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Halbschwergewicht - eBook-Ausgabe Halbschwergewicht

Edgar Rai
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Roman

„Bis zur letzten Seite spannend und voll lebendiger Figuren.“ - Hamburger Morgenpost

Alle Pressestimmen (6)

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Halbschwergewicht — Inhalt

Drei Jahre, sechs Monate, elf Tage. Als Lucky aus der Haft entlassen wird, ist die Welt eine andere. Doch auch in dieser Welt will er herausfinden, wie das damals gelaufen ist mit der Toten in seinem Hotelzimmer, wieso ihn Marcello gelinkt hat und vor allem, ob seine Frau Yvonne davon wusste. Jetzt ist Yvonne mit Marcello zusammen, hat Lucky verraten, noch während er im Knast saß. Und deshalb steht er jetzt vor ihrer Tür. Will er, dass sie zu ihm zurückkommt? Oder klammert er sich um jeden Preis an die Vergangenheit? Irgendwie schon, ja, aber Lucky hat sowieso keine andere Wahl, denn die Vergangenheit hat ihn gerade eingeholt: Sein alter Trainer ist erschossen worden - und Lucky der einzige Verdächtige.

€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 03.04.2018
240 Seiten
EAN 978-3-492-99102-5
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€ 11,00 [D], € 11,40 [A]
Erschienen am 02.09.2019
272 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-23249-4
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Leseprobe zu „Halbschwergewicht“

Kurz vor Ende der neunten Runde fing Lucky sich endlich den Treffer ein, der ihm erlaubte, auf die Bretter zu gehen. Erst jetzt, das Gesicht auf der Matte, den Blick unter den Seilen hindurch, entdeckte er Helmut, der sich den Weg durch die aufspringenden Zuschauer bahnte. Lucky war sicher gewesen, dass er kommen und sich seinen Comeback-Fight ansehen würde.


„Eins!“

Mit dem rechten Ohr stimmte etwas nicht. Das Trommelfell. Der Arzt, der ihn am nächsten Tag in der U-Haft untersuchte, sagte dazu: „Stellen Sie sich einfach eine aufgeplatzte Tomate vor.“ Der [...]

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Kurz vor Ende der neunten Runde fing Lucky sich endlich den Treffer ein, der ihm erlaubte, auf die Bretter zu gehen. Erst jetzt, das Gesicht auf der Matte, den Blick unter den Seilen hindurch, entdeckte er Helmut, der sich den Weg durch die aufspringenden Zuschauer bahnte. Lucky war sicher gewesen, dass er kommen und sich seinen Comeback-Fight ansehen würde.


„Eins!“

Mit dem rechten Ohr stimmte etwas nicht. Das Trommelfell. Der Arzt, der ihn am nächsten Tag in der U-Haft untersuchte, sagte dazu: „Stellen Sie sich einfach eine aufgeplatzte Tomate vor.“ Der Ruf des Ringrichters kam wie durch Wasser. Lucky spürte die blaue Matte kühl an seiner Wange, den Puls an seinem Hals, irgendwo zwischen 160 und 170. Liegen bleiben, bleib einfach nur liegen. „Das wirst du doch wohl schaffen“, hatte Marcello gesagt. Penner.


„Zwei!“

Nicht so einfach – liegen bleiben. Nicht für einen wie Stefano Ferrante alias Lucky. Dreißig Siege als Profi, dreiundzwanzig davon durch K. o., ein Unentschieden, ein technischer K. o. durch Verletzung. Nicht ein einziges Mal in seiner Karriere war er auf die Bretter gegangen, und jetzt sollte er liegen bleiben. Aus den ersten Reihen ertönten ungläubige Rufe: „Steh auf, Lucky!“


„Drei!“

Wenn dieser feiste Sack von Ringrichter in dem Tempo weitermachte, hätten sie die Tribünen abgebaut, bevor er Lucky ausgezählt hatte. Offenbar meinte er es gut mit ihm und wollte ihm die Chance geben, wieder auf die Beine zu kommen. Doch Lucky musste liegen bleiben. Sonst war sein Geld weg – alles. „Niederlage nach Punkten reicht nicht“, hatte Marcello ihm eingeschärft. „Du musst auf die Bretter.“


„Komm hoch, verdammt!“

Eine schrille Frauenstimme, die ihm entfernt bekannt vorkam und die selbst durch den aufbrausenden Tumult und das blutgefüllte Ohr zu hören war. Doch es war nicht seine Frau, die da aus Leibeskräften schrie. Yvonne saß direkt hinter dem Richtertisch in der ersten Reihe, hielt ihre Handtasche im Schoß und sah Lucky an wie einen gestrandeten Fisch. Er schloss die Augen.


„Vier!“

Das gesamte Huxleys erhob sich wie eine Wand. Lucky spürte es mit geschlossenen Augen. Zweitausend Fans, die Zeugen seiner Rückkehr auf die große Bühne werden wollten und denen er jetzt den nackten Arsch ins Gesicht streckte. Ausgerechnet im Huxleys, Neukölln, sein Kiez. Zwei U-Bahn-Stationen von hier war er aufgewachsen. Heimspiel. Als er seine Augen wieder öffnete, hatte Helmut dem Ring den Rücken zugekehrt und steuerte mit hängenden Schultern den Ausgang an. Lucky hätte gern nach ihm gerufen. Zu seiner eigenen Überraschung hatte er Tränen in den Augen.


„Fünf!“

Er stemmte die rechte Faust in den Boden – als versuchte er, auf die Beine zu kommen. Er war ein miserabler Schauspieler, immer gewesen. Trotzdem ging ein hoffnungsvolles Raunen durch die Halle. „Lass uns nicht hängen, Lucky!“ Wieder diese Frauenstimme.

Er sah die Beine seines Gegners durch sein Sichtfeld tänzeln. Acht Runden lang war der „hanseatische Hammer“ im Rückwärtsgang unterwegs gewesen, jetzt konnte er plötzlich steppen.

Wahrscheinlich bildete er sich tatsächlich ein, Lucky auf die Bretter geschickt zu haben. Das Gesicht auf der Matte, tastete Lucky mit seinem Blick die Reihen ab. Die gesamte Halle war auf den Beinen, bis auf den letzten Rang. Nie in seinem Leben hatte er sich mehr geschämt.


„Sechs!“

Sein Blick verschleierte sich. Wann hatte er das letzte Mal Tränen in den Augen gehabt? Hatte er überhaupt jemals geweint? Kein Eintrag. Er stemmte auch die linke Faust in den Boden, die einmal seine Schlaghand gewesen war. Noch konnte er sich entscheiden. Auch mit geplatztem Trommelfell und einer Linken, die nur noch zum Winken taugte, könnte er diesen Kampf für sich entscheiden. Den hanseatischen Hammer würde er mühelos mit der Führhand auf Distanz halten. Nach Punkten lag er vorn. Er musste nur aufstehen und drei Runden lang stehen bleiben. Würdevoll abtreten. Dass er nach seiner Verletzung aus dem letzten Kampf nie wieder richtig würde boxen können, wusste schließlich niemand. Neben Yvonne saßen die, denen er diesen Schlamassel zu verdanken hatte: Marcello, Nino, dahinter Schlepper, Ninos Mann fürs Grobe. Unter den zehn größten Arschgeigen der Stadt rangierten Nino und Marcello wahrscheinlich auf den Plätzen drei und fünf. Und Lucky hatte sich an sie verkauft.


„Sieben!“

Beim Walk-In hatte er geglaubt, Helmuts Blick im Nacken zu spüren, unter der Kapuze. Unsinn natürlich. Aber gekommen war er. Und jetzt war er weg. Lucky konnte ihn nirgends mehr entdecken. So sicher er vor dem Kampf gewesen war, dass Helmut ihn beobachtete, so sicher war er jetzt, dass er ihm für immer den Rücken gekehrt hatte. Von allen guten Geistern verlassen.

Lucky hatte nicht den Mut aufgebracht, ihm den Deal mit Marcello und Nino zu beichten. War auch nicht nötig. Nach dieser Einlage konnte sich Helmut seinen Teil denken. Du kannst der Presse etwas vormachen, deinen Gegner täuschen, manchmal sogar dich selbst. Nicht aber deinen Trainer, nicht Helmut.

Das Chaos in der Halle war auf nicht nachvollziehbarem Weg in einen rhythmischen Schlachtruf übergegangen: Lu-cky, Lu-cky, aus zweitausend Kehlen, Lu-cky! Er spürte die Vibration in den Eingeweiden. Er zog die Beine unter den Bauch und stemmte sich in den Vierfüßlerstand. Die Rufe der Zuschauer sammelten sich unter der Hallendecke wie ein explodierendes Feuer. Nino sah alarmiert zu ihm auf, Marcello starrte scheinbar in Gedanken versunken ins Nichts, Yvonne hatte noch immer diesen Blick, den Lucky nicht deuten konnte. Abscheu? Mitleid? Sie kam ihm sehr weit weg vor. In diesem Moment ging ihm auf, dass etwas faul war.


„Acht!“

Das hanseatische Duracell-Häschen hüpfte noch immer durch den Ring, die Sensation zum Greifen nah. Unter normalen Umständen hätte Lucky dem Typen so oft die eigenen Handschuhe auf die Ohren gehauen, dass der spätestens in Runde vier von allein die Matte geknutscht hätte. Stattdessen hatte sein Gegner acht Runden lang kaum jemals den Arm ausgefahren. Als hätte man ihn erst gestern in die Geheimnisse der Doppeldeckung eingeweiht, und jetzt könnte er gar nicht genug davon bekommen, allen zu zeigen, wie schön er die Ellenbogen zusammenhalten und sich die Handschuhe auf die Ohren drücken konnte. Wie sollte sich Lucky von so einem K. o. schlagen lassen?

„Was soll ich denn n-noch machen?“, hatte er gemault, als Marcello in der Pause in seiner Ringecke aufgetaucht war. „Mir einen Krei-eis aufs Kinn malen, damit er w-weiß, wo er hinschlagen soll?“

„Lass einfach die Deckung hängen.“

„Da kann ich m-mir die Arme ja gleich auf-f den Rücken binden.“

Lucky angelte mit der Rechten nach dem Seil und versuchte, es so aussehen zu lassen, als wollte er sich hochziehen. Der Saal bäumte sich auf.


„NEUN!“

Plötzlich wusste Lucky, was in der ersten Reihe hinter dem Richtertisch nicht stimmte. Es war nicht Yvonnes Blick, ihre sonderbare Teilnahmslosigkeit, und es war auch nicht Nino mit seinem West-Coast-Rapper-Gedöns um den Hals und seiner violett getönten Brille. Früher wäre so einer in Luckys Kiez keine drei Blocks weit gekommen, ohne rasiert zu werden. Nein, es war Marcello in seinem Maßanzug mit den hervorblitzenden Manschettenknöpfen in Form von Boxhandschuhen. Die Art, wie er zu Boden sah. Als schämte er sich. Ein Gefühl, das dem Promoter ansonsten komplett abging. Wenn Marcello ein schlechtes Gewissen hatte, stimmte etwas nicht. Hier war etwas im Gange, und Lucky hatte das deutliche Gefühl, der Einzige zu sein, der keine Ahnung hatte, was es war. Und kein Helmut weit und breit.

Er erinnerte sich, wie er damals, beim Finalkampf um die deutsche Meisterschaft der Kadetten, zwar gewonnen, aber schrecklich Prügel bezogen hatte. Stolz wie Bolle wollte er seinem Trainer um den Hals fallen, Helmut aber sah ihn nur ernst an.

„Was ist los?“ Einen Moment lang glaubte Lucky, den Kampf gar nicht gewonnen zu haben – dabei trug er doch den Lorbeerkranz um den Hals.

„Es muss doch irgendetwas geben, wovor du Angst hast!“, fuhr Helmut ihn an.

Lucky stand da wie versteinert. „Ich weiß nicht.“

Ihm war das Konzept unklar. Falls er die Erfahrung „Angst haben“ gemacht hatte, war sie nicht mit dem verknüpft, womit sie bei anderen verknüpft war.

Drei Tage später hatte er die Antwort. Als er am Mittwoch zum Training erschien, sagte er: „Ich hab eigentlich nur Angst davor, dich zu enttäuschen.“

„Dann denk dran, wenn du das nächste Mal in den Ring steigst.“

„Aber ich hab doch gewonnen!“

„Ja, aber du musst besser auf dich aufpassen. Sonst machst du es nicht lange.“

Jetzt, zwanzig Jahre später, war es so weit. Er hatte Helmut enttäuscht. Wie ein Büßer auf der Matte kniend, ließ er die Arme sinken und begann zu weinen.

 

„AUS!“



1

Statt ihm alles Gute zu wünschen, wie er das sonst macht, wenn ein Häftling wieder auf freien Fuß kommt, hebt der Wärter den Ellenbogen auf Schulterhöhe und tippt sich mit zwei Fingern an die Schläfe. Zu viele Amifilme geglotzt, denkt Lucky und tritt durch die Pforte in den diesigen Novembervormittag. Ist lange her, dass er das letzte Mal Wind auf der Haut gespürt hat. Er schüttelt es ab – wie um sich auf die nächste Runde vorzubereiten. Eine Bewegung, die ihm lebenslang eingeschrieben bleiben wird. Das Tor IV der JVA rollt mit genau dem Geräusch ins Schloss, das man von einem vier Meter hohen Stahltor erwartet.

Drei Jahre, sechs Monate, elf Tage. Bei seinem Haftantritt war Frühling gewesen. Auf dem Rasenstreifen vor der Gefängnismauer hatten Blumen geblüht. Jetzt ist Herbst und die Welt eine andere. Zwei Krähen hüpfen schwerfällig über den nassen Rasen, das Rauschen der nahen Autobahn ist zu hören. Lucky wirft einen Blick über die Schulter. Die Stacheldrahtspirale auf der Gefängnismauer schraubt sich in den Nebel hinein, der Wachturm scheint zu schweben. Die Turbinen eines startenden Flugzeugs heulen auf. Die Welt mag nicht mehr dieselbe sein, aber Tegel ist noch in Betrieb. Willkommen zurück.

„Auf freiem Fuß“ ist ein Ausdruck, der den Sachverhalt in Luckys Fall nur unzureichend beschreibt. „Die ersten Schritte sind die schwersten“, hat der Typ gesagt, als er ihm nach dem Frühstück die elektronische Fußfessel anlegte. „Aber Sie gewöhnen sich dran.“ Es war unklar, ob er die ersten Schritte in Freiheit meinte oder die ersten Schritte mit Fußfessel. Er grinste. Als wären sie Kumpel oder alte Weggefährten. „Wird Ihnen auch kaum etwas anderes übrig bleiben.“ Dreieinhalb Jahre Haft, ohne den wahren Grund zu kennen, und zum Dank dafür bekommst du bei der Entlassung eine Fußfessel. Lucky hätte dem Typen gern seine blendend weißen Zähne ausgeschlagen.

Was würde Mongo dazu sagen? Sicher würde er einen seiner Standardsprüche ablassen: „Es existiert allein das Jetzt.“ Komischer Vogel, von einem anderen Stern. Aber eben auch – was? – weise? Saß den ganzen Tag auf seinem Bett, als würde ihm jemand heimlich etwas zuflüstern. Immer in seiner orangefarbenen Mönchskutte. Konnte Lucky niemand beantworten, warum ausgerechnet er die tragen durfte, während alle anderen im Anstaltsoutfit herumzulaufen hatten. Bis heute weiß Lucky nicht, weshalb sie ihn eigentlich eingebuchtet haben. Ist nicht wichtig, meinte der Abt. Aber er sitzt noch immer, und er saß schon ein, als Lucky zu ihm in die Zelle kam.

Natürlich heißt er nicht wirklich Mongo. Eigentlich heißt er Munhoe oder Muhau oder so. Aber weil Lucky es auch nach dem x-ten Mal nicht richtig aussprechen konnte und der Abt nur in Zeitlupe zwei japanische Schriftzeichen aufmalte, als Lucky ihm sagte, er solle seinen Namen schreiben, nannte er ihn von da an einfach Mongo. Der Abt störte sich nicht daran. Der störte sich an gar nichts. Saß in aller Seelenruhe im Lotussitz auf seinem Kissen und starrte die Wand an. Jeden. Verdammten. Tag.

„Und w-was soll das bringen?“, wollte Lucky irgendwann wissen.

„Es muss nichts bringen“, erwiderte Mongo.

„Dann isses Zeitverschw-wendung.“

„Wir nennen es ›Zazen‹. Es ist die Zeit, in der du nichts und niemandem gehörst. Es ist gewonnene, nicht verlorene Zeit.“

„Jede Mi-inute hier drin ist verlo-orene Zeit, Mann.“

„Einem Zen-Mönch stehen alle Richtungen offen.“

„Ach ja? Dann geh mal nach links.“

„Damit ist gemeint, dass ich an jedem Ort nahe der Praxis sein kann, auch in einer Gefängniszelle.“

War wirklich nicht einfach gewesen mit Mongo und seinen Weisheiten. Trotzdem weiß Lucky schon jetzt, dass er seinen Zellengenossen vermissen wird.

 

Es gibt also allein das Jetzt. Die Vergangenheit ist unwiederbringlich dahin. So weit die Theorie. Die Praxis dagegen sieht anders aus: In der existiert die Vergangenheit nämlich, und zwar so was von, physisch, als Fußfessel, sie hängt an Luckys Bein mit dem Gewicht eines Boxsacks. Wie auch immer Mongo das im Hier und Jetzt erklären würde.

Lucky hört das Klicken eines Auslösers. „Hier, Lucky!“

Vorn an der Straße schält sich ein Reporter aus dem Dunst. Fettige Haare, schmale Schultern, Kippe, Adidas Universal. Einer von denen, die bei Windstärke drei von allein aus den Latschen kippen. Innerhalb von zwei Sekunden macht er ein Dutzend Fotos. Bechtheimer, der Leiter von Block V, bot Lucky an, bei der Entlassung ausnahmsweise Tor IV zu benutzen. „Um der Meute zu entgehen“, wie er das nannte. Jetzt ist natürlich doch einer da, exklusiv. Lucky tippt auf BILD oder BZ, die haben die besten Connections. Und Bechtheimer vermutlich ein paar Hunderter mehr in der Tasche. Nimmt eben jeder, was er kriegen kann. Da unterscheidet sich der Knast kein bisschen vom Rest der Welt.

„V-verpiss dich“, ruft Lucky.

Der Auslöser rattert wie eine Geldzählmaschine. „Was wirst du jetzt machen, Lucky?“

„Fick dich.“

„Wie ist das so – mit einer Fußfessel rumlaufen zu müssen?“

Das weiß er also auch. Gut informiert. Lucky rückt den Gurt seiner Trainingstasche zurecht und denkt an die Worte des Fußfesselfuzzis: Die ersten Schritte sind die schwersten. Er spürt den Raum um sich herum wie auf einem Zehn-Meter-Brett, wenn der Handlauf endet. Einen Fuß vor den anderen setzend, geht er vor bis zum Bürgersteig, während sich die Gefängnismauer in seinem Rücken schrittweise von ihm entfernt. Der erwartungsvolle Blick des Reporters bekommt derweil einen verunsicherten Beigeschmack.

„Lucky, wie …“

Lucky schneidet ihm das Wort ab. „Hast du ne F-fluppe?“

Der Typ fummelt ein Zigarettenpäckchen aus der Tasche, das aussieht, als hätte er es beim Topfschlagen gewonnen – lila und rosa. Hätte sich vor ein paar Jahren auch niemand träumen lassen. Kaum hält Lucky die Zigarette zwischen den Lippen, schnalzt ein Zippo, und er hat eine Flamme vor der Nase. Er zieht den Rauch ein, füllt die Lunge damit, stößt ihn aus. „Du hast deine F-fotos, jetzt ver-verpiss dich.“

Die beiden trennt eine Armlänge. Ein Jab, und der Reporter fände sich in der Waagerechten wieder. Wäre nicht der erste Pressefuzzi, dem das passiert.

„Geht klar, Lucky.“

Mit raumgreifenden Schritten geht der Reporter um seinen Wagen – einen beigefarbenen Skoda –, im nächsten Moment verschwinden die Rücklichter im Nebel. Lucky setzt die Kapuze seiner Trainingsjacke auf und geht los.

 

Die Frage ist: Wohin gehst du, wenn alles, wirklich alles, was du noch hast, Anwaltsschulden sind? Er ist übel gefickt worden, so viel steht fest. Was hat Mongo bei Luckys Verabschiedung heute Morgen gesagt? „Das Leben, das du heute nicht lebst, wird für immer ungelebt bleiben.“

Wie üblich fangen die Sätze des Abts nach einer Weile von selbst an, in Luckys Kopf ihre Kreise zu drehen. Wenn du dir mehr als zwei Jahre lang eine Zelle mit einem orange gefiederten Zen-Vogel teilst, dann wunderst du dich irgendwann, nicht selbst in einer Mönchskutte aufzuwachen.

Für Mongo existierte also nur das Jetzt. Folglich, und das leuchtete Lucky ein, konntest du dein Leben auch nur im Jetzt leben. Das Leben, das du heute nicht lebst, wird für immer ungelebt bleiben. Wie konnte etwas für immer sein, wenn es sowieso nur das Jetzt gab? Lucky kann die Bedeutung dieses Satzes nicht richtig greifen, aber er spürt die darin enthaltene Aufforderung: dass man so tun soll, als gebe es kein Morgen, und dann merkt man schon, worauf es ankommt.

Inzwischen hat er die Beusselbrücke erreicht, unter ihm führen eine sechsspurige Autobahn und der Schiffskanal hindurch. Lucky spürt die Vibration in den Fußsohlen. Der Lärm kommt von überall zugleich, als steckte er in einem Trichter fest. Über der Autobahn und dem Kanal hat der Wind eine Schneise in den Nebel geblasen, Luckys Blick geht kilometerweit in Richtung Westen, ohne auf ein Hindernis zu treffen. Ihm wird schwindelig davon. Außerdem macht ihn die Brücke seekrank.

Er lässt die Tasche von der Schulter rutschen, umfasst mit beiden Händen das Geländer und übergibt sich auf einen mit Elektroschrott beladenen Kahn, der gerade den Westhafen verlässt und unter dem Brückenbogen hervorkommt. Das Leben, das du heute nicht lebst, wird für immer ungelebt bleiben.

 

Lucky läuft vier Stunden lang in südöstlicher Richtung. So viel Raum. In der Turmstraße zieht er sich auf seinen frisch geleerten Magen einen Döner rein, später, am Nollendorfplatz, kauft er eine Flasche Wasser. Bei seiner Festnahme waren über 400 Euro in seinem Portemonnaie gewesen, vorhin, bei der Herausgabe, waren es noch dreizehn Euro achtzig. Eine Geldentwertung wie im Krieg. Er versucht, so zu gehen, als trüge er keine Fußfessel. Aber je mehr er darauf achtet, umso ungleicher wird sein Gang. Wie angeschossen. Er sieht es im Vorbeigehen in den Schaufenstern. Oder bemerkt nur er es?

Jeder Zweite, der ihm auf der Straße begegnet, erkennt ihn. Logisch. Da hilft auch die Kapuze wenig. Manche grinsen, manche nicken, manche glotzen, manche wenden den Kopf ab. Dreieinhalb Jahre sind eine lange Zeit, aber Lucky war eine Berühmtheit, und seine Hackfresse, wie er selbst sie nennt, hat in etwa den Wiedererkennungswert eines gelben Ferraris. Er weiß das, er hatte mal einen. Ex-WBO-Champion der Herzen und Modelmörder. Beides stimmt nicht: weder Model noch Mörder. Er hat sie nicht umgebracht. Und wenn sie eines sicher nicht gewesen war, dann ein Model.

Auch wenn niemand zu sehen ist, kommt Lucky sich beobachtet vor. Das Gefühl lässt sich nicht abschütteln. Er nimmt an, dass es mit der Fußfessel zusammenhängt. In diesem Moment glotzt irgendein BKA-Lutscher in Bielefeld oder wo auch immer auf einen Monitor und sieht ihn durch den Tiergarten laufen, verfolgt jeden seiner Schritte. Er hat das Ding noch keine fünf Stunden am Fuß, und schon nervt es mehr als jeder Tripper. Auch den hatte er schon.

Für die ersten sechs Monate hatten sie ihn in den geschlossenen Vollzug gesteckt. Er sei psychisch labil, hieß es. Die Hölle auf Erden. Du denkst: Mir doch egal, fickt euch! Aber sie kriegen dich klein, jeden Tag ein bisschen, und du kannst nichts dagegen tun. Selbst tausend Liegestütze am Tag helfen nicht, und die helfen sonst gegen praktisch alles. Dafür ist der geschlossene Vollzug da: um dich kleinzukriegen. Sonst nichts. Und es funktioniert. Er frisst dich auf, von innen. Hätten sie ihm nach diesen sechs Monaten eine Rasierklinge unter der Tür durchgeschoben, Lucky hätte sich, ohne zu zögern, die Pulsadern aufgeschlitzt.

Am Gendarmenmarkt angekommen, setzt er sich das erste Mal hin. Sechs Grad und Nieselregen, aber die Touristengruppen eilen über den Platz wie Insekten auf Nahrungssuche. Lucky wählt eine Bank mit Blick auf das Penthouse, in dem Yvonne und er gewohnt haben. Richtig angekommen ist er dort oben nie. In der gesamten Wohnung keine einzige Ritze, weder im Boden noch an der Wand, noch sonst irgendwo. Er kam sich vor wie in einem Hotel. Aber Yvonne ging steil drauf, logisch. Umlaufender Balkon mit Blick auf den Gendarmenmarkt. Jeden Morgen trat sie als Erstes halb nackt ans Geländer, um zu sehen, ob ihr Platz noch da war. Während Lucky einsaß, hat sie den Mietvertrag gekündigt. Soweit er weiß, ist ein Teil der Möbel irgendwo eingelagert, aber zum einen hat er kein Geld, sie auszulösen, zum anderen hat er keine Wohnung mehr. Nicht einmal einen Schlüssel hat er mehr bei sich, keine Wohnung, kein Auto, kein Fahrradschloss.

Yvonnes neuem Wohnort darf er sich nur bis auf hundert Meter nähern. Das ist einer der Gründe für die Fußfessel. Wenn er ihr näher kommt, geht in – wo, Füssen? – ein Alarm los, und sie schicken einen Konvoi, der ihn innerhalb von zwei Minuten zur Strecke bringt. So oder so ähnlich. Dabei darf Lucky gar nicht wissen, wo Yvonne inzwischen wohnt, aus Sicherheitsgründen. Die Richterin, die versonnen mit ihrer Halskette spielte, wenn sie sprach, ordnete an, die Adresse geheim zu halten. Und alles nur, weil ihm bei einer Befragung während der Haft einmal herausgerutscht war, dass er Yvonne („der Schlampe“) nach seiner Freilassung gern den Kopf um 360 Grad drehen würde.

„Und w-wie soll ich dann wissen, ob ich zu n-nah dran bin?“, fragte Lucky.

„Das werden Sie sehr schnell merken“, hatte die Richterin geantwortet und dabei mit der Zunge geschnalzt.

Die ganze Zeit über redete sie mit ihm wie mit einem Kind. Oberlehrerfotze, dachte er, doch er murmelte lediglich: „F-fotze.“ Die Oberlehrerin ließ er weg. Worte mit mehr als drei Silben konnte er okay denken, aber im Mund brachen sie auseinander.

Es spielt keine Rolle. Lucky weiß, mit wem sie jetzt zusammenwohnt, die ganze Stadt weiß es, und wo er den betreffenden Kandidaten findet, weiß Lucky auch. Eins nach dem anderen.

 

Der Kiez, in dem er groß geworden ist, erscheint Lucky noch stärker verändert als der Rest der Stadt – das Karree um den Herrfurthplatz zwischen Boddin- und Leinestraße. Früher roch es hier im Winter nach Kohleheizung, selbst vor ein paar Jahren noch. Der stechende Geruch war zwar harmlos im Vergleich zu früher gewesen, aber immer noch präsent. Jetzt ist er verschwunden. Die Gegend kommt ihm insgesamt heller vor. Dabei kündigt sich bereits der Abend an, und die Wolken liegen wie Asche auf den Dächern. Reihenweise sind die Altbauten saniert worden und erstrahlen in sonnigem Gelb und unverbrauchtem Cremeweiß. Erst haben sie den Osten durchsaniert, jetzt ist offenbar der Westen dran.

Das Haus seiner Kindheit ist eingerüstet, das Dach wird ausgebaut. Im abgesperrten Bereich vor dem Eingang stehen ein A8 mit Frankfurter und ein Tesla mit Münchner Kennzeichen. Im Hof ist ein halbes Dutzend Menschen damit beschäftigt, die Stahlstreben für den künftigen Außenaufzug zu nummerieren. Lucky verschwindet im Seitenaufgang und geht hinauf in den dritten Stock. Er weiß genau, wie es hinter der Wohnungstür aussieht: zwei Zimmer, Küche, Bad, kein Balkon, keine Sonnenseite, keine Zentralheizung. Eine Weile steht er auf dem Treppenabsatz, als überlege er, wie er seiner Mutter diesmal den Cut über dem Jochbein und das geschwollene Auge erklären soll. Das Treppengeländer und die Türen sind neu gestrichen worden, es riecht nach Farbe. Sicher wird im Anschluss das Linoleum erneuert. In der Ecke steht ein Paar Gummistiefel von jemandem, der gerade erst laufen gelernt hat. Auf dem Fußabtreter zwei lachende Marienkäfer, die ihre Fühler zusammenstecken. Er geht, wie er gekommen ist, ungesehen.

Die krasseste Veränderung bemerkt Lucky, als er wieder auf die Straße tritt: Der Obst- und Gemüsehändler an der Ecke ist verschwunden. Mit dem hat alles angefangen. Irgendwer hat, während er im Gefängnis saß, unbemerkt einen Teil von Luckys Biografie amputiert. Statt Obst, Gemüse, Bier und Margarine gibt es dort jetzt Burger. Junge bärtige Männer schieben Essen in sich hinein, als wäre das Teil einer kultischen Handlung. Lucky zählt sein Geld und geht hinein. Das Innere ist so verändert, dass er nicht mehr sagen könnte, wo hier früher welches Regal gestanden hat. Ein satter Geruch umfängt ihn, tierisch und nahrhaft und irgendwie geil. Er hat vergessen, dass der Geruch von Essen einem tatsächlich Appetit machen kann, bestellt einen XL-Burger mit extra Bacon und glaubt, sich zu verlesen, als 9,80 auf dem Display aufleuchtet.

„Was ist mit dem Gemüsel-laden?“, fragt er, während er sein letztes Geld über die Theke reicht.

Der Typ lächelt freundlich. Könnte Lucky sofort reinschlagen.

„Obst und Gem-müse?“, versucht er einen zweiten Anlauf.

Der Typ lässt seine Zähne aufblitzen: „Sorry?“

Lucky wechselt die Tasche von der rechten auf die linke Schulter, lässt sich den Burger geben und macht sich auf den Weg. Viertel vier. Er wird bald kommen. Es sind nur zwei Straßen, aber ein Gang wie durch Lehm. Schmerzen in der Brust bei dem Gedanken daran. Aber um mit Mongo zu reden: Nur wer seinen Schmerz umarmt und eins mit ihm wird, der hat das Wesen des Lebens akzeptiert. Ein Satz, wie gemacht für einen Boxer.

 

Lucky erkennt ihn, als er am Herrfurthplatz um die Ecke biegt. Helmut, logisch. Der schwere Schritt, die massige Gestalt, Kopf tief, Schultern vor, der weiße, kurz geschorene Stoppelkopf. Schwergewicht. Lucky hat ihn nie boxen sehen, aber er weiß von anderen, dass sein Trainer zwar niemals einen Titel gewonnen hat, aber auch nie auf die Bretter gegangen ist. Den holt nicht einmal ein LKW von den Beinen, hieß es.

Lucky wartet auf einer Bank auf dem Spielplatz. Ein paar Meter zu seiner Linken sammeln zwei unerschrockene Erzieherinnen ihre Kinder ein. In einer halben Stunde ist Trainingsbeginn, und Helmut ist immer der Erste im Gym, wird es immer sein. Lucky wischt sich Finger und Mund mit einer Serviette ab und steht auf.

„H-helmut!“

Helmut bleibt stehen. Er sieht aus wie etwas, das vor langer Zeit aus dem Boden gewachsen ist – als hätten sie den Bürgersteig um ihn herumbauen müssen.

„Helmut!“ Lucky noch einmal.

Schließlich schultert er seine Tasche, drückt das Tor auf und überquert die Straße. Sie stehen einander gegenüber. In Helmuts fleischigem Gesicht ist keinerlei Regung zu erkennen, auch macht er keinerlei Anstalten, seine Hände aus den Manteltaschen zu nehmen. Komm schon, denkt Lucky. Dann sagt er die erlösenden Worte:

„Es tut mir l-leid, Trainer.“

Edgar Rai

Über Edgar Rai

Biografie

Edgar Rai, geboren 1967 in Hessen, studierte Musikwissenschaften und Anglistik. Von 2003 bis 2008 war er Dozent für Kreatives Schreiben an der FU-Berlin. Seit 2012 ist er Mitinhaber der literarischen Buchhandlung Uslar & Rai in Berlin. Mit seinem Bestseller „Nächsten Sommer“ (2010) gelang ihm der...

Pressestimmen
Krimi Couch

„Eine gut erzählte Story über einen Pechvogel, den das Leben gebeutelt und geschüttelt hat.“

BÜCHER Magazin

„Atemloser Roman, der quer durch Berlin auf den Kiez und mitten hinein in die Boxerszene führt.“

Hamburger Morgenpost

„Bis zur letzten Seite spannend und voll lebendiger Figuren.“

wildeseiten.wordpress.com

„( …) tolle Story, gespickt mit trockenem Humor und so einigen lustigen Szenen zum Schmunzeln.“

Iserlohner Kreisanzeiger

„Ein spannender, rasanter Milieu-Krimi.“

Berliner Zeitung

„Boxersprache und Stadtgeflüster mischen sich in diesen drängend geschriebenen Roman, der so raudaherkommt und manchmal mit Zärtlichkeit überrascht. Edgar Rai setzt bald Signale, die auf Spannung zielen, die einen immer weiter und schneller durch die Seiten jagen lassen.“

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