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Unsere kurze Ewigkeit

Melanie Metzenthin
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Margarethe und Fritz Krupp. Roman einer Ehe

— Historischer Roman über die Matriarchin der Krupp-Dynastie
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Unsere kurze Ewigkeit — Inhalt

Die große Liebe wurde ihre größte Herausforderung

Essen, 1882. Der begehrteste Junggeselle des Ruhrpotts heiratet eine alte Jungfer: Für Fritz Krupp und die gleichaltrige Margarethe ist es eine Liebeshochzeit, doch die feine Gesellschaft sieht in der Braut keine gute Partie. Margarethe beweist allerdings schnell, was in ihr steckt. Sie muss sich nicht nur um die wachsende Familie kümmern, sondern wiederholt für ihren kränklichen Gatten auch in beruflichen Belangen einspringen.

Margarethe Krupp: Ehefrau, Unternehmerin, Wohltäterin

Für sie ist völlig klar: Fritz ist ihr Seelenverwandter, für ihn würde sie alles tun. Gleichzeitig verlangen ihr Mann, das Unternehmen und die Krupp-Dynastie alles von ihr ab. Für Margarethe wird ihre Ehe zur Lebensaufgabe, Erfüllung und Herausforderung zugleich.

€ 18,00 [D], € 18,50 [A]
Erschienen am 03.05.2024
416 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-06397-5
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€ 14,99 [D], € 14,99 [A]
Erschienen am 03.05.2024
416 Seiten
EAN 978-3-492-60636-3
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Leseprobe zu „Unsere kurze Ewigkeit“

Villa Hügel in Essen, 27. Februar 1931

Es sollte eine Beisetzung im engsten Familienkreis werden, ein stiller Abschied ohne pompöse Gästeliste. Doch die Familie hatte nicht mit der Zuneigung der Bevölkerung gerechnet. Vom einfachen Stahlwerksarbeiter bis zur elegant gekleideten Dame waren sie gekommen. Mehr als einhundertfünfzigtausend Menschen säumten die Straßen vor der Villa Hügel! Man sah vornehme Herren ebenso wie Mütter mit kleinen Kindern. Halbwüchsige Burschen standen zwischen jungen Mädchen und hochbetagten Greisinnen, die sich ergriffen über [...]

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Villa Hügel in Essen, 27. Februar 1931

Es sollte eine Beisetzung im engsten Familienkreis werden, ein stiller Abschied ohne pompöse Gästeliste. Doch die Familie hatte nicht mit der Zuneigung der Bevölkerung gerechnet. Vom einfachen Stahlwerksarbeiter bis zur elegant gekleideten Dame waren sie gekommen. Mehr als einhundertfünfzigtausend Menschen säumten die Straßen vor der Villa Hügel! Man sah vornehme Herren ebenso wie Mütter mit kleinen Kindern. Halbwüchsige Burschen standen zwischen jungen Mädchen und hochbetagten Greisinnen, die sich ergriffen über die Augen wischten und leise von der guten alten Zeit erzählten, damals, als der Kaiser hier noch ein und aus gegangen war. Ein alter Mann, dessen krummer Rücken von lebenslanger harter Arbeit zeugte, richtete sich auf, um einen Blick auf den Trauerzug zu erhaschen. Uniformierte Schutzleute standen neben einem blassen Buchhalter, der sich immer wieder die dicken Brillengläser putzte, um ja nichts zu verpassen. Man sah Fotografen und Reporter, die diesen Tag für die Nachwelt festhalten wollten. Sie alle waren gekommen, um Margarethe Krupp die letzte Ehre zu erweisen. Industriellengattin, Firmenchefin und Ehrenbürgerin Essens. Stifterin der Margarethenhöhe, eines Wohngebiets aus wunderschön angelegten Häusern im Grünen. Diese waren Familien vorbehalten, deren Geldbeutel zu schmal für ein eigenes Häuschen war. Auch wenn manch böse Zungen behaupteten, Margarethe Krupp habe mit ihrer Wohltätigkeit von den Skandalen ihrer Familie ablenken wollen, so fühlten die meisten doch instinktiv, dass Margarethes Barmherzigkeit einem aufrechten und wahrhaftigen Bedürfnis entsprungen war. Und so hatten sich die Menschen versammelt, um Margarethe Krupp ein letztes Mal ihren Respekt zu bekunden.



Teil 1
Herbst 1878

1

„Wenn du als Dienstbotin arbeiten willst, brauchst du dich hier nie mehr blicken zu lassen. Dann bist du nicht mehr meine Tochter!“

Dieser Satz ging Margarethe nicht mehr aus dem Kopf. Nicht einmal die wunderschöne Landschaft, die an ihrem Zugfenster vorbeiflog, konnte sie ablenken. Unter anderen Umständen hätte sie mit Sicherheit ihren Skizzenblock hervorgezogen, um die herbstroten Wälder und die ockerfarbenen Felder festzuhalten. Sie hätte nach Rehen, Fasanen und Füchsen Ausschau gehalten. Doch diesmal war alles anders. Zu schmerzhaft hatten sich die harschen Worte in ihr Herz gegraben. Die letzten Worte, bevor sie aufgebrochen war, um ihr Elternhaus für lange Zeit, wenn nicht gar für immer, zu verlassen. Wenigstens hatte sie das Zugabteil für sich allein. Sie hätte es nicht ertragen, mit irgendeinem Fremden höfliche Konversation betreiben zu müssen, während ihre Gefühle durcheinanderwirbelten.

Es waren nicht nur Schmerz und Enttäuschung, sondern vor allem Wut. Unbändige, heiße Wut, die ihre Schläfen pochen und den Kopf schmerzen ließ, als wolle er zerspringen. Ein Schmerz, so stark, dass sie am liebsten geschrien hätte, um sich Erleichterung zu verschaffen. Natürlich tat sie das nicht, sie war schließlich eine Freiin von Ende, dazu erzogen, stets auf ein tadelloses Benehmen zu achten. Und zu einem tadellosen Benehmen gehörte es, sich nicht mit der Mutter zu zanken. Dennoch ärgerte sie sich maßlos, dass sie ihrer Mutter nicht widersprochen hatte. Zunächst hatte sie sich eingeredet, es wäre ihr natürlicher Respekt vor der Frau, die sie geboren hatte. Und in gewisser Weise stimmte das. Sie war schon vierundzwanzig Jahre alt, doch dieser Respekt beherrschte noch immer ihr Handeln. In Wirklichkeit war es aber ihre Feigheit. Sie hatte Angst davor gehabt, sich mit einer angemessenen Widerrede Luft zu verschaffen, denn sie wusste, dass sich nicht einmal ihr Vater August im Streit gegen die Mutter durchsetzen konnte. Und der war immerhin amtierender Oberpräsident der Provinz Hessen-Nassau. Andererseits bewies ihre Reise, dass sie sich in gewisser Weise doch durchgesetzt hatte. War es nicht die viel bessere Antwort, zu handeln, anstatt hitzige Worte zu wechseln, die doch zu keiner Lösung führten?

Sie war keine Dienstbotin, ganz gleich, was ihre Mutter sagte. Sie war Absolventin des Lehrerinnenseminars und hatte über den Verein deutscher Lehrerinnen in England eine gut bezahlte Stellung als Gouvernante im Haushalt des britischen Admirals John MacKenzie angeboten bekommen. Er war achtundfünfzig Jahre alt, seine Frau Anabella um vier Jahre jünger. Das Paar hatte vier Kinder, Anni, die nur drei Jahre jünger als Margarethe selbst war, den vierzehnjährigen Stammhalter Kenneth und die beiden Töchter Laura und Lissie, elf und zwölf Jahre alt, ihre künftigen Schützlinge. Margarethe war sehr stolz gewesen, als sie dieses Stellenangebot bekommen hatte. Die Bezahlung war viel besser als in Deutschland, und Mrs MacKenzie hatte ihr einen begeisterten Brief geschrieben, in dem sie ihrer Freude Ausdruck verliehen hatte, dass eine Frau mit solch guten Referenzen künftig die Erziehung ihrer jüngsten Töchter übernehmen würde. Mit Sicherheit hatten die Empfehlungsschreiben, die Bertha Krupp und die Gräfin von der Leyen ihr ausgestellt hatten, einen Großteil zu dieser Begeisterung beigetragen.

Margarethe erinnerte sich daran, wie sie Mrs MacKenzies Brief stolz ihrer Mutter gezeigt hatte. Doch anstatt sich zu freuen, war diese empört gewesen: „Du bist die Freiin von Ende und Enkelin des Grafen von Königsdorff“, hatte sie geschrien, bevor jene bitteren Worte gefallen waren, die Margarethe noch immer verfolgten. Das Pochen in ihren Schläfen verstärkte sich wieder. Am meisten ärgerte sie die Doppelmoral ihrer Mutter. Jetzt kam sie ihr mit der vornehmen Herkunft ihrer Familie. Dabei hatte sie von ihr jahrelang verlangt, für die Familie zu putzen, die Wäsche zu machen und die jüngeren Geschwister zu hüten, weil zu wenig Geld für ordentliches Personal da war. Wäre sie Gouvernante beim deutschen Hochadel geworden, hätte ihre Mutter mit Sicherheit voller Stolz mit ihr renommiert. Aber die Familie MacKenzie war nun mal bürgerlich.

Ob ihre Mutter diese Doppelmoral wohl schon als Kind erlernt hatte? Oder war es ihre Art der Bewältigung gewesen, weil ihr Leben nicht so verlaufen war, wie sie es sich eigentlich gewünscht hatte? Diese Frage hatte Margarethe sich nie beantworten können. Sie wusste nur, dass sie niemals so leben wollte wie ihre Mutter, die mit achtzehn Jahren ihr erstes Kind bekommen hatte und mit neununddreißig Jahren zum dreizehnten Mal niedergekommen war. Ihre beiden Erstgeborenen hatte sie bereits als Säuglinge zu Grabe tragen müssen, ebenso wie den kleinen Ehrenfried, ihr zwölftes Kind. Danach war nur noch die kleine Irene geboren worden. Eleonore von Ende mochte einen schwierigen Charakter haben, aber sie hatte auch kein leichtes Leben gehabt. Wenigstens hatte sie ihre Töchter trotz aller Querelen niemals dazu genötigt, eine ungewollte Ehe einzugehen. Als Margarethe daran dachte, verrauchte ihre Wut. Sie hat mich verletzt, aber sie hat mich nie daran gehindert, das zu tun, was ich wirklich will. Ich kann alles schaffen, ich muss nur die Konsequenzen tragen. Und wenn ich dazu bereit bin, kann mich nichts aufhalten.

Heute fuhr sie ein letztes Mal für lange Zeit nach Essen, um ihrer mütterlichen Freundin Bertha Krupp einen Abschiedsbesuch abzustatten. In zwei Tagen ging es dann von der Villa Hügel aus nach Hamburg. Dort würde sie die Fähre nach England nehmen und von Harwich weiter nach Holyhead in Nordwales reisen.

Ein Ruck ging durch den Waggon. Margarethe schreckte aus ihren Gedanken und sah, dass der Zug in einem kleinen Bahnhof angehalten hatte. Noch vier Stationen bis Essen. Sie schaute aus dem Fenster und betrachtete einige der wartenden Fahrgäste. Ein uniformierter Soldat, eine fünfköpfige Familie und ein Mann um die vierzig mit einem gewaltigen Schnauzbart. Sie hoffte, dass sie noch eine Weile mit ihren Gedanken allein bleiben könnte. Es gab schließlich genügend freie Abteile.

Als die Pfeife des Schaffners ertönte, war Margarethe erleichtert, denn niemand war in ihr Abteil gestiegen. Doch als der Zug anfuhr, stellte sie fest, dass sie sich zu früh gefreut hatte. Der schnauzbärtige Mann kam den Gang hoch, schaute in ihr Abteil und öffnete es dann.

„Guten Tag, ist hier noch ein Platz frei, meine Dame?“

Sie nickte stumm.

Der Mann hievte seinen kleinen Koffer in das Gepäcknetz, dann nahm er ihr gegenüber Platz. „Ich hasse es, allein in einem Abteil zu sitzen. Da bin ich doch sehr froh, dass ich Sie hier getroffen haben, meine Dame.“ Er warf einen Blick auf ihre Hände, die in weißen Handschuhen steckten. Vermutlich taxierte er, ob sie einen Ehering darunter trug, denn sofort fragte er: „Oder ist Ihnen Fräulein lieber?“

„Verzeihen Sie, aber mir ist im Augenblick nicht nach Konversation zumute.“

„Oh, habe ich da in ein Wespennest gestochen? Haben Sie gar Liebeskummer? Wissen Sie, mit mir können Sie über all das reden, ich bin ein guter Zuhörer, und ich habe schon so manches Herzensleid während einer Bahnfahrt gelindert.“

Margarethe sah ihm direkt in die Augen. „Mein Herr, ich sagte, mir ist nicht nach Konversation zumute.“

„Nun, vielleicht sollte ich Ihnen dann erst einmal von mir erzählen, damit Sie etwas Vertrauen fassen. Ich bin Fridolin Stemmler, Geschäftsreisender auf dem Weg nach Essen.“

Margarethe unterdrückte einen Seufzer. Musste dieser aufdringliche Mensch ausgerechnet das gleiche Ziel wie sie haben?

„Wollen Sie wissen, was ich vertrete?“

Margarethe schaute schweigend aus dem Fenster. Das schien ihr Gegenüber als Aufforderung zu verstehen.

„Beste Savon de Marseille. Die gute Seife aus Marseille, die für ihren hohen Anteil an Olivenöl bekannt ist. Reinigend und dennoch schonend zur Haut und dabei wohlduftend. Ich habe nicht nur Rosen- und Lavendelduft im Angebot, sondern auch exotische Düfte wie Schokolade.“

Margarethe sah weiterhin aus dem Fenster.

„Wissen Sie, warum ich nach Essen fahre? Weil man sich vor dem Essen die Hände waschen sollte.“ Er lachte albern. „Nun kommen Sie schon, meine Dame, das war lustig. Wollen Sie nicht einmal lächeln und mir das Strahlen Ihrer Zähne zeigen?“

Margarethe zog ein kleines in Leder eingeschlagenes Büchlein aus ihrem Handtäschchen. Zwar war ihr nicht nach Lesen zumute, aber es zog eine sichtbare Grenze zwischen ihr und ihrem Gegenüber.

„Was lesen Sie da?“, fragte der Schnauzbart.

„Ein Buch.“

„Worum geht es in diesem Buch? Ist es anspruchsvolle oder erbauliche Literatur?“

Margarethe überhörte die Frage.

„Wie wäre es, wenn Sie mir den letzten Satz, den Sie gerade gelesen haben, vorlesen, und ich versuche zu raten, um welches Buch es sich handelt. Ich bin nämlich sehr belesen, wissen Sie?“

Es lag Margarethe auf der Zunge, ihn zu fragen, ob er Ruhe geben würde, wenn er den Titel des Buches nicht erraten würde, aber sie begnügte sich damit, ihn zu ignorieren.

„Sie sind nicht sehr redselig, meine Dame.“

Margarethe tat so, als sei sie in ihr Buch vertieft. Wann würde dieser impertinente Mensch endlich begreifen, dass sie keinerlei Interesse hatte?

„Wissen Sie, meine Dame, es ist nicht sehr höflich, sich der Konversation zu entziehen.“

Sie atmete tief durch, dann sah sie dem Mann direkt in die Augen. All die Wut, die sie beim letzten Streit mit ihrer Mutter hinuntergeschluckt hatte, all die Worte, die sie damals nur im Geiste geformt, aber aus Höflichkeit niemals ausgesprochen hatte, drängten nach draußen, damit sie nicht daran erstickte.

„Ich sagte Ihnen bereits zweimal, dass mir derzeit nicht nach Konversation ist. Bitte respektieren Sie, dass ich hier nicht zu Ihrer Unterhaltung sitze, und hören Sie auf, mich zu einem Gespräch nötigen zu wollen, das ich nicht führen möchte. Das ist nämlich das, was man im Allgemeinen als unhöflich bezeichnet.“

„Oh, jetzt zeigen Sie mir die Krallen, meine Dame?“ Er zwirbelte seinen Schnurrbart. „Das gefällt mir, denn jetzt kommt wenigstens etwas Leben in Ihr trauriges Gesicht.“

Margarethe unterdrückte einen Seufzer. Kurz überlegte sie, das Abteil zu verlassen, doch dann entschied sie sich dagegen. Sie war schließlich zuerst hier gewesen, und vielleicht war dieser seltsame Mensch auch ein Geschenk des Schicksals, an dem sie erproben sollte, ob sie in der Lage war, sich ausreichend Respekt zu verschaffen, so wie es ihrer künftigen Rolle als Gouvernante entsprach.

Sie tat so, als vertiefe sie sich erneut in ihr Buch.

„Warum fällt es Ihnen so schwer, sich mit mir ein anregendes Gespräch zu gönnen, meine Dame?“

Margarethe legte ihr Buch beiseite. „Ich werde es Ihnen verraten, wenn Sie mir zuvor eine Frage ehrlich beantworten.“

Er strahlte sie an. „Jede, meine Dame.“

„Warum legen Sie so viel Wert darauf, wie ein Rüpel zu erscheinen, der keine angemessene Erziehung genossen hat?“

Er starrte sie mit großen Augen an, und sein Mund erinnerte sie an einen Karpfen, der nach Luft schnappt.

„Ich warte auf Ihre Antwort, mein Herr.“

„Ich … ähm, ich bin kein Rüpel.“

„Aber Sie wirken so, wenn Sie nicht auf die freundlich formulierten Bedürfnisse Ihrer Mitmenschen eingehen.“

Sie sah ihm auf dieselbe Weise in die Augen wie eine Lehrerin, die einen ungezogenen Buben ausschimpft. Und tatsächlich zeigte es Wirkung, denn Fridolin Stemmler senkte den Blick.

„Es tut mir leid, ich … ich wollte doch nur amüsant sein.“

„Nun, Einsicht ist der erste Weg zur Besserung“, sagte Margarethe. „Bei mir erreichen Sie mit dieser Art das Gegenteil dessen, was Sie sich wünschen. Und da Sie das nun verstanden haben, möchte ich Sie zum wiederholten Mal bitten, meinen Wunsch nach Ruhe zu respektieren.“

Stemmler nickte. „Ich glaube, dann werde ich wohl lieber das Abteil wechseln.“

„Das ist ein vortrefflicher Gedanke“, lobte Margarethe. „Vielleicht finden Sie anderswo die Konversation, die Sie sich wünschen.“

Als der Zug endlich am Bahnhof in Essen hielt, wurde sie schon von Wilhelm, einem der Droschkenkutscher des Hauses Krupp, erwartet. Er nahm ihr die Reisetasche ab und brachte sie zu dem eleganten Zweispänner. Zuerst hielt er ihr die Tür auf und verstaute dann ihr Gepäck. Sie warf einen Blick zurück auf den Bahnhof und sah, wie Fridolin Stemmler die Unterstützung eines Gepäckträgers abwies und seinen Koffer ganz allein die Straße entlangtrug. Und obwohl sie sich anfangs so sehr über ihn geärgert hatte, spürte sie seltsamerweise Mitleid mit ihm.

Wilhelm trieb die Pferde an. Endlich würde sie Bertha wiedersehen, ihre mütterliche Freundin, die ihrem Herzen so viel näherstand als ihre eigene Mutter.


2

Die Fahrt zur Villa Hügel dauerte eine gute halbe Stunde. Margarethe war diesen Weg schon oft gefahren, wenn sie Bertha Krupp besuchte. Meist hielt Wilhelm die Zügel, und obwohl er ein sehr schweigsamer Mann war, hatte sie inzwischen das Gefühl, ihn gut zu kennen. Schon seltsam, dass gemeinsames Schweigen Menschen einander manchmal näherbrachte als viele Worte.

Ihre Gedanken schweiften zurück zu jenem Tag, als sie Bertha das erste Mal begegnet war. Damals war sie achtzehn gewesen und die Villa Hügel noch eine riesige Baustelle, die sie vom Klosterbuschhof, dem damaligen Anwesen der Familie Krupp, nicht nur sehen, sondern auch lautstark hören konnte. Da August von Ende kurz zuvor zum Regierungspräsidenten von Düsseldorf befördert worden war, gehörte es zu seiner Aufgabe, bei den einflussreichsten Bürgern im Bezirk einen Antrittsbesuch zu absolvieren. Margarethe hatte sich immer sehr gefreut, wenn sie ihre Eltern dabei begleiten durfte. Schließlich war sie nun schon eine junge Dame, die sich in der Gesellschaft zu benehmen wusste. Manchmal dachte sie, ihre Mutter würde ihre Begleitung nur deshalb erlauben, damit sie irgendwo genügend Eindruck schinden könnte, um einen passenden Mann zu finden. Ob es an jenem Tag so war, bezweifelte sie allerdings. Zwar hatten die Krupps einen Sohn, aber nicht einmal ihre Mutter hätte Friedrich Alfred, kurz Fritz genannt, ernsthaft als künftigen Schwiegersohn in Betracht gezogen. Schwerreiches Bürgertum passte ebenso wenig zu verarmtem Adel wie ein achtzehnjähriger, stets etwas kränkelnder Jüngling zu einer gleichaltrigen Jungfer, die in den Augen ihrer Mutter bereits vertrocknet wäre, bevor der junge Mann sich von einem unreifen grünen Apfel in eine süße Frucht verwandelt hätte.

Margarethe war das nur recht gewesen, denn so hatte sie die Möglichkeit, den Antrittsbesuch auf dem Hügel unbeschwert zu genießen. Während ihr der Hausherr Alfred Krupp, ein hochgewachsener, hagerer Mann mit weißem Haar, sehr Respekt einflößend und unnahbar erschien, strahlte seine deutlich jüngere Frau Bertha eine Warmherzigkeit aus, die Margarethe von ihrer eigenen Mutter nicht kannte. Es fühlte sich beinahe wie ein Nachhausekommen an, ganz so, als würde sie Bertha schon seit Urzeiten kennen, obwohl sie während des formellen Antrittsbesuchs nur wenig Gelegenheit hatten, miteinander zu sprechen. Damals wurde Margarethe zum ersten Mal bewusst, was sie in ihrem Innersten längst geahnt hatte: Nicht Worte drückten die Nähe zwischen zwei Menschen aus, sondern die Art, wie sie aufeinander zugingen. Gesten sagten oft viel mehr als Worte, ja sie enttarnten sie sogar. Ein Runzeln der Stirn, ein Verdrehen der Augen, und schon war die freundlichste Begrüßung wertlos, während ein Strahlen in den Augen für Aufrichtigkeit stand. Und sie bemerkte zum ersten Mal, dass manche Menschen nur mit den Augen lächelten, wenn die Contenance ein offen erkennbares Amüsement verbot.

Fritz, der Sohn des Hauses, war ihr ebenfalls sofort sympathisch, auch wenn er auf den ersten Blick nicht über jene Attribute zu verfügen schien, die Frauen an jungen Männern schätzten. Er war zwar hübsch anzusehen, aber kein galanter Unterhalter. Zudem wirkte er beinahe wie ein schüchterner Pennäler, dem der Respekt vor dem Vater deutlich anzusehen war. Eine Form des Respekts, die Margarethe schon fast als Furcht erlebte, dem anspruchsvollen Vater niemals etwas recht machen zu können. Es war nicht nur die vorsichtige Wortwahl, sondern vor allem die Körperhaltung. Stets unterwürfig und defensiv unterstützte jede Faser seines Körpers die Umsicht, mit der er sich äußerte. Aber gerade dadurch fühlte Margarethe sich ihm unwillkürlich nah. Schließlich erfüllte sie die Erwartungen ihrer Mutter ebenso wenig.

Und es gab noch etwas, das sie mit ihm gemein hatte: Es gab einen ausgleichenden Elternteil, der all das aufwog, was der andere nicht geben konnte. Sie hatte einen herzensguten Vater, den sie über alle Maßen liebte und verehrte, ganz so, wie Fritz seine Mutter liebte. Jedes Mal, wenn er sich ihr zuwandte, straffte sich seine Haltung, die Stimme wurde fester, aber der Blick weicher. Und so hatte Margarethe das Gefühl, in Fritz eine Art Spiegelbild ihrer selbst zu finden. Jedoch mit einem entscheidenden Unterschied: Während der relative Geldmangel ihrer Familie sie oft dreimal überlegen ließ, was sie sich leisten konnte, spürte der junge Krupp schon jetzt die Bürde eines umfassenden Erbes auf den Schultern. Eine Verantwortung nicht nur für das Vermögen, sondern vor allem für das Geschäftsimperium, das es begründete. Diese Bürde lastete gewiss doppelt schwer, da sein Vater ihm keinen Raum für eigene Ideen oder auch nur Wünsche ließ. Das wurde Margarethe besonders deutlich, als der Hausherr im Verlauf des Antrittsbesuchs zu ihrem Vater sagte: „Mein Herr Sohn wünscht das Polytechnikum in Braunschweig zu besuchen, um dort zu studieren. Was halten Sie denn davon, Herr Regierungspräsident?“

Margarethe war sofort der kritische Unterton des Gastgebers aufgefallen, die strenge Falte zwischen seinen Augen. Sie sah zu Fritz, der so beschämt die Augen senkte, als hätte sein Vater ihn eines Kapitalverbrechens beschuldigt. Doch Margarethes Vater hatte diese Warnsignale nicht erkannt. „Das lobe ich mir“, hatte er stattdessen gesagt. „Man sollte junge Menschen stets unterstützen, wenn sie sich Bildung aneignen wollen. Sie können stolz auf Ihren Sohn sein.“

Während sich die Brauen des Hausherrn nun ganz offen verärgert zusammenzogen, bemerkte Margarethe erstmals dieses stille Lächeln in Fritz’ Augen, das nur in seinem Blick lebte, aber nicht die Lippen erreichte. Sie schaute weiter zu Bertha Krupp, die den Kopf leicht senkte, so als täte ihr dieser Affront leid. Eleonore von Ende warf ihrem Mann einen warnenden Blick zu, aber August bemerkte nicht, in welches Fettnäpfchen er getreten war, sondern zählte voller Überzeugung die Vorteile eines Studiums im Polytechnikum auf. Erst als er nach diesem Antrittsbesuch nie wieder auf den Hügel eingeladen wurde, dämmerte ihm, dass er an jenem Abend wohl das Falsche gesagt hatte …

Bertha war Margarethe jedoch ungeachtet des Fauxpas ihres Vaters von Anfang an freundschaftlich verbunden und wurde die mütterliche Freundin, die Margarethe sich vom ersten Augenblick an gewünscht hatte. In den kommenden Jahren lud Bertha Margarethe wiederholt für mehrere Wochen in die Villa Hügel ein, wo sie dem jungen Mädchen half, den letzten Schliff im Umgang mit der feinen bürgerlichen Gesellschaft zu erlernen, der anders war als beim Hochadel. Ihrer eigenen Mutter war nur wichtig gewesen, dass sie wusste, wie sie höhergestellte Adelige richtig ansprach.

Margarethe lächelte versonnen bei diesen Erinnerungen, als die Droschke an dem kleinen Wächterhäuschen vorbei in das Wäldchen rollte, das die Villa Hügel umgab. Der Wächter kannte Wilhelm und Margarethe, und so blieb es ihnen erspart, anzuhalten, um den sonst obligatorischen Passierschein vorzulegen, wenn man den Privatbesitz der Familie Krupp betreten wollte. Angeblich trieben sich nicht nur ungebetene Spaziergänger hier herum, sondern es wurde auch gern mal gewildert. Margarethe dachte daran, wie der Forstaufseher ihr bei einem ihrer früheren Besuche von einem Schusswechsel mit Wilderern erzählt hatte. Allerdings hatte er dabei so ausufernd erzählt, dass sie den größten Teil der Geschichte schnell ins Reich der Fabeln geschoben hatte. Und tatsächlich hatte Fritz ihr später erzählt, dass nur ein einziger Schuss abgefeuert worden war, um den Wilderer zu warnen, der sich daraufhin sofort ergeben hätte. Ein armer Bursche, der nur den Speiseplan seiner Familie hatte aufbessern wollen und den sie dann mit einer strengen Verwarnung heimgeschickt hatten, anstatt ihn der Polizei zu übergeben.

Ob Fritz wohl zu Hause war? Sie hatte ihn in den letzten Jahren ebenfalls regelmäßig getroffen. Es war natürlich keine romantische Beziehung, schließlich galt sie mit ihren mittlerweile vierundzwanzig Jahren längst als alte Jungfer, und Fritz wurde von seinem Vater nach wie vor wie ein kleiner Junge gegängelt. Ein Studium war ihm verwehrt geblieben, denn sein Vater war der Überzeugung, ein solches sei nur für Untergebene. Ein echter Unternehmer lernte durch das Beispiel seines Vaters, denn er müsse lediglich führen, für alles andere hätte er seine Leute. Und Führungsstärke liege im Blut. Alfred Krupp sah studierte Leute als Dienstboten, weil er sie für ihre Dienste bezahlte. Ihre Mutter Eleonore sah sie jetzt auch als Dienstbotin, weil sie eine gut dotierte Stellung bei einer angesehenen, aber bürgerlichen britischen Familie antreten würde. Noch eine Gemeinsamkeit, dachte Margarethe.

Sie war auch deshalb so gern mit Fritz zusammen, weil sie sich in seiner Gegenwart stets frei gefühlt hatte, ihre Gedanken zu allen möglichen Themen offen zu äußern. Ihre Mutter hatte ihr allerdings immer geraten, Männern nie ihre Intelligenz zu zeigen, denn das würde die Herren der Schöpfung nur verschrecken. Aber da sie Fritz wie einen ihrer Brüder sah, musste sie nichts befürchten. Zudem hatte sie ihn mit ihren geistreichen Gesprächen nie verschreckt, ganz im Gegenteil. Er suchte ihre Nähe und den Austausch mit ihr, vertraute ihr seine Gedanken ebenso an wie seinen Kummer mit dem Vater. Und er war genauso schweigsam, wenn sie über ihre eigenen Sorgen sprach. Ein echter Freund eben, jemand, auf den sie sich verlassen konnte, und niemand, der sie wie einen Paradiesvogel einfangen wollte, um sich mit ihm zu schmücken. Vermutlich, weil es da auch nicht viel zu schmücken gibt, dachte sie, während die Villa Hügel langsam vor ihnen auftauchte. Ich bin zu unscheinbar, als dass ein Mann mit mir renommieren könnte, und außerdem zu alt für Fritz.

Die Droschke hielt vor dem Portal der Villa. Die Baustelle von damals hatte sich längst in einen imposanten Palast verwandelt, angemessen, um Könige und Kaiser zu empfangen und vom Stolz des Bürgertums zu zeugen. Auch das war Margarethe gut in Erinnerung geblieben: der Stolz, den Alfred Krupp auf seine bürgerliche Herkunft und die Fertigkeit seiner Familie verspürte. Das war etwas, was ihre Mutter nie verstanden hatte. Dass es Menschen gab, die auf ihre Leistung genauso stolz waren wie der Adel auf eine vornehme Geburt, ja schlimmer noch, die sogar so stolz auf ihr Großbürgertum waren, dass sie die Erhebung in den Adelsstand ablehnten. Alfred Krupp war reich genug, dass er keinen Adelstitel nötig hatte. Der Hochadel ging trotzdem ein und aus. Vielleicht war genau das der Grund, warum er diese Ehre abgelehnt hatte. Er war keiner der Ihren, aber sie mussten ihn dennoch hofieren, weil der Kaiser auf seine Stahlproduktion angewiesen war. Gab es einen besseren Weg, den alten Dünkel zu zerschlagen, als einen neuen Geldadel zu gründen? Keinen von Gottes Gnaden, sondern geboren aus der eigenen Leistung und der seiner Familie?

Bertha erwartete Margarethe bereits im großen Foyer der Villa. Doch zunächst trat ein Diener lautlos heran und half ihr aus dem Mantel. So unauffällig und selbstverständlich, dass sie es nur deshalb bemerkte, weil die Dienerschaft bei ihr zu Hause nicht so gut geschult war.

„Ich bin so froh, dass wir uns noch einmal sehen, bevor es für so lange Zeit ins kalte England geht.“ Bertha umarmte Margarethe.

Diese erwiderte die Zuneigung. „Ich werde Sie so sehr vermissen, meine liebste Freundin. Aber ich freue mich auch auf meine neue Aufgabe und die wilde Natur in Holyhead. Mrs MacKenzie hat mir so schwärmerisch davon geschrieben, dass ich es kaum erwarten kann, mit ihren Töchtern den Strand entlangzuwandern.“

Bertha führte sie in den Salon, wo eine Erfrischung vorbereitet war. Es gab frisch gebrühten Kaffee und eine ansprechende Auswahl an Gebäck. Die Dame des Hauses griff hinter ihr Sesselkissen, wo sie bis dahin etwas vor Margarethes Blicken versteckt hatte.

„Ein kleines Präsent für die Reise, aber es ist nicht ganz uneigennützig.“ Sie reichte ihr mit verschmitztem Lächeln ein in grünes Seidenpapier eingeschlagenes Paket mit einer großen roten Schleife.

„Vielen Dank!“ Margarethe nahm es und betastete es vorsichtig. „Ist es ein Buch?“

„Öffnen Sie es, meine Liebe.“

Vorsichtig löste sie die Schleife und noch behutsamer das Papier, um es nicht zu zerreißen. Im Haushalt ihrer Mutter wurde Geschenkpapier stets aufgehoben und wiederverwendet. Selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, so galt es doch als unschicklich, ein Geschenk einfach ungehobelt aufzureißen.

Es war ein teures Skizzenbuch, so wie es Künstler an den Akademien verwendeten, außerdem eine Schachtel mit Pastellkreiden und eine mit Bleistiften unterschiedlicher Härtegrade.

„Das ist wundervoll, vielen Dank!“

„Ich weiß doch, wie gern und mit wie viel Talent Sie zeichnen, und da dachte ich mir, auf diese Weise kann ich später bei Ihrer Rückkehr an dem teilhaben, was Sie gesehen haben.“

„Ich werde mir Mühe geben, jede einzelne Seite dieses Buches mit Leben zu erfüllen.“

„Das weiß ich, die Kunst liegt Ihnen im Blut.“

Margarethe lächelte. Die Kunst war tatsächlich eines der wenigen Dinge, die sie mit ihrer Mutter gemein hatte. Eleonore suchte regelmäßig mit ihrer Staffelei die Gemäldegalerie in Kassel auf, um die dortigen Meisterwerke gekonnt zu kopieren. Und Margarethes jüngerer Bruder Felix war sogar dabei, sich als Kunstmaler so weit zu etablieren, dass er davon seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Bei dem Gedanken an ihren Bruder kamen unwillkürlich die schweren Gedanken zurück. Für ihre Söhne war Eleonore von Ende nur das Beste gut genug. Hätte eine ihrer Töchter den Wunsch geäußert, Malerin zu werden, wäre das als Flausen abgetan worden, ganz gleich, wie groß das Talent war. Eine Frau sollte schließlich Ehefrau und Mutter sein und könnte sich nebenher den schönen Künsten widmen.

„Woran denken Sie, meine Liebe? Sie sehen auf einmal so betrübt aus. Fällt Ihnen der Abschied doch schwerer als erwartet?“ Bertha sah sie mitfühlend an.

„Nein, keine Sorge.“ Margarethe schenkte ihr ein Lächeln und griff nach der Kaffeetasse, die ein aufmerksames Dienstmädchen eingeschenkt hatte, während sie das Paket geöffnet hatte. Im Hause Krupp bekam der Begriff Hausgeister eine ganz neue Bedeutung. Unsichtbar und doch allgegenwärtig, wie man es von gutem Personal erwartete.

„Ich dachte nur an den Abschied von meiner Mutter.“ Sie seufzte leise.

„Ist sie immer noch dagegen, dass Sie als Gouvernante arbeiten wollen?“

„Als Gouvernante in Holyhead bei einer bürgerlichen Familie“, erwiderte Margarethe. „Hätte ich eine Stellung bei einer Adelsfamilie angenommen, die im Rang über der gräflichen Familie meiner Mutter steht, wäre sie gewiss vor Stolz zerplatzt. Aber den Dienst bei Bürgerlichen sieht sie als Abstieg an.“ Und dann wiederholte sie die bitteren Worte, die gefallen waren.

„Das tut mir sehr leid.“ Bertha sah Margarethe aufrichtig betroffen an. „Aber ich denke, mit der Zeit wird Ihre Mutter sich beruhigen, und Ihr Vater wird das Rechte dazu tun. Er ist ja ein einfühlsamer Mann, der in Ihrem Sinne Einfluss auf seine Frau zu nehmen weiß.“

„Ich hoffe es.“ Margarethe nippte an ihrer Tasse. „Aber meine Mutter macht es ihm nicht leicht.“ Das war eine sehr behutsame Umschreibung für die heftigen Temperamentsausbrüche ihrer Mutter, denen der Vater längst nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Außer seiner Beharrlichkeit. Seine Strategie erinnerte Margarethe manchmal an einen altgedienten General, der einen kurzen Vorstoß auf die feindliche Burg wagte und dann bei gegnerischem Geschützfeuer sofort den Rückzug antrat, um es später erneut zu versuchen. So lange, bis der Feind das Pulver verschossen hatte und die Festung gefahrlos gestürmt werden konnte. Allerdings kostete diese Strategie viel Zeit, und Margarethe war sich sicher, dass es diesmal keine Frage von Wochen wäre, sondern vielmehr von Monaten.

Aber vielleicht würden sich die Wogen in einem Jahr geglättet haben, sodass sie nächstes Jahr schon wieder Weihnachten mit ihrer Familie verbringen könnte.

Die Tür zum Salon ging auf, und Fritz betrat den Raum.

„Wie schön, dass du da bist, um unseren Gast zu begrüßen“, sagte seine Mutter.

„Liebe Margarethe, ich freue mich sehr, Sie noch einmal vor Ihrer Abreise zu sehen.“ Er lächelte sie liebevoll an, während er ihre Hand ergriff.

Er ist reifer geworden, dachte Margarethe. Vermutlich reif genug, dass sein Vater ihm demnächst eine geeignete Ehefrau aussucht, damit die Familienlinie erhalten bleibt.

Ohne dass sie es wollte, verspürte sie einen Stich. Weniger, weil sie Fritz romantische Gefühle entgegenbrachte, sondern weil eine künftige Ehefrau genau das denken würde. Und dann wäre die Zeit der unbeschwerten Gespräche mit ihrem Seelenverwandten vermutlich für immer vorbei.

„Ohne einen Abschiedsbesuch hätte ich eine so weite Reise niemals angetreten“, erwiderte sie lächelnd.

„Immerhin eine Reise über das Meer“, griff Fritz ihren scherzhaften Ton auf. Genau das liebte sie so an ihm. Er teilte ihre Art des Humors. Mochte er in der Gegenwart seines Vaters auch schüchtern und ungelenk erscheinen, in ihrer Anwesenheit und auch in der seiner Mutter war er ganz er selbst. Wie schade, dass Alfred Krupp diese Seite seines Sohnes niemals zu Gesicht bekommen hatte. Und wie bedauerlich, dass Fritz nicht in der Lage war, sie ihm zu präsentieren. Wir sind so, wie unsere Eltern uns formen, dachte sie. Und wir haben beide Glück, dass wir immerhin einen Elternteil haben, der uns zeigt, wie wir sein können. Schon seltsam, dass es bei ihm die Mutter und bei mir der Vater ist. Er holt sich das weiche Vorbild der Mutter und ich mir das beständige des Vaters.

„Was geht Ihnen durch den Kopf, Margarethe?“, fragte Bertha, der nicht entgangen war, dass Margarethes Gedanken abgeschweift waren.

„Ich dachte darüber nach, welchen Einfluss die Erziehung auf Kinder hat“, sagte sie ausweichend. „Ich denke in letzter Zeit häufig darüber nach, damit ich meiner Aufgabe als Gouvernante gerecht werden kann.“

„Sie werden eine hervorragende Gouvernante sein. Sie haben nicht nur das rechte Herz dazu, sondern sind auch in der Lage, sich in die Bedürfnisse der Kinder einzufühlen“, sagte Fritz. Seltsamerweise hatte Margarethe das Gefühl, er würde weniger über die Töchter des Admirals sprechen als über sich selbst.

„Das hoffe ich. Auch wenn ich zu meiner Schande gestehen muss, dass ich die Stunden klassischer Pädagogik im Lehrerseminar bisweilen geschwänzt habe.“

„Sie haben jemals Stunden geschwänzt, Fräulein von Ende?“ Fritz musterte sie mit gespieltem Ernst. „Da offenbaren sich uns ja finstere Abgründe, nicht wahr, Mutter?“

Bertha lachte. „Wer sich niemals in irgendeiner Weise dem Unterricht entzogen hat, war niemals jung.“

„Oh“, sagte Fritz. „Dann bin ich wohl als Greis geboren.“

Margarethe und Bertha lachten.

„Keine Sorge, auch du warst ein richtiger Junge. Muss ich dich an die Klavierstunden erinnern?“

Fritz räusperte sich. „Gott sei Dank“, sagte er mit gespielter Erleichterung.

Es wurde ein vergnüglicher Nachmittag, aber als sie später gemeinsam mit dem Hausherrn Alfred Krupp zu Abend aßen, war Fritz’ Unbeschwertheit wieder dieser ernsthaften Verschüchterung gewichen, die sie an ihre erste Begegnung erinnerte. Daran hatte sich in all den Jahren nichts geändert. Was wäre wohl passiert, wenn Fritz sein Leben in die eigene Hand genommen und sich gegen den Willen seines Vaters beim Polytechnikum eingeschrieben hätte? Hätte der alte Herr ihn dann enterbt? Die Gefahr war gering, schließlich war er der einzige Sohn. Oder hätte er ihm alle finanziellen Mittel gestrichen? Nun, das war gut möglich, aber wenn Fritz wirklich einen derartigen Plan gehegt hätte, wäre es ihm möglich gewesen, etwas zurückzulegen. Vermutlich war es ihm nicht wichtig genug, um den Zorn des Vaters auf sich zu ziehen. Es war leichter, sich anzupassen und darauf zu vertrauen, dass die Lehren seines Vaters schon die rechten wären.

„Und was sagt Ihre Mutter dazu, dass Sie als Gouvernante nach England gehen?“ Die Frage des Hausherrn schreckte Margarethe aus ihren Gedanken. Sie hob den Blick und sah dem alten Krupp direkt in die Augen. In seiner Miene las sie keine Missbilligung, sondern aufrichtiges Interesse an einer ehrlichen Antwort.

„Es missfällt ihr, dass es ein bürgerlicher Haushalt ist“, erwiderte sie.

„Aber sie hat es Ihnen nicht untersagt?“

„Nun, sie drohte mir Konsequenzen an“, sagte Margarethe vorsichtig. „Aber ich bin bereit, die Folgen zu tragen, denn ich bin davon überzeugt, dass ich das Richtige tue.“

Krupp nickte langsam. „Nur wer bereit ist, Entscheidungen zu treffen und die daraus resultierenden Konsequenzen in Kauf zu nehmen, zeigt Führungsstärke. Darin unterscheiden wir uns von Dienstboten. Dienstboten warten darauf, dass wir ihnen sagen, was sie tun sollen, und sind dankbar, dass sie selbst nichts entscheiden müssen.“

„Nun, meine Mutter warf mir vor, ich würde als Dienstbotin arbeiten.“

„Kennen Sie den Unterschied zwischen Dienstboten und Menschen, die in Diensten stehen?“, fragte Krupp.

„Ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen.“

„Nun, ein Dienstbote ist ein Befehlsempfänger, der genau das tut, was ihm aufgetragen wird. Ein Mensch, der in Diensten steht, ist seinem Dienstherrn gegenüber loyal, aber er braucht Sachverstand und die Fähigkeit, selbstständig Entscheidungen zu treffen, da er einem eigenen Verfügungsbereich voransteht. Wenn Sie als Gouvernante arbeiten, ist Ihr Wort Gesetz für die Kinder der Herrschaften. Sie übernehmen die Verantwortung für die jungen Menschen, stehen also als moralische Instanz über ihnen, so wie mein Verwaltungsdirektor über den Arbeitern steht. Er untersteht mir und muss meine Anweisungen umsetzen, aber die Art und Weise, wie er das zuwege bringt, liegt bei ihm, solange seine Entscheidungen dem Geiste der Firma entsprechen.“

„Somit wäre ich Ihrer Definition nach keine Dienstbotin, sondern stünde in Diensten.“

„So ist es. Und vielleicht hilft Ihnen diese Definition ja auch, sich nach Ihrer Rückkehr aus England wieder mit Ihrer Mutter zu versöhnen.“

Margarethe war erstaunt. Das hatte sie von dem strengen Patriarchen nicht erwartet. Waren seine Worte wirklich nur für sie bestimmt gewesen oder auch für Fritz? Hätte er sich von seinem Sohn statt schüchterner Unterwerfung auch mehr Selbstsicherheit gewünscht? Sie sah verstohlen zu Fritz, der ihren Blick jedoch nicht erwiderte, sondern starr auf seinen Teller schaute, sodass sie nicht in seiner Miene lesen konnte.

Melanie Metzenthin

Über Melanie Metzenthin

Biografie

Melanie Metzenthin wurde 1969 in Hamburg geboren, wo sie auch heute noch lebt. Als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie hat sie einen ganz besonderen Einblick in die Psyche ihrer Patienten, zu denen sowohl Traumatisierte als auch Straftäter gehören. Bei der Entwicklung der Figuren ihrer...

Veranstaltung
Lesung und Gespräch
Freitag, 10. Mai 2024 in
Zeit:
Uhr
Ort:
Online-Veranstaltung,
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Lesung
Mittwoch, 18. September 2024 in Wittstock/Dosse
Zeit:
19:30 Uhr
Ort:
Bibliothek im Kontor (Grüner Salon),
Kettenstraße 24-26
16909 Wittstock/Dosse
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