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Mensch, Amerika!

Mensch, Amerika!

Jan Philipp Burgard
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Unterwegs in einem Land im emotionalen Ausnahmezustand

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Mensch, Amerika! — Inhalt

Was von den USA übrig blieb

Amerika ist ein Pulverfass, die gesellschaftlichen Verwerfungen sind explosiv. Das haben die Unruhen nach dem Tod von George Floyd und die dramatischen Szenen rund um die Erstürmung des Kapitols gezeigt. Ist Amerika noch das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“? War es das je? Wird es dem neuen Präsidenten Joe Biden gelingen, das Land zu versöhnen, oder wird es versinken in einem Strudel von Angst, Gewalt und Zerstörung? Jan Philipp Burgard geht dahin, wo die Bruchstellen Amerikas sichtbar werden, und zeichnet in packenden Reportagen das Bild eines Landes im Ausnahmezustand.

€ 19,99 [D], € 19,99 [A]
Erschienen am 30.09.2021
304 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-60016-3
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Leseprobe zu „Mensch, Amerika!“

Prolog

Amerika. Macht. Angst.

Wie im Wahn tanzen die Flammen auf dem Skelett einer Lagerhalle. Meterhoch klettern sie in den wolkenlosen Nachthimmel über Minneapolis, als wüssten sie, dass niemand sie einfangen kann. Schnell und gierig erobert das Feuer ein Gebäude nach dem anderen. Andächtig betrachtet ein schlaksiger junger Mann sein Werk, wie der Maler Botticelli seine Interpretation von Dantes Inferno. Der Brandstifter zieht seelenruhig sein Handy aus der Tasche, wählt den passenden Bildausschnitt und lädt sein Foto in den sozialen Netzwerken hoch. [...]

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Prolog

Amerika. Macht. Angst.

Wie im Wahn tanzen die Flammen auf dem Skelett einer Lagerhalle. Meterhoch klettern sie in den wolkenlosen Nachthimmel über Minneapolis, als wüssten sie, dass niemand sie einfangen kann. Schnell und gierig erobert das Feuer ein Gebäude nach dem anderen. Andächtig betrachtet ein schlaksiger junger Mann sein Werk, wie der Maler Botticelli seine Interpretation von Dantes Inferno. Der Brandstifter zieht seelenruhig sein Handy aus der Tasche, wählt den passenden Bildausschnitt und lädt sein Foto in den sozialen Netzwerken hoch. Amerika und der Rest der Welt sollen seine unbändige Wut sehen, die der gewaltsame Tod von George Floyd aus ihm herausbrechen lässt. Noch nie hat er sich gehört gefühlt. Das ändert sich heute.

Das Knistern des Feuers wird von einem heiseren Schrei durchbrochen: „Die Cops rücken vor!“ Gummigeschosse und Tränengas kündigen die Ankunft der Einsatzkräfte an. Hunderte vermummte Gestalten rennen davon. Eine junge Frau wird getroffen. Der Lichtschein eines brennenden Hauses gibt den Blick auf ihren Hinterkopf frei. Blut bahnt sich den Weg über ihr pechschwarzes Haar. Ein Teenager läuft an mir vorbei, in der Hand trägt er eine Axt. Plötzlich holt er aus und beginnt, die Fensterscheiben von Geschäften einzuschlagen. Seine Freunde tragen kistenweise Waren heraus. Mich überrascht, dass Polizei und Nationalgarde bei diesen Plünderungen und Brandstiftungen lange scheinbar tatenlos zusehen. Man will wohl unbedingt vermeiden, dass es bei Zusammenstößen zwischen Einsatzkräften und Demonstranten Tote gibt. Dennoch setzt man auf Präsenz. Allein hier in Minneapolis im US-Bundesstaat Minnesota werden 13 000 Soldaten der Nationalgarde mobilisiert. Es ist der bis dahin größte Einsatz in der Geschichte der Reservistenarmee.

Plötzlich geraten mein Kamerateam und ich zwischen die „Frontlinien“ von Einsatzkräften und Demonstranten. Wir geben uns als Presse zu erkennen und bitten die Polizei, uns einen Ausweg zu ermöglichen. Doch ein offensichtlich überforderter oder genervter Beamter brüllt uns nur barsch entgegen: „Verpisst euch!“ Wir entkommen der Situation, indem wir den Demonstranten entgegenlaufen, und haben Glück, nicht von Steinen getroffen zu werden. Im Laufe der Nacht setzt die Polizei verstärkt Tränengas und Gummigeschosse ein. Doch auch davon lassen sich viele Demonstranten nicht abschrecken. Immer wieder gehen um uns herum Gebäude in Flammen auf.

„Diese Gewalt ist eine direkte Reaktion auf die Polizeigewalt. Wir reagieren mit Gewalt, weil wir es nur so kennen“, sagt mir Sarina Samentelli. Die junge Frau ist trotz einer Ausgangssperre mit einer Gruppe von Freunden auf der Straße. „Black Lives Matter!“, brüllt sie in ein Megafon. Ihre Stimme überschlägt sich. Immer wieder höre ich von den schwarzen Demonstranten, dass sie sich in vielen Lebensbereichen schon lange und systematisch diskriminiert fühlen. Viele halten Gewalt für das einzige Mittel, um sich endlich Gehör zu verschaffen. „Das hier ist Gerechtigkeit, auch wenn andere Leute die Proteste als rücksichtslos oder barbarisch betrachten“, sagt mir James Miller. Er trägt eine Skibrille, um seine Augen vor dem Tränengas der Polizei zu schützen.

Die Gewalt, die James als „gerecht“ empfindet, trifft allerdings andere Minderheiten und viele Unbeteiligte. Isa Pérez steht vor den Trümmern ihrer Existenz. Obwohl die aus Mexiko stammende Kleinunternehmerin die Schaufensterscheibe ihres Tattoostudios verbarrikadiert hatte, konnten die Aufständischen einbrechen. Sie rissen die Bretter weg und schlugen die Scheibe ein, überall liegen Scherben. All ihre teuren Geräte und wertvoller Körperschmuck wurden gestohlen. Eine Versicherung hat Isa nicht. Die hatte sie kürzlich erst gekündigt, um während der Corona-Krise Geld zu sparen. In der Eskalation der Proteste sieht sie ein Versagen des Staates. „Hierher kommt keine Polizei. Sie haben Angst, in diese Gegend zu kommen“, sagt sie und ist den Tränen nah. Isa versteht die Welt und ihre Stadt nicht mehr. „Ich hatte dieses Geschäft seit sechzehn Jahren und hatte nie Probleme mit irgendjemandem. Ich bin so unglaublich traurig.“

Einige Straßenblocks weiter löscht die Feuerwehr eine Tankstelle, die von Demonstranten in Brand gesetzt wurde. Soldaten der Nationalgarde sichern die Gefahrenstelle. Es herrscht Explosionsgefahr. Amerika macht mir Angst. Das spüre ich zum ersten Mal in dieser Nacht in Minneapolis. Denn die Bilder, die wir hier Ende Mai 2020 drehen, lassen mich unweigerlich an einen Bürgerkrieg denken. Wie unter einem Brennglas sehe ich, in welch schwerer Krise Amerika sich befindet. Hier entlädt sich mehr als nur die Wut über den Tod von George Floyd. Bei dessen Verhaftung hatte sich ein Polizist 9 Minuten und 29 Sekunden lang auf seinen Nacken gekniet. „Ich kann nicht atmen“, hatte Floyd immer wieder gesagt. So zeigt es das Video, das ein Passant mit dem Handy aufgenommen hat. Irgendwann ruft Floyd, ein Baum von einem Mann, verzweifelt nach seiner Mutter. Dann verliert er das Bewusstsein. Die Beamten hatten ihn wegen des Verdachts festgenommen, mit einem falschen 20-Dollar-Schein bezahlt zu haben.

Knapp ein Jahr später wird ein Gericht den weißen Polizisten Derek Chauvin des Mordes ohne Vorsatz für schuldig befinden und ihn zu einer Haftstrafe verurteilen. Ein Urteil mit Seltenheitswert. Denn in der Vergangenheit entgingen viele Polizeibeamte nach Fehlverhalten der Strafverfolgung, weil interne Untersuchungen ausblieben. Nach dem Tod von George Floyd ist die Debatte über eine Polizeireform neu entbrannt. „Es war ein Mord am helllichten Tag. Und er hat die Scheuklappen weggerissen, sodass die ganze Welt den systemischen Rassismus sehen konnte, der die Seele unserer Nation befleckt. Das Knie auf dem Hals der Gerechtigkeit für schwarze Amerikaner, die tiefe Angst und das Trauma, den Schmerz und die Erschöpfung, die schwarze Amerikaner jeden einzelnen Tag erleben.“ Mit diesen Worten kommentiert Präsident Joe Biden das Urteil gegen Chauvin. „Der Mord an George Floyd hat einen Sommer des Protests ausgelöst, wie wir ihn seit der Ära der Bürgerrechte in den 1960er-Jahren nicht mehr gesehen haben – Proteste, die Menschen aller Rassen und Generationen in Frieden und mit dem Ziel vereinten, zu sagen: ›Genug. Genug. Genug der sinnlosen Morde.‹“ Tatsächlich ist der Tod von Georg Floyd kein Einzelfall, sondern eines von vielen Beispielen für strukturelle Polizeigewalt gegen Schwarze. Afroamerikaner werden laut Erhebungen der vergangenen fünf Jahre doppelt so häufig von Polizisten getötet wie Weiße.

Doch Bidens Vorgänger Donald Trump hatte nach den Ereignissen von Minneapolis mit seiner Rhetorik sogar noch Öl ins Feuer gegossen, etwa mit seiner Aussage: „Wenn das Plündern beginnt, wird geschossen.“ Diese Formulierung („When the looting starts, the shooting starts“) stammt von dem weißen Polizeichef von Miami und löste 1967 eine Kontroverse aus. Außerdem drohte Trump damit, das Militär gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen, und sagte wörtlich, er werde mit „bösartigen Hunden“ und „unheilbringenden Waffen“ gegen Demonstranten vorgehen, wenn sie den Zaun des Weißen Hauses überwinden würden. Trumps Angst war nicht unbegründet. Die Proteste nach dem Tod von George Floyd breiteten sich von Minneapolis in viele Großstädte aus – auch nach Washington. Die Straßen rund um das Weiße Haus wurden mit Straßensperren abgeriegelt und von Panzerwagen überwacht, die Fenster von Bürogebäuden, Hotels und Restaurants in der Innenstadt verbarrikadiert. In unserer Nachbarschaft wurden ein Weingeschäft und eine Apotheke geplündert. Nachts kreiste ein Militärhubschrauber des Typs Blackhawk über den Dächern, so laut, dass die Kinder kaum schlafen konnten. Besonders bedauerlich aber war, dass die eskalierende Gewalt von den vielen friedlichen Protesten ablenkte, die nach dem Tod von George Floyd auf Rassismus und Polizeigewalt aufmerksam machen wollten.

Trump hatte gar nicht erst versucht, die Gesellschaft zu einen. Wie wohl kein Präsident vor ihm setzte er nicht auf Versöhnung, sondern auf Spaltung. Nicht nur bei mir persönlich, sondern bei vielen Deutschen lösten die Entwicklungen in den USA Angst aus. Forscher befragten 2400 Männer und Frauen ab vierzehn Jahren nach ihren größten politischen, wirtschaftlichen, persönlichen und ökologischen Ängsten. Das Ergebnis der Umfrage: Die größte Angst von mehr als zwei Dritteln der Bundesbürger war, dass Trump die Welt gefährlicher machte. Damit fürchtete die deutsche Bevölkerung Trump mehr als den Zuzug von Flüchtlingen, Terrorismus oder Naturkatastrophen.

Die Umfrage fand 2020 statt, vor der Wahl, doch trotz seiner Abwahl sind die Geister, die Trump rief, längst nicht verschwunden. Von seinem politischen Exil, dem Golfclub Mar-a-Lago, in Florida aus schürt er weiterhin die Ängste vieler Amerikaner vor schwarzen Demonstranten, Einwanderern aus Mexiko, Atombomben aus Nordkorea und Iran, Viren aus China und sogar Autos aus Deutschland. Trump macht seinen Unterstützern systematisch Angst vor dem Verlust von amerikanischen Arbeitsplätzen und nationaler Identität – um möglicherweise im Wahlkampf 2024 als Heilsbringer zu erscheinen. Mit dieser Strategie hatte er schließlich bei seinem ersten Anlauf auf das Weiße Haus schon einmal Erfolg: 70 Prozent der weißen Trump-Fans sagten, die Sorge um die amerikanische Identität sei 2016 der wichtigste Faktor für ihre Wahlentscheidung gewesen. Trump setzt auf die Macht der Angst, das hat er sogar freimütig eingeräumt. „Echte Macht ist, und ich will das Wort fast nicht gebrauchen: Angst.“ Bei seinen Anhängern schürt er also weiter die Ängste vor Chaos und Anarchie, um sich selbst als „Law and Order“-Politiker inszenieren zu können, als Mann, der Recht und Ordnung schafft. So gewann schon Richard Nixon den Präsidentschaftswahlkampf 1968, als nach der Ermordung von Martin Luther King Unruhen das Land erschütterten.

Angst als Mittel zur Manipulation der Massen hat in den USA eine lange Tradition. Unter dem Eindruck der Oktoberrevolution in Russland und des Ersten Weltkriegs schürten US-Politiker Ängste vor einem kommunistischen Umschwung in den USA. Die kapitalistische Grundordnung und der liberale Lebensstil seien in akuter Gefahr. Damals wurde eine Reihe von Gesetzen beschlossen, die es zum Beispiel unter Strafe stellten, öffentliche Kritik an Regierung und Militär zu üben. Viele Unternehmen nutzen dies, um gewerkschaftliche Aktivitäten einzudämmen. Außerdem wurde anarchistisch gesinnten Ausländern die Einreise ins Land untersagt und die Deportation von illegal eingewanderten Anarchisten erlaubt. Amerika ist „der Schuttabladeplatz für den Abschaum aller Nationen“, bedroht von Bürgern, „die das Gift der Illoyalität direkt in die Blutbahnen unseres nationalen Lebens injiziert haben. (…) Diese von Leidenschaft, Untreue und Gesetzlosigkeit getriebenen Charaktere müssen durch und durch ausgeschaltet werden“, polterte 1915 der damalige US-Präsident Woodrow Wilson. Der Begriff „Rote Angst“ war geboren.

Der Ku-Klux-Klan nutzte in den 1920er-Jahren nicht nur Rassismus zum Rekrutieren von Mitgliedern, sondern auch die Ängste der Menschen vor technologischen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Ganz im Gegensatz dazu warnte Präsident Franklin D. Roosevelt seine Landsleute vor der Angst, als er 1933 mitten in der Großen Depression seine Amtseinführungsrede hielt: „Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst. Die namenlose, blinde, sinnlose Angst, die die Anstrengungen lähmt, deren es bedarf, um den Rückzug in einen Vormarsch umzuwandeln.“ Roosevelt gelang es, die USA aus der Wirtschaftskrise und im Zweiten Weltkrieg auf die Siegerstraße zu führen. Doch selbst der Vorzeigeoptimist Roosevelt machte teilweise mit Angst Politik, indem er zwischen 1942 und 1946 rund 117 000 japanischstämmige Amerikaner internierte. Auch sein Nachfolger, Präsident Harry S. Truman, erhielt in den frühen Tagen des Kalten Krieges von einem befreundeten Senator einen wörtlich überlieferten Rat zum Umgang mit dem amerikanischen Volk: „Erschrecke sie höllisch, Harry!“

Später blies der berühmt-berüchtigte Senator Joseph McCarthy zur Jagd auf vermeintliche Kommunisten. Besonders die Machtübernahme der Kommunisten in China nährte in den USA die Angst, dass Staaten einer nach dem anderen wie Dominosteine „umkippen“ könnten. In jüngerer Zeit nutzte Präsident George W. Bush nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 die Angst seiner Landsleute vor weiteren Anschlägen, um die Kriege in Afghanistan und im Irak zu rechtfertigen und ein schier übermächtiges Überwachungssystem zu etablieren. Seine Nachfolger Obama und Trump machten keine Anstalten, die weitreichende Überwachung auch unverdächtiger Bürger zu begrenzen. Dabei ist die Angst doch eigentlich ein Widerspruch zum Selbstverständnis der Weltmacht. Einerseits protzen die Amerikaner gerne mit ihrer wirtschaftlichen und militärischen Stärke, im Privatleben stellen sie gerne große Trucks und schwere Waffen zur Schau. Auf der anderen Seite ist das Land nachweislich ängstlicher als andere Nationen. Eine Studie machte die USA als das ängstlichste unter vierzehn untersuchten Ländern aus – mit einem klinisch signifikant höheren Angstniveau als etwa in Nigeria oder dem Libanon. Wie die New York Times berichtete, haben die Angststörungen die Volkskrankheit Depression inzwischen abgehängt. Insgesamt wird bei etwa vierzig Millionen Amerikanern pro Jahr eine Angststörung diagnostiziert. Laut National Institute of Mental Health leiden sogar schon Jugendliche unter Angststörungen: 38 Prozent aller Mädchen und 26 Prozent aller Jungen. Mit starken Beruhigungsmitteln wie Xanax oder Paxil werden in den USA jährlich Milliarden umgesetzt. Die Angst treibt nicht nur die Profite der Pharma-, sondern auch die der Fernsehindustrie in die Höhe. Die Berichterstattung über Kriminalität und Gewalt garantiert hohe Einschaltquoten und damit attraktive Werbeeinnahmen. „When it bleeds, it leads“, lautet ein altes Sprichwort unter TV- und Radiojournalisten in den USA. Wenn es blutig wird, gehen die Einschaltquoten in die Höhe. Durch diese Medienlogik entstand bei vielen Amerikanern das Gefühl, dass ihre Städte unsicher sind. Das Magazin Time widmete dem „Zeitalter der Angst“ im Januar 2020 sogar eine Sonderausgabe. Verschärft wurde der emotionale Notstand durch die Corona-Krise und die damit verbundenen Existenzängste, als über vierzig Millionen Amerikaner zwischenzeitlich ihren Job verloren.

In seiner wechselvollen Geschichte ist Amerika schon oft die Wiederauferstehung gelungen. Mit der Spanischen Grippe von 1918 haben die USA schon einmal eine verheerende Pandemie überstanden. Der Großen Depression in den 1930er-Jahren folgten Phasen großen Wohlstands. Landesweite, teilweise gewalttätige Proteste entbrannten nach der Ermordung Martin Luther Kings, doch die Bürgerrechtsbewegung erzielte auch große Erfolge. Vielleicht gelingt auch dieses Mal eine Wende. Doch bei allem Zweckoptimismus empfiehlt sich ein Blick auf die historische Einzigartigkeit der aktuellen Situation: Noch nie in der Geschichte der USA ereigneten sich eine Gesundheitskrise, eine Wirtschaftskrise und ein Kulturkampf zeitgleich. Die Corona-Krise wirkt sich wie ein Brandbeschleuniger auf die gesellschaftlichen Konflikte aus.

In der Seele Amerikas tobe seit jeher ein Kampf zwischen Angst und Hoffnung, schreibt der Historiker Jon Meacham. „Angst füttert Sorgen und produziert Wut. Hoffnung, besonders in einem politischen Sinne, nährt Optimismus und Wohlbefinden. Angst dreht sich um Grenzen, Hoffnung um Wachstum. (…) Angst spaltet, Hoffnung vereint.“ Spätestens seitdem ich den Brandstiftern von Minneapolis begegnet bin, treibt mich immer wieder die Frage um, ob in Amerika die Hoffnung triumphieren wird oder die Angst. Der Sturm aufs Kapitol am 6. Januar 2021 hat meine Zweifel verstärkt. Besitzt die amerikanische Demokratie die Widerstandskraft, um die großen Herausforderungen unserer Zeit zu überleben? Ist Amerika immer noch das Land, in dem man seine Kinder aufwachsen lassen möchte? War Donald Trump nur ein „Unfall der Geschichte“ oder die logische Konsequenz einer Entwicklung, die schon vor Jahrzehnten eingesetzt hat? Wird dem Angstmacher Trump ein politisches Comeback gelingen, oder kann Präsident Biden sein Versprechen einlösen, die „Seele Amerikas zu heilen“?

Um Antworten auf all diese Fragen zu finden, reise ich quer durch die USA. In Tulsa, Oklahoma versuche ich, den Wurzeln des Rassismus und den Ursachen für strukturelle Polizeigewalt gegen Schwarze auf den Grund zu gehen. Die „Black Wall Street“ von Tulsa war 1921 Schauplatz eines Massakers durch einen weißen Mob an der schwarzen Bevölkerung. Und die Geschichte scheint sich zu wiederholen – wie ich von einem Geistlichen erfahre, der seinen Sohn durch eine Polizeikugel verloren hat.

Waffengewalt ist in Amerika allgegenwärtig – und auch sie offenbart Ängste, die tief in der amerikanischen Gesellschaft verwurzelt sind. Besonders das ländliche Amerika fühlt sich permanent bedroht und pocht auf das verfassungsmäßige Recht auf Waffenbesitz. In Texas erlebe ich, welch monströse Taten durch die laxen Gesetze ermöglicht werden. Ich lerne aber auch die mutigen Überlebenden des Amoklaufs an der Highschool von Parkland in Florida kennen, die sich gegen die mächtige Waffenlobby NRA auflehnen.

Wie groß der Einfluss von Lobbyisten auf die Politik in Washington ist, wird bei einem Blick hinter die Kulissen des Kapitols deutlich. Ein Lobbyist wird mir überraschend offen erklären, wie er davon lebt, Politiker im Sinne seiner Klienten zu beeinflussen. Kein Wunder, dass drei Viertel der Amerikaner laut einer Umfrage Angst vor Korruption von Regierungsangehörigen äußern. Präsident Trump war mit dem Versprechen angetreten, den „Sumpf“ auszutrocknen. Joe Biden zog mit ähnlichen Ankündigungen in den Wahlkampf. Ich will herausfinden, ob immer noch das große Geld entscheidet, wer in der Hauptstadt für wen Politik macht.

Nicht nur Geld, auch Gott spielt für die Mächtigen in Washington eine zentrale Rolle. Eine geheime Gruppe christlicher Fundamentalisten, die sich „die Familie“ nennt, beeinflusst die amerikanische Politik. Mitglieder der „Familie“ treffen sich regelmäßig im US-Kongress, im Verteidigungsministerium und anderen mächtigen Institutionen zu geheimen Gebetskreisen. Die geheimnisvolle Gemeinschaft kämpft zum Beispiel gegen die Homo-Ehe und gegen das Recht auf Abtreibung. All das berichtet mir ein Aussteiger. Um der Sache auf den Grund zu gehen, treffe ich das Oberhaupt der „Familie“ zu einem höchst seltenen Interview.

Eine weitere besondere Begegnung erwartet mich mit dem Koch des Weißen Hauses. Andre Rush war für das leibliche Wohl aller Präsidenten von George W. Bush bis Donald Trump zuständig. Es war ausgerechnet die Angst, die ihn an den Herd getrieben hat. Das Kochen half dem Veteranen, mit seiner posttraumatischen Belastungsstörung umzugehen. Seine Geschichte verrät viel über den Krieg der USA in Afghanistan, der offiziell beendet ist, dessen Schrecken aber für Soldaten wie Andre Rush niemals endet.

Um Über die Demokratie in Amerika zu schreiben, nahm der französische Publizist, Historiker und Politiker Alexis de Tocqueville 1831 das amerikanische Gefängnissystem unter die Lupe. Das erscheint mir heute wieder als ein vielversprechender Ansatz, denn nirgendwo auf der Welt sitzen so viele Menschen im Gefängnis wie in den USA. Mehr als 2,1 Millionen sind inhaftiert. Meine nächste Reise führt mich deshalb hinter die Gitter des legendären San Quentin State Prison in Kalifornien, wo Johnny Cash 1969 sein erfolgreichstes Livealbum aufnahm.

In Kalifornien kann beziehungsweise muss ich auch die Auswirkungen des Klimawandels beobachten. Die verheerenden Waldbrände dort haben allein im Jahr 2020 eine Fläche in der Größe von Rheinland-Pfalz vernichtet und eine neue politische Diskussion entfacht. Weil Donald Trump schlechtes Forstmanagement für die Feuer verantwortlich machte, nannte Joe Biden ihn einen „Klima-Brandstifter“. Biden vollzog eine radikale Abkehr vom Kurs seines Vorgängers und will in den kommenden Jahren gigantische Summen in eine „saubere Energiewende“ investieren. Um für sein grünes Programm zu werben, bedient sich Biden allerdings auch eines altbewährten Mittels – der Angst.

Doch selbst gegen die Angst vor dem Tod scheint das Silicon Valley eine Technik entwickelt zu haben. Ich lerne einen modernen „Dr. Frankenstein“ kennen, der Tote einfriert – in der Hoffnung, deren unheilbare Krankheiten in Zukunft bekämpfen und sie dann einfach wieder auftauen zu können. Außerdem treffe ich Forscherinnen und Forscher, die Alterungsprozesse verlangsamen und Krankheiten bekämpfen wollen, bevor sie Schaden anrichten. Und wer reich genug ist, soll Ersatzorgane aus dem 3-D-Drucker bekommen.

Während das Silicon Valley an der Zukunftsvision vom Triumph über den Tod arbeitet, sehnt man sich andernorts nach der Simplizität der Industriegesellschaft der 1950er-Jahre zurück. Zum Beispiel in West Virginia, das zu den ärmsten US-Bundesstaaten gehört. Seitdem unzählige Kohleminen geschlossen wurden, ist die Arbeitslosigkeit hoch und die Angst vor dem Abstieg groß. Es gibt viele Schmerzmittel- und Drogenabhängige. Im Rest des Landes werden die Bewohner West Virginias oft als „Hillbillys“ (Hinterwäldler) verspottet, doch einmal im Jahr bietet sich für die Männer dort die Gelegenheit, sich ihren Stolz zurückzuholen und im Boxring für ein besseres Leben zu kämpfen.

Die Fäuste fliegen auch bei den „Proud Boys“. Nach außen geben sie sich als harmlose Patrioten. Doch Bürgerrechtsorganisationen stufen die rechte Bruderschaft als hasserfüllt und rassistisch ein. Am Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 waren einige ihrer Mitglieder maßgeblich beteiligt. Noch kurz vor der Wahl statte ich ihnen in St. Louis einen Besuch ab, der seltene Einblicke ins Innenleben der gefährlichen Gruppe ermöglicht und das Phänomen des Rechtsextremismus in den USA konkret werden lässt.

Mit seinem Versprechen, die gesellschaftlichen Gräben zu überwinden, hat Joe Biden 2020 die Präsidentschaftswahl nur knapp gewonnen. Ein Besuch in seinem Heimatort Wilmington im US-Bundesstaat Delaware zeigt, warum ihm so viele Amerikaner tatsächlich zutrauen, das gespaltene Land zu einen. Ich treffe alte Weggefährten und überzeugte Anhänger wie den Kellner seines Lieblingsrestaurants. Aber selbst in Bidens Nachbarschaft gibt es kritische Stimmen, die Zweifel daran aufwerfen, ob Biden das tief gespaltene Land wirklich versöhnen kann.

Auf all meinen Stationen ist das Ringen zwischen Angst und Hoffnung allgegenwärtig – und das Ende offen. Vielen Deutschen ist das einstige Sehnsuchtsland Amerika, das wir so gut zu kennen glaubten, fremd geworden. Amerika macht vielen Deutschen manchmal sogar Angst. Um zu verstehen, warum, begleiten Sie mich auf dieser Reise durch ein Land im emotionalen Ausnahmezustand.

Jan Philipp Burgard

Über Jan Philipp Burgard

Biografie

Dr. Jan Philipp Burgard, Jahrgang 1985, studierte Politikwissenschaft, Neuere Geschichte und Öffentliches Recht in Bonn und Paris. Von 2017 bis 2021 berichtete er als ARD-Korrespondent aus den USA. Seit 2021 ist Burgard Chefredakteur des Nachrichtensenders WELT. Für seine journalistische Arbeit...

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