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Die Sündenheilerin (Sündenheilerin-Reihe 1)

Die Sündenheilerin (Sündenheilerin-Reihe 1) - eBook-Ausgabe

Melanie Metzenthin
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Historischer Roman

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Die Sündenheilerin (Sündenheilerin-Reihe 1) — Inhalt

Nach einem schweren Schicksalsschlag lebt Lena zurückgezogen im Kloster. Als Dietmar von Birkenfeld die junge Frau auf seine Burg ruft, damit sie seiner kranken Gemahlin hilft, muss Lena ihre Zufluchtsstätte jedoch verlassen. Denn sie hat eine seltene Gabe: Sie erspürt die tiefen seelischen Leiden der Menschen und vermag sie auf wundersame Weise zu heilen. Während ihres Aufenthalts auf Burg Birkenfeld begegnet Lena noch anderen Gästen: Philip Aegypticus ist zusammen mit seinem arabischen Freund Said in den Harz gereist, um die Heimat seines Vaters kennenzulernen. Der ebenso attraktive wie kluge Philip bemerkt schon bald, dass auf der Burg manch düsteres Geheimnis gehütet wird. Und er entdeckt, dass die feinfühlige Lena sich in Gefahr befindet.

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 06.07.2011
400 Seiten
EAN 978-3-492-95223-1
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Leseprobe zu „Die Sündenheilerin (Sündenheilerin-Reihe 1)“

Prolog

Regungslos verharrte der Reiter zwischenden Bäumen.Nur sein Pferd schnaubte und scharrte ungeduldig mit den Hufen. Von der nahen Straße trug der Wind den Klang zahlreicher Glöckchen herüber. Er hörte das fröhliche Gelächter, die Hochrufe auf das Brautpaar.
Dann sah er sie. Es war ein prächtiger Hochzeitszug, an der Spitze die Musikanten, dahinter hoch zu Ross die Frischvermählten. Der Bräutigam auf einem kräftigen Fuchs, seine junge Frau auf einem zierlichen Schimmel. Die Braut strahlte. Ihr helles Haar leuchtete, als würde die Sonne darin baden.
 [...]

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Prolog

Regungslos verharrte der Reiter zwischenden Bäumen.Nur sein Pferd schnaubte und scharrte ungeduldig mit den Hufen. Von der nahen Straße trug der Wind den Klang zahlreicher Glöckchen herüber. Er hörte das fröhliche Gelächter, die Hochrufe auf das Brautpaar.
Dann sah er sie. Es war ein prächtiger Hochzeitszug, an der Spitze die Musikanten, dahinter hoch zu Ross die Frischvermählten. Der Bräutigam auf einem kräftigen Fuchs, seine junge Frau auf einem zierlichen Schimmel. Die Braut strahlte. Ihr helles Haar leuchtete, als würde die Sonne darin baden.
Er seufzte. Es hatte eine Zeit gegeben, da war er selbst auf solchen Festen willkommen gewesen. Er stellte sich vor, wie die Dienerschaft schon seit Tagen das Hochzeitsmahl vorbereitet haben mochte. Gebratene Kapaune, Fasane, vielleicht sogar ein ganzer Ochse, dazu Berge von Pasteten, frisches Brot und natürlich nur der beste Wein. Ohne dass er es wollte, stieg eine alte Sehnsucht in ihm auf.
Die Braut lachte. Ein fröhliches, unbeschwertes Lachen, das sich mit dem Klingeln der Glöckchen mischte. Sie war ein schönes Mädchen, so lebendig, so voller Kraft.
Für einen Moment spürte er tatsächlich so etwas wie Bedauern, doch sofort schüttelte er das lästige Gefühl ab. Ein Blick zur Seite verriet ihm, dass seine Männer bereit waren.
Soeben bogen die Musikanten in das kleine Waldstück ein. Sein Pferd warf unruhig den Kopf hoch.
„Jetzt!“ Sein Schrei ging im Kampfgebrüll seiner Männer unter. Brutaler Abschaum, genau dafür schätzte er sie. Wild trieb er sein Pferd an, ritt einen halbwüchsigen Knaben nieder, hörte ihn schreien, als die Knochen knackten. Er galoppierte vorbei an kreischenden Frauen, die durch einen einzigen Schwerthieb für immer verstummten. Ringsum ließen seine Männer Äxte und Schwerter tanzen, warfen sich über die Ahnungslosen, erdrückten den Widerstand allein durch ihre bloße Übermacht.
Die junge Braut starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Gatte versuchte noch, das Schwert zu ziehen, doch er ließ ihm keine Zeit dazu.Ein einziger,gut gezielter Hieb trennte ihm den Kopf von den Schultern. Hellrotes Blut spritzte auf die Braut, durchnässte ihr Hochzeitsgewand, während sie sich hilflos an der Mähne ihres Pferdes festkrallte. Er hätte erwartet, dass sie schreien würde, doch sie blickte ihn immer noch fassungslos an, ganz so, als könne sie nicht glauben, was hier geschah. Hinter sich hörte er das Sirren eines Schwertes, das aus der Scheide gezogen wurde. Sofort fuhr er herum. Fing mühelos den Streich ab. Ah, Ritter Sigmund, der Vater der Braut. Das gute Leben hatte den gefürchteten Kämpen fett und träge gemacht. Kein Gegner für ihn. Er lachte.
Der Schimmel der Braut scheute. Die junge Frau wurde rücklings zu Boden geschleudert.
„Lauf!“, schrie der alte Ritter seiner Tochter zu. Es war sein letztes Wort.
Als er das blutige Schwert aus Sigmunds Leib zog, rappelte das Mädchen sich gerade auf, wäre fast über den Saum ihres Kleides gestolpert. Sie rannte tiefer in den Wald hinein. Ihr Brautkranz verfing sich an einem Gesträuch, rutschte ihr vom Kopf. Nicht dumm, die Kleine, hoffte wohl, er könne ihr dorthin nicht zu Pferde folgen. Zwei Galoppsprünge, dann hatte er sie erreicht, sprang aus dem Sattel und riss sie zu Boden. Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, doch noch immer schrie sie nicht. Das blutige Kleid klebte nass an ihrem Leib, betonte ihren wohlgeformten Körper. Er atmete tief durch. Er könnte sie nehmen und später töten. Einen Augenblick lang zögerte er. Nein, das würde nur Ärger geben, besser, er erledigte es sofort.
Mit aller Kraft stieß er ihr das Schwert in die Brust und zog es erst zurück, als er den Widerstand ihrer brechenden Rippen überwunden glaubte.


1. Kapitel

Er sieht mich an, als wäre ich eine Heilige. Lena strich mehrfach über den dunkelblauen Stoff ihrer Suckenie. Sie schämte sich für ihre feuchten Hände, die ihre Scheu zu verraten drohten. Niemals würde sie sich an die Ehrfurcht gewöhnen, mit der die Menschen außerhalb des Klosters sie betrachteten. Der Stoff wurde warm unter ihren Händen. Hör auf!, mahnte sie sich und ließ ihr Kleid los.
Der Mann vor ihr trug die einfache Bekleidung der Landarbeiter, der graue Kittel war vielfach geflickt, aber sauber. Gewiss hatte er erst kurz zuvor die Badestube aufgesucht. Er stand so aufrecht vor ihr, wie er es mit Hilfe seiner Krücke auf seinem verbliebenen linken Bein vermochte. Dabei bereitete ihm das Stehen sichtlich Mühe. Sie lächelte ihn freundlich an. „Sei mir willkommen, Ortwin vom Mühltal.“ Seinen Namen hatte ihr Schwester Ludovika genannt, ehe sie den Mann in den Besucherraum des Klosters vorgelassen hatte.
„Ich danke Euch, ehrwürdige Schwester.“ Er wagte kaum, ihr ins Gesicht zu sehen. Lenas Hände wurden wieder feucht. Sie war keine Schwester, auch wenn man ihre dunkle Kleidung leicht mit einem Ordenshabit verwechseln konnte.
„Setz dich bitte. Und sag mir, welches Leid führt dich hierher?“ In ihrem Innersten hoffte sie, er möge kein Wunder von ihr erwarten.
Ortwin schob seine Krücke etwas umständlich nach vorn, sorgsam darauf bedacht, das Gleichgewicht zu halten, und ließ sich auf der schmalen Holzbank nieder. Sein Blick strahlte noch immer diese seltsame Mischung aus Hoffnung und Furcht aus. Es war ihm sichtlich unangenehm, dass er saß, während sie noch stand. Lena lächelte ihm aufmunternd zu, zog ihren kleinen Schemel heran und nahm ihm gegenüber Platz, anstatt, wie es unter den Schwestern üblich war, auf der Bankreihe an der anderen Seite des kahlen Besucherraumes.
Es dauerte eine Weile, ehe Ortwin den Mut fand, auf Lenas Frage zu antworten.
„Mir ist, als wäre das Bein noch da und würde mich von früh bis spät grausam zwacken.“ Seine Stimme klang zaghaft, fast so, als hätte er Furcht, sie mit seinem Leid zu belästigen.Vorsichtig hob er den Oberschenkelstumpf an, den er sorgsam in einen umgeschlagenen Beinling gehüllt hatte. Doch es war nicht das Bein,dem Lenas Aufmerksamkeit galt.Sie blickte in sein Gesicht. Wind und Wetter hatten ihre Spuren hinterlassen, tiefe Furchen umgaben Ortwins Mund, machten ihn älter, als er wahrscheinlich war. Und doch zeigten sie, dass er früher oft gelacht hatte. Früher … allzu lange konnte es nicht her sein, denn sein tiefdunkles Haar verriet, dass er noch keine dreißig war. Sie forschte in seinen Augen, suchte nach der Seelenflamme, jenem Funken, der die Menschen zum Strahlen brachte und ihre Einheit mit Gott bezeugte. Ortwins Flamme war fast verloschen, ein letztes Aufglimmen alter Glut.
„Beschreibe mir deinen Schmerz“, forderte sie ihn auf.
Er senkte die Lider,denn er war es nicht gewohnt,einer hochgestellten Dame unverwandt in die Augen zu sehen.
„Die Zehen brennen und treiben das Feuer in den Unterschenkel, obwohl da doch nichts mehr ist. Man könnt glauben, der Brand wär noch im Bein, dabei ist’s schon drei Jahre her.“
„Und bislang vermochte nichts, die Pein zu lindern?“
Ortwin schüttelte den Kopf. „Der Bader sagte, der Schmerz würde vergehen, wenn die Wunde ausgeheilt ist.“ Er seufzte. „Danach war’s aber noch ärger.“
„Gott ist groß in seiner Gnade.“ Sie beugte sich vor und legte die Hände behutsam auf den Beinstumpf des Mannes. Die breiten Narbenwülste ließen sich sogar durch den Stoff ertasten. Er zuckte kurz zurück, doch dann atmete er tief durch, als verschaffe ihm allein ihre Berührung Linderung. Sie hatte das schon oft erlebt. Je fester der Glaube eines Menschen, umso wirksamer die Hilfe.
„Lass die Erinnerung fahren, gib sie in Gottes Hand. Solange du in der Vergangenheit lebst, wird dein Bein schmerzen, als wäre es noch ein Teil deiner selbst.“
„Wie kann ich das?“ Für einen Moment glaubte Lena das Glitzern von Tränen in seinen Augen zu erkennen. War es Trauer? Zorn? Oder gar beides?
„Kämpf nicht länger gegen die Beschwernis. Nimm sie an als Bürde, damit in dir das Werk Gottes offenbar werden kann.“
„Das Werk Gottes? In mir?“ Der Zweifel in seiner Stimme war unüberhörbar, doch Lena ließ sich nicht beirren.
„Mildtätig sei der Mensch, duldsam in seinem Leid. Die Pflicht,Almosen zu geben, geht Hand in Hand mit dem Gebot, sein Schicksal anzunehmen. Sei anderen Leidenden ein Vorbild, hilf denen, die schwächer sind, und nimm die Güte derer an, die stärker sind. Nur dann wird sich an jedem Tag deines Lebens die Güte Gottes offenbaren. Dein Schmerz ist eine Mahnung, deine Bürde anzunehmen.Wenn du dieser Mahnung folgst, verliert der Schmerz seinen Sinn und wird vergehen.“
„Ist das wirklich wahr?“ Ein leiser Hoffnungsfunke ließ seine Seelenflamme heller strahlen und vertrieb die ungeweinten Tränen aus seinen Augen.
„Es ist wahr“, bestätigte Lena. „Gott wird dir deinen Schmerz nehmen, wenn du lernst, dein Los als gegeben hinzunehmen.“
So wie er ihn mir nahm, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie strich noch einige Male sanft über den Stumpf seines Beines, mehr, um ihm das Gefühl zu geben, sie tue etwas gegen sein Leid, als dass es tatsächlich einen heilenden Nutzen gehabt hätte. Seine Züge entspannten sich merklich.
„Gott wird dir dein Leiden nehmen, wenn du es ihm wohlgefällig als Opfer darbietest. Bring dem heiligen Fridolin von Säckingen eine Gabe in Form eines geschnitzten kleinen Beines dar, gefertigt von deinen eigenen Händen, und der Schmerz wird vergehen.“
Nachdem der Einbeinige fort war, lugte Lena aus der Tür des Besucherraumes. Schwester Ludovika schüttelte kaum merklich den Kopf. Für heute warteten keine Leidenden mehr. Lena wollte das kleine Gemach gerade verlassen, als die äußere Tür aufflog und eine stattliche Nonne mit der Gewalt eines Herbststurmes in den Vorraum rauschte. Ludovikas Schleier wehte, als die massige Schwester an ihr vorüberstürmte und geradewegs auf Lena zuhielt.
„Helena, die ehrwürdige Mutter wünscht dich umgehend zu sprechen.“
Lena lächelte. Das war Schwester Margarita, wie sie leibte und lebte, ihre geliebte Großtante, die selbst nach dreißig Jahren im Kloster jedem Marktweib im Feilschen überlegen war und sich nicht scheute, im Namen des Herrn mit Pferdemist nach Lausbuben zu werfen, die es wagten, im Klostergarten Äpfel zu stehlen.
„Was wünscht die Mutter Oberin von mir?“
„Wenn ich das wüsste.“ Ratlos schlug Margarita die Hände zusammen.
„Wenn du es nicht weißt, verehrte Tante, so muss es in der Tat ein großes Geheimnis sein.“
Schwester Ludovika verbiss sich das Lachen.
„Komm, Kind, wir wollen die ehrwürdige Mutter Clara nicht warten lassen.“ Die alte Nonne zerrte an Lenas Hand, ganz so, als fürchte sie, Lena könne ihr davonlaufen.Vermutlich ging es Margarita weniger um die ehrwürdige Mutter als um die eigene Neugier. Dazu passte ihr aufgeregter Wortschwall, während sie Lena durch die weiten Gänge des Klosters begleitete.
„Gewiss will sie von dir wissen, ob du dich endlich für ein dauerhaftes Leben in der Gemeinschaft entschieden hast. Es ist jetzt ein Jahr her.“
„Das glaube ich nicht. Sie würde keine Entscheidung fordern, die ich noch nicht zu treffen bereit bin.“
„Aber wie soll es dann mit dir weitergehen, Kind? Du kannst dich hier nicht für alle Zeiten vor der Welt verstecken.“
„Ich verstecke mich vor niemandem.“
„Und doch hast du das Kloster seit damals nicht mehr verlassen. Warum willst du kein Gelübde ablegen? Den Menschen könntest du genauso gut helfen, wenn du dem Orden beitrittst.“
Lena schwieg. Das Gespräch nahm eine Wendung, die ihr nicht behagte. Sie war dankbar, in Sankt Michaelis eine Zuflucht gefunden zu haben, aber tief im Innern widerstrebte es ihr, den Schleier zu nehmen. Sie hatte nie eine Berufung verspürt. Unter gewöhnlichen Umständen hätte sie niemals den Weg ins Kloster gefunden.
Schwester Margaritas Gedanken waren glücklicherweise längst in eine andere Richtung gewandert. „Möglicherweise braucht die ehrwürdige Mutter wieder deine Hilfe. Es heißt zwar, du hättest ihre Krankheit geheilt, aber wer weiß … Ob sich ein solches Leiden wirklich jemals ganz kurieren lässt?“
Lena war das anzügliche Augenrollen ihrer Großtante nicht entgangen. „Aber verehrte Tante, muss ich dich an die Worte des Herrn erinnern? Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“
„Habe ich je einen Stein geworfen?“ Schwester Margarita hielt in ihrem schnellen Schritt inne und stemmte die Hände wie ein Marktweib in die breiten Hüften. „Nein, ich hatte stets das Wohl der Mutter Oberin im Sinn. Und sei ehrlich, Kind, hättest du ihr helfen können, wenn nicht an die Oberfläche gekommen wäre, was die Seele unserer ehrwürdigen Mutter bedrückte?“
Gegen ihren Willen musste Lena lächeln. Ihre Tante hatte eine ganz eigene Art, ihre Klatschsucht als Werkzeug Gottes darzustellen. Wirklich böse konnte ihr niemand sein, wenngleich Margarita zuweilen recht peinliche Einzelheiten aus dem Leben anderer preisgab.


Die Mutter Oberin erwartete Lena in ihren Räumlichkeiten. Es war nicht das erste Mal, dass Lena die Wohnung der Äbtissin betrat, aber sie war jedes Mal aufs Neue fasziniert, in welcher Weise die ehrwürdige Mutter das Gebot der Armut und Besitzlosigkeit auslegte. Den Boden bedeckten kostbare orientalische Teppiche, Geschenke ihres ältesten Bruders, der am vorletzten Kreuzzug teilgenommen hatte. Die Möbel aus poliertem Nussbaumholz waren fein gedrechselt, das Schreibpult der Oberin zeugte von großer Handwerkskunst. Doch vermutlich war all dies nichts gegen den Luxus, in dem die Äbtissin als Tochter eines Herzogs einst aufgewachsen war.
„Benedicte, ehrwürdige Mutter.“ Lena verneigte sich leicht.
„Dominus, meine Tochter.“ Die Äbtissin lächelte Lena gütig zu.
„Benedicte, ehrwürdige Mutter“, sagte auch Margarita.
„Dominus, meine Tochter“, wiederholte die Oberin, diesmal allerdings ohne zu lächeln. „Ich danke dir, Margarita. Du kannst uns jetzt allein lassen.“
Für einen Moment schien der Leib der Tante vor Trotz zu erbeben. Doch statt ein Wort des Widerspruchs zu verlieren, verneigte sie sich und verließ die Wohnung der Oberin. Nicht ohne Lena zuvor eindringlich anzusehen und stumm an ihre familiären Verpflichtungen zu gemahnen.
Die Äbtissin bot Lena auf einem der kostbaren Stühle einen Platz an, nicht anders als in den vielen Stunden, die sie hier verbracht hatte, um ihre heilkundige Gabe in den Dienst der ehrwürdigen Mutter zu stellen. Doch längst hatte die Äbtissin zu ihrer früheren Stärke zurückgefunden, mit der sie das Kloster so trefflich zu leiten verstand, und wenngleich Mutter Clara keine junge Frau mehr war, so strahlte sie doch eine alterslose Anmut aus. Nach wie vor schlank und beweglich, war jede ihrer Bewegungen von einer ganz eigenen Feinheit.
„Ich habe deinen Weg in den letzten Monaten mit Wohlgefallen verfolgt“, begann die Oberin. „Du stellst deine große Gabe in den Dienst der Menschen, und dein Ruf ist weit über die Mauern unseres Klosters hinausgedrungen.“
Warum sagte sie ihr das? Ob Tante Margarita vielleicht doch recht hatte? Wünschte die ehrwürdige Mutter eine Entscheidung von ihr? Unsicher suchte Lena den Blick der Äbtissin. Doch in deren Augen lag keine unausgesprochene Forderung.
„Heute früh erreichte mich eine Botschaft von Graf Dietmar von Birkenfeld“, fuhr die Oberin fort.
„Graf von Birkenfeld?“ Lena erinnerte sich an eine Burg dieses Namens, die etwa eine Tagesreise vom Kloster entfernt lag, in den rauen Wäldern am Ufer der wilden Bode. Räuberland nannten die Bauern jene Gegend.
Die ehrwürdige Mutter nickte. „Graf Dietmar hat von deiner seltenen Gabe gehört und bittet um deine Hilfe. Seine Gemahlin ist seit der Geburt ihres bislang einzigen Kindes vor vier Monaten leidend. Weder die besten Ärzte noch der Beistand eines Priesters vermochten ihr zu helfen. Deine Kunst ist seine letzte Hoffnung.“
„Welche Erkrankung hat die Gräfin denn befallen?“ Dass Ärzte oft nicht weiterwussten, war für Lena nichts Neues, aber die Erwähnung des Priesters machte sie stutzig.
Die Äbtissin wiegte nachdenklich den Kopf. „So genau weiß es niemand. Die Ärzte behaupten, die Säfte ihres Körpers seien nach der Geburt des Kindes ins Ungleichgewicht geraten. Der Priester fürchtet, ihre Anfälle könnten ein Zeichen der Besessenheit sein.“
„Ein Dämon?“ Lenas Augen weiteten sich.Vor der Schwarzen Kunst fürchtete sie sich, und Höllenwesen hatte sie nichts entgegenzusetzen. Ihre Kraft entsprang einer anderen Quelle.
Die ehrwürdige Mutter lächelte nachsichtig.„Ich glaube nicht an einen Teufel, der in den Körper der Gräfin gefahren ist. Ich vermute vielmehr die eigenen Dämonen, die in unserer Seele wachsen, wenn wir ihnen nicht stark genug entgegentreten. Das hast du mich gelehrt, Helena.Willst du diesmal vor deiner eigenen Kraft zurückschrecken?“
Die Gelassenheit der Äbtissin beschämte Lena.
„Nein, gewiss nicht. Ich werde mein Bestes versuchen.“
„Sehr gut. Der Graf hat einen Wagen und eine angemessene Abordnung seiner Dienerschaft geschickt,damit du morgen früh aufbrechen kannst.“
„Aufbrechen? Ich soll das Kloster verlassen?“ Eine eisige Faust griff nach Lenas Herzen. Das Kloster schenkte ihr Sicherheit, hier hatte sie endlich Frieden gefunden.
Die Äbtissin nickte. „Es ist der Gräfin derzeit nicht zuzumuten, sich den Unwägbarkeiten einer Reise auszusetzen. Du wirst dich ihrer auf Burg Birkenfeld annehmen.“
„Aber …“, begann Lena, doch die Oberin ließ keinen Widerspruch zu.
„Schwester Ludovika wird dich begleiten.“
„Schwester Ludovika?“ Nichts hätte Lena in noch größeres Erstaunen versetzen können als dieser Name. Sie mochte Ludovika sehr,doch die Nonne war erst sechzehn.Es war nicht üblich, so jungen Ordensfrauen eine Reise außerhalb des Klosters zu gewähren, zumal Lena selbst erst neunzehn war.
Die Äbtissin missdeutete Lenas Überraschung. „Ludovika ist die beste Wahl“, sagte sie. „Natürlich, sie ist noch sehr jung, hat aber bereits eine beachtliche Frömmigkeit und Unanfechtbarkeit bewiesen, die sie mehr als manch andere für eine Aufgabe außerhalb unserer Mauern befähigt. Ich habe niemals ein Mädchen kennengelernt, das mehr von seiner Berufung durchdrungen war.“ Die ehrwürdige Mutter lächelte. „Zudem wird es für dich einfacher sein, wenn du dich auf ihre vertraute Stärke verlassen kannst.“
Lena nickte.Trotz der Gewissheit, eine Freundin zur Seite zu haben, rumorte es in ihren Eingeweiden. Die bevorstehende Reise erfüllte sie mit einer kaum fassbaren Angst. Auf einmal begriff sie, dass ihre Tante recht gehabt hatte. Sie versteckte sich in diesem Kloster, weil sie die Welt da draußen fürchtete.


„Die Mutter Oberin hat was gesagt?“ Schwester Margarita starrte Lena mit weit aufgerissenen Augen an.
„Der Graf von Birkenfeld hat um meine Hilfe nachgesu…“
„Nein, nicht das“, unterbrach Margarita sie ungehalten. „Wieso soll ausgerechnet Ludovika dich begleiten? Dieses unreife Küken, das erst vor drei Monaten die Profess abgelegt hat?“ Die alte Nonne schnaubte verächtlich. „Wie soll dieses Kind sich in der Welt zurechtfinden und dir eine Hilfe sein? Mich hätte die Mutter Oberin erwählen sollen, ich würde schon gut auf dich achtgeben.“
„Vielleicht ist es Ludovikas Verschwiegenheit, die unsere ehrwürdige Mutter Oberin schätzt.“ Kaum waren ihr die Worte entschlüpft, hätte Lena sich für ihre unbedachte Äußerung ohrfeigen mögen. Schwester Margarita sog empört die Luft ein. „Da beginnt die Sünde schon. Kein Respekt mehr vor den Älteren.“ Ohne ein weiteres Wort rauschte sie davon. Lena seufzte. Es hatte nicht in ihrer Absicht gelegen, ihre Tante zu kränken, aber manchmal ging die Zunge mit ihr durch. Es war nur tröstlich, dass Schwester Margarita nicht zu den Menschen gehörte, die lange grollten oder nachtragend waren.


Schwester Ludovika nahm die Neuigkeit mit erstaunlicher Gelassenheit auf. Nach den Anzeichen von Überraschung, Vorfreude oder gar Furcht suchte Lena vergebens. Ludovikas dunkelblaue Augen waren wie ein ruhender See, den seine eigene Tiefe vor den Unbilden aller Stürme bewahrte.
„Du wirst der Gräfin Frieden schenken“, sagte sie mit einer Bestimmtheit, die keinen Zweifel an Lenas Fähigkeiten zuließ. Manchmal hatte Lena das Gefühl, erst das Vertrauen der anderen bringe ihre Gabe zum Erblühen und Ludovikas Zuversicht sei der Nährboden, aus dem sie ihre Kraft zog. Ob das der wahre Grund war,warum die Äbtissin ausgerechnet die jüngste Ordensschwester zu ihrer Begleitung bestimmt hatte?
„Weshalb bist du dir so sicher?“
Ein leises Lächeln umspielte Ludovikas Lippen. „Weil Gott durch dich wirkt. Er hat dich geprüft und auserwählt.“


In dieser Nacht fand Lena kaum Schlaf. Unruhige Traumgebilde umschlangen sie, ohne erkennbare Gestalt anzunehmen. Mehrfach erwachte sie, das Laken schweißnass, doch nie vermochte sie zu sagen, welcher Alb sie in seinen Klauen gehalten hatte. Erst als das Zwielicht des nahenden Morgens seinen schwachen Schimmer in ihre Zelle warf und die Laudes ankündigte, fand sie zu ihrer inneren Ruhe zurück. Das kühle Wasser der Waschschüssel schwemmte den letzten Albdruck hinfort und gab ihr die Kraft zurück, für die sie bekannt war. Hastig warf sie die Suckenie über, flocht ihr langes dunkelblondes Haar zu einem dicken Zopf und verbarg es mit geübter Hand unter dem Gebände. Dann schloss sie sich den Schwestern zur Morgenandacht an.


Bereits eine Stunde später saß sie mit Ludovika in dem Gefährt, das der Graf ihnen geschickt hatte.Auf den ersten Blick ein einfacher Leiterwagen, dessen Sprossen mit Weidenzweigen verflochten waren. Über zwei hohen Gurtbögen spannte sich eine Wagendecke aus dünnem Rindsleder, die sowohl vor Sonne als auch vor Regen schützen sollte. Doch die hölzernen Bänke waren mit Hirschfellen bezogen, und darauf lagen weiche Kissen. Das Rascheln verriet die Daunenfüllung.
Zwei Mägde hatten sie mit einem schwankenden Knicks begrüßt und sich dann stumm im hinteren Teil vor Körben mit Brot und Krügen auf den Boden gesetzt. Als sollten sie ihnen aufwarten und gleichzeitig der Schicklichkeit Genüge tun. Draußen riefen Männer Befehle, Hufe schlugen aufs Pflaster, als sich das Tor öffnete. Die Leibwache. Der Graf war ein aufmerksamer Gastgeber.Trotzdem spürte Lena das Rütteln im ganzen Leib,als die Ochsen unter dem Gebrüll ihres Treibers den schweren Wagen anzogen. Dabei war der Hof des Klosters gut gepflastert.Wie mochte es erst auf den Landstraßen werden? Ein Blick zu Ludovika hinüber verriet ihr, dass die Schwester die Unannehmlichkeiten der Reise mit der ihr eigenen Ergebenheit hinnahm. Lena seufzte. Nicht zum ersten Mal beneidete sie Ludovika um ihre Demut. Spielerisch ließ sie die Finger über das Geflecht des Wagens gleiten und spähte aus einer der Öffnungen, die sich neben den Gurtbögen auftaten. Blankes Metall spiegelte die Sonne in den Wagen. Lena wandte den Kopf. Auch auf der anderen Seite ein Arm im Kettenhemd, ein Stückchen Satteldecke. Zu beiden Seiten des Wagens hatten sich die Waffenknechte auf ihre kräftigen Pferde geschwungen. Sie zählte vierzehn Reiter, ein stattliches Geleit. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.Welche Gefahr fürchtete der Graf, dass er so viele Männer schickte?
Unwillkürlich musste sie wieder daran denken, wie man die Gegend nannte. Räuberland. Eine winzige Sorgenfalte grub sich in ihre Stirn. Ludovika bemerkte es nicht. Die junge Nonne schaute mit einem leisen Lächeln auf die vorüberziehende Landschaft, ganz so, als genieße sie es, die engen Klostermauern für eine Weile hinter sich zu lassen.
Zum ersten Mal in diesem Jahr lag ein Hauch von Frühling in der Luft. Bald wäre der April vorüber, das Osterfest lag bereits zwei Wochen zurück, doch erst langsam sprossen Knospen und Blätter dem Sommer entgegen. Das Singen der Vögel mischte sich mit dem Schnauben der Pferde und dem Rattern der Wagenräder.Wie gern hätte Lena sich ebenso vom Zauber des Frühlings verführen lassen wie Ludovika oder zumindest auf einem der Pferde gesessen, statt sich in dem rumpelnden Wagen durchschaukeln zu lassen. Aber nicht nur der Anstand hielt sie davon ab, dem Wunsch nachzugeben, sondern vor allem der Gedanke an die Welt, die dann so nahe gewesen wäre. Die Bäume,deren Äste sie streiften,die Männer,die aus dem Dickicht hervorbrechen konnten. Denk nicht mehr daran, wie man diese Wälder nennt!, mahnte sie sich immer wieder.Vergebens.
Die beiden Mägde waren anfangs noch sehr zurückhaltend, nur langsam fassten sie Mut für ein Schwätzchen. Gerda, die ältere, eine stämmige Matrone, erzählte von der jungen Gräfin Elise, der das Mitleid aller gehörte. Nach sieben kinderlosen Jahren hatte Gott sich endlich erbarmt, ihr ein Söhnchen zu schenken, doch zugleich sei die schwere Krankheit über sie gekommen.
„Welcher Art ist diese Erkrankung?“, fragte Lena, froh über die Ablenkung von den eigenen Gedanken.
Gerda seufzte. „Schauerlich ist’s anzusehen. Sie stürzt zu Boden, windet sich unter tausend Qualen. Dazu stößt sie die erbarmungswürdigsten Schreie aus.“ Sie bekreuzigte sich. „Und wenn es endlich vorüber ist, dann fällt sie in einen tiefen Schlaf, aus dem sie tagelang kaum erwacht.“
„Es ist der Teufel, der sie quält“, flüsterte Hanne und bekreuzigte sich ebenfalls.
„Ach, sei doch still!“, fuhr Gerda der jungen Magd über den Mund. „Herr Ewald sagt, der Teufel könne nicht in den Leib eines gottgefälligen Menschen fahren.Und der wird’s besser wissen als du dummes Ding.“
„Aber Pater Leonhardt hat gesagt …“
„Nichts hat er mehr gesagt, nachdem Herr Ewald bei ihm war.“
Hanne schwieg, doch ihr war deutlich anzusehen, dass sie weiter an den Satan im Leib der Gräfin glaubte.
„Wer ist Herr Ewald?“, fragte Lena.
„Der Hauskaplan von Birkenfeld. Er war schon der Beichtiger des seligen Herrn Grafen und besorgt nicht nur das Seelenheil. Er führt auch die Bücher des Herrn Dietmar.“
„Und er verehrt die Gräfin“, fügte Hanne flüsternd hinzu. „Man sagt, er habe dem alten Herrn Grafen zugeraten, die Frau Elise als Schwiegertochter ins Haus zu holen, obwohl der junge Herr Graf …“
„Halt dein Schandmaul, du freches Mensch!“, schnitt Gerda ihr barsch das Wort ab. „Was willst du schon wissen? Als Herr Dietmar heiratete, hast du noch drunten im Dorf die Gänse gehütet.“
Hanne schob die Unterlippe vor, sagte aber kein Wort mehr.


Um die Mittagsstunde legten sie eine kurze Rast ein. Lena fühlte sich steif und ungelenk, die Füße waren ihr eingeschlafen und kribbelten, als sie aus dem Wagen kletterte. Ludovika sprang mit beneidenswerter Leichtigkeit hinterher. Ihr war noch immer nichts von der Mühsal der Reise anzumerken. Hanne und Gerda trugen auf, was sie in ihren Vorratskörben hatten. Köstliche Pasteten, weiches helles Brot und sogar Würste. Schwester Ludovika vergaß für einen Moment ihre übliche Mäßigung und langte kräftig zu. Sie lagerten auf einer breiten Lichtung inmitten des finsteren Waldes. Die Reiter stiegen ab, ließen die Pferde grasen und sich ebenfalls von Gerdas guten Gaben verwöhnen. Die Männer scherzten,die Mägde lachten,nur Lena hatte das Gefühl, ihr Magen sei wie zugeschnürt.Viel zu lange kaute sie auf einer der Pasteten herum, nur um nicht aufzufallen. Sie versuchte, sich einzureden, ihre Unruhe liege in der Erwartung begründet, die alle in sie setzten. Doch zugleich wusste sie, dass sie sich selbst belog. Es war der Wald, der sie ängstigte. Und die Aussicht auf die Bode machte es nicht besser.Hohlwege,am Fluss entlang,Stromschnellen und Felsen, die menschlichen wie tierischen Bestien Deckung boten.


Kurz nach Einbruch der Dunkelheit erreichten sie Burg Birkenfeld. Mit der Sonne war auch die Wärme verschwunden, doch nicht nur deshalb fröstelte Lena. Der schmale Burgweg führte unmittelbar an der Bode entlang. Ihr wildes Rauschen mischte sich mit dem Poltern der Räder. Mehr als einmal neigte der Wagen sich bedenklich, doch außer ihr schien es niemand zu bemerken. Was wäre, wenn die Räder aus der Spur gerieten? Würden sie in die Bode stürzen?
Die Zugochsen schnauften angestrengt, als sie den Wagen den steilen Hügel hinaufzogen. Da erst wagte Lena den Blick vom Fluss abzuwenden und sah zur Burg hinauf, die sich hoch über ihr erhob. Sie hatte sich Birkenfeld größer vorgestellt, dennoch löste der Anblick des Gebäudes ein eigenartiges Unbehagen aus.War es der Turm, der alles überragte? Waren es die hohen Mauern? Eigentlich gab es keinen Grund zur Furcht, im Gegenteil, die Festung bot ihr Schutz. Gleichwohl zogen sich ihre Eingeweide schmerzhaft zusammen.
Die Pferde trabten eilig durch das äußere Tor in den Vorhof, auch die Ochsen zogen noch einmal kräftig an. Lena wurde nach vorn geworfen und hätte fast das Gleichgewicht verloren. Diesmal war auch Ludovika zusammengeschreckt, nur die beiden Mägde blieben unbeeindruckt. Rasch ging es vorbei an den Unterkünften des Gesindes und den Wirtschaftsgebäuden. Aus einigen der Fachwerkhäuschen drang ein schwacher Lichtschein hervor, war aber nicht stark genug, um mehr als einen Schatten sichtbar zu machen. Erst als sie das innere Tor erreichten, wurde es heller; zu beiden Seiten des Durchlasses steckten brennende Fackeln in eisernen Wandhalterungen. Ob sie wohl jede Nacht brannten oder nur heute, da sie erwartet wurden? Die tanzenden Flammen zauberten seltsame Gestalten auf die rauen Mauersteine. Rotbärtige Teufelsfratzen. Hastig schüttelte Lena den Gedanken ab.Welch ein Unsinn.Was war nur los mit ihr?


Dies war keine Burg mit großem Palas, so wie sie es auf den feinen Buchmalereien gesehen hatte, die ihr Vater einst als kostbaren Schatz gehütet hatte. Das Herz der Festung bildete der viereckige große Wohnturm. Schlicht und finster ragte er in den Himmel, ohne jede Zier. Nur aus zwei Fenstern fiel Licht in den Hof herab. Ringsum gruppierten sich kleinere Nebengebäude aus Fachwerk, deren Zweck Lena in der Dunkelheit nur erahnen konnte. Die Hufe der Pferde und Ochsen klapperten über den gepflasterten Innenhof und verstummten schließlich. Sie waren am Ziel. Lenas Knie knackten wie trockenes Holz, als sie sich von der gepolsterten Bank erhob und aus dem Wagen kletterte, wenigstens waren ihr die Füße nicht wieder eingeschlafen. Als ersten Burgbewohner entdeckte sie einen alten Mann in einer seltsamen Kutte, die Lena keinem Orden zuordnen konnte. Aber sein freundliches, beinahe väterliches Lächeln milderte ihre Beklommenheit.
„Seid willkommen, Schwester. Ich bin Ewald, der Hauskaplan.“
„Ich danke Euch“, antwortete sie. „Doch verzeiht, der Titel Schwester steht mir nicht zu. Ich habe kein Gelübde abgelegt.“
„Nicht?“ Er musterte sie erstaunt.
Heißes Blut stieg ihr in die Wangen, dabei gab es gar keinen Grund zu erröten.

Melanie Metzenthin

Über Melanie Metzenthin

Biografie

Melanie Metzenthin wurde 1969 in Hamburg geboren, wo sie auch heute noch lebt. Als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie hat sie einen ganz besonderen Einblick in die Psyche ihrer Patienten, zu denen sowohl Traumatisierte als auch Straftäter gehören. Bei der Entwicklung der Figuren ihrer...

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