist du sicher, dass du dieses Gutachten nur aus fachlichem Interesse anfertigen willst?“

„Warum denn sonst?“

„Schau, Maja … Ich will dir nicht zu nahe treten, aber …“

„Aber?“

„Dieser blöde Professor hat dich heute früh so arrogant abblitzen lassen, er hat deine Qualifikationen, ja, deine gesamte Fähigkeit zu wissenschaftlichem Arbeiten angezweifelt.“

„Der Idiot wollte mir eins auswischen, weil er ein alter Spezl meines Vaters ist. Er konnte ihm damit einen Gefallen tun – und er wusste, dass er mich mit diesem Verhalten am ehesten verletzen kann.“

„Eben.“

„Was meinst du damit?“

„Er hat dich ins Mark getroffen mit seinen unverschämten Behauptungen. Und ich könnte mir vorstellen, dass du dieses Gutachten auch schreiben willst, um allen zu beweisen, dass du besser bist als dieser Heidelberger Professor, diese Koryphäe.“

Maja presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.

„Ich liege nicht ganz falsch, oder?“

Sie zuckte mit den Schultern.

„Denk doch noch einmal nach, ob du diesen Auftrag wirklich annehmen willst. Bitte! Ich habe einfach Angst, dass du dich da in was verrennst.“

„Ich hab schon zugesagt.“

„Dieser Anwalt würde dir in dieser Situation, in der du dich vor allem um deinen Bruder kümmern musst, keinen Strick draus drehen, wenn du dich noch einmal umentscheidest. Außerdem wäre ihm ja auch schon geholfen, wenn du ihm deine Meinung über das bestehende Gutachten skizzierst, ohne dass du gleich selbst eines erstellst.“

„Ich lasse Rappsteyn nicht hängen. Und nach Mannheim muss ich sowieso, um mich um Michael zu kümmern, wie du selbst gerade gesagt hast. Dann kann ich mich vor Ort doch gleich ein bisschen umschauen und umhören.“

Sie lächelte ihn an, und Markus verdrehte die Augen.

„Oje, es ist also noch schlimmer, als ich befürchtet habe: Für dich ist es mit einem Gegengutachten gar nicht getan! Du willst auch gleich noch zu dem Mordfall recherchieren!“

„Das würde ich nie machen“, versetzte sie grinsend, gab ihm einen Kuss und ließ zwei Tassen Kaffee aus Markus’ Espressomaschine. Sie tranken schweigend, und als Markus nicht aufhörte, sie besorgt zu mustern, legte sie ihre Hand auf seine.

„Jetzt mach nicht so ein Gesicht! Ich pass schon auf mich auf, und im Mittelpunkt steht wirklich das Gutachten! Wenn ich der Heidelberger Koryphäe Fehler nachweisen möchte, muss ich sehr genau arbeiten, das wird kein Zuckerschlecken.“

„Dann lass es doch einfach bleiben …“

„Natürlich lasse ich es nicht bleiben, Markus! Ich mache das jetzt, ich fahre nach Mannheim, und in ein, zwei Wochen bin ich wieder da, habe dem Anwalt geholfen, habe meinem Bruder geholfen – und mir selbst auch, das gebe ich gern zu.“

Markus seufzte und nahm einen großen Schluck Kaffee.

„Um ehrlich zu sein, hatte ich von Anfang an wenig Hoffnung, dich von deinem Plan abbringen zu können. Auch wenn ich es für eine Schnapsidee halte.“

Sie streichelte seine Hand und lächelte.

„Aber eine Bitte habe ich“, fügte er hinzu. „Ich gebe dir die Adresse und die Handynummer eines befreundeten Kollegen, den ich vor einigen Jahren auf einer Schulung kennengelernt habe. Er ist Hauptkommissar der Mannheimer Kripo, und er wird dir helfen, wenn du Leute suchst, mit denen du über den Fall reden kannst. Ich rufe ihn nachher an und warne ihn vor.“

„Und ich nehme an, du wirst ihm auch sagen, dass er ein Auge auf mich haben soll“, erwiderte sie.

„So ist es, Frau Dr. Ursinus“, versetzte er augenzwinkernd. „Er soll aufpassen, dass du dich nicht wieder unnötig in Gefahr bringst.“

Sie stand auf, stellte sich neben ihn und fuhr ihm durchs Haar.

„Eigentlich ist es ganz schön“, sagte sie, „dass du dir Sorgen um mich machst.“

„Vor allem ist es anstrengend, Angst um dich zu haben“, versetzte er und stand ebenfalls auf. „Ich mag mir nämlich eine Zeit ohne dich gar nicht mehr vorst…“

Weiter kam er nicht. Sie verschloss seinen Mund mit ihren Lippen.

 

Das Hotel war vom Schwetzinger Schlosspark nur durch eine Straße getrennt, und die Kanzlei Rappsteyn/Moeller war ein guter Kunde. Hier wurden Gutachter untergebracht, die auf Betreiben der Anwälte an Gerichtsverhandlungen teilnahmen und mehr als nur zwei, drei Stunden Anreise hatten. Auch Zeugen und Mandanten, die in Ruhe auf ihre Aussage vorbereitet wurden und die entweder nicht aus der Gegend waren oder vorübergehend nicht zu Hause wohnen konnten, weil die Polizei ihr Haus oder ihre Wohnung versiegelt hatte. Veit Rappsteyn hatte wegen des Zimmers schon in der Kanzlei angerufen, als er auf dem Klinikgelände aus der Tiefgarage gefahren war, und die Reservierung wurde ihm bestätigt, als er gerade in die Straße einbog, die zum Hotel führte.

Michael Ursinus saß apathisch neben ihm und starrte ins Leere, und nachdem der Anwalt seine Limousine auf dem Parkplatz im Innenhof des Hotels abgestellt hatte, musste er ihn zweimal ansprechen, bevor wieder Bewegung in ihn kam. Umständlich stieg Ursinus aus, streckte sich und sah sich um, als wisse er nicht, wo er sich befinde und wie er hierhergekommen war.

„Geht’s?“, fragte Rappsteyn.

„Ja, ja.“

Ursinus sah schlimm aus. Er fuhr sich durch die Haare und atmete ein paarmal tief durch.

„Ich habe Ihnen ein Zimmer zur Straße hinaus gebucht“, sagte der Anwalt. „Das ist zwar etwas lauter als auf dieser Seite, aber Sie haben einen schönen Blick auf den Schlossgarten.“

„Ist recht.“

Rappsteyn ging mit ihm ins Hotel und regelte die Formalitäten am Empfang. Ursinus stand abseits und schaute zu Boden. Die eilig gepackte Tasche mit Kleidern und Waschzeug hatte er zwischen den Füßen abgestellt, die Hände steckten in den Hosentaschen.

„Kommen Sie, Herr Ursinus?“

Wieder schaute der junge Mann ihn an, als müsse er sich erst besinnen, wo er war, dann trottete er hinter ihm her zum Aufzug. Das Zimmer befand sich im ersten Stock, und hätte sein Begleiter nicht so elend und kraftlos gewirkt, hätte Rappsteyn die Treppe genommen. Er öffnete die Zimmertür, übergab Ursinus die Codekarte und ließ ihn als Ersten eintreten. Der junge Mann schlurfte in den Raum, ließ seine Tasche zu Boden gleiten und sank aufs Bett. Die herrliche Aussicht interessierte ihn nicht.

„Kann ich Sie allein lassen?“, fragte Rappsteyn.

„Ja, kein Problem.“

„Wenn Sie Hunger haben, können Sie sich gern was aufs Zimmer kommen lassen. Meine Kanzlei übernimmt alle Kosten.“

„Danke.“

„Ich werde gleich Ihrer Schwester Ihre Zimmernummer und die Durchwahl geben.“

Ursinus zog sein Handy aus der Hose und hielt es hoch.

„Oder so“, sagte der Anwalt. „Aber seien Sie bitte so gut und gehen auch dran, wenn sie anruft. Sie macht sich Sorgen um Sie.“

„Ich weiß.“

„Gut. Sie wird Sie morgen abholen. Sie meinte, dass sie ein paar Tage in Ihrer Wohnung unterkommen kann.“

„Natürlich kann sie das.“

Rappsteyn zückte eine Visitenkarte, kritzelte eine Handynummer darauf und legte die Karte aufs Bett.

„Und bis dahin können Sie natürlich auch mich jederzeit anrufen, wenn Sie etwas brauchen. Meine Kanzlei ist nur ein paar Straßen von hier entfernt, und auch von zu Hause brauche ich mit dem Wagen nicht lange, um hier zu sein.“

„Schon gut, Sie können mich wirklich allein lassen.“

Michael Ursinus rang sich ein Lächeln ab. Rappsteyn zögerte noch einen Augenblick, dann wandte er sich zum Gehen. Am Empfang telefonierte die junge Mitarbeiterin, mit der er die Anmeldeformalitäten erledigt hatte, und als sie ihn aus dem Treppenhaus treten sah, wirkte sie erschrocken, als habe er sie bei irgendetwas Unanständigem ertappt. Sie lächelte unsicher, nickte ihm zu und legte währenddessen die rechte Hand auf das Mikrofon ihres Telefons. Ihr Gespräch setzte sie erst fort, als er außer Hörweite war.

Hatte das etwas mit ihm oder Ursinus zu tun, oder sah er schon Gespenster? Und würde sich der junge Mann im ersten Stock mit dem Inhalt der Minibar betrinken und morgen in ebenso schlechter Verfassung sein wie heute? Rappsteyn war so in Gedanken versunken, dass ihm erst auf dem Gehsteig vor dem Haupteingang des Hotels einfiel, dass er den Wagen im Innenhof stehen hatte. Er umrundete das Gebäude, folgte der schmalen Durchfahrt und fuhr kurz darauf in seiner Limousine zur Kanzlei.

Sein Partner war nicht da, auch die meisten angestellten Anwälte waren ausgeflogen, und im Sekretariat verstaute Gudrun Wagner gerade Papiere in einer Aktentasche. Sie war seit vielen Jahren seine Assistentin, und in Rechtsfragen fehlte ihr nicht viel zur Volljuristin.

„Ah, Herr Rappsteyn“, rief sie aus, als sie ihn bemerkte. „Gut, dass Sie hier sind. Ich bringe gleich die Unterlagen zu Herrn Birkner und spreche mit ihm durch, was Sie mir aufgetragen haben. In einer Stunde sollte ich wieder da sein. Soll ich ihm noch etwas ausrichten?“

„Nein, im Moment nicht.“

„Auch nicht, dass Sie Herrn Ursinus ins Hotel gebracht haben und dass seine Schwester morgen eintreffen wird?“

„Erst mal nicht. Ich möchte vermeiden, dass er sich zu große Hoffnungen macht. Bisher weiß er nur, dass ich eine zweite Meinung einholen will. Ich werde die erste Einschätzung von Frau Ursinus zu Professor Fogls Gutachten abwarten, bevor ich ihm von ihr erzähle.“

„Okay, dann mach ich mich mal auf den Weg. Wie gesagt: Länger als eine Stunde sollte ich nicht weg sein.“

„Jetzt gehen Sie schon“, versetzte er lachend, weil sie sich für so unersetzlich hielt. „Herr Holm ist ja auch noch da.“

Kevin Holm, zwanzig Jahre jünger als Gudrun Wagner und juristisch längst nicht so versiert, hob die Hand und nickte lächelnd, bevor er sich wieder auf den Brief konzentrierte, den er gerade tippte. Die Assistentin klemmte die Tasche unter den Arm und flitzte aus der Kanzlei. Als Rappsteyn sich auf den Weg in sein Büro machen wollte, hatte er den vagen Eindruck, als werde er von Frau Wagners Kollegen beobachtet.

„War noch was, Herr Holm?“, fragte er deshalb, aber der junge Mann richtete den Blick wieder auf den Bildschirm und murmelte: „Nein, nein, Herr Rappsteyn. Alles gut.“

Rappsteyn ging in sein Büro, drückte die Tür hinter sich zu und seufzte. Ich sehe wirklich schon Gespenster, dachte er.

 

Seinen Mannheimer Kollegen wollte Markus am Abend anrufen, wenn ihm die Beschattung dazu Zeit ließ, doch bevor er sich schlafen legte, gab er Maja schon mal die Handynummer von Kriminalhauptkommissar Jens Vollmer. Bevor sie anfing zu packen, machte sie einen ausgedehnten Spaziergang, auf dem sie sich überlegte, was sie mitnehmen musste.

Bei einer Tasse Kaffee in ihrer WG arbeitete sie anschließend die Unterlagen durch, die Rappsteyn ihr geschickt hatte. Die Ergebnisse der Obduktion des Mordopfers und der kriminaltechnischen Untersuchungen am Tatort hatte der Anwalt in einem Bericht zusammengefasst, ebenso den Hergang der Tat selbst, wie sie die Staatsanwaltschaft für erwiesen hielt.

Der Unternehmer Joachim Hirsch, sechsundsechzig und verwitwet, war am 25. November abends tot in seiner Villa aufgefunden worden. Entdeckt wurde die Leiche vom Geschäftsführer von Hirschs Firma, der mit dem Hausherrn zu einer Besprechung verabredet war und der –  nachdem ihm niemand öffnete – den Hausschlüssel benutzte, den Hirsch ihm vor einiger Zeit anvertraut hatte. Der Leichnam lag im ersten Stock im ehemaligen Jugendzimmer seiner erwachsenen Tochter, die etwa ein Jahr zuvor Suizid begangen hatte. Neben ihm lagen zwei benutzte Gläser und ein umgestürzter Couchtisch, unter das Bett war ein braunes Medikamentenfläschchen ohne Etikett gerollt. Die Möbel waren verschoben, teilweise demoliert, als habe jemand in dem Raum gewütet, und außer Anzeichen für Atemnot wies der Leichnam auch noch eine Verletzung im Genick auf. Offenbar war dem Mann mit einem festen Tritt die Halswirbelsäule durchtrennt worden.

Hans Birkner geriet ins Visier der Kriminalpolizei, weil die Putzfrau von Joachim Hirsch, die kurz vor dem Tod ihres Auftraggebers dessen Haus verlassen hatte, eine schwarze, auffällig lackierte Limousine bemerkte, die sich Hirschs Villa näherte. Denselben Wagen – nicht sehr dezent mit Birkners Konterfei und einem Werbeschriftzug für dessen Fastenklinik beklebt – hatte der Geschäftsführer von der Villa wegfahren sehen, bevor er die Leiche entdeckte. Auf dem Apothekenfläschchen wurden Birkners Fingerabdrücke gefunden, dazu wurden von ihm und seinem Fahrer Maxim Frank im Haus und vor allem im Jugendzimmer und an der Leiche DNA-Spuren nachgewiesen.

Beide Männer wurden befragt und kamen, weil die Indizien für ihre Schuld erdrückend schienen, in U-Haft. Die Staatsanwaltschaft ging davon aus, dass Hans Birkner den Unternehmer Hirsch vergiftet und dass sein Fahrer Maxim Frank ihn mit einem gezielten Fußtritt in den Nacken töten wollte oder – falls Hirsch bis dahin noch nicht am Gift gestorben war – tatsächlich getötet hatte. Frank war unter anderem wegen schwerer Körperverletzung vorbestraft. Und zwischen Birkner und Hirsch deckte die Kripo eine tragische Verbindung auf: Hirschs Tochter Jana hatte sich umgebracht, während sie in Birkners Fastenklinik versucht hatte, Essstörungen in den Griff zu bekommen, unter denen sie seit dem Unfalltod ihrer Mutter zwei Jahre zuvor litt. Hirsch wiederum hatte wiederholt versucht, ein Verfahren gegen Birkners Klinik in Gang zu bringen, weil er ihn für den Suizid seiner Tochter verantwortlich machte: Dessen populäre, aber wissenschaftlich umstrittene Methode des Heilfastens habe der zu Depressionen neigenden jungen Frau zugesetzt, und in einem depressiven Schub habe sie sich schließlich das Leben genommen.

Das pharmazeutische Gutachten, mit dem Professor Dr. Hubert Fogl beauftragt wurde, sollte nun zwei Fragen beantworten, die vor allem mit dem Umfang der Schuld von Maxim Frank zu tun hatten: Wie hatte das verabreichte Coniin im Körper des Opfers bis zu dessen Tod gewirkt, und wie genau ließ sich das Auftreten der Symptome zeitlich eingrenzen? Hatte Frank den geschwächten Birkner mit seinem Fußtritt also getötet – oder hatte er, unbeherrscht, wie er war, einen Toten getreten, aus welchem Grund auch immer?

Mit diesen Fragen hatte sich auch die Rechtsmedizin befasst. Doch der Obduktionsbericht grenzte laut Rappsteyns Zusammenfassung den Zeitraum zwischen Verabreichung des Gifts und Eintreten des Todes nur vage ein. „Der Tod trat vermutlich dreißig bis sechzig Minuten nach Verabreichung des Gifts ein“, stand dort, und es wurde darauf hingewiesen, dass dieser Zeitraum vor allem, aber nicht ausschließlich von der Menge des Wirkstoffs abhing, den der Körper des Opfers aufgenommen hatte.

Die Kriminaltechnik wiederum hatte sich für diese Menge nicht exakt festgelegt. Das Coniin war offenbar als Pulver in vierzigprozentigem Cognac aufgelöst und in das braune, hundert Milliliter fassende Apothekenfläschchen gefüllt worden, das unter das Bett gerollt war. In dem Fläschchen fand sich nur noch ein Bodensatz mit der Lösung, anhand derer ein Speziallabor den Coniinanteil ermittelt hatte. In einem der beiden umgestürzten Gläser, aus dem das Opfer getrunken hatte, konnte die Coniin-Cognac-Lösung ebenfalls nachgewiesen werden. Die Kriminaltechniker vermuteten, dass das Fläschchen ursprünglich randvoll gewesen war, einen endgültigen Beweis dafür fanden sie allerdings nicht. Am ehesten ließ sich die verabreichte Giftmenge durch die Analyse von Joachim Hirschs Blut eingrenzen – deren Ergebnis passte zu einem vollständig gefüllten Coniin-Cognac-Cocktail.

Fogls Gutachten war auf pompösem Briefpapier gedruckt, das rechts oben neben einem kitschigen Familienwappen in Prägedruck auch ausführliche Nennungen von wissenschaftlichen Meriten des Professors aufwies. Weniger eindrucksvoll fand Maja dagegen den Text des Gutachtens. Aus seinem Lehrbuch wusste sie, dass er wenig Wert auf flüssige Formulierungen legte (oder dass ihm das Talent dafür fehlte), aber dieses Gutachten war in einem so verschrobenen, umständlichen Stil verfasst, dass sogar sie manchmal Mühe hatte, den Ausführungen und Schlussfolgerungen zu folgen. Es war kaum anzunehmen, dass Juristen sich in diesem Dickicht ohne fremde Hilfe zurechtfanden – doch genau das war Maja als eine zentrale Anforderung an ein gelungenes Gutachten beigebracht worden. Offenbar galt der Staatsanwaltschaft hier die Reputation des Gutachters mehr als die Verständlichkeit seiner Argumentation.

In seinen Schlussfolgerungen war Professor Fogl dagegen glasklar und zog sein Fazit ohne jeden Zweifel. Er ging von der Menge des Wirkstoffs aus, die Hirschs Körper der Blutanalyse zufolge aufgenommen hatte, stufte einige andere Faktoren, die einen Einfluss auf den Todeszeitpunkt haben konnten, als nachrangig ein und schloss auf eine Dauer von wenig mehr als dreißig Minuten zwischen Verabreichung der Giftlösung und dem Tod des Opfers. Das würde sie genauer untersuchen müssen.

Und noch ein anderer Punkt machte Maja stutzig. Coniin schmeckte scharf und roch streng, nach Mäuseharn, wie es in der Fachliteratur hieß – diese Beschreibung amüsierte sie jedes Mal, wenn sie sie hörte oder las, weil ja hoffentlich die wenigsten wussten, wie der Urin von Mäusen roch. Jedenfalls ließen sich Geruch und Geschmack auch durch eine Lösung in Cognac nicht völlig überdecken. Eine Verwechslung war also auszuschließen. Hätte Birkner seinem Opfer die Coniinlösung in ein Getränk gemischt, wäre das Hirsch sofort aufgefallen. Hatte er ihn mit einer Waffe bedroht, damit Hirsch das Gift selbst zu sich nahm? In den Unterlagen war von einer Waffe nicht die Rede. Oder hatte er seinem Opfer die Coniinlösung gewaltsam eingeflößt? Aber dann hätte die Kriminaltechnik Spuren von verschütteter Lösung auf Hirschs Kleidung oder auf dem Boden finden müssen, was aber den bisher gesichteten Dokumenten zufolge nicht der Fall war.

Aber wie er es auch bewerkstelligt haben mochte: Wenn Birkner seinem Opfer das Coniin verabreicht hatte, musste er zu Beginn der von Fogl und von der Rechtsmedizin unterschiedlich konkret angegebenen Wirkdauer des Gifts schon im Haus gewesen sein. Und falls Birkner und sein Fahrer den Unternehmer vergiftet haben sollten, dann musste es geschehen sein, nachdem die Putzfrau Birkners Wagen hatte heranfahren sehen. Maja notierte sich, dass sie diesen Zeitpunkt noch erfragen musste. Außerdem würde sie in Erfahrung bringen, wann der Geschäftsführer den Leichnam entdeckt hatte – auch diese Uhrzeit fehlte in Rappsteyns Zusammenfassung –, und sie würde sich erkundigen, wann laut den Berechnungen der Rechtsmedizin der Todeszeitpunkt von Hirsch gewesen war.

Dem Gutachten des Professors sollte jedenfalls nicht allzu schwer zu widersprechen sein, und in Gedanken ging Maja schon die Punkte durch, an denen sie für ihre Arbeit ansetzen und Fogls Argumentation aushebeln konnte. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen, dann fiel ihr ein, was Markus ihr unterstellte – und sie musste zugeben, dass er damit nicht ganz falschlag.

Aber das würde sie nicht davon abhalten, fachlich fundiert vorzugehen und ihre Kritik sachlich vorzubringen. Natürlich wollte sie mit diesem Gutachten beweisen, dass sie sehr wohl eine ernst zu nehmende Pharmazeutin war – gern der Koryphäe Hubert Fogl, aber auch ihrem Vater und ganz sicher diesem arroganten Zeisinger, der sie heute Vormittag so unverschämt …

Sie versuchte, ihre Gedanken zu stoppen, und biss sich auf die Lippe, bis der Schmerz ihre Wut überlagerte.

Fogl. Zeisinger. Ihr Vater. Dass Zeisinger mit ihrem Vater befreundet war, wusste sie. Was, wenn die beiden auch Hubert Fogl kannten? Vom Alter her konnte es passen.

Maja blätterte noch einmal die Unterlagen zum Mordfall Hirsch durch. Der Mann war Ende November gestorben, für das Gutachten war Fogl wenige Tage später angefragt worden – und er hatte, obwohl sicher gut beschäftigt, nicht nur rasch zugesagt, sondern auch ungewöhnlich schnell geliefert, nach nur dreieinhalb Wochen. Dass eine Koryphäe wie Fogl, der für Gutachten, Kommentare, Vorträge und als Doktorvater gefragt war, sich so schnell Zeit freischaufeln konnte, war eher unüblich – vor allem in der Vorweihnachtszeit.

Vielleicht musste sie auch nachforschen, ob Hubert Fogl ein persönliches Interesse an dem Mordfall Hirsch hatte. Oder an dem Angeklagten, Hans Birkner.

Jürgen Seibold

Über Jürgen Seibold

Biografie

Jürgen Seibold, geboren 1960 in Stuttgart, arbeitete als Redakteur und freier Journalist. 1989 veröffentlichte der SPIEGEL-Bestsellerautor seine erste Musikerbiografie. Es folgten weitere Sachbücher, Theaterstücke, Thriller, Komödien und Kriminalromane. Mit seiner Familie lebt Jürgen Seibold im...

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