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Für eine kurze Zeit waren wir glücklichFür eine kurze Zeit waren wir glücklich

Für eine kurze Zeit waren wir glücklich

William Kent Krueger
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Roman

„Ein Roman, in dem man sich gleich ganz zu Hause fühlt, durchpulst ist von einem Gefühl der Nostalgie und Vergänglichkeit.“ - Aachener Nachrichten

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Für eine kurze Zeit waren wir glücklich — Inhalt

Von der Freude und Traurigkeit des Erwachsenwerdens, vom Ende der Unschuld und von der Kraft der Anteilnahme

Im Sommer des Jahres 1961 kommt der Tod in vielen Formen nach New Bremen. Als Unfall. Als Selbstmord. Und als Mord. Zusammen mit seinem kleinen Bruder Jake scheint der dreizehnjährige Frank immer am falschen Ort zu sein – oder am richtigen, schließlich liefert eine Leiche auch Stoff für gute Geschichten. Bis das Sterben auch Franks Familie heimsucht. Plötzlich tut sich vor den Brüdern die ganze Welt der Erwachsenen auf, und der Tod fordert von allen eine Entscheidung: für die Familie, die Freunde und das Leben.

„Ein wundervoller Erzählton. Ich liebe dieses Buch.“ Dennis Lehane

€ 14,00 [D], € 14,40 [A]
Erschienen am 03.08.2020
Übersetzt von: Tanja Handels
416 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31610-1
Download Cover
€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 01.03.2019
Übersetzt von: Tanja Handels
416 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99334-0
Download Cover

Leseprobe zu „Für eine kurze Zeit waren wir glücklich“

Prolog

Das große Sterben des damaligen Sommers begann mit dem Tod eines Kindes, eines Jungen mit goldblondem Haar und einer dicken Brille, der auf der Bahnstrecke kurz hinter New Bremen in Minnesota ums Leben kam, zermalmt von tausend Tonnen Stahl, die über die Prärie Richtung South Dakota donnerten. Er hieß Bobby Cole. Er war ein liebenswertes Kind, und damit meine ich vor allem, dass sein Blick immer verträumt wirkte und ein halbes Lächeln auf seinen Lippen lag, als würde er gleich etwas begreifen, das man ihm schon seit Stunden zu erklären versuchte. [...]

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Prolog

Das große Sterben des damaligen Sommers begann mit dem Tod eines Kindes, eines Jungen mit goldblondem Haar und einer dicken Brille, der auf der Bahnstrecke kurz hinter New Bremen in Minnesota ums Leben kam, zermalmt von tausend Tonnen Stahl, die über die Prärie Richtung South Dakota donnerten. Er hieß Bobby Cole. Er war ein liebenswertes Kind, und damit meine ich vor allem, dass sein Blick immer verträumt wirkte und ein halbes Lächeln auf seinen Lippen lag, als würde er gleich etwas begreifen, das man ihm schon seit Stunden zu erklären versuchte. Ich hätte ihn besser kennenlernen, ihm ein besserer Freund sein sollen. Er wohnte ganz in unserer Nähe, und wir waren gleich alt. Aber in der Schule war er zwei Klassen unter mir und verdankte es nur dem Wohlwollen einiger Lehrer, dass er nicht noch weiter zurückblieb. Er war ein schmächtiges Kind, ein argloses Kind, das der dieselbefeuerten Kraft einer Lokomotive der Union Pacific Railroad nicht das Geringste entgegenzusetzen hatte.

Es war ein Sommer, in dem uns der Tod in vielen Gestalten heimsuchte. Als Unfall. Als natürliches Phänomen. Als Selbstmord. Als Mord. Man sollte meinen, dass ich diesen Sommer als Tragödie in Erinnerung habe, und so ist es auch, aber eben nicht nur. Mein Vater zitierte gern den griechischen Dichter Aischylos: „Er führt die Menschen zum Denken, belehrt sie durch Leiden, gibt ein Gesetz. Wenn auch die Sorge, Unglück erweckend, den Schlaf vom Herzen vertreibt: Am Ende naht sich das Wissen auch dem, der sich sträubt. Göttliche Gnade steuert gewaltig und ernst mit den Schlägen des Ruders das Schicksal des Menschen.“

Vielleicht ging es in jenem Sommer letztlich genau darum. Ich war ja kaum älter als Bobby und konnte solche Dinge noch nicht erfassen. Inzwischen sind vier Jahrzehnte verstrichen, aber auch jetzt noch bin ich nicht sicher, ob ich es vollständig begreife. Ich verbringe nach wie vor viel Zeit damit, über die Ereignisse jenes Sommers nachzudenken. Über den schrecklichen Preis der Weisheit. Die göttliche Gnade, gewaltig und ernst.

1

Mondlicht sammelte sich auf dem Boden des Zimmers. Draußen belebte das Zirpen der Grillen und anderen Nachtgetiers das Dunkel. Es war noch nicht einmal Juli und trotzdem schon brütend heiß. Vielleicht lag ich deswegen wach. 1961 besaßen nur die reichsten Bewohner von New Bremen eine Klimaanlage. Wir anderen bekämpften die Hitze, indem wir tagsüber die Vorhänge schlossen und die Sonne aussperrten, und nachts lockten Ventilatoren die Verheißung kühlerer Luft heran. In unserem Haus gab es nur zwei Ventilatoren, und keiner davon stand in dem Zimmer, das ich mir mit meinem Bruder teilte.

Während ich mich auf der Bettdecke hin und her warf und versuchte, trotz der Hitze eine bequeme Position zu finden, klingelte das Telefon.

Vater sagte oft, dass Anrufe mitten in der Nacht nie etwas Gutes bedeuten. Trotzdem nahm er immer ab. Ich vermutete, dass das auch zu seiner Arbeit gehörte, als eines von den vielen Dingen, die Mutter an seinem Beruf verabscheute. Das Telefon stand auf einem Tischchen draußen im Flur vor meinem Zimmer. Ich starrte zur Decke hinauf und lauschte dem blechernen Schrillen, bis das Licht im Flur anging.

„Hallo?“

Auf der anderen Zimmerseite regte sich Jake, ich hörte sein Bettgestell quietschen.

Vater fragte: „Sonst irgendwelche Schäden?“ Dann sagte er, müde und höflich: „Ich bin in ein paar Minuten da. Danke, Cleve.“

Er hatte noch nicht aufgelegt, da war ich schon aus dem Bett und stand im Flur. Seine Haare waren wild und zerzaust vom Schlaf, auf den Wangen lag ein bläulicher Bartschatten. Er sah müde und traurig aus. Er trug ein T-Shirt und gestreifte Boxershorts.

„Geh wieder schlafen, Frank“, sagte er.

„Kann ich nicht“, sagte ich. „Es ist zu heiß, ich war sowieso schon wach. Wer war das?“

„Die Polizei.“

„Ist jemand verletzt?“

„Nein.“ Er schloss die Augen und rieb sich die Lider. „Es ist wegen Gus.“

„Ist er betrunken?“

Vater nickte gähnend.

„Und im Gefängnis?“

„Geh wieder ins Bett.“

„Kann ich mitkommen?“

„Du sollst wieder ins Bett gehen.“

„Bitte. Ich störe bestimmt nicht. Und schlafen kann ich jetzt sowieso nicht mehr.“

„Sprich leiser. Du weckst ja alle auf.“

„Bitte, Dad.“

Er hatte genügend Energie gehabt, aufzustehen und seine Pflicht zu erfüllen, aber um das Drängeln eines Dreizehnjährigen abzuwehren, der mitten in einer drückenden Sommernacht ein Abenteuer wittert, reichten seine Kräfte nicht. Also sagte er: „Zieh dich an.“

Jake saß auf der Bettkante. Er trug bereits seine Shorts und streifte gerade die Socken über.

„Wo willst du denn hin?“, fragte ich.

„Ich fahre mit.“ Er kniete sich hin und angelte in der Schwärze unter seinem Bett nach seinen Turnschuhen.

„Den Teufel tust du.“

„Du hast Teufel gesagt“, kommentierte er halb unter dem Bett hervor.

„Und du bleibst hier, Howdy Doody.“

Jake war zwei Jahre jünger als ich und zwei Köpfe kleiner. Wegen seiner roten Haare, der Sommersprossen und der Ohren, die abstanden wie die Henkel einer Zuckerdose, nannten die anderen ihn manchmal Howdy Doody, wie die Bauchrednerpuppe aus dem Fernsehen. Wenn ich sauer war, sagte auch ich Howdy Doody zu ihm.

„Du kannst mir gar nichts b-b-b-befehlen“, sagte er.

In der Öffentlichkeit stotterte Jake ständig, aber bei mir tat er es nur, wenn er wütend oder verängstigt war.

„Nein“, gab ich zurück, „aber ich kann dich zu B-B-B-Brei schlagen, wenn ich will.“

Er hatte seine Turnschuhe gefunden und zog sie an.

Die Nacht ist die Finsternis der Seele, und für mich lag ein lustvoller Reiz darin, zu einer Uhrzeit auf den Beinen zu sein, zu der die ganze Welt tief und fest schlief. Vater brach häufig zu diesen einsamen Missionen auf, aber ich hatte noch nie mitkommen dürfen. Das war etwas Besonderes, und ich wollte es nicht mit Jake teilen. Aber ich hatte schon genug kostbare Zeit verschwendet, also ließ ich den Streit ruhen und zog mich an.

Mein Bruder wartete schon im Flur, als ich aus dem Zimmer kam. Ich hätte gern noch weiter mit ihm gestritten, aber da trat Vater aus dem Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. Er musterte Jake, als läge ihm eine scharfe Bemerkung auf der Zunge. Aber dann seufzte er nur und bedeutete uns, vor ihm die Treppe hinunterzugehen.

Draußen zirpten die Grillen wie wahnsinnig. Glühwürmchen hingen in der schwülen, schwarzen Nachtluft, blitzten auf und verloschen wie das träge Blinzeln träumender Augen. Als wir zur Garage gingen, glitten unsere Schatten vor uns her wie schwarze Boote auf einem silbrigen Meer aus Mondlicht.

„Ich sitz vorn!“, rief Jake.

„Ach, komm. Du hast hier doch eigentlich gar nichts verloren.“

„Aber ich hab’s als Erster gesagt.“

So lautete die Regel. Und in New Bremen, einer Stadt, die von Deutschen erbaut und bevölkert worden war, hielt man sich an die Regeln. Trotzdem beklagte ich mich weiter, bis Vater sich einschaltete. „Jake hat es als Erster gesagt“, entschied er. „Keine Diskussionen, Frank.“

Wir stiegen in den Wagen, einen dosenerbsengrünen Packard Clipper, Baujahr 1955, den Mutter „Lizzie“ getauft hatte. Sie gab jedem unserer Autos einen Namen. Den Studebaker nannte sie „Zelda“. Der Pontiac Star Chief hieß „Klein Lulu“, nach der gleichnamigen Zeichentrickfigur. Es hatte noch weitere gegeben, aber ihr Liebling – der Liebling der ganzen Familie, bis auf Vater – war dieser Packard. Er war gewaltig, leistungsstark und elegant. Und er war ein Geschenk von Großvater und ein ständiger Streitpunkt zwischen meinen Eltern. Obwohl Vater es nie klar äußerte, hatte es, glaube ich, seinen Stolz verletzt, ein so kostspieliges Geschenk von einem Mann anzunehmen, den er nicht sonderlich mochte und dessen Werte er offen kritisierte. Schon damals war mir klar, dass Großvater Vater für einen Versager hielt und fand, Mutter habe etwas Besseres verdient. Jedes Abendessen, bei dem die beiden an einem Tisch saßen, war wie ein dräuendes Gewitter.

Wir fuhren los und durchquerten die Ebene – so nannten wir das Viertel von New Bremen, in dem wir wohnten. Es erstreckte sich am Ufer des Minnesota River unterhalb des Hochlands, wo die wohlhabenden Familien residierten. Dort, hoch über uns, lebten durchaus auch Leute, die nicht reich waren, aber niemand mit Geld zog in die Ebene. Wir fuhren an Bobby Coles Haus vorbei. Wie alle anderen Häuser auf unserem Weg war es stockdunkel. Ich versuchte, mir seinen Tod zu vergegenwärtigen, der erst einen Tag zurücklag. Ich hatte noch nie erlebt, dass ein anderes Kind gestorben war, und es kam mir unnatürlich und schauerlich vor, als hätte ein Ungeheuer Bobby Cole geraubt.

„Hat G-G-Gus Ärger?“, fragte Jake.

„Ein bisschen“, antwortete Vater. „Aber es ist nicht so schlimm.“

„Hat er nichts kaputt gemacht?“

„Diesmal nicht. Er hat mit einem anderen Mann Streit angefangen.“

„Das macht er oft.“

„Aber nur, wenn er betrunken ist“, meldete ich mich vom Rücksitz. Normalerweise war Vater dafür zuständig, Rechtfertigungen für Gus zu finden, aber er blieb auffallend still.

„Dann ist er eben oft betrunken“, sagte Jake.

„Genug jetzt.“ Vater hob die Hand, und wir hielten den Mund.

Wir fuhren die Tyler Street entlang und bogen auf die Main Street ab. Die ganze Stadt war dunkel und voll wunderbarer Verheißung. Ich kannte New Bremen so gut wie mein eigenes Spiegelbild, aber nachts änderten sich die Dinge. Dann trug die Stadt ein anderes Gesicht. Das Ortsgefängnis lag direkt am Marktplatz. Nach der ersten Evangelisch-Lutherischen Kirche war es das zweitälteste Gebäude von New Bremen. Beide waren aus dem gleichen Granit erbaut worden, der dem Steinbruch vor der Stadt entstammte. Vater parkte schräg vor dem Gefängnis.

„Ihr zwei bleibt hier“, sagte er.

„Ich muss auf die Toilette.“

Er warf mir einen vernichtenden Blick zu.

„Tut mir leid. Bis wir wieder zu Hause sind, kann ich nicht warten.“

Er musste wirklich todmüde sein, so schnell, wie er nachgab. „Gut, dann komm mit. Du auch, Jake.“

Ich hatte das Gefängnis noch nie von innen gesehen, aber es hatte meine Fantasie immer schon intensiv beschäftigt. Jetzt stand ich in einem kleinen, schmucklosen Raum, der von Neonröhren erleuchtet wurde und sich in vielerlei Hinsicht kaum vom Maklerbüro meines Großvaters unterschied. Zwei Schreibtische, ein Aktenschrank und ein Schwarzes Brett mit Aushängen. In die rechte Wand war eine vergitterte Zelle eingelassen, und in der Zelle saß ein Häftling.

„Danke für’s Kommen, Mr Drum“, sagte der Polizist.

Sie gaben sich die Hand, und Vater stellte uns vor. Officer Cleve Blake sah jünger als Vater aus, er trug eine goldene Nickelbrille und blickte uns aus blauen, verstörend aufrichtigen Augen an. Trotz der späten Stunde und der schwülen Nacht wirkte er in seiner Uniform wie aus dem Ei gepellt.

„Ist es nicht schon ein bisschen spät für euch, Jungs?“

„Wir konnten nicht schlafen“, antwortete ich. „Es ist viel zu heiß.“

Jake schwieg. Das war seine übliche Strategie, wenn er befürchtete, vor anderen Leuten zu stottern.

Den Mann in der Zelle kannte ich. Morris Engdahl. Ein unangenehmer Zeitgenosse. Schwarzes Haar, mit Pomade zur Schmalztolle gekämmt, und eine Vorliebe für schwarze Lederjacken. Er war ein Jahr älter als meine Schwester, die gerade die Highschool abgeschlossen hatte. Engdahl hatte keinen Schulabschluss. Er war geflogen, weil er einem Mädchen, das nicht mit ihm ausgehen wollte, ins Schließfach gekackt hatte. Aber er besaß den heißesten fahrbaren Untersatz, den ich je gesehen hatte. Einen schwarzen Ford Deuce Coupe, Baujahr 1932, mit Selbstmördertüren, chromglänzendem Kühlergrill und Weißwandreifen. Auf die Seiten waren Flammen gemalt, als züngelte Feuer den Wagen entlang.

„Na, wen haben wir denn da? Das Frankfurter Würstchen und Howdy D-D-D-Doody“, rief er. Er hatte ein blaues Auge und nuschelte seine Worte hinter einer geschwollenen Lippe hervor. Durch die Gitterstäbe richtete er seinen bösen Blick auf Jake. „Wie g-g-g-geht’s, wie steht’s, Schwachkopf?“

Jake hatte wegen seines Stotterns schon alles Mögliche einstecken müssen. Ich war mir sicher, dass es ihm naheging, aber meistens machte er einfach dicht und starrte vor sich hin.

„Jake ist kein Schwachkopf, Mr Engdahl“, sagte Vater ruhig. „Er stottert nur.“

Ich war erstaunt, dass Vater Morris Engdahl überhaupt kannte. Sie verkehrten nicht gerade in denselben Kreisen.

„Ach w-w-w-was“, gab Engdahl zurück.

„Das reicht jetzt, Morris“, sagte Officer Blake.

Vater beachtete Engdahl nicht weiter und fragte den Polizisten, worum es denn eigentlich gegangen sei.

Blake zuckte die Achseln. „Zwei Besoffene, ein falsches Wort. Wie ein Streichholz am Benzinkanister.“

„Ich bin nicht besoffen.“ Engdahl saß vornübergebeugt auf dem äußersten Rand einer langen Metallbank und starrte auf den Boden, als überlegte er, ob es wohl ratsam wäre, dort hinzukotzen.

„Er ist ja auch noch gar nicht alt genug, um in der Öffentlichkeit zu trinken, Cleve“, gab Vater zu bedenken.

„Darüber rede ich dann noch mit der Belegschaft von Rosies Bar“, erwiderte der Officer.

Hinter einer Tür in der Rückwand des Raums rauschte eine Toilettenspülung.

„Ist viel zu Bruch gegangen?“, fragte Vater.

„Hauptsächlich Morris. Sie haben sich auf dem Parkplatz geprügelt.“

Die Tür in der Hinterwand wurde geöffnet, und ein Mann kam heraus, der noch am Reißverschluss seiner Hose nestelte.

„Doyle, ich wollte gerade erzählen, wie du Engdahl und Gus hergebracht hast.“

Der andere Mann setzte sich und legte die Füße auf den Schreibtisch. Er trug keine Uniform, aber aus der Behaglichkeit, mit der er sich im Gefängnis bewegte, schloss ich, dass auch er Polizist sein musste. „Ja“, sagte er. „Ich habe mir nach Feierabend noch einen in Rosies Bar genehmigt. Die beiden sind in der Kneipe aufeinander los, haben sich allen möglichen Mist an den Kopf geworfen. Als sie dann draußen weitergemacht haben, fand ich, es wird langsam Zeit, die Party zu beenden.“

Vater wandte sich wieder an Officer Blake: „Kann ich Gus jetzt mitnehmen?“

„Klar. Er ist hinten.“ Der Polizist kramte in der Schreibtischschublade nach dem Schlüssel. „Ein schreckliches Unglück, das mit dem kleinen Cole. Ich habe gehört, Sie waren gestern den halben Tag bei den Eltern.“

„Ja“, antwortete Vater.

„Ich muss sagen, mein Job ist mir deutlich lieber als Ihrer.“

„Mir gibt die Sache ja zu denken“, schaltete sich Doyle ein, der Polizist außer Dienst. „Ich hab den Jungen schon x-mal dort auf den Gleisen gesehen. Wahrscheinlich mochte er Züge. Aber keine Ahnung, wie er sich von einem totfahren lassen konnte.“

„Wie meinst du das?“, fragte Officer Blake.

„Ich habe mit Jim Gant geredet. Er war als Erster vor Ort. Gant meinte, es hätte ausgesehen, als hätte der Junge einfach im Gleis gehockt. Hat sich nicht vom Fleck gerührt, als der Zug kam. Komisch, oder? Er war ja nicht taub.“

„Vielleicht war er auch so ’n Schwachkopf wie Howdy Doody hier“, ließ sich Engdahl aus der Zelle vernehmen. „Zu blöd, um den Hintern rechtzeitig vom Gleis zu kriegen.“

„Noch ein Wort von dir“, sagte Doyle, „und ich komm rein und verpass dir eine.“

Officer Blake hatte endlich den richtigen Schlüssel gefunden und schloss die Schublade wieder. „Gibt es denn Ermittlungen?“

„Nicht, dass ich wüsste. Offiziell war’s ein Unfall. Und es gibt keine Zeugen, die was anderes behaupten.“

„Ihr bleibt hier, Jungs“, sagte Officer Blake. „Und du, Morris, benimmst dich.“

„Kann mein Sohn kurz Ihre Toilette benutzen, Cleve?“, fragte Vater.

„Aber klar“, antwortete der Officer. Er schloss die Metalltür auf, aus der Doyle vorhin gekommen war, und führte Vater hindurch.

Ich musste gar nicht auf die Toilette. Das war nur ein Vorwand gewesen, um mit ins Gefängnis kommen zu dürfen. Ich hatte Angst, dass Doyle darauf herumreiten würde, aber ihn schien das gar nicht zu interessieren.

Jake starrte Engdahl unverwandt an. Sein Blick hätte töten können.

„Was glotzt du so, Schwachkopf?“

„Er ist kein Schwachkopf“, sagte ich.

„Klar, und deine Schwester hat keine Hasenscharte, und dein Alter ist keine Scheißmemme.“ Er lehnte den Kopf an die Wand hinter sich und schloss die Augen.

Ich fragte Doyle: „Wie haben Sie das mit Bobby gemeint?“

Er war groß und hager und sah zäh aus wie Leder. Das Haar trug er in einem kurzen Bürstenschnitt, und seine Stirn glänzte in der heißen Nacht vor Schweiß. Seine Ohren standen mindestens so sehr ab wie die von Jake, aber einen Mann wie ihn nannte niemand, der noch halbwegs bei Verstand war, Howdy Doody. „Kanntest du ihn?“, fragte er.

„Ja.“

„Netter Junge, was? Nur ein bisschen langsam.“

„So langsam, dass er’s nicht mal schafft, ’nem Zug auszuweichen!“, rief Engdahl.

„Schnauze, Engdahl.“ Doyle sah wieder zu mir. „Spielst du auch manchmal auf den Gleisen?“

„Nein“, log ich.

Er sah Jake an. „Du?“

„Nein“, antwortete ich für ihn.

„Gut so. Da sind nämlich Gammler unterwegs. Männer, die anders sind als die anständigen Leute hier in New Bremen. Falls euch so einer mal anspricht, kommt ihr sofort hierher und erzählt es mir. Fragt einfach nach Officer Doyle.“

„Glauben Sie, das ist Bobby passiert?“ Ich war wie vom Donner gerührt. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass Bobbys Tod kein Unfall gewesen sein könnte. Aber ich war ja auch kein erfahrener Polizist wie Officer Doyle.

Er ließ die Fingerknöchel knacken. „Ich sag einfach nur, ihr sollt die Augen offen halten, wenn sich jemand an den Gleisen rumtreibt. Klar?“

„Ja, Sir.“

„Sonst holen euch die Kobolde, wenn ihr nicht aufpasst“, sagte Engdahl. „Zarte Bissen wie dich und den Schwachkopf haben die zum Fressen gern.“

Doyle erhob sich. Er trat vor die Zelle und winkte Morris Engdahl an die Gitterstäbe. Engdahl kauerte sich auf der Bank zusammen und drückte sich an die Wand.

„Wusste ich’s doch“, sagte Doyle.

Die Metalltür ging wieder auf, und Officer Blake trat heraus. Hinter ihm kam Vater. Er stützte Gus, der kaum aufrecht gehen konnte. Gus wirkte deutlich betrunkener als Engdahl, war aber völlig unversehrt.

„Ihr lasst den wirklich gehen?“, rief Engdahl. „Das ist unfair, verdammt noch mal!“

„Ich habe mit deinem Vater gesprochen“, sagte Officer Blake. „Er meinte, eine Nacht im Gefängnis würde dir ganz guttun. Beschwer dich also bei ihm.“

„Mach uns die Tür auf, Frank“, sagte Vater. Dann drehte er sich noch einmal zu Blake um. „Danke, Cleve. Ich weiß das wirklich zu schätzen.“

„Ist ja auch für uns einfacher. Aber du musst dich in Acht nehmen, Gus. Der Chief verliert langsam die Geduld mit dir.“

Gus grinste bierselig. „Wenn er reden will, sag ihm, ich besprech das gerne bei ’nem Bier.“

Ich hielt die Tür auf, und Vater beförderte Gus nach draußen. Ich schaute noch einmal zurück zu Morris Engdahl auf seiner harten Bank. Heute, vierzig Jahre später, ist mir klar, dass ich dort nur einen Jungen sah, der eigentlich kaum älter war als ich. Mager, zornig, verblendet, verloren und weder zum ersten noch zum letzten Mal hinter Gittern. Wahrscheinlich hätte ich ihm etwas anderes entgegenbringen sollen als das, was ich empfand: Abscheu. Ich schloss die Tür.

Als wir am Wagen waren, richtete Gus sich plötzlich auf und wandte sich meinem Vater zu. „Danke, Captain.“

„Steig ein.“

„Was ist mit meinem Motorrad?“, fragte Gus.

„Wo steht das?“

„Vor Rosies Bar.“

„Du kannst es morgen holen, wenn du wieder nüchtern bist. Steig ein.“

Gus schwankte leicht. Er sah zum Mond herauf. Sein Gesicht wirkte in dem bleichen Licht völlig blutleer. „Warum macht er das, Captain?“

„Wer?“

„Gott. Warum holt er immer die Nettesten?“

„Irgendwann holt er uns alle zu sich, Gus.“

„Aber ein Kind?“

„Habt ihr euch deshalb gestritten? Wegen Bobby Cole?“

„Engdahl hat ihn ’nen Schwachkopf genannt, Captain. Hat gemeint, tot wär er besser dran. Das konnte ich ihm doch nicht durchgehen lassen.“ Gus schüttelte verständnislos den Kopf. „Also, Captain, warum ist Gott so?“

„Ich weiß es nicht, Gus.“

„Aber ist das nicht Ihr Job? Zu wissen, warum der ganze Mist passiert?“ Gus sah enttäuscht aus. Dann sagte er: „Tot. Was heißt das eigentlich?“

„Es heißt“, meldete sich Jake zu Wort, „dass er sich nicht m-m-mehr darum zu sorgen braucht, wer sich über ihn l-l-l-lustig macht.“

Gus musterte Jake. „Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist das der Grund. Was meinen Sie, Captain?“

„Vielleicht.“

Gus nickte, als wäre er damit zufrieden. Er beugte sich zur offenen Autotür, um auf den Rücksitz zu steigen, blieb dann aber stehen und erbrach sich schauerlich.

„Ach, Gus. Direkt auf die Sitze“, seufzte Vater.

Gus richtete sich auf, zog den Hemdzipfel aus der Hose und wischte sich über den Mund. „Tut mir leid, Captain. Kam etwas unerwartet.“

„Setz dich nach vorn“, sagte Vater. „Frank, du und Jake, ihr müsst laufen. Ist das ein Problem?“

„Nein, Sir. Aber können wir den Wagenheber aus dem Kofferraum haben? Für den Notfall?“

New Bremen war beileibe keine Stadt, in der man einen Wagenheber brauchte, um sich zu schützen, aber ich deutete mit dem Kopf auf Jake, der bei der Aussicht, durch die Nacht nach Hause zu laufen, ein bisschen blass geworden war, und Vater verstand. Er öffnete den Kofferraum und gab mir die Eisenstange. „Aber nicht trödeln“, sagte er.

Dann setzte er sich auf den Fahrersitz. „Wenn du dich noch mal übergeben musst, Gus, dann bitte aus dem Fenster. Verstanden?“

„Laut und deutlich, Captain.“ Gus grinste tapfer und winkte uns zu, ehe Vater losfuhr.

Wir standen im Mondschein auf dem verlassenen Marktplatz. Das Gefängnis war das einzige Gebäude weit und breit, in dem noch Licht brannte. Auf der anderen Seite der Grünfläche ließ die Rathausuhr vier dumpfe Schläge hören.

„In einer Stunde wird es hell“, sagte ich.

„Ich will nicht nach Hause laufen“, sagte Jake. „Ich bin müde.“

„Dann bleibst du eben hier.“

Ich ging los. Einen Moment später folgte mir Jake.

Wir gingen aber nicht nach Hause. Jedenfalls nicht gleich. An der Sandstone Street bog ich von der Main Street ab.

„Wo willst du hin?“, fragte Jake.

„Wirst du schon sehen.“

„Ich will nach Hause.“

„Gut, dann geh nach Hause.“

„Ich will aber nicht allein laufen.“

„Dann komm mit. Es wird dir gefallen, versprochen.“

„Wie, gefallen?“

„Wirst schon sehen.“

Eine Straßenecke weiter, an der Walnut Street, lag eine Kneipe mit einem Schild über der Tür. Rosies Bar. Auf dem Parkplatz stand eine Indian Chief mit Beiwagen, Baujahr 1953. Gus’ Motorrad. Sonst parkte nur ein Auto dort: ein schwarzer Deuce Coupe, dessen Seiten mit Flammen bemalt waren. Ich näherte mich dem Schmuckstück und fuhr bewundernd mit der Hand über die Rundung des vorderen Radkastens, wo sich ein silberner Streifen Mondlicht über die schwarze Lackierung schlängelte. Dann brachte ich mich in Stellung, holte mit dem Wagenheber aus und schlug den linken Scheinwerfer ein.

„Was machst du denn da?“, schrie Jake.

Ich ging zum anderen Scheinwerfer, und das Geräusch von splitterndem Glas zerriss ein zweites Mal die nächtliche Stille.

„Hier.“ Ich reichte meinem Bruder den Wagenheber. „Die Rücklichter gehören dir.“

„Nein“, sagte er.

„Der Kerl hat dich ›Schwachkopf‹ genannt. Dich und Bobby Cole. Außerdem hat er über Ariels Hasenscharte hergezogen und Dad als Memme beschimpft. Willst du da nichts an seinem Wagen zerschlagen?“

„Nein.“ Er sah erst mich an, dann den Wagenheber und dann den Wagen. „Oder vielleicht doch.“

Ich gab den Zauberstab der Rache an Jake weiter. Er ging um Morris Engdahls heiß geliebten Wagen herum, warf mir einen letzten fragenden Blick zu und holte dann aus. Aber er schlug daneben, traf nur Metall und ließ den Reifenheber fallen.

„Mann“, sagte ich. „Bist du ein Trottel.“

„Lass mich noch mal versuchen.“

Ich hob den Reifenheber auf und gab ihn Jake. Diesmal gelang es ihm, und er sprang zurück, um den roten Glassplittern auszuweichen. „Darf ich auch den anderen?“, bat er.

Als er fertig war, blieben wir stehen und begutachteten unser Werk, bis an einem Haus hinter uns die Fliegengittertür geöffnet wurde und eine Männerstimme rief: „He, was ist denn da draußen los?“

Wir rannten die Sandstone Street entlang zurück zur Hauptstraße und von dort auf die Tyler Street. Erst als wir wieder in der Ebene waren, wurden wir langsamer.

Jake beugte sich vor und hielt sich die Rippen. „Ich hab Seitenstechen“, keuchte er.

Auch ich war völlig außer Atem. Ich legte den Arm um meinen Bruder. „Du hast das klasse gemacht. Wie Mickey Mantle höchstpersönlich.“

„Glaubst du, wir kriegen Ärger?“

„Ist doch egal. War das etwa kein gutes Gefühl?“

„Doch“, sagte Jake. „Es war ein richtig gutes Gefühl.“

Als wir unser Haus erreichten, stand der Packard auf dem Parkplatz gegenüber der Kirche. Das Licht über dem Seiteneingang brannte noch, Vater war wohl damit beschäftigt, Gus ins Bett zu bringen. Ich legte den Wagenheber auf die Motorhaube, und wir gingen hinüber. Vom Seiteneingang der Kirche führte eine Treppe hinunter ins Untergeschoss, wo Gus sein Zimmer hatte, gleich neben dem Heizungskeller.

Gus war nicht mit uns verwandt, gehörte aber trotzdem auf sonderbare Weise zur Familie. Er hatte zusammen mit Vater im Zweiten Weltkrieg gekämpft, und Vater sagte, diese Erfahrung habe sie enger zusammengeschweißt als Brüder. Sie waren in Kontakt geblieben, und wenn Vater uns etwas Neues von seinem alten Freund berichtete, war es stets ein weiteres Kapitel in einer endlosen Litanei von Fehltritten. Und dann, eines Tages, kurz nachdem wir nach New Bremen gezogen waren, hatte Gus vor unserer Tür gestanden, angetrunken, ohne Arbeit und mit seinem ganzen Hab und Gut in einem Bündel, das im Beiwagen seines Motorrads lag. Vater hatte ihn aufgenommen, ihm ein Dach über dem Kopf geboten und Arbeit für ihn gefunden, und seither war Gus bei uns. Er verursachte große Meinungsverschiedenheiten zwischen meinen Eltern, wie so vieles. Jake und ich liebten ihn heiß und innig. Vielleicht ja, weil er mit uns redete, als wären wir nicht nur Kinder. Oder weil er nicht viel besaß, aber auch gar nicht mehr zu wollen schien und sich an seinen fragwürdigen Lebensumständen nicht weiter störte. Vielleicht aber auch, weil er sich gelegentlich sinnlos betrank und sich in Schwierigkeiten brachte, aus denen Vater ihn zuverlässig befreite, was ihn mehr wie einen fehlgeleiteten älteren Bruder wirken ließ als einen weiteren Erwachsenen.

Sein Zimmer im Keller der Kirche machte nicht viel her. Ein Bett. Eine Kommode. Ein Nachttisch mit Nachttischlampe. Ein Spiegel. Ein quadratisches Regal mit drei Fächern voller Bücher. Der kleine rote Teppich, den Gus auf den Betonboden des Zimmers gelegt hatte, steuerte einen Farbfleck bei. Auf Deckenhöhe befand sich ein Fenster, das aber nur wenig Licht hereinließ. Am anderen Ende des Kellers lag ein kleines Bad, das Vater und Gus selbst eingebaut hatten. Dort fanden wir sie jetzt. Gus kniete vor der Toilette und erbrach sich, Vater stand geduldig hinter ihm. Jake und ich warteten im Schein der nackten Glühbirne in der Mitte des Kellerraums. Vater schien uns gar nicht zu bemerken.

„Immer noch am Röhren“, flüsterte ich Jake zu.

„Röhren?“

„Du weißt schon: R-Ö-H-R“, erwiderte ich und ahmte dabei ein Würgegeräusch nach.

„Das war’s, Captain.“ Gus rappelte sich mühsam hoch, und Vater reichte ihm einen feuchten Waschlappen, damit er sich das Gesicht abwischen konnte.

Dann betätigte er die Spülung und führte Gus in sein Zimmer. Er half ihm, das dreckige Hemd und die Hose auszuziehen. Gus legte sich aufs Bett, jetzt nur noch in Unterhemd und Unterhose. Im Keller war es kühler als draußen, und Vater deckte seinen Freund sorgsam zu.

„Danke, Captain“, murmelte Gus, während ihm schon die Augen zufielen.

„Schlaf jetzt.“

Dann sagte Gus etwas, das ich noch nie von ihm gehört hatte. Er sagte: „Sie sind trotzdem ein echter Mistkerl, Captain. Das wird sich auch nie ändern.“

„Ich weiß, Gus.“

„Wegen Ihnen sind alle tot, Captain. Auch das wird sich nie ändern.“

„Schlaf einfach.“

Gus fing sofort an zu schnarchen, und Vater drehte sich zu uns um. „Geht wieder ins Bett“, sagte er. „Ich bleibe noch und bete ein wenig.“

„Das ganze Auto ist vollgekotzt“, sagte ich. „Mom wird toben.“

„Lass das mal meine Sorge sein.“

Er ging nach oben in die Kirche. Jake und ich traten durch den Seiteneingang wieder nach draußen. Ich war noch nicht bereit, die Nacht zu beenden. Ich setzte mich auf die Stufen vor der Kirche, und Jake setzte sich neben mich. Müde lehnte er sich an mich.

„Was hat Gus gemeint?“, fragte er. „Dass alle wegen Dad tot sind. Was hat er damit gemeint?“

Das fragte ich mich auch. „Keine Ahnung“, sagte ich.

In den Bäumen zwitscherten schon die Vögel. Über den Hügeln, die das Tal um den Minnesota River umgaben, sah ich einen dünnen, leuchtend roten Streifen am Himmel: Die Morgendämmerung nahte. Und ich sah noch etwas. Auf der anderen Straßenseite löste sich eine vertraute Gestalt aus dem Schutz der Fliederbüsche, die am Rand unseres Grundstücks wuchsen. Ich sah, wie meine große Schwester über den Rasen schlich und durch die Hintertür ins Haus glitt. Ja, die Nacht und ihre Heimlichkeiten!

Ich blieb auf den Stufen vor Vaters Kirche sitzen und dachte mir, wie sehr ich die Dunkelheit liebte. Der Geschmack der Nacht war süß auf der Zunge meiner Fantasie. Der Reiz des Verbotenen ein köstliches Brennen in meinem Gewissen. Ich hatte gesündigt. Daran bestand nicht der leiseste Zweifel. Aber ich war nicht der Einzige. Und die Nacht war unser aller Komplizin.

„Jake?“, fragte ich. Aber er antwortete nicht. Er schlief.

Vater würde noch lange beten. Für ihn war es zu spät, um noch einmal ins Bett zu gehen, und zu früh, um Frühstück zu machen. Er hatte einen Sohn, der stotterte, und einen zweiten, der sich auf dem besten Weg zum jugendlichen Straftäter befand, eine Tochter mit einer Hasenscharte, die sich mitten in der Nacht von Gott weiß woher wieder nach Hause schlich, und eine Frau, die seinen Beruf verachtete. Und trotzdem wusste ich, dass er gerade weder für sich noch für einen von uns betete. Wahrscheinlich betete er für Bobby Coles Eltern. Und für Gus. Womöglich auch für einen Drecksack namens Morris Engdahl. Für sie setzte er sich in seinen Gebeten ein und erflehte die göttliche Gnade, gewaltig und ernst.

William Kent Krueger

Über William Kent Krueger

Biografie

William Kent Krueger, 1950 in Wyoming geboren, arbeitete nach seinem Studium in Stanford als Bauarbeiter und Journalist. Einem großen Publikum wurde er mit seiner Krimireihe um den Ex-Sheriff Cork O'Connor bekannt. „Für eine kurze Zeit waren wir glücklich“ ist Kruegers erster literarischer Roman,...

INTERVIEW mit William Kent Krueger

„Für eine kurze Zeit waren wir glücklich“ gehört nicht zu Ihrer Bestseller-Reihe um den Sheriff Cork O’Connor. Was hat Sie dazu gebracht, diesen neuen Roman zu schreiben?

Als mir die Geschichte von „Für eine kurze Zeit waren wir glücklich“ in den Sinn kam, konnte ich nicht anders. So einfach war das. Schon lange habe ich einen Roman schreiben wollen, der es mir erlaubt, mich mit der Vergangenheit, das heißt mit einer Zeit zu beschäftigen, die mein eigenes Leben geprägt hat. Außerdem wollte ich etwas schreiben, das es mir erlaubt, mich mit dem Thema Spiritualität auseinanderzusetzen, das mir schon immer wichtig war. Als Frank Drum, der Sohn des Pfarrers und der Erzähler des Romans, in meiner Vorstellung Gestalt annahm, schien „Für eine kurze Zeit waren wir glücklich“ mir direkt vom Himmel in den Schoß zu fallen. Es hat mich dermaßen gefesselt, dass ich es einfach zu Papier bringen musste.

Gibt es ein Erlebnis in Ihrer Jugend, das Sie als Wendepunkt Ihres Lebens bezeichnen würden?

Absolut. Das war der Sommer, als ich dreizehn Jahre alt war. Mein Vater hatte viele Jahre lang die Personalabteilung einer großen Ölgesellschaft mit Sitz in Ohio geleitet. Doch in diesem Sommer wurde er entlassen, weil seine eigenen Werte den Vorstellungen der Firma diametral entgegenstanden. Er beschloss, wieder als Englischlehrer in einer Highschool zu arbeiten, wie es sowieso schon immer seine Leidenschaft gewesen war. So zogen wir nach Hood River, einer Kleinstadt östlich der Cascade Mountains in Oregon. Das Leben der Familie Krueger war von da an nicht wiederzuerkennen, und wir fragten uns alle, was die Zukunft wohl noch für uns bereithalten würde. Mein Vater sorgte sich auch, ob er unsere Familie mit seinem Gehalt als Lehrer wirklich versorgen könne. Und meine Mutter befürchtete, dass die Enge einer Kleinstadt uns alle ersticken würde. Als Sohn eines Lehrers stand ich außerdem unter ständiger Beobachtung, wie ich schnell bemerkte. Doch letztlich stellte sich dieser Umzug als die beste Erfahrung meines Lebens heraus. Vieles davon habe ich wiederverwendet, als ich New Bremen in „Für eine kurze Zeit waren wir glücklich“ entwarf. Weil es sich um eine so prägende Zeit meines Lebens handelt, fiel es mir auch leicht, meine eigenen Eindrücke als Jugendlicher anzuzapfen und sie Frank Drum mitzugeben.

Wie gelingt es Ihnen, immer wieder so interessante Themen für Ihre Bücher zu finden? Was genau hat Sie zu diesem Roman inspiriert?

Wenn Sie einmal akzeptiert haben, dass Sie ein Geschichtenerzähler sind, ist es, als würde sich vor Ihnen eine Tür öffnen, aus der die Geschichten nur so herausströmen. Sie kommen aus allen möglichen Ecken Ihres Lebens: aus der eigenen Erfahrung und aus den Erfahrungen, die andere mit Ihnen verbinden, aus der Geschichte Ihrer Familie und aus Zeitungsartikeln. Manchmal liegen sie auch einfach in der Luft. Die eigentliche Frage ist, welche dieser Geschichten Sie erzählen wollen und welche Sie am meisten anzieht. Als New Bremen sich in meinem Kopf zu einer Stadt zusammenbraute, als Frank Drum eine Stimme bekam und ich die ersten Sätze der Geschichte hörte, die er erzählen würde, war ich sofort dabei: „Das große Sterben des damaligen Sommers begann mit dem Tod eines Kindes …“.

(…)

Sie beherrschen es meisterhaft, Zeit und Ort Ihrer Romane zu entwerfen. Aber auch das Innenleben Ihrer Figuren wird in „Für eine kurze Zeit waren wir glücklich“ so anschaulich beschrieben. Hat Ihr eigenes Leben Ihnen als Vorlage gedient?

In gewisser Weise handelt es sich dabei um meine Familie. Mein Vater war zwar kein Pfarrer in einer Kleinstadt, aber immerhin ein idealistischer Englischlehrer. Meine Mutter war ebenfalls Musikerin – und nicht gerade glücklich. Meine Geschwister standen mir sehr nahe, trotz des großen Altersunterschieds, durch den wir in der Kleinstadt, in der mein Vater nun unterrichtete, ganz unterschiedliche Erfahrungen machten. Ich habe versucht, all dies in die Geschichte der Drums einfließen zu lassen.

Warum haben Sie sich entschieden, nur anzudeuten, was Nathan und Gus im Krieg erlebt haben?

Ich bin in der Nachkriegszeit aufgewachsen. Mein Vater hatte, wie die meisten Väter der Kinder, die ich kannte, im Krieg gekämpft. Die Narben waren nicht immer sichtbar, aber sie waren da. Mein Vater kam sehr mitgenommen aus dem Krieg zurück, und ich wusste, dass er danach eine furchtbare Schuld mit sich herumtrug, die er nie ganz mit uns Kindern geteilt hat. Der Vater eines guten Freundes aus dem College hatte auf der U.S.S. Indianapolis gedient, einem der Kriegsschiffe, die auf dem Pazifik unterwegs waren. Von seiner Crew wurden nach den eigentlichen Kämpfen so viele Soldaten von Haien angegriffen und getötet. Mein Freund erzählte mir, dass sein Vater nachts oft von seinen eigenen Schreien aufwachte. Damals gab es die Posttraumatische Belastungsstörung als Diagnose noch nicht, und unsere Väter sprachen selten über ihre Erlebnisse. Ursprünglich hatte ich vor, meine Leser in „Für eine kurze Zeit waren wir glücklich“ in das einzuweihen, was Nathan Drum und Gus umtreibt. Doch am Ende entschied ich mich dafür, es nicht bis ins Letzte zu erklären, in der Hoffnung, dass die Geister, die die beiden heimsuchen, so den Geistern ähnlicher würden, die alle unsere Väter heimgesucht haben.

Haben Sie sich beim Schreiben am meisten mit Frank identifiziert? Oder mit Jake?

Da bin ich hin- und hergerissen. Ich habe Frank viel von meinen eigenen Gefühlen mitgegeben, war aber selbst in Wirklichkeit der jüngere Bruder, sodass ich haargenau wusste, wie sich das anfühlt. Vermutlich haben sie beide etwas von mir und doch zugleich ihr eigenes Leben. Mir war es wichtig, die tiefe Liebe zu zeigen, die diese beiden Brüder verbindet. Ihre Beziehung ist in vielerlei Hinsicht das Fundament von „Für eine kurze Zeit waren wir glücklich“.

Wird es einen weiteren Roman mit den Figuren aus „Für eine kurze Zeit waren wir glücklich“ geben? Worauf dürfen sich Ihre Leser als nächstes freuen?

„Für eine kurze Zeit waren wir glücklich“ war immer als alleinstehender Roman gedacht. Ich plane also nicht, noch einmal über die Familie der Drums zu schreiben. Aber ich hatte schon immer die Idee, noch mehr Geschichten im Süden von Minnesota anzusiedeln, in einer vergangenen Zeit. Deswegen schreibe ich momentan an einem Text, der als eine Art Schwesterroman von „Für eine kurze Zeit waren wir glücklich“ gelten kann. Er heißt „This Tender Land“ und spielt 1957 in einem Ort namens Black Earth County. Bis er erscheint, wird es aber noch eine Weile dauern.

Pressestimmen
Wochenanzeiger Altmühltal

„Krueger fängt in diesem besonderen Coming of Age Roman die Stimmung der 60er Jahre in Nirgendwo von Amerika und die noch relativ unberührte Landschaft authentisch ein.“

Aachener Nachrichten

„Ein Roman, in dem man sich gleich ganz zu Hause fühlt, durchpulst ist von einem Gefühl der Nostalgie und Vergänglichkeit.“

Wilhelmshavener Zeitung

„William Kent Krueger (schreibt) auf wundersame Weise so, dass der Leser in jedem Augenblick berührt, sein Herz angetippt wird und er so tief Anteil nimmt.“

Evangelische Zeitung Hamburg

„Wie Krueger die Handlungsfäden verknüpft und immer dichter werden lässt, ist bestes Erzählerhandwerk. Das Buch ist kein Krimi, aber trotzdem so spannend, dass man es kaum aus der Hand legen mag.“

Kommentare zum Buch
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