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Das verlorene Kopftuch

Nadine Pungs
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Wie der Iran mein Herz berührte

„erfrischend wie auch ernüchternd ehrlich!“ - Rhein Zeitung

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Das verlorene Kopftuch — Inhalt

Als alleinreisende Frau im Iran

Ohne Kopftuch auf die Straße gehen, Wein trinken und sich bis über beide Ohren in einen Mann verlieben. All das erlebt Nadine Pungs im Iran, obwohl es streng verboten ist. Von Teheran über den Persischen Golf bis fast an die Grenze zu Aserbaidschan erkundet sie, wie das Land jenseits westlicher Klischees tatsächlich tickt. Sie will staunen und lernen und dieses Land mit all seiner Schönheit und Unerbittlichkeit begreifen. Wortgewaltig schildert sie, wie sich ihre Schwarz-Weiß-Vorstellungen in tausendundeine Schattierung auflösen und wie der Iran sie herausfordert und zugleich beschenkt.

€ 18,00 [D], € 18,50 [A]
Erschienen am 02.03.2020
256 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-40634-5
Download Cover
€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 02.05.2018
256 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99037-0
Download Cover
„Ein faszinierender Reisebericht, der die ganze Ambivalenz der iranischen Gesellschaft zwischen individueller Freiheit und Mullah-Diktatur in all ihren Schattierungen zur Geltung bringt. Ein kluges, anrührendes, brillant formuliertes Buch.“ Michael Schmidt-Salomon
Michael Schmidt-Salomon

Leseprobe zu „Das verlorene Kopftuch“

„Und? Was denken Sie über mein Land?“

Ich schaue aus dem Fenster, über Teheran legt sich die Nacht. Stahl und Beton ziehen an mir vorüber, Lichterketten blinken, und von den Fassaden glotzen die bärtigen Ayatollahs auf mich herab. Der Taxifahrer hat die Musik leiser gedreht, lächelt in den Rückspiegel.

Was denke ich über den Iran? Jetzt im Ausklang, zum Schluss? Eine Frage, die mir in den letzten Wochen unzählige Male gestellt wurde mit den immer gleichen erwartungsfrohen Augen. Ich möchte ihm antworten und kann es nicht. Die Worte haften am Gaumen, [...]

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„Und? Was denken Sie über mein Land?“

Ich schaue aus dem Fenster, über Teheran legt sich die Nacht. Stahl und Beton ziehen an mir vorüber, Lichterketten blinken, und von den Fassaden glotzen die bärtigen Ayatollahs auf mich herab. Der Taxifahrer hat die Musik leiser gedreht, lächelt in den Rückspiegel.

Was denke ich über den Iran? Jetzt im Ausklang, zum Schluss? Eine Frage, die mir in den letzten Wochen unzählige Male gestellt wurde mit den immer gleichen erwartungsfrohen Augen. Ich möchte ihm antworten und kann es nicht. Die Worte haften am Gaumen, lassen sich nicht sprechen. Was denke ich über den Iran? Über dieses Land, das mich verwirrt und das keine schlichte Antwort zulässt? Es gibt so viel, was ich sagen könnte.

Ich könnte ihm sagen, dass mich der Iran wütend macht. Dass ich die letzten 37 Jahre nicht verstehe. Dass ich die Islamische Revolution nicht verstehen will. Mit all ihrem Zorn auf Körper und Freiheit. Ich verstehe nicht, warum die Revolutionsgardisten damals Frauen auf der Straße in Stücke schlugen, nur weil das Kopftuch eine Haarlocke preisgab. Ich verstehe nicht, warum die Sittenpolizei den Mädchen ihren Lippenstift mit einem Messer vom Mund kratzte. Ich könnte ihm sagen, dass ich das Regime verachte. Dass ich niemals akzeptieren werde, wie es seine Einwohner verletzt. Immer noch. Wie es in Gottes Namen straft und schlachtet. Wie es seine Kinder frisst und auskotzt.

Ich könnte ihm sagen, dass die Iranerinnen schön sind. Doch vielleicht weiß er das bereits. Persische Männer verehren ihre Frauen. Aber die staatlich verordnete Verschleierungspflicht bleibt. Die Manteaus werden jedoch enger, und das Kopftuch rutscht nach hinten. Einzig der Haarknoten im Nacken hält das Stück Stoff. Ein religiöses Possenspiel. Auch das Rouge auf den Wangen und die operierten Nasen sind unislamisch und trotzdem da. Wenn nur noch ein Schnipsel Haut zu sehen ist, so soll er leuchten.

Ich könnte sagen, dass dies die Anekdoten sind, die Reisende über den Iran erzählen. Jedes Mal. Vielleicht, weil das Erscheinungsbild der Frauen die erste Widersprüchlichkeit ist, die ihnen ins Auge springt. Auch mir. Dabei ist im Iran alles widersprüchlich.

Ich könnte ihm sagen, dass ich Menschen traf, die das Regime hassen. Und andere, die mir Bilder der Ayatollahs auf ihrem Smartphone zeigten und dabei jubelten. Ich könnte sagen, dass ich Angst hatte, in sein Land zu reisen, und wie lächerlich ich mich aufführte. Wie ich mich die ersten 102 Minuten im Gottesstaat fürchtete, auf der „Achse des Bösen“. In einem Taxi, so wie diesem. Wie ich auf meiner Unterlippe herumkaute und mich von meinen Klischees einwickeln ließ. In mir waberte das Gefühl einer Bedrohung, einer Angst, so milchig wie die Dunstwolken über Teheran.

Doch nichts bedrohte mich. Gar nichts. Keine Pistole an meinem Kopf, kein hässliches Wort, keine Gefahr. Ich saß nur in einem Taxi und ließ die Stadt vorbeirauschen. Nichts weiter.

Ich könnte sagen, dass ich dumm war. Trotz all der Geschichtsbücher, all der Zeitungsartikel und all der Dokumentationen, die ich zuvor über Persien verschlungen hatte, war ich stockdumm. Ständig ploppten grimmgraue Bilder wie Internetwerbung in mir auf. Immer wieder sah ich Mullahs mit Zottelbärten, die ihre Fäuste in die Luft reckten, Frauen in schwarzen Tüchern spuckten auf brennende US-Flaggen. Szenen, die ich aus unseren Nachrichten kannte oder aus Spielfilmen. Sie schlichen in meinen Kopf, sickerten hinein, verklebten meine Synapsen.

Ich könnte sagen, dass ich nichts begriffen hatte. Ich dachte, es gebe zwei Seiten: die Regimeanhänger und die Regimegegner. Die Betenden und die Feiernden. Eine fromme Frau werde niemals ihren Kussmund auf Instagram posten. Ein Student, der vom Westen träume, könne Khomeini nicht verehren. So dachte ich. Ich dachte falsch.

Ich wusste nicht, wie geschmeidig sich die Iraner durch ihr System bewegen und wie jede Situation eine neue Anpassung erfordert. Dass Freiheit ohne Lüge nicht möglich ist. Und dass die heruntergleitenden Kopftücher nur Schablonen sind, nur meine westliche Vorstellung von Selbstbestimmung. Ich war zu naiv, um die tiefe Zerrissenheit im Land zu erahnen. Nicht zerrissen in Schwarz oder Weiß. Das wäre ja kinderleicht. Nein, da sind nicht nur zwei – da sind Myriaden von Seiten. Und durch all die Risse kommt das Licht hinein.

Habe ich nach dreißig Tagen überhaupt irgendetwas verstanden? Obwohl ich am Leben der Menschen teilnahm? Obwohl ich sie nach ihrer Freiheit fragte? Nach ihren Lügen und ihren Innigkeiten? Was weiß ich schon.

Ich könnte ihm sagen, dass es für mich als Europäerin schwierig war, wenn ich begafft und bedrängt wurde. Dass ich mich oft verloren fühlte, doch selten verloren ging. Ich könnte ihm sagen, dass es für mich als Europäerin leicht war, denn die Iraner zeigten mir den Weg. Wie das Mütterchen, das mich durch die Stadt zu einer Sehenswürdigkeit führte und meinetwegen seinen Bus verpasste. Wie der Mann, der mich auf dem Motorrad mitnahm und zum Ziel fuhr. Oder die Frau, die mit zehn Taxifahrern den besten Preis für mich aushandelte. Die vielen Gesichter, die mich anlächelten und auf einen Chai einluden. Fremde Menschen, die ihre Herzen bedingungslos verschenkten.

Ich könnte sagen, dass ich mich in den Iran verliebt habe. In die Einwohner, in die Landschaft. In die Poesie, die nach schwerem Jasmin duftet. Und wie ich Wüstensand im Haar trug oder unter den Nägeln.

Ich könnte sagen, wie sehr ich die Farbe von Safran mag, wenn er als gelbe Haube den Reis bedeckt, und dass die Straßen nach Qualm und Orangenblüten rochen. Süße Marihuanawolken umhingen uns auf Partys. Und der Geschmack von Hundeschweiß klebte auf unseren Zungen. So nennen sie ihren Rosinenschnaps. Ich könnte ihm sagen, dass wir auf Dächern tanzten und Schweiß tranken. Über Verbote könnte ich sprechen. Verbote, die ich brach.

Ach, die vielen Brüche. Die Knackse. Die zerschlagenen Löwenköpfe. Smog und Schnee. Schönheit, die nur sichtbar wird durch das Gegenteil.

Ich könnte ihm von tiefbraunen Augen erzählen. Von Kourosh und seinen Lachfalten. Meiner Hand in seiner.

Ich könnte sagen, dass sich meine schwarz-weißen Vorstellungen in tausendundeine Graustufe aufgelöst haben. Und wie mich der Iran berührt. Wie er Seele und Kopf und alles anfasst. Ich könnte ihm antworten, dass mein Herz randvoll ist mit Persien.

Aber ich tue es nicht. Ich kann die Worte nicht greifen, in keiner Sprache. So lüge ich und sage doch die Wahrheit: „Iran khube.“ Der Iran ist gut.

Und der Taxifahrer lächelt.

 

Vier Wochen zuvor. Nachts in Teheran.

Ich habe Angst. Seit 102 Minuten.

Der Mann schaut auf den Zettel, liest die Adresse, wendet das Auto, diskutiert durch das heruntergekurbelte Fenster mit anderen Taxifahrern. Teheran wuchert. Wir müssen in den Norden, dorthin, wo die reichen Iraner wohnen. Das ist alles, was ich weiß. Er dreht sich zu mir um, deutet auf das Gekritzel, runzelt die Stirn und stellt scheinbar eine bedeutende Frage.

„Farsi balad nistam“, ich spreche kein Farsi, das ist der erste persische Satz, den ich im Iran aufsage. Ich habe ihn auswendig gelernt.

Wir rollen in einen Kreisverkehr, es blinken Lichterketten in Grün und Rot. Die „Achse des Bösen“ leuchtet mir entgegen.

 

Am 29. Januar 2002 sprach der damalige US-Präsident George W. Bush das erste Mal von der „Axis of Evil“ in seiner Rede zur Lage der Nation. Angelehnt ist der Terminus an die einstige Verbindung zwischen Deutschland, Italien und Japan im Zweiten Weltkrieg. In seiner Ansprache beschuldigte Bush den Iran, Irak und Nordkorea, Terrorismus zu fördern und Massenvernichtungswaffen zu entwickeln. Amerika sei bedroht. Es gab jedoch nie eine Achse, denn Iran, Irak und Nordkorea pflegten keine Allianz. Und obwohl mittlerweile Atomdeals geschlossen und Sanktionen aufgehoben werden, hat sich diese leidige Bezeichnung in den westlichen Köpfen festgezeckt. Auch in meinem.

Aus dem Taxi heraus erspähe ich nichts Böses. Im Radio läuft ein persischer Popsong, der Blick in die Nacht offenbart keine Abgründe. Nur Saipas und Peugeots auf einer sechsspurigen Autobahn.

Der Flug war ebenfalls unbedrohlich. Ein Mann rollte mitten im Gang seinen Gebetsteppich aus, ein Mädchen übergab sich nach dem Abendessen in die Spucktüte, jemand rauchte heimlich auf der Toilette, und die alte Dame neben mir schaute einen James-Bond-Film. Die restlichen Passagiere tranken sich durch das Alkoholsortiment.

Kurz vor dem Landeanflug folgende Durchsage: „Bitte stellen Sie Ihre Rückenlehne senkrecht, schließen Sie den Gurt, und legen Sie Ihre Kopftücher an.“ Welcome to Iran. Ab jetzt werde ich Schleier tragen. Ständig und überall. Außer in meiner Unterkunft. Doch sobald es klopft, müssen meine Haare verhüllt sein, und meine Arme bedeckt. Die weiblichen Kurven verwischt ein Mantel oder ein weites Hemd, das bis zum Oberschenkel reicht. Dazu eine Hose, die lang genug ist, um die Knöchel zu verbergen. Nackte Füße in Sandaletten sind von Staatsseite aus unerwünscht.

Bis auf die Kopftuchträgerinnen unterschied sich der Teheraner Airport nicht von anderen Flughäfen dieser Welt. Vor der Passkontrolle warteten eine Handvoll Ausländer, müde Familien und Iranerinnen mit großen Tüten von Victoria’s Secret. Für Irritation sorgten fünf Frauen in schwarzen Tschadors, die in Rollstühlen angesaust kamen. Sie alle heulten und warfen ihre Köpfe in die Hände. Die Menge teilte sich wie das Wasser vor Moses, und die fünf flitzten durch. Guter Trick.

 

Gastfreundlich und großherzig seien die Iraner, so berichten Wiederkömmlinge. Und – welch Überraschung – die Frauen hier seien sogar selbstbewusst und gebildet. Da staunt so mancher Westler. Verbindet er mit dem Iran doch eher Atomraketen. Persien jedoch, das zaubert eine Verklärung ins Gesicht. Da fliegen nicht Raketen, sondern Teppiche. In Persien berauschen die Gärten, die Mosaike, die Basare. Aber ist diese Darstellung nicht auch nur Klischee? Die netten Perser, die Herzlichkeit? Gibt es nichts zwischen Morgenland-Nostalgie und finsterer Mullah-Hegemonie? Sind Idealisierung und Dämonisierung nicht zwei Seiten derselben Medaille?

 

Eine Stunde sitze ich jetzt schon im Taxi. Vor zweieinhalb Minuten wechselte der Fahrer die CD, und nun dröhnt deutscher Achtzigerjahre-Pop aus den Boxen. Vermutlich meint es der Mann gut mit mir. Ich sage nichts, begaffe nur still die überdimensionalen Köpfe der beiden Ayatollahs, die an einer Häuserwand prangen. Zwei Greise mit weißen Bärten und schwarzen Turbanen. Khamenei lächelt, Khomeini schaut düster in die Welt. 1989 starb der Imam. Seitdem ist Ali Khamenei der Revolutionsführer und lenkt den Staat. Als Junge liebte er Romane, las ich neulich in einer Zeitung. Leo Tolstoi, Michail Scholochow, Honoré de Balzac. Victor Hugos Les Misérables bezeichnete er gar als Wunderwerk der Literatur. Üblicherweise äußert sich Khamenei nicht so wohlwollend über die westliche Kultur.

Der Taxifahrer dreht die Musik noch lauter und lächelt mich im Rückspiegel an. Mich rührt sein Bemühen, mir eine Freude zu machen. Wahrscheinlich hat er meine Anspannung bemerkt und möchte mich beruhigen. Und vielleicht hat er recht? Vielleicht droht mir ja gar keine Gefahr. Vielleicht wird die Reise sogar schön. Ein Mutanfall?

Monatelang fieberte ich dem Aufbruch entgegen. Ich las Wäschekörbe voll Bücher, kaufte Hemden, stand vor dem Spiegel und wickelte mir einen Schal um den Kopf. Ich lernte ein paar Brocken Farsi, ließ mir Koransuren erklären und hörte persische Musik. Mir ist bang, aber ich will hier sein. Tausendundeinmal ja. Ich will mich umschauen, möchte die Wunder bestaunen, von denen berichtet wird. Ich möchte Menschen treffen und mit ihnen über ihre Träume sprechen, über ihre Sehnsüchte. Ich möchte verstehen, inwiefern die Bevölkerung ihre Regierung unterstützt. Wenn überhaupt. Gibt es einen Konsens, oder muss zwischen Oben und Unten unterschieden werden? Zwischen Drinnen und Draußen? Was ist hinter dem Schleier?

Himmel, schon der letzte Satz klingt gräulich und ausgelutscht. Glaubt nicht jeder zu wissen, wie es „hinter dem Schleier“ aussieht? Weiß denn nicht jeder von Partys, Drogen und feiernden Jugendlichen in der Islamischen Republik? Reicht da nicht eine vermeintlich investigative Reportage des Galileo-Magazins über Regelverstöße im Mullah-Land? Alles schon gesehen? Alles schon gewusst?

Gewiss, das ist für manche Leute keine Neuigkeit. Aber ist sie deshalb weniger spannend? Weniger verwirrend? So darf man doch nicht vergessen, was ein Leben „hinter dem Schleier“ für Konsequenzen haben kann.

Der Iran ist ein Land, in dem die Scharia herrscht, ausgeformt durch das Strafgesetz der Islamischen Republik Iran. Ein Land, in dem Frauen nur halb so viel wert sind wie Männer. Für uns alltägliche Dinge können im Gottesstaat Peitschenhiebe bedeuten oder zumindest eine Geldbuße. Manchmal baumeln die Sündigen am Strick. Es ist verboten, Alkohol zu trinken, unverschleiert über die Straße zu laufen und zu lieben, wen man möchte. Nur verheirateten Paaren ist Lust erlaubt. Das iranische Strafgesetzbuch sah 2015 immer noch die Steinigung als Hinrichtungsmethode für Ehebruch vor. Und das im 21. Jahrhundert! Mindestens zwei Personen verurteilte ein Gericht dazu. Es existieren allerdings keine Berichte, ob die Urteile tatsächlich vollstreckt worden sind. Gelebte Homosexualität und Apostasie stehen ebenfalls unter Todesstrafe. Die Anklagen für Glaubensabfall bleiben bewusst vage formuliert, wie „Feindschaft zu Gott“ und „Hochverrat am Staat“. Das ist Totalitarismus. Das ist Diktatur. Viele Perser leiden unter der Staatsgewalt. Einige flüchten. Die Angst treibt sie. Tausendundeine Angst.

Auch das meint jeder zu wissen. Aber sind diese Ereignisse folglich weniger skandalös? Sollten sie deshalb nicht mehr angeprangert werden? Insbesondere, da der Iran sich derzeit öffnet?

Die Nacht vor der Abreise durchwachte ich und grübelte, weil die Sorgen wie ein Gewitter durch mein Hirn tobten. Ist es überhaupt richtig, in solch restriktive Regime zu reisen? Kann ich damit leben, mich verschleiern zu müssen? Und das Patriarchat am Leib zu tragen? Sind Ferien auf der „Achse des Bösen“ moralisch vertretbar? Oder gerade deswegen? Vielleicht ist es meine Pflicht, die Welt zu begreifen? Es zumindest zu versuchen? Um eben nicht in das bornierte Geplapper über Muslime oder den Mittleren Osten mit einzustimmen und flachköpfige Kommentare auf Facebook abzulaichen.

Doch was sind schon vier Wochen, um ein Land zu verstehen? Selbst nach zwölf Monaten könnte ich mir nicht anmaßen, irgendetwas durchschaut zu haben. Ich bin keine Iranerin, und ich lebe nicht im Iran. Ich schreibe nur nieder, was ich erfahre, was ich sehe und was ich fühle. Mehr kann ich nicht wissen.

 

Nach eineinhalb Stunden erreichen wir endlich meine Unterkunft. Ein Hochhaus in einer Seitenstraße. Der Taxifahrer atmet durch, er trägt meinen Rucksack vor das Messingtor und schaut zu, wie ich die vielen Geldscheine sortiere und von Rial in Toman umrechne. Toman ist keine offizielle Währung, nur eine Bezeichnung, denn die Iraner streichen prinzipiell eine Null weg, um den Überblick über die riesigen Summen zu behalten. Aus 700 000 Rial werden folglich 70 000 Toman. Der eigentliche Rial-Betrag wird fast nie genannt. Ich bin verwirrt. In der Dunkelheit kann ich zudem die fremden Banknoten nicht voneinander unterscheiden.

Ich überlege, zähle, überlege, zähle, beginne von vorn. Bis der ganze Vorgang in meinem Oberstübchen um vier Uhr morgens endlich abgeschlossen ist, hat der Taxifahrer bereits ein Bündel aus meiner Hand genommen. Er wartet noch, bis mir der Concierge das Tor öffnet, und kurvt dann in die sterbende Nacht zurück. Beschallt von Dieter Bohlen und Thomas Anders. Ihre Musik war bisher das Schlimmste, was mir auf der „Achse des Bösen“ widerfahren ist.

 

Neun Uhr. Es fehlen Vorhänge, und die Morgensonne durchflutet das Appartement. Iran. Ich bin tatsächlich im Iran.

In Deutschland verlief die Suche nach einem günstigen Hotel erfolglos. Entweder waren die Internetseiten auf Persisch, oder sie verschwanden nach einer Woche wieder aus dem Netz. Und wenn sich endlich eine englischsprachige Homepage auftat, antwortete niemand auf meine Mailanfrage. Geld für ein teures Businesshotel habe ich nicht. Obendrein schleppe ich meine gesamte Reisekasse in kleinen Scheinen mit und kann nicht abschätzen, ob das Ersparte reicht. 1500 Euro sind in verschiedenen Fächern des Rucksacks versteckt. Das ist alles, was ich besitze. Geldautomaten gibt es für mich nicht.

Obwohl der Westen die Sanktionen, die er einst aufgrund der iranischen Atompolitik verhängte, aufgehoben hat, zögern die Geldhäuser immer noch. Der internationale Datenverkehr zwischen dem SWIFT-Bankensystem und der Islamischen Republik ist seit 2012 blockiert. Kein Zahlungsaustausch möglich. Irans Außenhandel brach daraufhin ein. Da SWIFT unerlässlich ist, damit sich Geldinstitute weltumfassend vernetzen, kann ohne das System keine Verbindung zu den Kreditanstalten im Gottesstaat hergestellt werden. Die Großbanken misstrauen dabei allerdings (auch) den USA. Das amerikanische Außenministerium droht mit Strafen, sollten sie mit der Islamischen Republik Geschäfte machen. Und immer noch fehlt internationalen Geldinstituten das Vertrauen in die politische Führung des Iran. Die Hardliner im Land stemmen sich gegen die wirtschaftliche Öffnung und stiften Unfrieden. Und angesichts der beharrlich geschürten Feindschaft zu den USA und Israel ist Vertrauen sowieso kaum zu erwarten.

 

Das Appartement ist modern, unbewohnt und thront hoch oben im zwölften Stockwerk. Ausgestattet mit Möbeln aus Eichenholz und karamellfarbenen Ledersofas, wartet es auf Mieter. Solange es keine gibt, wohnen gelegentlich Gäste hier. So wie ich jetzt. Die Böden sind aus Marmor, die Tische aus Glas, in der offenen Küche ist der Kühlschrank prall gefüllt mit Käse, Schokolade, Obst und der persischen Cola Zamzam. Dass ungesunde Softgetränke hier den gleichen Namen tragen wie der göttliche Brunnen in Mekka, ist komisch. Dem Wasser der Zamzam-Quelle werden heilende Kräfte nachgesagt. Frisch aus dem Paradies. Wenn das kein Grund ist, ab sofort Limonade zu trinken.

Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel: „Welcome to Iran“. Ich öffne das Fenster und schaue auf den Milad Tower, den höchsten Turm des Landes und den sechsthöchsten Fernsehturm der Welt. Es riecht nach Sonne und Abgasen. Mein Blick schweift über Straßen, Autos und Motorroller. Lärm, Brausen. Reklameschilder blinken, Fenster spiegeln sich im Licht. Ein Lastwagen knattert irgendwo, jemand hupt. In der Ferne schwenken Baukräne ihre Hälse hin und her wie Giraffen. Eine Moschee ist eingeklemmt zwischen Hochhäusern. Dahinter türmt sich das schneebedeckte Elburs-Gebirge auf, das die Stadt wie eine Steilküste begrenzt. Aus den Wolken schält sich der „frostige Berg“, der Damavand. Ein ruhender Vulkan mit 5671 Metern. Höher geht’s nicht im Iran.

Wie viele Menschen leben in Teheran? Dreizehn, vierzehn, sechzehn Millionen? Eine Megalopolis, ein Moloch, der täglich wächst. „Teheran“ – das Wort klingt immer noch so fern.

 

Nachdem ich die Hotelsuche kurz vor der Abreise aufgegeben hatte, schlug das Glück zu. Eine ehemalige Klassenkameradin bot mir ihre Hilfe an und stellte einen Kontakt nach Teheran her. Wie dankbar ich ihr bin, denn irgendwann kam Omid ins Spiel. Ich kenne Omid nicht. Ebenso wenig seine Frau Yasemin und auch nicht die beiden Kinder Yara und Bijan. Und sie kennen mich nicht. Ich bin für sie die Katze im Sack. Und sie sind es für mich. Dennoch stand für die „Omids“ unverrückbar fest: Das Mädchen reist durch den Iran? Allein? Wir kümmern uns! Das Appartement gehört der Verwandtschaft, und ich darf so lange bleiben, wie es mir gefällt. Kostenlos und einfach so. Die berühmte persische Gastfreundschaft. Es gibt sie! Ich bin schon jetzt über alle Maßen beschenkt. Und aufgeregt. In einer halben Stunde besucht mich Omid mit seinen Kindern.

Ich räume meine Hemden in den Rucksack, stelle die Schuhe in den Flur, tusche die Wimpern und überlege, ob ich ein Kopftuch überziehen soll. Konservativ erscheint hier nichts, aber ich habe die Spielregeln in diesem Land noch nicht verstanden. Was ist erlaubt?

Stehen fremde Herren vor der Tür, wie der Pizzabote oder ein Nachbar, müsste ich mein Haar bedecken. Und bei Omid?

Es klingelt. Das Tuch hängt über dem Küchenstuhl. Ist es unhöflich, es nicht zu tragen? Oder albern, es anzulegen? Wie kann eine so simple Frage derlei Ratlosigkeit auslösen?

Ich erinnere mich an einen Artikel, den ich vor Wochen gelesen hatte. Über iranische Türen. Damit die Damen des Hauses unterscheiden konnten, ob ein Mann oder eine Frau um Einlass bat, verfügten die alten Exemplare über zwei verschiedene Klopfer. Einen Eisenstab für Männlein und einen Ring für Weiblein. Der Stab knallte dumpf auf das Holz. Ein Tiefton. Der Ring klang wie ein Sopran. So wussten die Bewohnerinnen flugs, ob der Gast männlich war und ob sie sich verhüllen mussten. Keine Ratlosigkeit, kein Zögern. Geklopft, gewusst.

Es klingelt ein zweites Mal. Ich greife mir das Tuch vom Stuhl und wickele es um meinen Kopf. Lieber albern als unhöflich. Ich öffne. Omid, Yara und Bijan stehen aufgereiht im Flur und strahlen mich an. „Hello, nice to meet you!“ Omid kommt auf mich zu und küsst mich auf die Wange.

Ginge es nach den Mullahs, dürften sich Männer und Frauen gar nicht berühren. In der Öffentlichkeit halten sich alle brav an die Regel, falls irgendwo verstockte Moralapostel lauern. Privat küsst jeder jeden. Jetzt der Haken: Im Iran küsst man sich dreimal auf die Wange, nicht zweimal. Das erfahre ich allerdings erst, als ich das Gesicht bereits zurückgezogen habe und Omid verloren in die Luft bützt. Wie peinlich. Da mag man noch so viele Bücher über Persien lesen, über Schia, Schah und Sassaniden – diese essenzielle Information, die solche Fettnäpfchen hätte verhindern können, bleibt in der Literatur unerwähnt.

Ich bitte die drei herein, niemand zieht die Schuhe aus. Omid hat neugierige Kinderaugen und grinst im Kreis. „Bist du gut angekommen? Wie teuer war das Taxi? Weshalb reist du allein? Was machst du heute?“, legt er los. Ich antworte, so gut ich kann, und Omid nickt dazu.

Bijan deckt einen Teller und Besteck auf, Yara schmeißt den Teeboiler an und sucht nach einer Pfanne.

„Darf ich den Schal ablegen?“, frage ich.

„Aber natürlich!“, lacht der Familienvater.

Erleichtert ziehe ich mir das Tuch vom Kopf, und auch Yara hat sich mittlerweile entschleiert. Lange pechschwarze Locken fallen ihr über den Rücken. Die Sechzehnjährige ist eine Schönheit, und offensichtlich brät sie mir gerade Spiegeleier. Nur mir. Der Fremden. Für niemanden sonst ist aufgedeckt. Mir ist das unangenehm. Unverdiente Wärme auszuhalten bereitet mir Schwierigkeiten.

Der Tisch ist überladen mit Fladenbrot, Eiern, Käse, Tee, Zamzam, Joghurt und Keksen. Während ich kaue, schauen mich drei braune Augenpaare an, dann prasseln die nächsten Fragen auf mich ein: „Was möchtest du sehen? Wo willst du hin? Was zuerst? Was danach?“

Ich weiß es nicht. Treiben lassen. Das reicht. Yasemin ruft an und lädt mich heute, morgen (und immer) zum Essen ein, Yara will mir unbedingt Teheran zeigen und ihre Musiksammlung vorspielen, Omid erzählt von Museen und einer Gondelbahn, die auf den Hausberg Tochal hinaufschwebt. Nur der elfjährige Bijan versteht von all dem nichts. In der Schule lernt er erst seit ein paar Wochen Englisch.

„Du kannst auch schwimmen gehen, da ist ein Pool im Keller“, sagt Yara, „hast du einen Bikini dabei?“

Ein Bikini stand tatsächlich nicht auf meiner Packliste für den Iran.

„Du kannst meinen haben!“, schlägt sie vor. Ich betrachte das zierliche Mädchen, das zwei Köpfe kleiner und knapp zwanzig Jahre jünger ist als ich.

„Lass uns lieber in die Stadt fahren“, sage ich und lächle.

 

Wir brechen auf. Rasch die Kopftücher übergestreift, und schon stürzen wir uns ins orientalische Straßenchaos. Ich verstehe die Verkehrsregeln nicht. Rot wird weithin ignoriert, Zebrastreifen sowieso, Fußgänger werden angefahren und angehupt, zweispurige Straßen wachsen zu vierspurigen. Und dabei sei Teheran zurzeit menschenleer, meint Omid, während er einem SUV die Vorfahrt nimmt.

Es ist Nouruz, das iranische Neujahrsfest. Wir schreiben das Jahr 1395. Die meisten Geschäfte haben geschlossen, und die Hauptstädter nutzen die Gelegenheit, um aufs Land zu fahren. Hoffentlich lassen sie dort das Auto stehen. 2013 starben laut Weltgesundheitsorganisation im Iran rund 25 000 Menschen im Straßenverkehr. Zum Vergleich: Deutschland zählte bei ähnlicher Einwohnerzahl 3500 Unfalltote.

An einem Kreisel steigen Yara und ich aus. Omid und Bijan winken, fädeln sich zwischen Saipas und Peugeots ein und lassen sich von der Autoschlange schlucken.

Vor uns erhebt sich das Azadi-Monument, das Wahrzeichen des modernen Teheran. Der Turm, der wie ein zweibeiniger Atommeiler aussieht, wurde 1969 anlässlich des 2500-jährigen Jubiläums der persischen Monarchie errichtet. Damals trug er den Namen Shahyad-Turm – „Denkmal der Schahs“. Nach der Revolution wurde er in Burj-e Azadi umbenannt. Azadi bedeutet „Freiheit“. Wo die sich im Gottesstaat versteckt, gilt es noch herauszufinden.

„Salam.“ Ein Jüngling mit Dreitagebart begrüßt uns und gibt Yara die Hand. Ein Klassenkamerad? Ein Nachbar? Kian heißt er, und er lächelt verlegen. Wir gehen zu dritt zum Eingang des Turms. Yara kichert, Kian kichert, und jetzt verstehe ich: Die beiden sind verliebt. Und Yara flüstert mir zu, dass Kian seit fünf Monaten ihr fester Freund sei. Ich staune.

Ist das erlaubt? „Nein“, sagt sie, „es ist geheim. Wenn uns die Sittenpolizei erwischt, gibt’s Ärger.“

„Wissen deine Eltern davon?“

Yara grinst und nickt. Ich bin beruhigt. Eine ganz normale Familie mit einer ganz normalen Teenagerin und einer ganz normalen Jugendliebe. Nur der Staat, der ist nicht normal.

Wir betreten den Kassenbereich, und bevor ich meinen Geldbeutel zücken kann, hat Yara schon die Tickets bezahlt. So wird das den gesamten Nachmittag gehen, und jeglichen Protest meinerseits wiegelt sie ab. Lehrstunden in Gastlichkeit. Ich versuche, es auszuhalten.

Wir schlendern durch das Azadi-Museum und betrachten Keramiken, Bronzebecher und Stillleben, die im Funzellicht vor sich hin schlummern. Viel fesselnder als die verstaubten Exponate sind aber die beiden Liebenden. Kein Anschmiegen, keine Hände, die sich zufällig streifen, keine Komplimente. Doch ihre Augen verraten alles. Das Kichern, die roten Backen. Ganz rein, ganz unschuldig. Im Freiheitsturm entdecke ich die erste bescheidene Freiheit. Zwei himmelhübsche Jugendliche, die nicht verliebt sein dürfen und es dennoch sind. Das hatten die Revolutionäre bei der Umbenennung des Monuments gewiss nicht im Sinn. Wie schön!

Wieder draußen, laufen wir zum Teheraner Schauspielhaus. Yara interessiert sich für Architektur, Kian interessiert sich für Yara, und ich interessiere mich für iranisches Theater. Die einzige professionelle Bühne des Landes wurde in den 1960er-Jahren errichtet und ist ein Rundbau aus Säulen. Vor dem Festspielhaus hat sich eine Menschenmenge versammelt. Ein Mann brüllt ins Megafon. „Irgendwas mit der Regierung“, meint Yara und schenkt dem Schreihals keine Beachtung. Ich bin nicht so lässig und frage nach. „Die fordern irgendein Zeug. Keine Ahnung. Solchen Versammlungen muss man immer aus dem Weg gehen“, sagt sie, und Kian öffnet die Eingangstür. Ein Wachmann döst hinter der Theaterkasse. Yara spricht ihn an, lächelt, fragt, lächelt. Er gähnt, er nickt. „Wir dürfen“, freut sie sich, „normalerweise ist das Schauspielhaus jetzt geschlossen, doch wir können ein paar Minuten rein. Aber nur ins Foyer.“ Der Aufpasser bleibt auf seinem Stuhl kleben und weist mit dem Finger in die Wandelhalle. Kronleuchter hängen herab, und durch die deckenhohen Fenster sprudelt Tageslicht. Wir gehen eine Runde, und ich feiere hier Premiere, leiste das erste Mal im Iran Ungehorsam. Denn ich muss die Bühne sehen – ich kann nicht anders –, und so öffne ich die Flügeltür zum Innenraum. „Nein, das ist verboten“, entgegnet Yara, doch da bin ich schon drin.

Der Saal erinnert an mondäne Zeiten, der Zuschauerraum ist umrahmt von roten Logensitzen, der Bühnenvorhang ist aus Samt. Theaterluft. Stille.

Das allererste Stück wurde 1973 aufgeführt. Der Kirschgarten von Anton Tschechow. Im Publikum saß Schah Mohammad Reza Pahlavi mit seiner Kaiserin Farah Diba – und nun schwirren Glitzerbilder durch meinen Kopf, ich fantasiere ausverkaufte Ränge, Champagnergläser, Abendkleider, ein lampenfiebriges Ensemble herbei. Damals noch ohne Schleier. Jetzt müssen die Schauspielerinnen verhüllt sein und dürfen die männlichen Kollegen nicht berühren. Eine staatliche Behörde prüft jedes Theaterstück vor der Premiere und streicht Passagen, die nicht islamkonform sind. Ich stelle mir eine Julia mit Kopftuch vor und eine Antigone im Tschador. Schränkt die Unfreiheit die Inszenierungen ein, oder fördert sie die Kreativität?

Kunst und Kultur haben einen hohen Stellenwert im Iran. Es gibt immer wieder Austauschprojekte mit anderen Häusern. Und so spielte Anfang 2016 die Berliner Schaubühne den Hamlet in Teheran. Zensiert. Uminszeniert. Keine Küsse, keine Nackten. Doch viele Zuschauer kannten das Stück des Regisseurs Thomas Ostermeier von YouTube. Die gestrichenen Szenen liefen in ihren Köpfen als Lichtspiel mit und entgingen jeder Zensur. Es gab stehende Ovationen.

Yara ist nervös. Ich schließe die Tür und zwinkere dem Mädchen zu. Niemand hat uns gesehen.

 

Wir verlassen das Theater und machen Rast in einem angesagten Café. Backsteinwände, Bücherregale und Hipster mit Jutebeuteln. Hier tragen die Jungs die Holzfällerbärte aus modischen Gründen, nicht aus religiösen. In den Vitrinen werden keine Bronzebecher angestrahlt, sondern Cupcakes, und an den Tischen schlürfen Studentinnen ihren Latte macchiato mit Schokoherzen auf dem Schaum. Ein typisch europäisches Café, möchte man meinen. Die Perserinnen könnten auch Berlinerinnen oder Pariserinnen sein. Ihre Kleidung erinnert an westliche Großstadtmode, und das Kopftuch, das salopp übergeworfen wirkt, stört plötzlich nicht. Es fügt sich ein, schmiegt sich an. Mittlerweile ist es kein rebellischer Akt mehr, wenn junge Menschen die Grenzen der staatlichen Bekleidungsvorschriften ausloten. Es ist ebenso wenig politisch oder regimekritisch zu verstehen. Manchmal gewiss, aber oft ist es eher ein Spiel des Zeigens und Verbergens. Nicht aufreizend, doch die Ränder der Erotik streifend. Jeder Millimeter entblößte Frauenhaut bedeutet ein Stückchen mehr Selbstbestimmung. Was immer das bedeuten mag. Und umso weiter der Schleier nach hinten rutscht, umso toleranter scheint die derzeitige Regierung.

Ich lerne, dass Haarteile und Klammern, die den Hinterkopf voluminöser aussehen lassen, „totally bitchy“ sind. Absolut tussig. So erklärt es mir Yara unmissverständlich. Viele Läden bieten solche Hilfsmittel zum Kauf, damit die Trägerin eine ausufernde Rapunzel-Haarpracht unter dem Tuch vorgaukeln kann. Das Gebilde gleicht dann der Kuppel einer Moschee. Die coolen Hejabistas üben sich dagegen im Understatement, sie brauchen keinen Schopf-Push-up. Sie tragen die Haare gelöst oder als Zopf, der aus dem Schal herausfließt. Eine Lehrstunde in iranischer Nonchalance.

Übrigens unterliegen auch die Männer gewissen Regeln. Kurze Hosen sind unstatthaft. Und Krawatten zu westlich. Shorts sieht man tatsächlich nicht, Schlipse an jeder Ecke.

 

Wir trinken heißen Kakao und essen Honigkekse. „Das ist unser Lieblingscafé“, sagt Yara, und Kian nickt. Er spricht kein Englisch und ist auf Yaras Übersetzungen angewiesen. Noch dazu ist er schüchtern. Doch vernarrt ist er. Sein Blick löst sich nicht von ihrem Gesicht, und immer umspielt ein Lächeln seine Lippen, wenn Yara erzählt. Damit die Sittenpolizei die Verliebten nicht aufgreift, müssen sie allerhand Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Sogar ein Kinobesuch ist riskant. Deshalb treffen sie sich mit Freunden, verrät das Mädchen. In der Gruppe fallen sie nicht auf. Und sofern jemand fragt, ist Kian ihr Cousin.

„Und was passiert, wenn ihr doch erwischt werdet?“, frage ich.

„Dann ruft die Polizei unsere Eltern an. Aber bisher ging alles gut.“

Wie praktisch, dass ich heute die Gouvernante spiele und uns deshalb niemand verdächtigt. Clever, die Kleine.

Während die Turteltäubchen Fotos von sich und den Honigkeksen schießen, beobachte ich die Studentinnen, die sich wie Pariserinnen kleiden, und frage Yara, ob sie den Schleier gern trägt.

„Spinnst du?!“, entgegnet sie. „Ich hasse ihn. Alle meine Freundinnen hassen ihn.“

„Wenn du mit der Schule fertig bist, willst du dann das Land verlassen?“

Die Antwort folgt prompt: „Nein, niemals. Ich liebe den Iran, und ich liebe Teheran über alles. Das ist meine Heimat. Hier gehöre ich hin.“

Sie lächelt und nippt an ihrem Kakao. Ich glaube ihr jedes Wort.

 

Es dämmert. Wir bummeln durch das Viertel, und ich sauge Teheran in mich ein. Braungrauer Beton, Smog, Wohnblöcke und Asphalt. Kein Stil, keine Struktur. Faszinierend hässlich, aber abgesehen von der Luft, sauberer als so manche Großstadt in Europa. Kein Müll auf den Straßen, keine Hundehaufen auf den Gehsteigen. Der Rotz im Taschentuch ist trotzdem schwarz.

Wir stehen vor einer Buchhandlung mit bunten Schaufenstern. Im Iran sind die Straßen häufig wie Basare angeordnet. Jede Gasse ein Thema. Hier die Sportgeschäfte, dort die Juweliere, da hinten Schuhe. In dieser Straße verkaufen die Händler Bücher und Musik. In Shops oder auf dem Trottoir. Wir betreten den kleinen Laden, der bis zur Decke vollgepackt ist mit Schallplatten und CDs von Pink Floyd. Das ergibt durchaus Sinn, denn die berühmten Liedzeilen „We don’t need no education. We don’t need no thought control“ beflügeln freiheitliche Ideen, verheißen Unabhängigkeit und sind in zahllose Herzen eingebrannt. Ich interpretiere den Satz in zwei Richtungen: Zum einen ist er eine klare Botschaft an das Regime, und zum anderen rät er ausländischen „Besatzungsmächten“, den Iran in Ruhe zu lassen.

Ein Regal weiter entdecke ich die Gesamtausgabe von Franz Kafka. Er gehört hier deshalb zu den meistgelesenen westlichen Schriftstellern, weil er in seinen Erzählungen von Willkür und Behördenapparaten schreibt. Das kennt man im Gottesstaat. Und manchmal nimmt der Bürokratiemumpitz sogar durchaus komische Züge an. Möchte beispielsweise jemand einen Reisepass beantragen, so wird er von Gebäude zu Gebäude, von Raum zu Raum, von Schalter zu Schalter, von Beamtem zu Beamtem geschickt. Wie Asterix, als er versucht, den „Passierschein A38“ zu ergattern. Ein Land, das Verrückte macht.

Neben Kafka stapeln sich Kunstbände, in denen Gemälde der Renaissance abgebildet sind. Ich blättere in einem Wälzer und bin bestürzt. Urplötzlich. Zwischen Kafka und Pink Floyd schlagen die Mullahs zu, und ich erinnere mich wieder, dass ich nicht in Berlin oder Paris bin. Und auch nicht in einem Asterix-Comic. Die Meisterwerke in dem Buch sind zensiert. Der Raub der Europa ist verschandelt, die halb nackte Königstochter trägt ein Kleid aus dicken schwarzen Balken, ihr Körper ist übermalt und verstümmelt. Die Hintern der Putten sind ebenfalls geschwärzt. Entblößte Leiber verstoßen gegen islamische Gesetze, sogar auf Gemälden. Nur der Stier ist nicht überpinselt. Er schien den Zensoren sittlich genug und zeigt seine Muskeln.

 

Abends im Bett grüble ich. Warum fürchtet sich Religion vor Körperlichkeit? Warum wird ein gesamtes Volk wie ein unmündiges Kind behandelt? Was machen solche Verbote mit der Liebe? Wie lernen die jungen Iraner sexuelle Unbeschwertheit, wenn Lust und Nacktheit verteufelt werden? Erst Stunden später schlafe ich ein und träume von schwarzen Balken.

Nadine Pungs

Über Nadine Pungs

Biografie

Nadine Pungs, 1981 im Rheinland geboren, studierte Literaturwissenschaft und Geschichte. Davor, währenddessen und danach tingelte sie jahrelang als Kleinkünstlerin durch die Dörfer und spielte am Theater. Auf der Suche nach Intensität und Schönheit zieht es sie immer wieder in die Welt. Bei Malik...

Pressestimmen
Michael Schmidt-Salomon

„Ein faszinierender Reisebericht, der die ganze Ambivalenz der iranischen Gesellschaft zwischen individueller Freiheit und Mullah-Diktatur in all ihren Schattierungen zur Geltung bringt. Ein kluges, anrührendes, brillant formuliertes Buch.“ Michael Schmidt-Salomon

Rhein Zeitung

„erfrischend wie auch ernüchternd ehrlich!“

ruhrbarone.de

„Nadine Pungs legt mit ihrem Debüt ›Das verlorene Kopftuch‹ eine fulminante Reiseerzählung hin, die ihresgleichen sucht. Für diejenigen, die wirklich wissen wollen, was und wie Persien heute ist (…) Uneingeschränkte Leseempfehlung!“

bookreviews.at

„Sehr einfühlsam und großartig geschrieben (…).“

lovelybooks.de

„Ein gelungener Reisebericht, anschaulich-informativ und mit vielen Details und einer gelungenen lebendigen Darstellung“

aus-erlesen.de

„Kaum zehn Prozent des Buches gelesen und schon weiß man mehr über den Iran als man vorher nur zu wissen glaubte. Punktlandung.“

Neue Ruhr Zeitung

„Ein Buch über das, was passiert, wenn ein eigener Blick riskiert wird.“

buchhandlung-hensch.de

„Meine ausdrückliche Leseempfehlung!“

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