Der steile Anstieg zum Olymp - eBook-Ausgabe
Vierzehn legendäre Radfahrer und ihre Geschichten
„Wenn es ein Buch zur Tour de France gibt, dann ist es dieses.“ - Ibbenbürener Volkszeitung
Der steile Anstieg zum Olymp — Inhalt
Ob im Schneeregen zwischen Paris und Roubaix, auf halsbrecherischen Kopfsteinpflasteretappen oder in den steilen Anstiegen der Alpenpässe: Im Sattel zeigt sich, aus welchem Holz man geschnitzt ist. Dabei erweisen sich die ganz Großen häufig als die eindrucksvollsten Charaktere und machen sich unvergesslich. Giacomo Pellizzari, italienischer Radsportexperte und Blogger, spürt den individuellen Geheimnissen seiner Radsporthelden nach. Mit leidenschaftlicher Bewunderung und leiser Selbstironie erzählt er unter anderem vom Angeber Lance Armstrong, von der Bescheidenheit des großen Miguel Indurain und vom Schönling Fabian Cancellara. Ganz nebenbei skizziert er die Geschichte des Radsports und seiner schicksalhaften Rennen aus der Perspektive seiner schillerndsten Figuren.
Leseprobe zu „Der steile Anstieg zum Olymp“
Vorwort
Viele Radprofis haben Charakter, aber nur wenige wurden aufgrund ihres Charakters zur Legende. In den vergangenen vierzig Jahren gab es für mich nur vierzehn solcher Fahrer, und von ihnen handelt dieses Buch. Ich habe versucht zu verstehen, welches magische Element jeden Einzelnen dieser Fahrer zu etwas Besonderem machte, zur Pop-Ikone, die man unmittelbar erkennt und die sich vom Rest des Feldes abhebt.
Ich fragte mich also: Was ist es, das Merckx so unersättlich macht, Moser so großzügig? Was macht Pantani zum Dickschädel, Armstrong zum Großkotz [...]
Vorwort
Viele Radprofis haben Charakter, aber nur wenige wurden aufgrund ihres Charakters zur Legende. In den vergangenen vierzig Jahren gab es für mich nur vierzehn solcher Fahrer, und von ihnen handelt dieses Buch. Ich habe versucht zu verstehen, welches magische Element jeden Einzelnen dieser Fahrer zu etwas Besonderem machte, zur Pop-Ikone, die man unmittelbar erkennt und die sich vom Rest des Feldes abhebt.
Ich fragte mich also: Was ist es, das Merckx so unersättlich macht, Moser so großzügig? Was macht Pantani zum Dickschädel, Armstrong zum Großkotz und Sagan zu einem Draufgänger? Woher kommt es, dass Indurain bescheiden ist, Bugno rätselhaft und Gimondi ein Pechvogel? Warum ist Saronni unsympathisch, Wiggins ein Rockstar und Cancellara ein Beau? Und wie steht es mit dem zähen Hinault, dem introvertierten Fignon und dem unberechenbaren Chiappucci?
Vielleicht sind sie einfach deswegen so einzigartig, weil sie alles gegeben haben. Als engagierter Hobbyfahrer halte ich ebendies – dass man sich quält – für den Kern der Sache. Im Grunde genommen verstehe auch ich erst in den Kehren des Stilfserjochs oder des Mortirolo-Passes so richtig, wer ich bin, wie es um meinen Charakter bestellt ist. Während ich meine letzten Kräfte zusammenkratze, um am Hinterrad meines Vordermanns zu bleiben, der ein stärkerer Fahrer ist als ich, wird mir klar, dass es sinnlos wäre, mich zu verstecken. Das hier, in diesem Moment, das bin ich. Nackt und ungeschützt. Wenn uns alles abverlangt wird, fallen unsere Verteidigungsmauern, und wir können uns nicht mehr verstellen.
Und genau in diesen Augenblicken kommt unser Charakter zum Vorschein und enthüllt allen, auch uns selbst, wer wir wirklich sind. Aus dieser Perspektive ist das Fahrradfahren wie Alkohol, ein außerordentlich starkes Mittel der Enthemmung. Oder wie die Couch des Psychoanalytikers ein ausgezeichnetes Instrument der Selbsterkenntnis. Warum sollte das alles nicht auch für sie, für die Profis, gelten? Die Antwort, zu der ich gelangt bin, lautet: Für denjenigen, der von Berufs wegen Rad fährt, gilt das alles umso mehr. In seinem Fall wird es sogar auf die Spitze getrieben.
Einen Charakter zu verkörpern und ihn auf sein höchstes Niveau zu heben, ist freilich nicht jedermanns Sache. Man braucht dazu Mut, die passende Statur, eine gewisse Unbeschwertheit. Nicht vielen Radprofis ist das vergönnt. Und die wenigsten sind beharrlich dabeigeblieben und haben es vollkommen akzeptiert, samt dem Preis, den sie dafür zahlen mussten. So wie jene, von deren Erfahrungen in diesem Buch berichtet wird: meine Favoriten.
Einige haben zahlreiche Siege gefeiert, manche haben schlichtweg alles gewonnen, ein paar andere wiederum gar nichts, oder sie haben – im schlimmsten Fall – alles verloren. Mancher ist noch aktiv, andere haben vor Kurzem aufgehört, wieder andere sind auf tragische Weise von uns gegangen. Eines aber ist sicher, keiner von ihnen blieb unbemerkt. Jeder verkörperte einen bestimmten Archetyp und bündelte in sich das, was eine große Persönlichkeit ausmacht. Die psychologischen Züge jedes Einzelnen spiegeln sich in seinen Leistungen wider, aber auch und vor allem in den Stürzen, den Ticks, den Ritualen, dem Verhalten abseits der Rennstrecke. Das sind kleine, scheinbar unbedeutende Spuren, in Wirklichkeit jedoch äußerst erhellend. Die Niedergeschlagenheit nach einer ungünstig verlaufenen Etappe zum Beispiel oder die freudige Erregung nach einem gelungenen Ausreißversuch. Oder auch, warum nicht, eine merkwürdige Sammlung von Rockgitarren.
An jedem der vierzehn Radprofis, die Sie hier versammelt finden, interessierte mich genau dieser Aspekt: das gewisse Etwas, das aus ihm eine einzigartige Persönlichkeit macht, dazu bestimmt, mehr geliebt zu werden als andere. Ich glaube, sie alle sind letztlich deswegen besonders, weil sie uns die Möglichkeit eröffnet haben, uns in ihre Lage zu versetzen. Uns wie sie zu fühlen, wenigstens für einen Tag. Sie haben uns teilhaben lassen an echten Emotionen, die im Grunde auch die unseren sind, an Leidenschaften und Gefühlen, die auch wir durchleben.
Wer hat nicht schon einmal den Mut eines Hinault in sich gespürt oder die luzide Verrücktheit eines Chiappucci? Wen überkam noch nie der unaufhaltsame Drang, Grenzen zu überschreiten wie Peter Sagan?
Vor sich haben Sie nun eine Galerie mit Ikonen des Radsports, aber auch ein Panorama menschlicher Archetypen, in denen wir uns selbst wiedererkennen. Weil im Grunde auch wir so sein können wie sie, wenigstens einmal.
Der Rätselhafte
Gianni Bugno
„Am Anfang haben alle mit mir gerechnet, aber da war ich nicht da. Ich bin erst aufgekreuzt, als keiner mehr mit mir gerechnet hat. Also, ich verstehe mich ja selber nicht.“ Ein rätselhafter Mensch, sich keiner Sache sicher, am wenigsten seiner selbst.
„Was hast du morgen vor, Gianni, greifst du an?“
„Mal sehen.“
Gianni Mura, Korrespondent der Zeitung La Repubblica bei der Tour de France, macht daraus sofort einen Spitznamen – Vedremo, „Mal sehen“. Und dabei bleibt es. Was dir durch den Sinn geht, weiß niemand im Voraus, auch du nicht. Sinnlos, eine Strategie zu erwarten, eine Erklärung oder auch nur ein Aufblitzen von Siegeswillen. Was wird, wird, mehr ist dazu nicht zu sagen. Keine Ankündigungen, keine Prognosen. Man lebt Tag für Tag und vor allem, ohne zu wissen, wie sehr man, ob man überhaupt mit dir rechnen darf.
Deine wesentlichen Qualitäten kennst noch nicht einmal du selbst: „Ich bin kein Spezialist, weder für Eintagesrennen noch für Rundfahrten, ich muss einfach schauen, dass ich irgendwie klarkomme. Bergab darf man von mir kein Wahnsinnstempo erwarten, wegen meiner Labyrinthitis. Übrigens trinke ich morgens keinen Cappuccino, ich glaube, ich bin allergisch auf Milch.“ Unsicher, voller Zweifel, vage pessimistisch. Das ist Gianni Bugno, Jahrgang ’64, geboren im schweizerischen Brugg als Sohn von Auswanderern aus der Brianza. Ein Schweizer Lombarde. Schon dieser Ursprung ist von brillanter Unentschlossenheit.
Deine gesamte Karriere steht im Zeichen des Zögerns, eines fast unablässigen Grübelns. Noch während der größten Triumphe, die du dir hinterher nicht einmal im Fernsehen ansehen willst, wirkst du wenig überzeugt. Beinahe so, als wären diese Siege eine Schande, die es unter den Teppich zu kehren gilt, ein gefährlicher Fluch und umgehend zu vergessen. Wenn du dich doch einmal im Fernsehen siehst, sagst du nur: „Ich erkenne mich da nicht wieder.“
Ja, geboren in der Schweiz, aber aufgewachsen in Italien bei den Großeltern, zusammen mit deiner Schwester, die du nie dazu überreden konntest, sich auf ein Fahrrad zu setzen. Die Lombardei trägst du seit der Kindheit im Herzen. Wie eine Narbe oder eine Tätowierung, wie der große Bernard Hinault seine Bretagne. Keine Seltenheit bei Radprofis. Diese industriell geprägte und zugleich grüne Gegend mit ihren Straßen und Anstiegen, den üblen Rissen im Asphalt, bleibt für immer mit dir verbunden. So sehr, dass es dort bis vor ein paar Jahren noch ein wundervolles, nach dir benanntes Jedermannrennen gab, den Granfondo Gianni Bugno. Mit Start und Ziel auf dem Autodrom in Monza. Die Strecke verlief in einem lang gezogenen Auf und Ab über die Straßen, auf denen du früher trainiert hast, den Straßen der Brianza, berühmt geworden durch die Lombardei-Rundfahrt – diesen Klassiker, der wie für dich gemacht schien, den du jedoch nie gewonnen hast. Noch so eine deiner auf unerklärliche Weise verpassten Verabredungen. Gäbe es einen Psychoanalytiker für Radprofis, du, Gianni Bugno, wärst sein idealer Patient.
Schon in jungen Jahren fängt Gianni mit dem Radfahren an. Als sein Vater eines Tages auf die unglückliche Idee kommt, ihm einen Tennisschläger hinzulegen, verzieht er bloß das Gesicht: „Nein, danke.“ Er bleibt lieber bei dem seltsamen Sportgerät mit Pedalen, das in Italien la specialissima heißt. Das Verhältnis zum Vater wird nie ganz frei von Spannungen sein, so viel sei schon mal gesagt.
Du wächst schnell heran, vor der Zeit, jedenfalls im Vergleich zu deinen Altersgenossen. Schon als Teenager strahlst du etwas Erwachsenes, Lebenserfahrenes aus, um nicht zu sagen, etwas Betagtes. Du bist zu frühreif, zu illusionslos und vage melancholisch, um dich lange mit den anderen abzugeben. Das Dumme ist nur, dass die Mädchen auf dich fliegen. Was man allerdings leicht versteht, wenn man an diese Ausstrahlung denkt, den Appeal des düsteren Schönen. Und doch scheinst du auch von diesen Eigenschaften deiner Person nicht allzu überzeugt. Mehr als zu den Frauen zieht es dich aufs Rad, und so fährst du, so oft wie möglich, über die öden, einsamen Straßen deiner geliebten Brianza. Nicht zu greifen, ein einsamer Wolf, aber stets mit Stil wie ein Gentleman aus einer anderen Zeit. Abends verschanzt du dich in deinem Zimmer und polierst das Rad Schraube für Schraube, Rohr für Rohr, und dann legst du dich schlafen, am nächsten Tag geht ja das Training weiter.
„Mensch, Gianni, wo willst du denn hin bei diesem Wetter?“, fragt dein Vater. Draußen regnet es Bindfäden. Die Antwort fällt höflich aus, aber entschieden: „Du gehst doch zum Arbeiten in die Wäscherei, oder?“
„Klar!“
„Na, ich gehe auch arbeiten, nur auf der Straße.“
Treffer, versenkt. Aber selbst würdest du keinen Cent auf dich wetten. Wenn du merkst, dass andere das tun – bleib mir vom Leib. Da rollst du dich ein wie ein Igel, von Zweifeln und Unsicherheiten geplagt. Ein Zauderer wie Hamlet und unergründlich.
Wie damals bei Mailand–Sanremo anno 1990. Ein Wettbewerb, für den du „eigentlich nicht der richtige Typ“ bist, wie du am Vorabend eilig klarstellst: „Siegchancen? Könnt ihr euch abschminken.“ Schon recht, aber man müsste auch mal fragen, welches Rennen zu deinem Fahrertyp passt. Lüttich–Bastogne–Lüttich? Hmm. Oder Paris–Roubaix? Sicher nicht! Dann also der Giro oder die Tour de France? Also bitte, nein! Und doch kommt es ganz anders. Wie sich herausstellt, entspricht Mailand-Sanremo 1990 vollkommen deinem „Typ“. Das Rennen wirkt wie geschaffen für einen Radprofi wie dich, mit dem bei den Klassikern ebenso zu rechnen ist wie bei den großen Rundfahrten. Seit Ende der Achtzigerjahre ist so ein Fahrer im Radsport Mangelware. Du siegst also mit einer Sicherheit und Lockerheit, die derart überwältigend sind, dass man dir beim Gedanken an deine Ausflüchte vom Vortag den Hals umdrehen könnte. Wie du das allerdings angestellt hast, scheinst du bis heute nicht zu verstehen. Da kannst du uns nicht weiterhelfen. „Ich hatte eben Glück“, lautet dein häufigster Kommentar. Na sicher doch, Glück. Solche Rennen, die Klassiker, gewinnt man nur durch Fortune – Talent, Können und Durchhaltevermögen bringen da leider gar nichts. Erklär das mal deinen illustren Kollegen Merckx, Moser oder Anquetil. Nein, du hast Mailand–Sanremo nicht durch Glück gewonnen. Und das weißt du auch.
Es ist Samstag, der 17. März, laut Wettervorhersage ein unbeständiger Tag. Aber Frühlingsanfang ist ja auch erst in vier Tagen, etwas anderes kann man da kaum erwarten. Doch während ihr in die Pedale tretet, taucht plötzlich, wo vorher Nebel und Feuchtigkeit herrschten, ein Stück klarer Himmel auf, etwas Blau, über euch kreisen die Möwen. Das alles gehört unverwechselbar zu Mailand–Sanremo, und macht dieses „Monument“ seit jeher zu einer einzigen großen Metapher des Jahreszeitenwechsels, des Übergangs vom Winter zum Frühling, vom Dunkel zum Licht. Vor fünfhundert Metern hatte der Winter noch das Sagen, und nur fünfhundert Meter weiter erstrahlt bereits der Frühling.
Soeben habt ihr den Passo del Turchino hinter euch gelassen, die Apenninen weichen der ligurischen Riviera, eilig verziehen sich die Nebelschleier, wie eine ältere Dame, der es zu spät wird. Diese Schönheit macht Mailand–Sanremo aus. Das Feld hat sich bereits kurz nach dem Start in Pavia geteilt. Dabei spielte der Seitenwind eine wesentliche Rolle. Vorne sind nur noch diejenigen, die sich den Wind zu einem wertvollen Verbündeten gemacht haben, während jene, die sich von den Böen wie Wetterfahnen durchschütteln lassen, hinterherhängen. Du bist in der Spitzengruppe, und das ist kein Zufall. Bei der Einfahrt nach Imperia beendet ein Naturbursche aus Sizilien, Angelo Canzonieri, das angespannte Warten und ergreift vor aller Augen die Flucht. Ohne zweimal zu überlegen, hängst du dich an sein Hinterrad. Am Fuß von Cipressa, beim vorletzten Anstieg, wo das Rennen so oft entschieden wird, lässt du ihn stehen wie ein lästiges Anhängsel und erklimmst alleine den Gipfel. An diesem Tag bist du von geradezu entwaffnender Sicherheit. Hinter dir hat sich ein Loch aufgetan, Konkurrenten vom Kaliber eines Saronni, Fignon, Argentin oder LeMond starren dir mit offenem Mund hinterher. Wie so häufig im Radsport der letzten Jahre. Du bist eine Naturgewalt. Von wegen rätselhaft.
Das Trikot deiner Mannschaft Chateau d’Ax ist weiß, rot und schwarz. Man sieht nur noch diese Farben auf dem Asphalt. Sonst nichts. Der perfekte Alleingang, eine Leistung, von der jeder Radfahrer seit seiner Kindheit träumt.
Doch gerade im Augenblick des Triumphs, als dir klar wird, dass du tatsächlich kurz vor dem Sieg stehst, kehrt deine verdammte Unsicherheit zurück. Noch ein Kilometer bis zum Ziel, zehn Sekunden Vorsprung auf den ersten Verfolger, aber du kommst ins Grübeln. „Oh Gott, um Himmels willen, ist das jetzt wirklich der Sieg? Vielleicht sollten wir uns das noch mal überlegen“, scheinst du zu sagen. Tatsächlich zeigt sich der Zweifel in einer Bewegung: Du drehst dich immer wieder um, einmal, zweimal, dreimal. Um zu sehen, ob sich nicht zufällig noch einer drangehängt hat, fast so, als suchtest du Gesellschaft, als hättest du genug von der Einsamkeit an der Spitze. Und da ist in der Tat einer, ein Deutscher namens Gölz, und der schöpft nach und nach Mut, als er deine Unsicherheit wittert. Angriffslustig kommt er näher. Er drückt aufs Tempo, erhöht die Trittfrequenz, er glaubt, dass da noch etwas für ihn drin ist. Dem TV-Kommentator Adriano De Zan gefriert bereits der Jubel auf den Lippen. „Ein dramatisches Finale!“, ruft er. Wirklich?
Nein, seine Bedenken erweisen sich rasch als falscher Alarm. Es fehlen ja nur noch fünfhundert Meter. Rolf Gölz gelingt es nicht mehr, zu dir aufzuschließen, er bleibt zurück. Die Zieleinfahrt auf der Via Roma inmitten der Menschen, die sich am Straßenrand drängen, gehört dir allein, und du gleitest elegant und gelassen über die Ziellinie. Der Endspurt bleibt aus. Du schließt die Augen und lauschst dem Rauschen des Meeres, diesem herrlichen und mächtigen Klang. Du hast Mailand–Sanremo gewonnen, von jetzt an zählst du zu den Großen. Bist du sicher, dass du dich das traust? Als du in den Bereich rollst, in dem die Siegerehrung stattfinden wird, springen die Journalisten auf dich zu, halten dir ihre Mikrofone unter die Nase. Dein Blick ist gedankenverloren, fast erschrocken. Wetten, du würdest dich am liebsten aus dem Staub machen?
Aber sie sind schon da und bedrängen dich: „Signor Bugno, wissen Sie, dass Sie heute den höchsten Schnitt in der Geschichte von Mailand–Sanremo gefahren sind?“
„Ach, wirklich? Und der wäre?“
„45,806 Stundenkilometer!“
„Wir hatten Rückenwind.“ In dieser Antwort, in der Erwähnung dieses Umstands, steckt der gesamte Gianni „Unsicherer geht’s nicht“ Bugno. Der Spitzenfahrer, der sich nie als solchen gesehen hat, der Held der Klassiker und Etappenrennen, der immer glaubte, für keines von beidem geschaffen zu sein. Der Rätselhafte, der gar nicht erst verstanden werden wollte.
Als du noch Amateurrennen fuhrst, wollte Gino Bartali einmal wissen: „Sag mal, Bugno, warum hast du eigentlich Angst vor Bugno?“ Eine blendende Eingebung, eine Ahnung, wie sie nur die ganz Großen haben können. Bartali hatte das verstörende Gespenst gesehen, das in deinem Kopf herumspukt, ein Gespenst mit dem Namen: „Bin ich denn wirklich ein großer Fahrer?“ Inzwischen jedoch scheint alles eine gute Wendung genommen zu haben. Nur zwei Monate nach der außerordentlichen Solofahrt bei Mailand–Sanremo gewinnst du den Giro d’Italia. Und nicht nur das, du trägst das Rosa Trikot von der ersten bis zur letzten Etappe. Eine Wahnsinnsleistung, schier unvorstellbar, rätselhaft reicht da nicht mehr aus. Du teilst diesen Erfolg mit Fahrern, deren Namen man dir besser nicht nennen sollte, außer man wollte dich verschrecken: Costante Girardengo, Alfredo Binda und Eddy Merckx.
Die drei Wochen des Giro d’Italia 1990 hast du vom ersten bis zum letzten Tag dominiert, ohne das geringste Schwanken, ohne auch nur einen Augenblick der Schwäche, ohne ein Einbrechen physischer oder mentaler Natur. Nichts davon. Gianni Bugno ist eine Straßenwalze, die über alle hinwegrollt. Beim letzten Bergzeitfahren von Gallarate nach Sacro Monte di Varese vergrößerst du sogar noch deinen Vorsprung, der bereits uneinholbar schien. Im strömenden Regen entscheidest du die Etappe für dich, und es bleibt ein sechseinhalb Minuten breiter Graben zwischen dir und dem Franzosen Mottel, dem Zweiten in der Gesamtwertung. „An dem Berg trainiere ich halt oft“, lautet deine Ausrede später auf dem Podium.
Sprechen wir hier immer noch von dem Radprofi, der behauptet, sich selbst nicht zu verstehen? Dem rätselhaften Gianni Bugno aus Monza, Verzeihung, aus Brugg? Die Zeitungen überschlagen sich vor Begeisterung. Italien hat endlich seinen großen Champion. Man hat dich erwartet wie einen Heiland, und nun fallen dir alle um den Hals. Kein Geringerer als Francesco Moser lässt sich von seiner Begeisterung mitreißen und spricht Worte, bei denen dir ganz anders wird: „Wenn er so weitermacht, wird Bugno noch schlimmer als Merckx.“ Du würdest dich am liebsten verkriechen, dir schwirrt schon der Kopf. Lobeshymnen sind dir seit jeher unangenehm, und du hast noch nie gerne in der Vergangenheit geschwelgt. Bis heute winkst du ab, wenn man dich zu einer Sportsendung im Fernsehen einladen will. Sobald du im Mittelpunkt stehst, wird dir unwohl. Das überlässt du lieber anderen, hältst dich abseits und spielst die Rolle des Außenseiters.
Zu Hause bewahrst du kein einziges Andenken an deine ruhmreiche Karriere auf. Kein Trikot, kein Fahrrad, keinen Pokal, noch nicht einmal ein Foto. Nichts. Alles ist weg, verschenkt an Sammler oder an den Trödler im Viertel. Die Fotos hast du zurück an die Archive der Zeitungen geschickt. Nein, danke, ich will das alles nicht sehen. Als dich der Radsportjournalist Auro Bulbarelli in seine Sendung einlädt, in der dir ein Themenabend gewidmet wird, hast du nichts, was du mitbringen könntest. Wie ein Gast, der mit leeren Händen kommt, ohne auch nur eine Flasche Wein. Eine Katastrophe. Deine Vergangenheit ist ein unbequemer Mieter, ein Spiegel, in dem du dich nicht wiedererkennst, ein schwerer Mantel, den du tragen musst, obwohl du nicht die geringste Lust dazu hast. „Wenn ihr mir meine alten Erfolge vorführt, drehe ich mich um und schaue weg.“ Zu ärgerlich.
Manchmal passiert es sogar, dass du einen Sieg vor der Ziellinie bejubelst, fast so, als wolltest du diese Verantwortung mit einer magischen Geste abwenden. Gejubelt wird sofort, dann hat man das hinter sich. Du willst nicht stören oder dich in den Vordergrund drängen, du hältst dich lieber am Rand. Also jubelst du im Voraus wie einer, der an Silvester den Champagnerkorken schon kurz vor Mitternacht knallen lässt. Das erste Mal in Stuttgart an einem Tag spät im September. Es geht um die Weltmeisterschaft 1991, und das Straßenrennen der Männer sieht einen schwierigen Rundkurs durch die Stadt vor, der mehrfach zu absolvieren ist. An seinem Ende findet sich eine leichte Steigung, gerade richtig für die schweren Gänge, die du so magst. Gegen den Rat deiner Mechaniker extrem hohe Gänge tretend, hast du bei der Tour 1990 in Alpe d’Huez keinen Geringeren als Greg LeMond stehen lassen. Er hielt damals inne, um dir nachzuschauen, ihm war, als rauschte ein Zug an ihm vorbei. Du hast diese Etappe gewonnen, und die prestigereichen Serpentinen an jenem Pass ziert bis heute dein Name. Auch weil du im Jahr danach so frei warst, das Ganze zu wiederholen.
Um auf Stuttgart zurückzukommen, Italien tritt bei dieser WM mit einem Team an, das so stark und solide ist wie Marmor, lauter große Namen: Maurizio Fondriest, Moreno Argentin, Claudio Chiappucci, um nur ein paar davon zu nennen. Allesamt Spitzenfahrer, die Auswahl ist dem Nationaltrainer Alfredo Martini schwergefallen, andere musste er dafür zu Hause lassen.
Der italienische Radsport erlebt ein neues goldenes Zeitalter, das sagen alle und beglückwünschen sich gegenseitig. Nach dunklen Jahren der Enttäuschung scheint diese Weltmeisterschaft die Gelegenheit zur Rehabilitation zu bieten. Was dich, Bugno, natürlich in totale Panik stürzt.
Im Vorjahr in Japan hat Italien nur den dritten Platz belegt. Ach ja, die Bronzemedaille hast sogar du geholt. Es heißt, wenn du nur ein bisschen mehr daran geglaubt hättest, dann hättest du Gold gewonnen. „Ich war noch nicht so weit“, lautete deine Antwort, die jeglichen Zweifel in der Sache ausräumte. In diesem Jahr ist es wohl anders. Alle Augen sind auf dich gerichtet. Da mit einer Massenankunft gerechnet wird, stellst du allerdings sofort klar, dass du dir nicht sicher sein kannst, ob deine Beine mitspielen. Und dass in dem Fall dein Teamkollege Maurizio Fondriest an der Reihe sein könnte. Bloßes Taktieren oder das klassische Hinundherschieben des Schwarzen Peters? Auch in Stuttgart weiß keiner, was dir durch den Sinn geht.
Letztlich kommt alles ganz anders. Wie durch Zauberei findest du dich auf dem letzten Kilometer als einziger Italiener in einer Gruppe mit drei gegnerischen Fahrern wieder. Keine Spur von Fondriest. Da bist nur du, dazu der Niederländer Steven Rooks, der Spanier Miguel Indurain, frischgebackener Sieger der Tour de France, sowie der Kolumbianer Álvaro Mejía. Die anderen lassen auf sich warten. Es folgt ein Herzschlagfinale, wie wir sie bald noch öfter erleben werden. Mejía setzt sich an die Spitze, du und Indurain direkt dahinter, geduckt bis zur letzten Kurve, unter einem imposanten Viadukt hindurch, das an Konstruktionen in deiner geliebten Brianza erinnert. Bis du endlich antrittst und das blaue Trikot erstrahlt, gleich einem Reiter auf dem Weg in die Apokalypse. Deine Attacke könnte die entscheidende sein. Adriano De Zan ist außer sich, er glaubt, wie übrigens alle, die Entscheidung sei schon gefallen. Doch dann schließt Indurain zu dir auf, und es entspinnt sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen, ein Finale auf Messers Schneide. Der zurückhaltende, wenig überzeugte Italiener und der freundliche, ruhige Spanier. Zwei eher leise Charaktere in einem Zielsprint, der so gar nichts Leises an sich hat. Du legst noch einen Zahn zu, bist deutlich voraus, der Sieg gehört dir. Doch einen halben Meter vor dem Ziel wirst du langsamer, und einen Moment lang hat man das Gefühl, du würdest am liebsten verlieren. Als wäre es noch nicht spannend genug, als müsste man da noch einen draufsetzen, vollziehst du eine unüberlegte Geste: Du reißt triumphierend die Arme hoch. Noch bevor du überhaupt gewonnen hast. Bist du verrückt geworden? Du machst deine Vormachtstellung geltend, ehe sie dir jemand streitig machen kann. Fast als kämen dir im letzten Augenblick Bedenken.
Doch wie immer ist das nur ein kurzer Moment. Dann der Jubel. Du hast es wirklich geschafft. Du bist Weltmeister. Was für ein Schreck. Sicher, hinterher wirst du sagen, du hättest die Arme erst hochgerissen, als du wusstest, dass dich keiner mehr einholen würde. Doch wenn man sich die Fernsehbilder in Zeitlupe ansieht, besteht zur Gelassenheit wenig Grund. Bei der Siegerehrung übernimmt deine Frau Vincenzina die Aufgabe, die Gemüter zu beruhigen, und relativiert den Sieg im besten Bugno-Stil, sie sagt einfach nur: „Glückwunsch“. Kein Kuss, keine Zärtlichkeiten, noch nicht einmal eine Umarmung. Glückwunsch und ab nach Hause, da wäre noch die Wäsche aufzuhängen. So seid ihr nun einmal. Einfache Leute mit einem Widerwillen gegen Übertreibungen und laute Äußerungen. Auch der heutige Tag, an dem du Straßenweltmeister geworden bist, ändert daran wenig. „Richtig wohl war mir nicht. Ich dachte, wenn ich das Tempo anziehe, riskiere ich, einem der anderen in die Karten zu spielen, aber wenn ich warte, ist es vielleicht zu spät, und vielleicht platzt mir auf dem letzten Kilometer der Reifen.“ Fehlte noch eine Heuschreckenplage, um das Unglück komplett zu machen. Nein, Signor Bugno, glauben Sie’s, Sie haben gewonnen, Sie sind Weltmeister.
Ein Jahr später sollst du am Abend vor der Abreise nach Benidorm, dem Austragungsort der WM 1992, dein Regenbogentrikot fast missmutig eingepackt haben. Selbstverständlich gehst du davon aus, dass du es verlieren wirst. In Benidorm trittst du als Titelverteidiger an, eine Rolle, die du überhaupt nicht magst. Während du also das Trikot zusammenlegst und wieder in den Koffer steckst, befällt dich ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend: „Gerade jetzt, wo ich mich daran gewöhnt hatte.“ Zweckpessimismus oder Gewissheit der Niederlage? Der gewohnt rätselhafte Gianni Bugno. Als du auch diese Weltmeisterschaft für dich entscheidest, ist keiner da, um dich zu empfangen. Fast so, als hätten die anderen deine Unsicherheit verinnerlicht, dein Schwanken auf der Ziellinie – diesmal wird Bugno bestimmt nicht Erster. Schließlich hast du uns so weit gebracht, dass wir von dir alles erwarten und nichts für ausgeschlossen halten, nicht wahr? Jetzt bekommst du die Rechnung präsentiert.
Benidorm ist eine Touristenstadt an der Costa Blanca unweit von Alicante, kaum mehr als Strände, nächtliche Partys und Hochhäuser. Gewissermaßen eine Mischung aus Rimini und Monte-Carlo, ein Stück weit südwärts versetzt. Glühend heiße Sommer und Winter, die gar nicht schnell genug vorübergehen können. Die Strecke verläuft an der Küste entlang und ist voller Kreuzungen und extrem enger Kurven. Hinter der Absperrung drängen sich an diesem Tag Massen von Menschen. Der Startschuss fällt, und wie üblich lässt du bis zuletzt nicht erkennen, was du tun wirst. Außer dass du da bist, um dein Spiel zu machen, meisterhaft unterstützt von einer Mannschaft, die für dich arbeitet. Das Finale ist eine Massenankunft, und du bist mittendrin, keine Flucht wie damals in Stuttgart. Es fällt schwer, dich auszumachen, fast als wolltest du dich verstecken und im Schatten bleiben bis zum letzten Augenblick. Aber früher oder später musst du aus der Deckung kommen. Und das tust du auch, nur dass niemand bereit ist, dich zu sehen. Selbst dem in der Regel so aufmerksamen Adriano De Zan entgeht der entscheidende Moment. Er verpasst, wie du den Sprint anziehst, merkt erst spät, was passiert, fast so, als hätte er nicht daran geglaubt. Und da muss er dir beim Kommentieren hinterherhecheln, als wäre auch er in der Gruppe der Verfolger. Er stammelt ein paar Wörter, bricht endlich in befreienden Jubel aus: „Es ist Gianni Bugno! Gianni Bugno macht das Rennen!“ Ja, es ist Gianni Bugno, und er hat gerade seine zweite Weltmeisterschaft in Folge gewonnen. Stuttgart ’91, Benidorm ’92. Ein Coup, wie er nur den ganz Großen gelingt. Siehst du? Du scheinst alle angesteckt zu haben, auch die Journalisten. Wir alle sind dir auf den Leim gegangen, haben deiner verdammten Unsicherheit geglaubt, deinem hamletschen Zweifel. „Seid euch bei mir bloß nicht so sicher.“ De Zan schreit außer sich vor Freude, einem Fan wird schwindlig, die Umstehenden sind fassungslos, ungläubig. Wenn du mitfährst, wird noch das glatteste Finish zu einer heiklen Angelegenheit.
Auf dem Weg zur Siegerehrung machst du ein betrübtes Gesicht. So mancher erschrickt, denkt an schlechte Nachrichten von zu Hause oder eine überraschende Dopingkontrolle, die dich auf dem falschen Fuß erwischt haben könnte. Oder sind es mal wieder Zweifel in letzter Minute? Nein, nichts von alledem. Du sagst lediglich: „Mir tut’s leid für Jalabert. Dass ein so starker Fahrer nicht auch mal Weltmeister wird.“ Nur fürs Protokoll, Laurent Jalabert ist derjenige, der gerade auf den zweiten Platz verwiesen wurde, abgehängt mit einem unwiderstehlichen Antritt auf der Zielgeraden. Und traurig zu sein, weil er einem Bugno in dieser Verfassung unterlegen ist, kommt ihm gar nicht in den Sinn. Dich wiederum entschädigt diese unglaubliche WM für einige schmerzliche Enttäuschungen.
Denn 1992 war nicht dein Jahr. Bei der Tour de France hatten dich nach deinem zweiten Platz 1991 alle auf der Rechnung, aber nein, die Tour war für dich ein Rückschritt: Du verpasst nicht nur Platz eins, du wirst noch nicht einmal Zweiter. Du musst dich mit dem dritten Platz zufriedengeben. Zu viele Erwartungen, zu viele Hoffnungen, wie solltest du denen gerecht werden? Außerdem sind es die Jahre von Indurain, dem melancholischen „Mann aus Navarra“, der fährt wie eine Maschine, wie ein Metronom, das beim Zeitfahren regelmäßig seine Stärke beweist. So kommt es auch hier. Im Kampf gegen die Uhr fährt er dich in Grund und Boden. Gegenüber dieser Straßenwalze verlierst du Minute um Minute.
Und dann noch dieser Teufelskerl Claudio Chiappucci, ein Fahrer aus Varese mit genau der Prise gesundem Wahnsinn im Blut, die dir abgeht. Claudio schenkt den Zuschauern Emotionen, die sie schon verloren glaubten, und stellt dich damit in den Schatten. Ganz Italien – so kommt es dir vor – wendet sich ihm zu. Chiappucci ist explosiv, Bugno hält sich zurück, im Griff einer dunklen Kraft, die nur er allein kennt. Ein unheilbares Leiden, das ihn stets im besten Moment befällt, wenn alle auf ihn warten. Und so ist dein Sieg in Benidorm eine große Befriedigung, ein Triumph, wie man ihn in Ruhe über Tage hinweg genießen kann. Diesmal steht Italien auf deiner Seite, der Bergfahrer Chiappucci mit seinen irrationalen Ausbrüchen hat das Nachsehen.
Am 3. April 1994 herrscht seltsamerweise weder Regen noch Kälte. Im Gegenteil, zeigt sich da nicht ein Sonnenstrahl? Dass das keine normale Flandern-Rundfahrt wird, ist von Anfang an klar. Wie es der Zufall so will, läuft es bei dir rund, und du findest dich wie in Stuttgart in einem schönen Schlamassel wieder: einen Kilometer vor dem Ziel in einer kleinen Ausreißergruppe. Jetzt ist es an dir, etwas daraus zu machen. Du trägst diesmal Gelb und bist in der Gruppe gut zu erkennen. Die gefürchtete Mauer von Geraardsbergen fünfzehn Kilometer vor dem Ziel, der vielleicht schwerste Anstieg der gesamten Flandern-Rundfahrt, an dem sich das Rennen häufig entscheidet, liegt bereits hinter dir.
Der Belgier Johan Museeuw, der Lokalmatador, ist dir seit einer Weile auf den Fersen, wahrscheinlich steht euch ein harter Zweikampf bevor. Wenige hundert Meter vor dem Ziel brichst du auf einmal seitlich aus und ziehst das Tempo an. Wieder einmal denkt man, das ist der entscheidende Moment. Aber für den Belgier kommt es nicht infrage, vor heimischem Publikum zu unterliegen, er schnaubt und walzt voran wie eine Lokomotive, Schulter an Schulter mit dir. Er hat es auf dich abgesehen. Du fährst einen schweren Gang, erkennbar an deiner wie immer niedrigen Trittfrequenz; seine ist vergleichsweise hoch. Noch hundert Meter, noch fünfzig. Man würde sich am liebsten wegdrehen, um nicht hinsehen zu müssen. Gleich schlägt der Mann für das Herzschlagfinale, gleich schlägt Gianni Bugno wieder zu. Auf der Ziellinie seid ihr auf einer Höhe, und was machst du? Wie schon in Stuttgart reißt du die gottverdammten Arme in die Höhe. Doch während man in Stuttgart sehen konnte, dass du eine halbe Radlänge vor Indurain lagst, scheint die Sache hier überhaupt nicht klar. Alle halten den Atem an. Du und Museeuw klebt förmlich aneinander. Wer zum Teufel hat jetzt gewonnen?
Fünf endlose Minuten vergehen, in denen niemand ein Wort sagt. Keine Fliege rührt sich. Was, wenn du zu früh gejubelt hast, wie stehst du dann da? Dann wird zum Glück, verrückt und wunderbar, das Urteil per Zielfoto verkündet. So etwas Schönes hat man noch nicht erlebt. Der Sieger bist du, nur um eine halbe Daumenbreite, aber der Sieg gehört dir. Das allein zählt. Ein Ende wie aus einem Thriller von Stephen King. „Ich habe an den Sieg gedacht, habe mich nur darauf konzentriert und nicht nachgelassen.“ Wie viele von uns hatten Angst, Museeuws Rad wäre vor dem deinen über die Ziellinie gerollt? Hatte dein Jubel womöglich deine aerodynamische Form beeinträchtigt und dich gebremst? Das Rad des Belgiers hatte ein letztes Mal gefährlich gezuckt, er schlenkerte wild auf dich zu, nur durch ein Wunder konntet ihr das Gleichgewicht halten. Und damit dieses großartige, unvergessliche Finale für uns retten. Noch heute, wenn man sich dieses Fotofinish ansieht, die beiden Räder Seite an Seite, kann man kaum sagen, welcher der zwei Fahrer vorne liegt. Den Belgiern bescherst du derart starke Emotionen, dass mancher an diesem Tag beschließt, seinen noch ungeborenen Sohn auf den Namen Gianni zu taufen, dir zu Ehren.
Was dir durch den Sinn geht, als du erfährst, dass du der offizielle Sieger bist, weiß niemand. Natürlich bleibst du dir bis zum Schluss treu, hebst nur einen Arm, doch in deinen Augen, diesen leuchtend blauen Augen – ein denkbar starker Kontrast zu deinen rabenschwarzen Haaren –, liest man endlich so etwas wie Freude. Vielleicht nicht gerade Rührung, derart eindeutige Äußerungen darf man dir wohl nicht unterstellen, aber etwas in deinem unbegreiflichen, skeptischen Herzen hat sich endlich bewegt. Mit einem beherzten Sprung lässt du heute all deine gewohnten Hemmungen hinter dir, so wie im Zielsprint deinen Rivalen Museeuw, bevor du im unkontrollierten Jubel fast zu Fall kommst.
Ein Tag am Beginn des Frühlings, wie sie so typisch sind für Mailand–Sanremo, der Himmel ist strahlend blau, und eine leichte Brise nötigt dazu, sich etwas überzuziehen, auch wenn die Sonne scheint. Dein Helikopter hat sich gerade in die Luft erhoben. Vor ein paar Jahren, nach Ende deiner Profikarriere, hast du ein zweites Leben angefangen, das vielleicht schöner ist als das davor. Du bist Pilot geworden und fliegst jetzt diese merkwürdigen Dinger, die aus der Ferne wie Insekten aussehen. Seit 2008 steuerst du beim Giro d’Italia einen TV-Hubschrauber. Eine wichtige Aufgabe, ein beachtliches Stück Verantwortung und zugleich eine Art Tribut an deinen früheren Sport. Als Kind hast du mit deinem Großvater Stunde um Stunde auf dem Flughafen Linate verbracht, die weit aufgerissenen Augen zum Himmel gerichtet. Du wolltest den Flugzeugen zusehen, die eines nach dem anderen abhoben, bekamst nie genug davon. Auch nicht nach dem hundersten Mal. Das Schauspiel war zu eindrucksvoll, um widerstehen zu können, es bezauberte dich, riss dich mit. Du sahst den Maschinen hinterher, bis sie am Horizont verschwanden, und wenn es dunkel wurde, musste man dich fast mit Gewalt wegzerren. Daran hat sich nichts geändert.
Die Rotorblätter kreisen harmonisch und rhythmisch, werfen kreisförmige Schatten auf den Boden, dann auf die blaue Oberfläche des Meeres. Du verfolgst das Schauspiel aus dem Augenwinkel, bevor du in den Gleitflug übergehst und dann wieder hochziehst, die geübte Hand am Steuerknüppel. Du bist in deiner Welt, endlich. Man muss sich fragen, wie die Sache ausgegangen wäre, wenn du das nur ein bisschen früher für dich entdeckt hättest. Jetzt nutzt du die Thermik und bist glücklich, man sieht es deutlich an deinem Blick, an den so klaren blauen Augen. Die Haare sind etwas länger als früher und haben die eine oder andere weiße Strähne bekommen, auch einen Bart hast du dir stehen lassen, ungestutzt und lässig. Von der Ausstrahlung eines Frauenschwarms hast du nichts eingebüßt. Der Hubschrauber überfliegt die grünen Felder, die Dächer der Häuser. Von hier aus hast du alles im Griff. Endlich ist alles leicht geworden, frei von Belastungen, von lästigen Verpflichtungen. Die Zweifel haben sich gelichtet wie die Wolken ab einer gewissen Flughöhe. Die Bäume erinnern an eine Spielzeuglandschaft oder an eine Weihnachtskrippe. Von hier aus ist alles klarer. Auch der rätselhafte Gianni Bugno.
„Wenn es ein Buch zur Tour de France gibt, dann ist es dieses.“
„Auch für langjährige Liebhaber der Szene hält Pellizzari noch unbekannte Anekdoten und Einordnungen bereit.“
„Pellizzari beweist mit seinem Buch extrem tiefes Hintergrundwissen und bringt dies in packenden Episoden rüber.“
„Vierzehn Radsport-Legenden von Francesco Moser bis Lance Armstrong hat er nach Fahrweise und Persönlichkeit mit Kosenamen versehen - Angeber, Schönling, Bescheidener - und zieht alle Register sportbegeisterter Übertreibung, wenn er deren Leistungen beschreibt. Wer das mag, wird es lieben!“
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