Ich war schon immer ein Rebell - eBook-Ausgabe
Mein Leben mit dem Fußball
„Ewald Lienens Buch ist nicht nur ein Buch über den Fußball und ihn, es ist ein Sittengemälde eines halben Jahrhunderts in Deutschland.“ - Westdeutsche Zeitung
Ich war schon immer ein Rebell — Inhalt
Seit Ewald Lienen bei Borussia Mönchengladbach legendärer Linksaußen war, weckt er extreme Gefühle bei Fans und Fachleuten. Als Spieler, Trainer und Fußballfunktionär ist er bis heute ein Querdenker, ein leidenschaftlicher Rebell auf und neben dem Platz. Für einen Sternmarsch ließ er als Spieler schon mal das Training ausfallen, seine politische Haltung kostete ihn die WM 1978, und als Trainer handelt er sich mit seiner Akribie den Beinamen „Zettel-Ewald“ ein. Ewald Lienen ist eine einzigartige Gestalt im Profi-Fußball, in seiner Autobiografie erzählt er offen von sich, dem Fußball und seinem Leben, das in einfachen Verhältnissen begann und ihn national und international in die höchsten Fußballligen führte.
Leseprobe zu „Ich war schon immer ein Rebell“
Prolog
Und immer wieder dieses Foul
Bonavista, Portugal im Juni 2018. Unser Feriendomizil liegt auf einer Anhöhe in einem Wohngebiet, bestehend aus vielleicht achtzig Häusern. Geschmackvoll gestaltete Gebäude, denen man ansieht, dass sich ihre Eigentümer die absolute Ruhe, die hier zu finden ist, etwas haben kosten lassen. Hell getünchte Hauswände, handgeformte beige Dachziegel, adrett gepflegte Gärten mit Pool. Vormittags huschen Heerscharen von Domestiken und Handwerkern über die Grundstücke, um die betrauten Objekte instand zu halten. 20 Grad sind für [...]
Prolog
Und immer wieder dieses Foul
Bonavista, Portugal im Juni 2018. Unser Feriendomizil liegt auf einer Anhöhe in einem Wohngebiet, bestehend aus vielleicht achtzig Häusern. Geschmackvoll gestaltete Gebäude, denen man ansieht, dass sich ihre Eigentümer die absolute Ruhe, die hier zu finden ist, etwas haben kosten lassen. Hell getünchte Hauswände, handgeformte beige Dachziegel, adrett gepflegte Gärten mit Pool. Vormittags huschen Heerscharen von Domestiken und Handwerkern über die Grundstücke, um die betrauten Objekte instand zu halten. 20 Grad sind für diese Jahreszeit eigentlich zu kühl, aber wenn der bedeckte Himmel gelegentlich aufklart, dann brennt die Sonne unerbittlich. Ich habe einen gemütlichen Platz auf einer überdachten Terrasse eingerichtet und begebe mich auf die Reise in die Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die das Leben schrieb, mein Leben.
Im November 2018 werde ich 65 Jahre alt. So weit bin ich also schon gekommen, immerhin. Kleinere und größere Narben auf Körper und Seele bezeugen, dass das Leben gelegentlich ein Kampf ist. Vor allem auf dem Platz. Der runde Ball und der grüne Rasen bestimmten und bestimmen mein Leben. Das ist eine Passion, gegen die ich mich nicht wehren konnte und wollte. Dabei hatte ich noch ganz andere Pläne.
Eine andere Sportart als Fußball kam für mich nie infrage. Mir hat es immer mehr Spaß gemacht, mit einem Team erfolgreich zu sein. Dieses erhebende Gefühl hätte mir eine Einzelsportart nie geben können. Das änderte sich auch nicht, als ich erwachsen wurde. Es war nie meine Intention, mit Fußball mein Geld zu verdienen. Eigentlich war eine Hochschulkarriere vorgesehen. Aber als die Angebote von verschiedenen namhaften Bundesligisten kamen, wollte ich wissen, wie weit ich kommen konnte, und mich mit anderen messen. Für ein paar Jahre. Aber dann kam alles ganz anders.
Auf der Terrasse in Portugal lasse ich meinen Gedanken freien Lauf, und in dem Film, der vor meinem inneren Auge abläuft, zeigen sich Bilder aus meiner Kindheit und Jugend. Ich sehe mich fußballspielend auf der Straße vor unserem Haus und auf dem Platz des VfB Schloß Holte, meines Heimatvereins. Meine Zeit als junger Spieler bei Arminia Bielefeld und Borussia Mönchengladbach taucht auf. Bei einem Bild stoppt der Film. Alte Gefühle steigen hoch. Ich befinde mich auf dem Rasen des Bremer Weserstadions, werfe einen Blick auf mein rechtes Bein und werde fast ohnmächtig. Ich spüre eine Wut in mir aufsteigen, die mich antreibt, noch immer.
Der Countdown zum Bundesligaspiel bei Werder Bremen am 14. August 1981 begann mit den üblichen Ritualen, die jeder Profifußballer zur Genüge kennt. Am vorherigen Tag fand das Abschlusstraining in Bielefeld statt, und nach einem Mittagessen machten wir uns mit unserem Mannschaftsbus auf den Weg nach Bremen zu unserem zweiten Saisonspiel. Ein paar Stunden später erreichten wir unser Hotel in der Hansestadt. Wir spielten mit Arminia Bielefeld zwar in der ersten Bundesliga, aber es war nicht die Zeit der Nobelhotels mit goldglänzenden Foyers. Wir stiegen in der Regel in Mittelklassehotels ab, normale Preise und zweckmäßig. Wir waren Fußballer und keine Diven. Nachdem wir unsere Zimmer bezogen hatten, gab es zum Abendessen Hausmannskost, ein Rindersteak mit Sauce béarnaise, Dampfkartoffeln und Rosenkohl. Zumindest in Gladbach hatten wir uns immer auf diese „Bremsklötze“ gefreut. Anschließend gingen wir mit unseren Spezis draußen noch eine Viertelstunde spazieren. Danach saßen einige Spieler in kleinen Gruppen im Hotel zusammen, der Rest zog sich in die Zimmer zurück. Meistens teilte ich meines mit meinem alten Freund Wolfgang „Latscher“ Pohl. Wir redeten, schauten fern und telefonierten mit unseren Frauen, bevor wir gegen Mitternacht das Licht löschten und einschliefen. Es sollte für zwei Tage das letzte Telefonat mit Rosa sein, die mit unserem kleinen Joscha am nächsten Tag mit dem Auto in den Urlaub aufbrechen wollte. Ich würde sie erst wieder nach ihrer Ankunft in Seignosse-le-Penon südlich von Bordeaux erreichen können.
Der Freitag wurde lang bis zum Spiel, da der Anstoß erst um 20 Uhr war. Auch gut, dadurch würde die Sommerhitze noch ein wenig abkühlen. Am Morgen traf sich die Mannschaft zu einem gemeinsamen Frühstück. Was danach passierte, erinnere ich nicht mehr, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir uns unser Spielgerät schnappten und im nahe gelegenen Park „5 gegen 2“ spielten. Leicht angeschwitzt trafen wir im Hotel ein, duschten und gingen zum Mittagessen. Es folgte ein obligatorischer Mittagsschlaf. Vor der Besprechung nahmen wir einen kleinen Snack zu uns. Unser Trainer Horst Franz verkündete die Aufstellung und gab einige Hinweise zu unseren Aufgaben auf dem Spielfeld, wozu auch die Standardsituationen gehörten. Dann machten wir uns auf den Weg ins Weserstadion. Den ganzen Tag über war es bewölkt, die Temperatur am Abend lag bei 20 Grad, hervorragende äußere Bedingungen für ein Flutlichtspiel.
Ich war in einer sehr guten Verfassung und freute mich auf die 90 Minuten. Während ich mich in der Umkleidekabine umzog, spürte ich die Art von Anspannung, die meiner Konzentration während des Spiels förderlich sein würde. Ein gutes Zeichen. Wir spielten wie so oft in unserer komplett blauen Adidas-Garnitur, in kurzärmeligen Sommertrikots, mit den unvermeidlichen drei weißen Streifen. Während meiner ganzen Karriere trug ich bei den Spielen Schienbeinschoner, oft auch im Training, die ich am unteren Rand auf den blauen Stutzen mit weißem Tapeband befestigte, damit sie nicht verrutschten. Wie immer achtete ich darauf, dass ich mir das Blut dabei nicht zu sehr abschnürte, zog meine „World Cup“-Stollenschuhe an, und dann ging es raus zum Aufwärmen.
In einem Vorraum vor dem Tunnel, der zum Spielfeld führte, trafen wir vor dem Anstoß auf unsere Gegenspieler. Es gab eine kurze, emotionslose Begrüßung, bevor wir Seite an Seite durch den dunklen Schlauch in die lichtdurchflutete Arena gingen. Der Weg bis dahin führte über einen dunkelgrauen, unansehnlich gewordenen Betonboden, auf dem man leicht das Gleichgewicht verlieren konnte, wenn man nicht aufpasste. Man hörte die lauten, klackernden Geräusche der Stollen auf dem Weg ins Stadioninnere. Manch ein Spieler mag den harten Boden auch dazu genutzt haben, die Alustollen durch Schaben am Boden etwas aufzurauen. Draußen erwartete uns das jubelnde und singende Publikum. Alles war angerichtet im Weserstadion, ich fühlte mich gut und war bereit.
Um kurz nach acht gibt der Schiedsrichter den Ball frei. Das Spiel nimmt recht schnell an Tempo auf, es wird um jeden Zentimeter und Ball gekämpft. Die Zuschauer toben. Um die 18. Spielminute herum spitzelt ein Bremer Abwehrspieler einen Steilpass weg. Mein Sturmpartner Gerd-Volker Schock leitet den abgewehrten Ball zu mir auf halb links weiter, ich nehme ihn nach vorne mit und will gerade Tempo aufnehmen – da kommt Norbert Siegmann von halb rechts, fast frontal auf mich zu, springt mit gestrecktem Bein in mich hinein und trifft mich am rechten Oberschenkel. Durch den Aufprall gehe ich zu Boden und drehe mich instinktiv zur Seite, um auf mein Bein schauen zu können. Dabei sehe ich sofort, dass es seitlich über eine Länge von 25 Zentimetern aufgeschlitzt ist. Ich starre in meinen offenen Oberschenkel, erkenne etwas Weißes, das aussieht wie eine eingelegte Ananasscheibe, und erleide einen Schock.
Ich habe keine Ahnung, ob das die korrekte Beschreibung meiner Reaktion auf die Szene ist, die so viele Fußballfans bis heute als Erstes mit meinem Namen verbinden und auf die ich seither so oft angesprochen wurde, dass es mit Zahlen nicht mehr auszudrücken ist. Jedenfalls kam ich mir vor wie im Schlachthaus. Ich wälzte mich hin und her, schaute immer wieder ungläubig auf die Wunde und gestikulierte mit den Armen. Inzwischen hatte Schiedsrichter Medardus Luca aus Völklingen Norbert eine Gelbe Karte gezeigt, nicht ohne heftige Proteste von den Werder-Spielern Klaus Fichtel und Karl-Heinz Kamp, die selbst das noch ungerecht fanden. Der Schiedsrichter rechtfertigte sich später damit, dass er das Foul, nicht die Folgen bewerten müsse. Wie sich herausstellte, hatten er und sein Team weder vor dem Spiel noch bei Einwechslungen die Stollen der Spieler kontrolliert. Ich rappelte mich auf, humpelte ein, zwei Schritte weiter, ließ mich zurück auf den Boden fallen. Wieder schaute ich auf das Bein, fasste mir mit beiden Händen an den Kopf und schrie. Ich war entsetzt, schockiert, außer mir. Und ich hatte Angst. Mir gingen tausend Dinge auf einmal durch den Kopf. Was ist das für eine Verletzung? Wie lange muss ich aussetzen? Werde ich überhaupt wieder Fußball spielen können?
Und noch etwas anderes schoss mir durch den Kopf. Ich hatte kurz vorher aus den Augenwinkeln eine Szene am Spielfeldrand beobachtet: Werder-Trainer Otto Rehhagel hatte Norbert zu sich herangewinkt, mit dem Kopf in meine Richtung gedeutet, auf ihn eingeredet und dabei unmissverständlich mit seiner Faust in die offene Hand geschlagen. Ich brachte diese Szene sofort mit dem Geschehen in Zusammenhang. In der ersten Viertelstunde hatte sich Norbert mir gegenüber absolut fair verhalten; obwohl ich schon die eine oder andere gute Szene gehabt hatte und ein, zwei Mal an ihm hatte vorbeigehen können, hatte er mich nicht ein einziges Mal gefoult. Blitzartig wurde mir klar, dass Otto mit seiner Intervention zu dem Foul beigetragen hatte.
Ich rappelte mich erneut auf, lief humpelnd Richtung Außenlinie. Aber diesmal hatte ich ein Ziel. Unserem Masseur Pitti Bromby, der mir entgegenstürzte, zeigte ich im Vorbeihinken wie zur Rechtfertigung die Wunde, war aber längst auf dem Weg zu Otto, der mitten auf der Tartanbahn stand. Dabei zeigte ich mit dem ausgestreckten Arm auf ihn und rief: „Du hast ihn aufgefordert, was zu machen!“ Ich ließ mich auch nicht von unserem Co-Trainer Schorsch Stürz aufhalten. Wie von Sinnen lief ich weiter auf Otto zu, vorbei am Bremer Vereinsarzt Dr. Wiedemann, der mich mit dem linken Arm aufhalten wollte, während er in der rechten Hand seinen Arztkoffer hielt. Ich stieß Otto, der mit auf dem Rücken verschränkten Armen mutig auf mich gewartet hatte, mit beiden Händen gegen die Brust.
Mein irrer Lauf Richtung Otto hatte auch andere dazu animiert, sich in Bewegung zu setzen, und so weitete sich das Ganze innerhalb von Sekunden zu einem veritablen Tumult aus. Die Ärzte beider Mannschaften waren bereits direkt neben mir, danach folgten Pitti und ein Sanitäter. Ein Fotograf begann, Bilder zu schießen, und wurde fast von Horst Franz umgerannt, der mit bemerkenswerter Behändigkeit in die Szene sprang, wild entschlossen, mich davon abzuhalten, Otto etwas anzutun. Er hatte keine Ahnung, was genau passiert war. Als sein Blick direkt auf meine Wunde fiel, die ich gerade unserem Arzt zeigte, erlosch seine Motivation, mich von irgendetwas abzuhalten, augenblicklich. Entsetzt fasste er sich an den Kopf und wandte sich ab. Genauso erging es Schorsch, der als ehemaliger Abwehrspieler alles andere als zartbesaitet war. Erst als Horst merkte, dass ich schon wieder auf Otto losging, zog er mich gemeinsam mit Schorsch weg.
Mittlerweile war die Rudelbildung perfekt. Jens Steffensen und Detlef Schnier von unserer Bank, Hannes Riedl vom Spielfeld und weitere Fotografen waren dazugekommen. Ich ließ mich auf die Tartanbahn sinken, wo unser Arzt mit der Versorgung begann. Horst und Schorsch gingen nun wirklich zur Bank zurück, um meine Auswechslung zu regeln. Die Geste, die Horst dabei machte, ein enttäuschtes Abwinken, signalisierte Betroffenheit, aber auch Wut darüber, dass so etwas möglich war. Unser Arzt deckte die Wunde mit sterilen Tüchern ab und legte einen großen Verband an. Ich wurde auf eine Trage gehoben, und ab ging es Richtung Stadionecke zum Ausgang. Dabei saß ich halb aufgerichtet und schüttelte wutentbrannt die erhobene Faust in Richtung Otto.
In der Arena war es ruhiger geworden. Langsam kam ich zu mir und begann zu realisieren, was passiert war. Ich schaute auf meinen bandagierten Oberschenkel, hatte aber noch keine Vorstellung von den Folgen. Die darunter befindliche Wunde sollte weltberühmt werden, und mein Name fortan mit einem aufgeschlitzten Oberschenkel verbunden bleiben. Bis heute, 38 Jahre nach dem Foul ...
„Da müsste mir schon ein Stein auf den Kopf fallen …“
Kindheit und Jugend, 1953 bis 1974
Wann genau mein Vetter Heinz mit einem braunen Lederball unterm Arm bei uns in der Hintertür stand, um mich zum Fußballspielen abzuholen, kann ich nicht sagen. Aber es war der Beginn meiner Leidenschaft für ein Spiel, das mich mein Leben lang begleiten sollte.
Es handelte sich mit Sicherheit um einen jener Bälle mit dicken Nähten, wie man sie in den Fünfzigern nicht anders kannte. Ich muss ungefähr vier Jahre alt gewesen sein, klein und schmächtig. Meine kurzen Haare akkurat zum Seitenscheitel gezogen, mit einem Kamm aus Horn und unter Zuhilfenahme von „Haarfit“, um das dichte dunkelbraune Haar zu bändigen. Meine dünnen Beinchen steckten in kurzen, speckigen Lederhosen mit Latz und grünen Applikationen, die Art von Kleidung, wie sie die meisten Jungen meines Alters in dieser Zeit trugen.
„Na, Kleiner, wollen wir ’ne Runde spielen?“
Heinz war sechzehn Jahre älter, um die zwanzig, lang und schlaksig. Wahrscheinlich trug er noch seine Arbeitskleidung, den blauen Overall eines Elektrikers. Er wohnte zwei Häuser weiter, doch meist führte sein Heimweg zu uns, ins „Große Haus“, in dem die Großfamilie Lienen lebte. Die wurde nach strengen Regeln von meiner Großmutter Katharina geführt. Es gab eine unausgesprochene, aber bereits für uns Kinder deutlich spürbare Hierarchie im Haus: Meine beiden Tanten Christine und Theresia, die älteren Schwestern meines Vaters, waren nach Feierabend in der Hemdenfabrik Dornbusch in Bielefeld die ersten „Helfershelfer“ der Großmutter. Mein Vater Josef, der damals sein Geld als Pförtner des Landmaschinenherstellers Claas verdiente, war zwar der Mann im Haus, behielt aber als jüngster der fünf Geschwister immer die Rolle des Nesthäkchens. Er hielt sich im Haushalt und in sonstigen Familienangelegenheiten meist zurück und machte stattdessen lieber sein eigenes Ding. Ganz hinten in der Rangordnung befanden sich meine Mutter Walburga, mein anderthalb Jahre älterer Bruder Bruno und ich, der Jüngste von allen.
Heinz war ein ambitionierter Fußballspieler, konnte dieses Talent aber nicht ausleben. Sein Vater Franz, der älteste Bruder meines Vaters, hatte es ihm schon in der Schulzeit verboten, und zwar rigoros und ohne Zugeständnisse, weil die Verletzungsgefahr zu groß sei. Und so kam es, dass der geborene Dribbler Heinz nie im Verein Fußball spielte. Als er jedoch entdeckte, dass ich mich nicht dumm mit dem Ball anstellte, entwickelte sich etwas ganz Besonderes zwischen uns: Aus zwei Vettern wurden Brüder im Geiste. Heinz wollte mich um jeden Preis fördern und verhindern, dass es mir genauso erging wie ihm.
Seit jenem denkwürdigen Tag, als Heinz mit dem runden Leder unterm Arm unser Haus betrat, sollte der Ball ein ständiger Begleiter meiner Kindheit und Jugend bleiben. Jeden Tag wurde gedribbelt, in endlosen Wiederholungen gegen eine Wand gepasst, in die Luft geschossen und wieder kontrolliert. Ich liebte es, den Ball im Lauf mit der Schuhsohle zu streicheln. Es war herrlich und aufregend, und ich ging voll und ganz im Spielen auf.
Gelegentlich brachte Heinz noch einen gleichaltrigen Freund mit, der gemeinsam mit ihm versuchte, mir den Ball abzunehmen. Wer weiß, vielleicht war die Herausforderung, mich gleich gegen zwei Erwachsene durchsetzen zu müssen, ja schon ein erster Schritt hin zu meinem späteren Drang zum Einzelspiel. Wenn es mir gelang, war ich jedenfalls überglücklich.
Mein erstes Fußballfeld war die Grasfläche hinter dem Großen Haus, gleich neben den Gemüse-, Kartoffel- und Erdbeerfeldern. Die Fläche von vielleicht fünfzehn auf dreißig Metern war für mich als Kind von schier endloser Weite und ein großes Geschenk: mein eigenes Fußballstadion. Hier jagte ich in den kommenden Jahren, wann immer ich Lust und Heinz Zeit hatte, mit unendlicher Begeisterung und ohne jedes Zeitgefühl dem Ball hinterher. Heinz hatte kleine Tore aus Lattenresten zusammengebastelt, auf die wir spielten. Ich erinnere mich an eine Szene, in der er mich ziemlich breitbeinig attackierte. Ich nahm die Einladung an, verpasste ihm einen Beinschuss und wollte ihn gerade umkurven, als Heinz mich plötzlich mit beiden Händen festhielt. Ich zappelte, versuchte verzweifelt, mich loszureißen, wurde fuchsteufelswild und fing an, ihn nach allen Regeln der Kunst zu beschimpfen. Heinz behauptete später: „Das gehörte doch nur zu meinem Aufbauprogramm, um dich auf die Fouls deiner Gegner vorzubereiten.“
Wie alles begann
Mein Elternhaus lag am Schwalbenweg, einer kleinen, lange noch unbefestigten Siedlungsstraße, die in unser Viertel führte. Das Grundstück mit dem zweigeschossigen Großen Haus befand sich direkt hinter einem kleinen Wäldchen. Die Grauthoffsiedlung bestand fast überwiegend aus Einfamilienhäusern und lag etwas abseits des Dorfkerns unseres Heimatortes Schloß Holte, in dem ein paar Tausend Menschen lebten. Natürlich spielte ich nicht nur mit Heinz, denn ich war längst nicht der einzige Junge zwanzig Kilometer südöstlich von Bielefeld, der gerne dem Ball hinterherrannte. Gut acht Monate nach meiner Geburt hatte das „Wunder von Bern“ stattgefunden, der Fußball hatte seinen langen Siegeszug in Deutschland schon begonnen. In den kommenden Jahren spielten meine Freunde und ich täglich Fußball, entweder auf der Straße – auf kleine Steintore und nur selten gestört von einem der wenigen Autos, die sich in unser Viertel verirrten – oder auf einem selbst angelegten Platz auf einer Lichtung unseres Wäldchens. Die Tore hatten wir von einem Zimmermann aus der Nachbarschaft aus alten Vierkanthölzern zusammennageln lassen und im Boden versenkt. Jetzt konnte ich im heimischen Gartenstadion oder im gemeinschaftlichen Waldstadion spielen – was für ein Luxus.
Wir Jungens aus der Nachbarschaft waren auch abseits des Fußballs ideenreich und ständig auf Achse. Wir kletterten auf hohe Bäume, bauten Höhlen, spielten Verstecken im Wald. Auf meinem Fußballfeld hinterm Haus organisierten wir Wettbewerbsparcours mit verschiedenen Stationen, die durchlaufen werden mussten. Abends kam ich oft völlig verschwitzt, verdreckt und halb verhungert von unseren kindlichen Streifzügen nach Hause. Dort wartete meine Mutter, steckte mich in den Bottich und schrubbte mir liebevoll den Dreck vom Leib, bevor es zum Abendessen geschmierte Butterbrote oder aufgekochte Haferflocken gab. Dann brachte sie mich ins Bett, vor dem selbstredend mein Fußball lag, wo ich beruhigt und behütet einschlief. Ich war ein glücklicher kleiner Junge und hatte auch allen Grund dazu.
„Ein lesenswertes Buch, das einen erkenntnisreichen Blick hinter die Kulissen eines Sports gewährt, dessen eigentlicher Wert hinter seiner gnadenlosen Vermarktung zu verschwinden droht.“
„eine außergewöhnliche Biografie“
„ ›Ich war schon immer ein Rebell‹ hebt sich von den meisten Fußballer-Biographien positiv ab, da es nicht nur viele Nuancen des Fußballs und ehrliche, teilweise auch selbstkritische Episoden aus Lienens Leben enthält, sondern auch wunderbar von ihm selbst geschrieben ist. So hat sich Ewalds oft zitierte „Zettelwirtschaft“ jetzt in ein rundum gelungenes Buch für jeden Fußballinteressierten verwandelt.“
„Ewald Lienens Buch ist ein Buch über einen Protagonisten des Fußballs – es ist aber vor allem ein Sittengemälde der Fußballwelt und damit auch unserer Gesellschaft.“
„In seiner Autobiografie entpuppt (Ewald Lienen) sich als fesselnder Erzähler.“
„Lienen wollte stets Mensch bleiben, bei aller Härte des Geschäfts. Das Buch gibt beeindruckendes Zeugnis, dass ihm das gelungen ist.“
„Spannend erzählt … glaubwürdig und sympathisch.“
„Ewald Lienens Buch ist nicht nur ein Buch über den Fußball und ihn, es ist ein Sittengemälde eines halben Jahrhunderts in Deutschland.“
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