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Der Iran

Romane und Sachbücher

Wo gehören wir hin, wenn die Welt, die wir kannten, nicht mehr existiert?

Von Teherans Glanz zum amerikanischen Exil

Blick ins Buch
Die PerserinnenDie Perserinnen

Roman

Eine Flucht aus dem Iran und der Kampf um Identität und Anerkennung

Seit 1979, mit dem Sturz des Schahs, sind die Töchter der hochgestellten iranischen Familie Valiat im amerikanischen Exil. Ihre Mutter, die noch immer Heimat, Tradition und Stolz verkörpert, blieb damals allein mit der Enkelin in Iran zurück. Als bei dem alljährlichen Familientreffen in Aspen die Dinge aus dem Ruder laufen und die exaltierte Shirin erst gegen Kaution wieder aus der Arrestzelle entlassen wird, verändert sich etwas in den Frauen, jede muss sich schmerzlichen Fragen stellen: Wie sie zu ihren persischen Wurzeln steht. Und wer sie in Zukunft sein will. Die Exil-Iranerin Sanam Mahloudji legt ihren ersten Roman vor.

Wie soll man ein Leben führen, wenn man nicht dort ist, wo man hingehört? „Die Perserinnen“ ist alles zugleich: Komödie, Drama und Farce. Ein intensives, ganz und gar unvergessliches Leseerlebnis.

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Wie erzählt man eine Geschichte, die vielleicht gar nicht erzählt werden will, und deren Hüterinnen sich mit dem Ende einer Dynastie und Ära konfrontiert sehen?

„Die Revolution war jetzt 27 Jahre her, und wir lebten immer noch in einer Endlosschleife aus Wohin gehen wir, was tun wir?"

Shirins Vater war im Cabrio durch Teheran gefahren, blaue Ledersitze, die Herald Tribune auf dem Schoß. Die Valiats gehörten zu den wichtigsten Familien in Iran, ihr Reichtum war unermesslich. Jetzt, im amerikanischen Exil, musste sich Shirin vor einem Gericht verantworten: versuchte Prostitution. Lachhaft, meint sie.

Das sieht ihre Nichte Bita ganz anders. Die pflichtbewusste Bita. Doch eines steht fest: Für beide wird es allmählich Zeit, sich ihrer verdrängten Familiengeschichte zu stellen.

Der Iran
Blick ins Buch
Wie man ein Schmetterling wirdWie man ein Schmetterling wird

Das kurze, mutige Leben meiner Tochter Reyhaneh Jabbari

Der Kampf um das Leben meiner Tochter
Der Fall der jungen Iranerin ging um die Welt: Als 19-Jährige wird sie fast vergewaltigt. Doch sie setzt sich zur Wehr und sticht den Angreifer nieder.

Nach einem Schauprozess wird Reyhaneh Jabbari wegen vorsätzlichen Mordes zum Tod durch den Strick verurteilt. Sieben Jahre sitzt sie im Todestrakt und wird nicht müde, sich für Frauenrechte und für ihre Mithäftlinge einzusetzen. Ihre Mutter, eine prominente Schauspielerin, kämpft um das Leben der Tochter und kann auch internationales Interesse wecken. 

Für Frauen, Leben, Freiheit!

Die bewegende Lebensgeschichte einer couragierten jungen Frau, die wie ein Vorbote der mutigen Proteste im Iran wirkt: für Frauen, Leben, Freiheit!

Der Tod ist nicht das Ende des Lebens

Dieses Buch ist eine Hommage an das Leben – und eine Aufforderung an alle, für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen, unabhängig von Religion, kultureller Zugehörigkeit oder Geschlecht.

Eine Hommage an das Leben

„Was sollen die Frauen tun? Wenn sie sich vergewaltigen lassen, sind sie schuldig. Wenn sie sich wehren und selbst verteidigen, sind sie schuldig. Wenn sie dagegen demonstrieren, sind sie schuldig. Also sollten die Mädchen sterben?

Solange ich am Leben bin, auch wenn mein Handeln so lächerlich aussehen mag wie ein Brunnen, der versucht, den Himmel zu erreichen, werde ich nicht aufhören, gegen diese Ungerechtigkeit zu kämpfen.“ Reyhaneh Jabbari

  • Das Buch zum Dokumentarfilm „Sieben Winter in Teheran“, ausgezeichnet auf der Berlinale 2023 mit dem Friedensfilmpreis sowie als bester Film der Sektion Perspektive Deutsches Kino (Kompass-Perspektive-Filmpreis)

Wind

Nachts gegen Viertel vor zwei klingelte mein Telefon. Es war eine Freundin, die aufgeregt rief: „Tardast hat gerade deutschen Boden betreten!“

Sofort war ich hellwach: Hassan Tardast, der Richter meiner Tochter, der Richter, der über tausend Frauen und Männer zum Tode verurteilt hat! Viele mussten trotz fadenscheiniger Beweise oder aufgrund der „Weisheit des Richters“ sterben; ein Paragraf des iranischen Rechts, der zur Willkür der ausschließlich männlichen Richter einlädt.

Mehr und mehr Nachrichten erreichten mich. Mein Herz begann zu rasen. Er war also in Berlin, machte Urlaub; besuchte seine zwei Töchter, die in Deutschland lebten, sowie seinen Bruder mit Familie in den Niederlanden. Schon Jahre zuvor, als ich gerade aus dem Iran über die Türkei nach Deutschland geflohen war, hatte ich die Facebook-Profile seiner Töchter entdeckt. Ich hatte die Fotos ihres freien Lebens in Europa betrachtet, die langen Haare offen und unbedeckt, während ihr Vater im Urteil über meine Tochter Reyhaneh zwar kein Mordmotiv feststellen konnte, aber eine „Verwestlichung“. Und darüber wurde sie für ihn als „Mörderin“ identifiziert.

Wenn die exil-iranische Gemeinschaft Richter Tardast auf deutschem Boden zur Rechenschaft ziehen wollte, mussten wir schnell Beweise vorlegen, um eine Verhaftung wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu erwirken.

Soeben hatte ich unsere erste kleine Wohnung in Deutschland bezogen, die ich mit Erinnerungen an den Iran und meine Familie dekoriert hatte. Wenn ich die Fenster öffnete, konnte ich die Stadtautobahn hören wie einen Strom, der Tag und Nacht am Haus vorbeifloss. In meinem Zimmer türmten sich die Dokumente, Briefe, Tagebücher und Aufzeichnungen über Reyhanehs Fall. Zahlte sich jetzt aus, dass ich all das über die Jahre so akribisch gesammelt und aufbewahrt hatte?

Immer hatte ich gehofft, darlegen zu können, dass das, was Reyhaneh und meiner Familie widerfahren war, kein Einzelfall ist. Je lauter meine Stimme wurde, die sich gegen die Ungerechtigkeit wendete, die meine Tochter hatte erleben müssen, desto mehr Anrufe bekam ich von Müttern, deren Töchter und Söhne ebenso unter die Räder des iranischen Regimes gekommen waren. Noch heute erreichen mich regelmäßig Anrufe von Müttern. Ich höre ihnen zu als eine, die weiß, wie sich dieser Schmerz, diese Hilf- und Hoffnungslosigkeit anfühlt. Ich teile mein Wissen mit ihnen, das ich nach siebeneinhalb Jahren Kampf um das Leben meiner Tochter erlangt habe.

Doch nur 24 Stunden nachdem Tardast in Deutschland gesehen worden war, verschwand er spurlos. Wieder war eine Hoffnung, meiner Tochter und all den anderen Frauen und Männern zumindest im Nachhinein Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, enttäuscht worden.

Ich nahm einen der vielen Briefe zur Hand, die mir Reyhaneh hinterlassen hatte. Darin erhob sie ihre Stimme, die Richter Tardast damals nicht hatte hören wollen.

 

Ich, Reyhaneh Jabbari, bin 26 Jahre alt. Ein Seil hängt vor meinen Augen, das ich nicht fürchte. Ich schreibe, um meine Geschichte zu erzählen. Ich möchte alles erzählen, was ich vor Gericht gesagt habe und der Richter nicht verstanden hat. Und alles, was ich unter Folter geschrien habe und nicht gehört wurde. […] Vielleicht hört jemand auf dieser Welt meine Stimme und fühlt meinen Schmerz.

Ich möchte, dass die Menschen Kenntnis haben und urteilen, wie sie es für richtig halten. Ich möchte, dass sie mir zuhören und, wenn sie wollen, die Schlinge um meinen Hals noch fester ziehen. Ich möchte erzählen, was mir im Alter von 19 Jahren widerfahren ist und was mich den Tod nicht länger fürchten lässt. Ich erzähle, damit die Menschen erfahren, wie meine Stimme zum Schweigen gebracht wurde; wie die unglücklichen Ereignisse, infolge derer ich als Mörderin bekannt wurde, durch Verschwörung und Betrug verdreht wurden, sodass ein Urteil gefällt wurde, das ich für ungerecht halte.[1]


Einige dieser Texte hatte mir meine Tochter am Telefon vorgelesen, damit ich sie aufnehmen, später abtippen und veröffentlichen konnte. Dies war oft der einzige Weg, die Schriftstücke an der Gefängnisleitung vorbei aus der Haft zu schmuggeln. Vor allem 2014 gingen wir so vor, als Reyhaneh begann, ihre Selbstverteidigungsbriefe zu schreiben. Seit Jahren wurde über sie geschrieben, gespickt mit Halb- oder Unwahrheiten, ohne dass sie Stellung dazu hatte beziehen können. Mit dem Verfassen ihrer Verteidigungsbriefe ermächtigte sie sich selbst, indem sie den Tathergang, den Gerichtsprozess und seine Konsequenzen aus ihrer Sicht sowie ihren Alltag im Gefängnis schilderte. Sie nahm sich dabei das Recht und die Freiheit heraus, als Frau gesellschaftliche Missstände zu benennen – klarer und offener, als es außerhalb der Gefängnismauern möglich gewesen wäre. Und gleichzeitig gehören diese Aufnahmen ihrer Stimme zu dem wenigen, was mir von meiner ältesten Tochter geblieben ist.

Reyhaneh hatte mich gebeten, dass ich sie nach ihrem Tod dem Wind übergeben solle. Mein Herz wurde leichter, als ich verstand, dass ich ihr diesen letzten Wunsch erfüllen werde, indem ich unsere Geschichte niederschreibe, denn der Wind wird dieses Buch sein.

Alles begann an einem warmen Frühlingstag 2007 in Teheran, Iran.


Eisdiele

An einem Frühlingstag saß ich in einer Eisdiele. Ich telefonierte mit einem Kunden. Es ging um den Messestand, den ich für eine internationale Ausstellung entworfen hatte. Als ich aufgelegt hatte, sprach mich ein Mann mittleren Alters an, der mit seinem Freund am Nebentisch saß. Er sah aus wie ein gewöhnlicher Mann, dem man auf der Straße begegnet, der neben einem im Taxi sitzt, in einer Schlange steht oder den man in einem Park oder Restaurant antreffen kann – einer, bei dem man sich vorstellen kann, Zuflucht zu suchen, wenn man in der Öffentlichkeit belästigt wird.

Er sagte: „Ich habe zufällig Ihr Telefongespräch belauscht und erfahren, dass Sie Innenausstatterin sind.“ Ich erwiderte: „Ja.“ Er fuhr fort: „Ich habe ein Büro, das ich zu einer Arztpraxis umgestalten möchte. Ich bin plastischer Chirurg.“

Ich platzte innerlich vor Aufregung. Ich war damals 19 Jahre alt, den Kopf voller Träume und im Herzen die Sehnsucht nach Erfolg. […] Ich gab dem Mann meine Visitenkarte, auf der die Kontaktdaten der Firma sowie mein Name und meine Telefonnummer standen.

Das war der Tag, an dem ich Dr. Sarbandi und seinen Freund, Herrn Sheikhi, kennenlernte. Ich ahnte nicht, dass diese Begegnung mein Schicksal verändern und mich dem Tod näher bringen würde.[2]

 

Ganz aufgeregt berichtete mir unsere Tochter von dem geplanten Treffen: „Mama, Dr. Sarbandi möchte, dass ich sein Büro in eine Schönheitsklinik umgestalte. Wenn ich einen guten Job mache, kann ich vielleicht weiter für ihn arbeiten!“ Mit Freude hörte ich Reyhaneh zu, die voller jugendlichem Enthusiasmus ihre Träume verwirklichen wollte.

Sie studierte gerade in ihrem dritten Semester Computer-Software an der Basir-Abyek-Ghazvin-Universität nahe Teheran. Reyhaneh hatte schon immer großen Wert auf ihre Unabhängigkeit gelegt und wollte neben ihrem Studium unbedingt ihr eigenes Geld verdienen. Mein Mann Fereydoon und ich begrüßten das. Keine unserer drei Töchter sollte später finanziell abhängig von ihrem Mann sein. Sie sollten früh lernen, dass man hart arbeiten muss, um sich seine Träume zu erfüllen.

Durch eine deutsche Fernsehsendung hatte Reyhaneh ihr Interesse für Inneneinrichtung entdeckt, und unsere Töchter ließen keine Folge ausfallen, in der Enie van de Meiklokjes, die bei ihnen immer nur pinky hair hieß, Wohnungen umgestaltete. Pinky hair’s Einrichtungsideen machten auch vor unserem Haus nicht halt. Wieder und wieder wurden die Zimmer der Mädchen ausgeräumt, die Möbel umgestellt und umdekoriert. Über einen Freund der Familie bekam Reyhaneh zu ihrer großen Freude einen Nebenjob als Designerin in einer Firma, die Stände und Broschüren für internationale Messen entwarf. Die Tätigkeit machte ihr Spaß, und sie konnte sich vorstellen, weiter in diesem Bereich zu arbeiten.

Ihr Elan erfüllte mich mit Stolz. Schon meine Mutter hatte für ihre Zukunft gekämpft. Anfang der 1950er-Jahre, unter der Regentschaft von Schah Mohammad Reza Pahlavi, wuchs sie behütet als Tochter einer traditionsbewussten kurdischen Familie nahe der iran-irakischen Grenze in Kermānschāh auf. Bereits 1961, im Alter von 15 Jahren, wurde sie wie die meisten Frauen ihrer Generation verheiratet und zog nach Teheran, das damals ein kosmopolitischer Ort voller Kontraste war.

Während auf den Straßen einige Frauen mit toupierten Haaren und Miniröcken an eleganten Restaurants vorbeiflanierten, hüllten sich andere in ihre schwarzen Tschadors[3]. Nach europäischem Vorbild wurden rauschende freizügige Feste gefeiert, nur ein paar Straßenzüge weiter herrschte bittere Armut. Nachdem meine Mutter zwei Fehlgeburten erlitten hatte und die Nachbarsfrauen meinem Vater schon eine zweite, fruchtbarere Ehefrau vermitteln wollten, bekam sie mit 18 Jahren mich, das älteste von insgesamt drei Kindern.

Während die anderen verheirateten Frauen, wie damals üblich, ihre Schulausbildung abbrachen, um sich gänzlich der Kindererziehung und Haushaltsführung zu widmen, setzte meine Mutter bei meinem Vater durch, dass sie weiter zur Schule gehen durfte. Nach ihrem Abschluss studierte sie Literatur und arbeitete als Lehrerin. Kurz vor ihrer Pensionierung gründete sie eine Gruppe, die zeitweise bis zu 200 Mitglieder umfasste, in der sie ehrenamtlich Analphabetinnen anhand des Korans Lesen und Schreiben lehrte. Schon früh verglich ich das Leben meiner Mutter mit dem ihrer ältesten Schwester und anderer Frauen ihres Alters und stellte fest, dass sie glücklicher und zufriedener war als diejenigen, die nicht gekämpft, nicht gelernt oder studiert hatten.

Dem Vorbild meiner Mutter folgend, begann ich schon früh, als Lehrerin zu arbeiten. Bald studierte ich auch Regie für Puppenspiel an der Hochschule für bildende Künste an der Universität Teheran. Zu dieser Zeit verliebte ich mich in meinen späteren Ehemann Fereydoon, den ich liebevoll Fery nenne. Wir lernten uns mit 21 im Haus von Verwandten in Kermānschāh kennen. Schnell verstand ich, dass Fereydoon ein sehr gütiger und sanftmütiger Mann war, und als ich 22 Jahre alt war, heirateten wir.

 

Fereydoon war Kurde – genau wie meine Mutter. Allerdings spielten unsere kurdischen Wurzeln in unserem Familienleben eine untergeordnete Rolle. Die iranische Regierung diskriminiert die kurdische Minderheit seit Jahren, verweigert ihr das Recht, die eigene Sprache zu studieren und ihre kurdische Identität in der Öffentlichkeit auszuleben. So sprach Fereydoon nur sehr selten Kurdisch mit unseren Töchtern, und in unserer Familie wurden nur wenige kurdische Wörter regelmäßig benutzt.

Fereydoon hatte noch nie etwas von den Gesetzen zur Einschränkung der Frauenrechte gehalten und versicherte mir am Tag unserer Hochzeit schriftlich, dass mir bestimmte Rechte zustanden, die den Frauen seitens des iranischen Gesetzes nicht gegeben wurden. Ich hatte das Recht, zu arbeiten und zu studieren, was ich wollte. Ich durfte den Aufenthalts- und Lebensort auswählen. In der Regel werden im Iran diese Dinge per Gesetz durch den Mann bestimmt. Wenn ein Mann seiner Frau das Studium nicht erlaubt, dann darf sie nicht studieren. Ebenso wenig kann sie arbeiten oder reisen, wo oder wohin sie möchte. Und nach einer Scheidung hat der Mann das alleinige Sorgerecht für die Kinder. Auch die Nationalität wird nur über den Mann an seine Kinder vererbt. Wenn eine Iranerin im Iran beispielsweise einen Afghanen heiratet, sind ihre Kinder staatenlos, um nur einige der diskriminierenden Gesetze zu nennen. Aber Fereydoon unterstützte mich seit dem ersten Tag, an dem wir zusammenlebten, und baute gemeinsam mit mir ein Leben auf, das auf Vertrauen und Liebe basierte.

Deshalb schloss ich trotz der Geburt meiner ersten Tochter Reyhaneh mein Studium an der Hochschule für bildende Künste in Teheran ab und begann als Regisseurin und Schauspielerin am staatlichen Theater zu arbeiten. Meine zweite Tochter Sharare folgte, und erst nach der Geburt meiner dritten Tochter Shahrzad beschloss ich, die aufreibende Arbeit als Regisseurin aufzugeben. Häufig bestand sie darin, auf die Genehmigungen des Ministeriums für Kultur und islamische Führung Ershad[4] zu warten. Ich konzentrierte mich auf die Schauspielerei und nahm das Angebot an, die Leitung eines kollektiven Kulturhauses in Teheran zu übernehmen. Ich wollte meinen drei Mädchen ein gutes Vorbild sein und Familie und Beruf in Einklang bringen.

Doch die Erziehung unserer Töchter zu selbstständigen Frauen bedeutete nicht, dass es keine Grenzen für sie gab. Ich achtete auf die Einhaltung der islamischen Regeln, tolerierte aber die kleinen Freiheiten, die sich Reyhaneh und Sharare herausnahmen; etwa indem sie zu Hause auch vor männlichen Freunden der Familie ihr Haar zeigten. Eigentlich ist das harām, also nach islamischem Glauben verboten. Ich akzeptierte aber auch, als Shahrzad mit acht Jahren plötzlich beschloss, sogar zu Hause einen Tschador zu tragen, wie es streng konservative Frauen tun. Noch Jahre später musste sie sich die Neckereien ihrer Schwestern über ihren Ausflug in die Welt der Vollverschleierung anhören.

Bestärkt durch mein eigenes Leben, war ich der festen Überzeugung, dass es Iranerinnen möglich ist, ihre Träume im Einklang mit dem Islam und der persischen Tradition zu verwirklichen. Dabei registrierte ich nicht, dass ich in einer privilegierten Position lebte, die nicht allein durch den Fleiß und Kampf meiner Mutter und von mir entstanden war, sondern durch einen Glücksfall, der durch die Toleranz und Offenheit meines Vaters und meines Mannes eingetreten war. Und wie viele andere iranische Frauen war ich ahnungslos, auf welch ungeheuerliche Art und Weise die Gesetze die Rechte der Frauen systematisch missachteten. In dieser privilegierten, hoffnungsvollen Blase erzog ich meine Töchter zu starken, selbstständigen Frauen.


Fruchtsaft

Ein paar Wochen nach Reyhanehs Begegnung mit Dr. Sarbandi in der Eisdiele bekam sie einen Anruf von einer Nummer, die lediglich aus Achten bestand. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass kein normaler Bürger seine Telefonnummer auf diese Art unterdrücken oder abändern konnte. Reyhaneh verabredete sich mit ihm zu einem Geschäftstreffen. Mir war nicht wohl dabei, und ich wollte sie begleiten. Sie wehrte sich dagegen. Es sei peinlich, dass eine 19-jährige Frau mit ihrer Mutter zu einem Arbeitstreffen auftauche, aber ich bestand darauf.

Ich begleitete sie zu dem Postamt nahe der Sadr-Brücke, wartete aber auf ihr Drängen hin auf der anderen Straßenseite. Dr. Sarbandi kam nicht. Nach etwa 20 Minuten überzeugte ich Reyhaneh, wieder nach Hause zu gehen. „Was denkt er denn, wer er ist?“, schimpfte ich. „Vergiss ihn! Wir wollen so einen Job nicht.“ Damit war die Sache für mich erledigt. Auf die Idee, dass er möglicherweise doch gekommen und weitergefahren war, als er mich gesehen hatte, kam ich damals nicht.

 

Auf dem Heimweg beschwerte sich meine Mutter wie immer. Sie sagte: „Nimm keine Anrufe mehr von dieser Nummer entgegen. Selbst wenn er sich meldet, arbeite nicht für ihn und überlasse die Aufgabe anderen in deiner Firma.“ Ich wusste, dass ich das nicht tun würde. Ich wollte diesen Auftrag ganz allein annehmen, ausführen und stolz auf meine Leistung in so jungem Alter sein. Ich wollte nicht einmal, dass der Vertrag zwischen Dr. Sarbandi und der Firma geschlossen wurde. In meinem Kopf entwarf ich schon einen Vertrag zwischen Dr. Sarbandi und mir. […]

Nur ein paar Tage später erhielt ich einen weiteren Anruf von der gleichen merkwürdigen Nummer. Wieder war es Dr. Sarbandi. Wir vereinbarten ein Treffen am Abend in der Aghdasieh-Straße. Ich ging hin. Herr Sheikhi war bei ihm. […] Ständig klingelte sein Handy. Herr Sheikhi erklärte, dass Sarbandi am Abend zu einer Hochzeit eines Verwandten müsse. Dr. Sarbandi erzählte von seinem Geschäft: dem Import von Medikamenten, medizinischem Bedarfsmaterial und Geräten. Da ich zuvor in einer Firma gearbeitet hatte, die Medikamente importierte, kannte ich mich aus: Wenn wir ins Geschäft kämen, würde ich unbegrenzt Druckaufträge erhalten. Jeden Tag würde eine neue Broschüre gedruckt werden müssen, jeden Tag ein neuer Druckauftrag, täglich ein neuer Katalog.

Ich schlug vor, dass ich auch die Druckaufträge übernehmen könnte. Er schien nicht abgeneigt. Doch zunächst müsse er sehen, wie ich arbeite und seine Praxisräume gestalte. Wenn das Ergebnis zufriedenstellend sei, würde er mir die Druckaufträge geben. Er erwähnte auch jemand anderen, mit dem er verhandle, aber ich bestand darauf, dass er alle Aufträge an mich vergeben solle. Trotz meiner Kühnheit, nach Arbeit zu fragen, war ich zu schüchtern, um seine Telefonnummer zu erbitten. […] Wir verabredeten ein Treffen für Samstag[5], den 7. Juli 2007, um 18 Uhr.

Dass die nächsten zwei Tage die letzten sein sollten, die ich zu Hause verbringen würde, kam mir nicht in den Sinn. […] Zwei glückliche Tage: Ich war auf den Hochzeiten meiner Freundin und meiner Cousine.[6]

 

Die Vorbereitungen für die Vermählung von Azadeh, der Tochter meiner Cousine, gaben mir eine Vorahnung, was möglicherweise bald auf mich zukommen würde. Fast zwei Jahre zuvor hatte Reyhaneh auf einem studentischen Tagesausflug zu den Tange-Vashi-Wasserfällen den damals 20-jährigen Ehsan kennengelernt. Sie schwärmte von ihm, und ich freute mich für sie, nahm die Sache aber nicht allzu ernst. Außerhalb des familiären Kontextes ist es im Iran sehr schwer, vor dem Studium jemanden des anderen Geschlechts kennenzulernen. Erst in den Universitäten sitzen Frauen und Männer zusammen in den Klassen. Deshalb war ich mir sicher, dass Reyhaneh den Unterschied zwischen Schwärmerei und Liebe noch nicht kannte.

Ehsan war der einzige Sohn einer konservativen Familie und studierte Elektrowissenschaft. Als ich erfuhr, dass er schon mit seinen Eltern über Reyhaneh gesprochen hatte und sie heiraten wolle, war mir nicht wohl dabei. Fereydoon war gegen die Verbindung. Er war der Meinung, dass Reyhaneh erst einmal ihr Studium abschließen sollte. Sie sei viel zu jung, um sich an einen Mann zu binden. Und obwohl auch ich eine Heirat mit 19 Jahren viel zu früh fand, verstand ich meine Tochter. Sie hatte Gefühle für den jungen Mann, hatte Träume, die ich als junge Frau auch hatte. So redete ich Fereydoon zu. Nachdem Ehsan sich uns offiziell vorgestellt hatte, erlaubten wir schließlich, dass sich die beiden treffen durften, um sich besser kennenzulernen. Sie telefonierten regelmäßig und sahen sich hin und wieder, wenn ihr Studium es zeitlich zuließ – trotz des Risikos, wegen einer unehelichen Beziehung von Sittenwächtern aufgegriffen zu werden.

Im Iran ist eine uneheliche Beziehung zwischen Mann und Frau rechtlich nicht gestattet. Die Mehrheit der Iranerinnen und Iraner hält sich jedoch nicht daran. Eigentlich dürfen sich Unverheiratete noch nicht einmal allein in demselben geschlossenen Raum aufhalten. Sogar im Bus sitzen die Männer im vorderen Teil, während die Frauen hinten sitzen. Es gibt Universitäten, die nach Geschlechtern getrennte Eingänge haben. In Vorlesungen dürfen Männer und Frauen nicht direkt nebeneinandersitzen. Sie dürfen sich nicht berühren und sich nicht die Hand geben. Zusammen zu arbeiten ist möglich, allerdings ohne Nähe und ohne eine private Beziehung zu haben.

Natürlich kommt es immer wieder vor, dass die Sittenpolizei ein unverheiratetes Paar erwischt und inhaftiert. Da die Jugendlichen mit diesen Regeln aber aufgewachsen sind, können sie innerhalb weniger Sekunden von einem nahen, freundschaftlichen Verhältnis zu einem distanzierten wechseln und so die strengen Auflagen umgehen. Wir vertrauten darauf, dass Reyhaneh und Ehsan alles daransetzen würden, kein Aufsehen zu erregen und sich nicht von Sittenwächtern erwischen zu lassen.


Am Tag von Azadehs Hochzeit waren wir alle früh auf den Beinen. Reyhaneh und ihre beiden Schwestern ließen sich in einem Schönheitssalon ihre Haare und ihr Make-up machen. Es war das erste Mal in Shahrzads Leben, dass ihre Augenbrauen gezupft wurden. Obwohl es den Mädchen laut Gesetz verboten war, sich vor der Ehe die Augenbrauen zupfen zu lassen, scherten sich zu dieser Zeit die wenigsten Teenager darum. Meine älteren beiden Töchter hatten die Technik, sich eigens zurechtgeschnittene Haare auf die Augenbrauen zu kleben, perfektioniert. Nicht einmal die strengen Lehrerinnen bemerkten die Täuschung bei ihren stichprobenartigen Kontrollen.

Seit Jahren untergruben die jungen Iranerinnen den islamischen Kleiderkodex, der für die Frau ein schwarzes Kopftuch oder hijab[7] und einen schwarzen weiten manto[8] vorschrieb, um Haut und Körperformen zu verdecken. Man sah auf Teherans Straßen immer mehr Frauen mit Make-up, die Kopftücher wurden immer bunter und rutschten immer weiter hinter den Haaransatz, und die konservativen schwarzen mantos wurden von figurbetonteren Trenchcoats abgelöst. Auch war es bei jungen Frauen in Reyhanehs Alter üblich, ihr Kopftuch in geschlossenen Räumen nicht nur vor mahram[9], also männlichen nahen Verwandten, in Gänze abzunehmen. Ich beobachtete diese Veränderungen einerseits mit Nachsicht für die jungen Frauen, befolgte selbst aber weiterhin das Verschleierungsgebot.

Als meine drei Töchter von ihren Besuchen in den Schönheitssalons zurückkehrten, war ich nicht sonderlich begeistert: Sie waren alle stark geschminkt und ihre Augenbrauen nur noch Striche. Während ich noch versuchte, sie davon zu überzeugen, ihr Make-up zu reduzieren, probierten die drei schon herumalbernd ihre Kleider an.

Wir gingen auf die Hochzeit, und Reyhaneh, die nur kurz auf der Vermählung einer Freundin vorbeigeschaut hatte, stieß gut gelaunt zu uns. Ihr stilvolles Kleid betonte ihre hohe, schlanke Figur, gab aber auch nicht zu viel preis. Am Hochzeitsabend hielt ich mich für einen Moment am Rande der Festlichkeiten auf und beobachtete Reyhaneh, wie sie voller Freude mit kleinen Schritten und grazilen Bewegungen mit ihrem Vater tanzte. Ein unglaubliches Glücksgefühl durchströmte mich.

 

Als ich am Samstag mit der Arbeit begann, freute ich mich von der ersten Stunde an auf den Abend. Gegen Mittag klingelte mein Telefon. […] Dr. Sarbandi sagte, er würde mich von meinem Büro abholen, da er in der Gegend sei. Ich nahm meinen Mut zusammen und erwiderte: „Ich habe Ihre Telefonnummer nicht. Wenn etwas dazwischenkommt und mich aufhält, kann ich Sie nicht informieren.“ Er nannte mir eine Telefonnummer. Das gab mir Vertrauen in ihn. Ich rief meine Mutter an und sagte ihr, dass ich einen Termin mit Dr. Sarbandi und Herrn Sheikhi habe und später nach Hause kommen würde. Sie sagte: „Sei nicht so spät. Wir sind um 19 Uhr verabredet.“ Ich versicherte ihr: „Ich werde es versuchen.“ Unmittelbar danach erhielt ich eine Textnachricht von Dr. Sarbandi bezüglich des Termins: „07.07.2007“. […]

Ich schickte ihm nur ein Fragezeichen zurück. Später schickte ich ihm eine weitere Textnachricht: „Soll ich auf Sie warten, Herr Doktor?“ Ich log meine Kollegen an und sagte, dass ein Freund meines Vaters mich abholen würde, da mein Vater mir ein neues Auto kaufen wolle. Ich erhielt eine weitere SMS von Dr. Sarbandi: „Ich bin draußen, wie ist die Hausnummer?“ […]

Es war 18 Uhr, und ich wartete vor meinem Büro. Meine Kollegen beobachteten vom Fenster aus, wie Dr. Sarbandi allein mit dem Auto vorfuhr. Wo ist Herr Sheikhi?, fragte ich mich. In meiner Vorstellung waren die beiden Männer immer zusammen. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz, und wir fuhren los. […] Wir hörten einen modernen Song. […]

Wir unterhielten uns über die Melodie und unseren Musikgeschmack. Einige Straßen weiter hielt er an. Herr Sheikhi stieg in den Wagen. Er setzte sich auf den Rücksitz, aber ich bestand darauf, dass wir die Sitzplätze tauschten. Er weigerte sich mit der Begründung, dass er sowieso bald aussteigen müsse, was er kurz darauf auch tat. Außerhalb des Wagens unterhielten sich die beiden Männer einige Minuten lang. Ich konnte nicht hören, was sie sagten. Herr Sheikhi entfernte sich, und Dr. Sarbandi stieg wieder ins Auto.

Nun waren wir auf der Shahid-Beheshti-Straße, und er hielt wieder an. Dr. Sarbandi erklärte, er habe eine ältere Tante und müsse ihr ein paar Dinge aus der Apotheke besorgen. Einen Augenblick später kam er zurück. Er trug eine orangefarbene Plastiktüte bei sich, aus der eine Packung Windeln schaute. Jetzt waren wir in der Mir-Emad-Straße. Er parkte vor der Landesregierung und bat den Wachmann, auf sein Auto aufzupassen. Ein plötzlicher Anflug von Furcht überkam mich: Wer war dieser Mann, dass er vor dem Gebäude der Landesregierung parken konnte? Welchen Status hatte er, dass der Sicherheitsbeamte Befehle von ihm annahm?

Ich beruhigte mich damit, dass, selbst wenn er eine einflussreiche Position in der Regierung hatte, mein Eindruck von ihm nicht bedrohlich war. […]

Wir betraten ein Gebäude und fuhren mit dem Aufzug nach oben. […] Fünfter Stock. Neben dem Fahrstuhl befand sich eine Tür. Dr. Sarbandi öffnete sie mit seinem Schlüssel. Ich war schockiert. Es war kein Büro. Es war eine heruntergekommene Wohnung voller Schmutz und Staub, gefüllt mit Chaos. Es gab keine Spur von Leben. Kein Geruch von heimischem Herd oder der Wärme eines Zuhauses. Es war ein verwaister Ort. Ich ließ die Tür angelehnt.

In der Nähe der Tür gab es einen Tisch mit ein paar Stühlen. Ich setzte mich auf den, der sich am nächsten zur Tür befand. Er forderte mich auf, es mir bequem zu machen. Aber mir war nicht wohl dabei. Er forderte mich auf, mein Kopftuch abzunehmen, doch ich hatte Angst. Der Tisch war mit verschiedenen Gegenständen zugemüllt: Papiere, Schlüssel, Handy, Gläser, Messerständer, ein Blumentopf sowie allerhand Krimskrams. Er ging um den Tisch herum in die Küche. Meine Augen erkundeten den Raum und nahmen alles in sich auf; nah und fern, alles, von der Eingangstür bis zum Fernseher, dem Sofa, dem Ventilator, der Konsole, dem Spiegel, dem Gebetsteppich, und sogar die kleinen Tischchen. Er kam mit zwei Gläsern Fruchtsaft zurück und trank eines davon sofort aus. Er beklagte sich über die Hitze und lud mich ein, zu trinken. Ich starrte auf die Eiswürfel im Glas. Sie tanzten. […]

Aber meine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt, und ich konnte nicht trinken. Ich sagte: „Erst die Arbeit, dann der Fruchtsaft“, stand rasch auf und inspizierte die Räume. […] Ich zeichnete den Grundriss der Wohnung auf ein Blatt Papier und machte mir Notizen.


[1] Reyhaneh Jabbari, Selbstverteidigungsbrief 1, 2014, Audioaufnahme

[2] Reyhaneh Jabbari, Selbstverteidigungsbrief 1, 2014

[3] Der Tschador ist ein großes, meist dunkles Tuch in Form eines umsäumten Halbkreises, das im Iran als Umhang um Kopf und Körper gewunden wird und lediglich das Gesicht oder Teile davon frei lässt. In der Öffentlichkeit wird er vorwiegend von konservativen muslimischen Frauen über der Kleidung getragen.

[4] Das Ershad-Ministerium überwacht und zensiert Theatervorstellungen, Musikveranstaltungen, Kunst- und Kulturausstellungen, Publikationen, das Internet sowie kulturelle und zivilgesellschaftliche Organisationen.

[5] Samstag ist im Iran der erste Arbeitstag der Woche.

[6] Reyhaneh Jabbari, Selbstverteidigungsbrief 1, 2014

[7] Hijab, hidschāb oder hidschab ist ein arabischer Begriff und gleichzusetzen mit einem Kopftuch.

[8] Manto leitet sich von dem französischen Wort für Mantel, manteau, ab. Er ist normalerweise weit geschnitten, um Haut und die Körperformen der Frau zu verdecken.

[9] Der Begriff mahram oder mehram bezeichnet im Islam ein Verwandtschaftsverhältnis, in dem Heirat sowie Geschlechtsverkehr verboten sind.


[i] Shole Pakravan, Fereydoon Jabbari, Shahrzad Jabbari, Sharare Jabbari Fotografien und Dokumente aus dem Familienarchiv

[ii] Shole Pakravan, Fereydoon Jabbari, Shahrzad Jabbari, Sharare Jabbari Fotografien und Dokumente aus dem Familienarchiv

[iii] Shole Pakravan, Fereydoon Jabbari, Shahrzad Jabbari, Sharare Jabbari Fotografien und Dokumente aus dem Familienarchiv

[iv] Shole Pakravan, Fereydoon Jabbari, Shahrzad Jabbari, Sharare Jabbari Fotografien und Dokumente aus dem Familienarchiv

[v] Shole Pakravan, Fereydoon Jabbari, Shahrzad Jabbari, Sharare Jabbari Fotografien und Dokumente aus dem Familienarchiv

[vi] Shole Pakravan, Fereydoon Jabbari, Shahrzad Jabbari, Sharare Jabbari Fotografien und Dokumente aus dem Familienarchiv

[vii] Shole Pakravan, Fereydoon Jabbari, Shahrzad Jabbari, Sharare Jabbari Fotografien und Dokumente aus dem Familienarchiv

[viii] Shole Pakravan, Fereydoon Jabbari, Shahrzad Jabbari, Sharare Jabbari Fotografien und Dokumente aus dem Familienarchiv

[ix] Shole Pakravan, Fereydoon Jabbari, Shahrzad Jabbari, Sharare Jabbari Fotografien und Dokumente aus dem Familienarchiv

[x] Shole Pakravan, Fereydoon Jabbari, Shahrzad Jabbari, Sharare Jabbari Fotografien und Dokumente aus dem Familienarchiv

[xi] Shole Pakravan, Fereydoon Jabbari, Shahrzad Jabbari, Sharare Jabbari Fotografien und Dokumente aus dem Familienarchiv

Reisen in den Iran - ist das möglich?

Unsere Autor:innen Nadine Pungs und Stephan Orth haben den Iran bereist und sind überzeugt: Wer sich auf das Land und die Menschen einlässt und die gängigen Klischees über Bord wirft, wird mit eindrucksvollen Erfahrungen belohnt.

Bücher über den Iran

„Eine Reise nach Iran beginnt meist in der Hauptstadt Teheran, der pulsierenden Metropole am Fuße des Elburs-Gebirges. Die Stadt ist jung, agil, aufgeschlossen und ziemlich westlich geprägt. Vom Islam merkt man hier auf den ersten Blick nicht viel ...“


Bita Schafi-Neya „Gebrauchsanweisung für den Iran“

Sich trauen

Der Iran gilt seit einer Aussage des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush als „Achse des Bösen“, und seitdem ein orangefarbener Präsidentendarsteller im Weißen Haus mehr twittert als denkt, ist der Iran mittlerweile wieder auf das Niveau eines „Schurkenstaats“ herabgestiegen. Dieser ganze propagandistische Dreck hat sich über die Jahre in unser (westliches) Hirn festgezeckt. Auch in meins. Ergo ist es fast unmöglich, ohne Klischees in den Mittleren Osten aufzubrechen.

Nichtsdestotrotz sollte man es dennoch wagen; man könnte überrascht werden. Die Realität sieht nämlich anders aus. Ich rate dir deshalb: Hör nicht auf Ansichten von Leuten, die nichts wissen! Nein, trau dich! Geh hin!

In einer Welt, in der Meinungen mehr zählen als Fakten, ist es unerlässlich, sich selbst auf den Weg zu machen und nachzuschauen!

 

Sich einfangen lassen

Ein Klischee über den Iran stimmt: die überbordende Gastfreundschaft. Ob eine Einladung zum Chai oder zum Abendessen – die Iraner möchten sich kümmern. Das kann zuweilen anstrengend sein, zumeist ist es aber einfach sehr liebenswürdig und bewundernswert. Sofern es sich nicht um Ta’arof handelt – also nur Höflichkeitsgeste ist – solltest du Einladungen annehmen. Lass dich einfangen! Du wirst am Ende immer reicher sein als vorher. Denn auf diese Weise lernst du Land und Leute tatsächlich und abseits westlicher Vorurteile kennen. Und die berühmte persische Freundlichkeit wird dich ganz sicher berühren. Die meisten Iraner sind nämlich unglaublich großmütige Menschen. Von wegen „Schurkenstaat“. Mir ist auf meinen Reisen nicht ein einziger „Schurke“ begegnet, sondern zumeist höfliche, vorurteilsfreie und fürsorgliche Frauen und Männer, die ihre Herzen bedingunglsos verschenkten.

P.S.: Mach dich bereit für viele, viele Selfies mit vielen, vielen freudigen Iranern.

 

Ramadan

Wenn du in den Iran reist, dann checke vorher unbedingt die Daten. An Ramadan schenkt ein Trip durch die Islamische Republik nicht immer Frohsinn. Im Fastenmonat präsentiert sich das Regime nämlich totalitärer als sonst. Wer an Ramadan raucht oder isst und sich von der Polizei erwischen lässt, dem drohen Peitschenhiebe. Geraucht und gegessen wird trotzdem. Sogar in den Hinterzimmern der Moscheen.

Als Reisender hat man zwar den Touri-Bonus, und außer einer Verwarnung dürfte nicht viel passieren, doch ich würde es nicht darauf ankommen lassen. Zudem verkaufen die Imbissbuden und Restaurants tagsüber kein frisch gekochtes Essen. Und in der Öffentlichkeit ist selbst das Nippen an einer Wasserflasche verboten. Das kann für schlechte Laune sorgen.

Auf der anderen Seite könnte eine Reise während des Ramadan dennoch für unvergesslich schöne Erlebnisse sorgen. Nämlich dann, wenn abends die Familien zusammenkommen und das Leben feiern. Und wenn noch köstlicheres Essen aufgetischt wird als sowieso schon. Definitiv eine besondere Zeit.

 

Lügen

Lüg! Nenne niemals den Namen deines Couchsurfing-Gastgebers, verrate nicht, wer dir den Alkohol ausgegeben hat und halte dich mit politischen Äußerungen in der Öffentlichkeit zurück.

Die Lüge ist unausweichlich, wenn das Leben davon abhängt. Nicht dein Leben. Du kannst den Iran wieder verlassen. Doch achtzig Millionen Menschen können das nicht so leicht. Du trägst Verantwortung für das, was du über deine iranischen Bekanntschaften (z.B. in sozialen Netzwerken) preisgibst! Die Situation entscheidet über die Wahrheit. Und bedenke: Mit deiner Lüge schützt du deine Gastgeber. Also lüg!

Gastfreundlich und großherzig seien die Iraner, so berichten Wiederkömmlinge. Und – welch Überraschung – die Frauen hier seien sogar selbstbewusst und gebildet. Da staunt so mancher Westler. Verbindet er mit dem Iran doch eher Atomraketen. Persien jedoch, das zaubert eine Verklärung ins Gesicht. Da fliegen nicht Raketen, sondern Teppiche. In Persien berauschen die Gärten, die Mosaike, die Basare.

Aber ist diese Darstellung nicht auch nur Klischee? Die netten Perser, die Herzlichkeit? Gibt es nichts zwischen Morgenland-Nostalgie und finsterer Mullah-Hegemonie?


Nadine Pungs

Hejab

„Als Frau? Alleine?“ Das war die häufigste Frage, die mir vor meinen Reisen in den Iran gestellt wurde. Und meine Antwort lautete stets: „Ja, klar, warum nicht?“

Grundsätzlich kannst du als Frau überall auf der Welt allein reisen. Ich verstehe die Hysterie darum nicht. Wir Frauen haben es sogar oftmals leichter, denn wir werden eingeladen, beschenkt und uns wird die Tasche getragen. Also trau dich (siehe Punkt 1)! Was eine Reise in den Iran allerdings für Frauen schwierig macht, ist die Kleider(ver)ordnung; der stattliche Zwang zum Hejab. Also Kopftuch und ein langes Hemd, das die weiblichen Kurven verwischt. Auch bei 40 Grad Hitze. Sei dir darüber bewusst; sobald du das Haus verlässt, musst du regimekonform eingesackt sein.

Für den Anfang und gegen im Wind umherflatternde Schleier helfen übrigens Haarklammern, mit denen man das Tuch am Kopf festpinnen kann. Doch trotz all der modischen Tricks und Raffinessen - die Verschleierung ist und bleibt Unterdrückung!

Randnotiz: Seit Ende 2017 nehmen überall im Land mutige Frauen ihre Kopftücher ab und schwenken es wie eine Friedensfahne. Auf der Facebookseite My Stealthy Freedom findest du weitere Infos.

Kleid und Kajal

Dass sich frau in der Öffentlichkeit verhängen muss, bedeutet nicht, dass die Verschleierung auch privat Vorschrift wäre. Gewiss, in konservativen Familien sollten alle Frauen verschleiert sein, sobald ein nicht verwandter männlicher Zeitgenosse zugegen ist. Aber ansonsten kann es nicht schaden, Kleid und Kajal im Rucksack dabei zu haben. Denn Partys und Hochzeiten werden recht chic, recht ausgelassen und recht häufig gefeiert. Und eingeladen wird man ohnehin (siehe Punkt 2).

Als ich das erste Mal im Iran gereist bin, hatte ich aus Platzgründen außer Hejabs nichts im Ranzen; und so war ich auf den persischen Hauspartys unerträglich underdressed. Denn Iranerinnen sind Meisterinnen im Stylen. Und wer sich nicht wie Fräulein Prusseliese fühlen möchte, dem sei neben den Hejabs unbedingt hübsche Ausgehkleidung empfohlen.

 

Perser und Araber

Vergleiche niemals Iraner mit Arabern. Das ist schon kein Fettnäpfchen mehr, sondern ein ganzer Fettsee. Denn Iraner sind keine Araber, sie sind Perser. Sie sprechen Farsi, nicht Arabisch (außer in Randgebieten). Und sie sind stolz. Sehr stolz.

 

Faramarz Aslani hören

Er ist der iranische Bob Dylan – der Sänger, Gitarrist und Komponist Faramarz Aslani. Jeder, wirklich jeder Iraner kennt ihn. Seine Lieder werden seit den Siebzigerjahren gespielt. Er singt von Liebe und von den großen persischen Dichtern, die ihn inspirierten.

Hier drei besonders schöne und bekannte Songs:

Age ye Rooz
To
Ahooye Vahshi

 

Hafis lesen

Hafis ist nicht nur irgendein Dichter, Hafis ist Nationalheld. Sogar Goethe verehrte den im 14. Jahrhundert geborenen Poeten. Und in jedem iranischen Haushalt findet sich mindestens ein Bändchen des legendären Lyrikers, der Wein, Weib und Gesang gleichermaßen liebte. Deshalb: lies Hafis:

Droht der Weltschmerz mit steter Erweiterung,
Bleibt kein Mittel als Wein zur Erheiterung.

 

Das Herz öffnen

Hier schließt sich der Kreis und schlägt den Bogen zum allerersten Tipp. Und wahrscheinlich kommt jetzt der wichtigste Ratschlag, denn ohne geht es nicht: Öffne dein Herz! That’s it.

Der Iran fordert, der Iran bestürzt, aber der Iran beschenkt auch. Hab also den Mut und schau hin! Sei bereit, Klischees über Bord zu werfen! Freu dich über die Gastfreundschaft und über jedes ehrliche „Welcome to Iran“, das dir zugerufen wird! Lass dich einfangen, trink Chai, trink (verbotenen) Wein, iss Safraneis, tanz auf Dächern, spiel Backgammon, geh in die Moschee, sprich mit den Menschen und sei neugierig! Dann kann nichts schiefgehen und du trägst ein randvolles Herz zurück nach Hause.

 

Noch mehr Tipps von Nadine Pungs und Infos zu ihrer Iran Rundreise gibt es in ihrem Buch „Das verlorene Kopftuch. Wie der Iran mein Herz berührte.“
Mai 2018

Das verlorene KopftuchDas verlorene Kopftuch

Wie der Iran mein Herz berührte

Ohne Kopftuch auf die Straße gehen, Wein trinken und sich bis über beide Ohren in einen Mann verlieben. All das erlebt Nadine Pungs im Iran, obwohl es streng verboten ist. Von Teheran über den Persischen Golf bis fast an die Grenze zu Aserbaidschan erkundet sie, wie das Land jenseits westlicher Klischees tatsächlich tickt. Sie will staunen und lernen und dieses Land mit all seiner Schönheit und Unerbittlichkeit begreifen. Wortgewaltig schildert sie, wie sich ihre Schwarz-Weiß-Vorstellungen in tausendundeine Schattierung auflösen und wie der Iran sie herausfordert und zugleich beschenkt.

„Und? Was denken Sie über mein Land?“

Ich schaue aus dem Fenster, über Teheran legt sich die Nacht. Stahl und Beton ziehen an mir vorüber, Lichterketten blinken, und von den Fassaden glotzen die bärtigen Ayatollahs auf mich herab. Der Taxifahrer hat die Musik leiser gedreht, lächelt in den Rückspiegel.

Was denke ich über den Iran? Jetzt im Ausklang, zum Schluss? Eine Frage, die mir in den letzten Wochen unzählige Male gestellt wurde mit den immer gleichen erwartungsfrohen Augen. Ich möchte ihm antworten und kann es nicht. Die Worte haften am Gaumen, lassen sich nicht sprechen. Was denke ich über den Iran? Über dieses Land, das mich verwirrt und das keine schlichte Antwort zulässt? Es gibt so viel, was ich sagen könnte.

Ich könnte ihm sagen, dass mich der Iran wütend macht. Dass ich die letzten 37 Jahre nicht verstehe. Dass ich die Islamische Revolution nicht verstehen will. Mit all ihrem Zorn auf Körper und Freiheit. Ich verstehe nicht, warum die Revolutionsgardisten damals Frauen auf der Straße in Stücke schlugen, nur weil das Kopftuch eine Haarlocke preisgab. Ich verstehe nicht, warum die Sittenpolizei den Mädchen ihren Lippenstift mit einem Messer vom Mund kratzte. Ich könnte ihm sagen, dass ich das Regime verachte. Dass ich niemals akzeptieren werde, wie es seine Einwohner verletzt. Immer noch. Wie es in Gottes Namen straft und schlachtet. Wie es seine Kinder frisst und auskotzt.

Ich könnte ihm sagen, dass die Iranerinnen schön sind. Doch vielleicht weiß er das bereits. Persische Männer verehren ihre Frauen. Aber die staatlich verordnete Verschleierungspflicht bleibt. Die Manteaus werden jedoch enger, und das Kopftuch rutscht nach hinten. Einzig der Haarknoten im Nacken hält das Stück Stoff. Ein religiöses Possenspiel. Auch das Rouge auf den Wangen und die operierten Nasen sind unislamisch und trotzdem da. Wenn nur noch ein Schnipsel Haut zu sehen ist, so soll er leuchten.

Ich könnte sagen, dass dies die Anekdoten sind, die Reisende über den Iran erzählen. Jedes Mal. Vielleicht, weil das Erscheinungsbild der Frauen die erste Widersprüchlichkeit ist, die ihnen ins Auge springt. Auch mir. Dabei ist im Iran alles widersprüchlich.

Ich könnte ihm sagen, dass ich Menschen traf, die das Regime hassen. Und andere, die mir Bilder der Ayatollahs auf ihrem Smartphone zeigten und dabei jubelten. Ich könnte sagen, dass ich Angst hatte, in sein Land zu reisen, und wie lächerlich ich mich aufführte. Wie ich mich die ersten 102 Minuten im Gottesstaat fürchtete, auf der „Achse des Bösen“. In einem Taxi, so wie diesem. Wie ich auf meiner Unterlippe herumkaute und mich von meinen Klischees einwickeln ließ. In mir waberte das Gefühl einer Bedrohung, einer Angst, so milchig wie die Dunstwolken über Teheran.

Doch nichts bedrohte mich. Gar nichts. Keine Pistole an meinem Kopf, kein hässliches Wort, keine Gefahr. Ich saß nur in einem Taxi und ließ die Stadt vorbeirauschen. Nichts weiter.

Ich könnte sagen, dass ich dumm war. Trotz all der Geschichtsbücher, all der Zeitungsartikel und all der Dokumentationen, die ich zuvor über Persien verschlungen hatte, war ich stockdumm. Ständig ploppten grimmgraue Bilder wie Internetwerbung in mir auf. Immer wieder sah ich Mullahs mit Zottelbärten, die ihre Fäuste in die Luft reckten, Frauen in schwarzen Tüchern spuckten auf brennende US-Flaggen. Szenen, die ich aus unseren Nachrichten kannte oder aus Spielfilmen. Sie schlichen in meinen Kopf, sickerten hinein, verklebten meine Synapsen.

Ich könnte sagen, dass ich nichts begriffen hatte. Ich dachte, es gebe zwei Seiten: die Regimeanhänger und die Regimegegner. Die Betenden und die Feiernden. Eine fromme Frau werde niemals ihren Kussmund auf Instagram posten. Ein Student, der vom Westen träume, könne Khomeini nicht verehren. So dachte ich. Ich dachte falsch.

Ich wusste nicht, wie geschmeidig sich die Iraner durch ihr System bewegen und wie jede Situation eine neue Anpassung erfordert. Dass Freiheit ohne Lüge nicht möglich ist. Und dass die heruntergleitenden Kopftücher nur Schablonen sind, nur meine westliche Vorstellung von Selbstbestimmung. Ich war zu naiv, um die tiefe Zerrissenheit im Land zu erahnen. Nicht zerrissen in Schwarz oder Weiß. Das wäre ja kinderleicht. Nein, da sind nicht nur zwei – da sind Myriaden von Seiten. Und durch all die Risse kommt das Licht hinein.

Habe ich nach dreißig Tagen überhaupt irgendetwas verstanden? Obwohl ich am Leben der Menschen teilnahm? Obwohl ich sie nach ihrer Freiheit fragte? Nach ihren Lügen und ihren Innigkeiten? Was weiß ich schon.

Ich könnte ihm sagen, dass es für mich als Europäerin schwierig war, wenn ich begafft und bedrängt wurde. Dass ich mich oft verloren fühlte, doch selten verloren ging. Ich könnte ihm sagen, dass es für mich als Europäerin leicht war, denn die Iraner zeigten mir den Weg. Wie das Mütterchen, das mich durch die Stadt zu einer Sehenswürdigkeit führte und meinetwegen seinen Bus verpasste. Wie der Mann, der mich auf dem Motorrad mitnahm und zum Ziel fuhr. Oder die Frau, die mit zehn Taxifahrern den besten Preis für mich aushandelte. Die vielen Gesichter, die mich anlächelten und auf einen Chai einluden. Fremde Menschen, die ihre Herzen bedingungslos verschenkten.

Ich könnte sagen, dass ich mich in den Iran verliebt habe. In die Einwohner, in die Landschaft. In die Poesie, die nach schwerem Jasmin duftet. Und wie ich Wüstensand im Haar trug oder unter den Nägeln.

Ich könnte sagen, wie sehr ich die Farbe von Safran mag, wenn er als gelbe Haube den Reis bedeckt, und dass die Straßen nach Qualm und Orangenblüten rochen. Süße Marihuanawolken umhingen uns auf Partys. Und der Geschmack von Hundeschweiß klebte auf unseren Zungen. So nennen sie ihren Rosinenschnaps. Ich könnte ihm sagen, dass wir auf Dächern tanzten und Schweiß tranken. Über Verbote könnte ich sprechen. Verbote, die ich brach.

Ach, die vielen Brüche. Die Knackse. Die zerschlagenen Löwenköpfe. Smog und Schnee. Schönheit, die nur sichtbar wird durch das Gegenteil.

Ich könnte ihm von tiefbraunen Augen erzählen. Von Kourosh und seinen Lachfalten. Meiner Hand in seiner.

Ich könnte sagen, dass sich meine schwarz-weißen Vorstellungen in tausendundeine Graustufe aufgelöst haben. Und wie mich der Iran berührt. Wie er Seele und Kopf und alles anfasst. Ich könnte ihm antworten, dass mein Herz randvoll ist mit Persien.

Aber ich tue es nicht. Ich kann die Worte nicht greifen, in keiner Sprache. So lüge ich und sage doch die Wahrheit: „Iran khube.“ Der Iran ist gut.

Und der Taxifahrer lächelt.

 

Vier Wochen zuvor. Nachts in Teheran.

Ich habe Angst. Seit 102 Minuten.

Der Mann schaut auf den Zettel, liest die Adresse, wendet das Auto, diskutiert durch das heruntergekurbelte Fenster mit anderen Taxifahrern. Teheran wuchert. Wir müssen in den Norden, dorthin, wo die reichen Iraner wohnen. Das ist alles, was ich weiß. Er dreht sich zu mir um, deutet auf das Gekritzel, runzelt die Stirn und stellt scheinbar eine bedeutende Frage.

„Farsi balad nistam“, ich spreche kein Farsi, das ist der erste persische Satz, den ich im Iran aufsage. Ich habe ihn auswendig gelernt.

Wir rollen in einen Kreisverkehr, es blinken Lichterketten in Grün und Rot. Die „Achse des Bösen“ leuchtet mir entgegen.

 

Am 29. Januar 2002 sprach der damalige US-Präsident George W. Bush das erste Mal von der „Axis of Evil“ in seiner Rede zur Lage der Nation. Angelehnt ist der Terminus an die einstige Verbindung zwischen Deutschland, Italien und Japan im Zweiten Weltkrieg. In seiner Ansprache beschuldigte Bush den Iran, Irak und Nordkorea, Terrorismus zu fördern und Massenvernichtungswaffen zu entwickeln. Amerika sei bedroht. Es gab jedoch nie eine Achse, denn Iran, Irak und Nordkorea pflegten keine Allianz. Und obwohl mittlerweile Atomdeals geschlossen und Sanktionen aufgehoben werden, hat sich diese leidige Bezeichnung in den westlichen Köpfen festgezeckt. Auch in meinem.

Aus dem Taxi heraus erspähe ich nichts Böses. Im Radio läuft ein persischer Popsong, der Blick in die Nacht offenbart keine Abgründe. Nur Saipas und Peugeots auf einer sechsspurigen Autobahn.

Der Flug war ebenfalls unbedrohlich. Ein Mann rollte mitten im Gang seinen Gebetsteppich aus, ein Mädchen übergab sich nach dem Abendessen in die Spucktüte, jemand rauchte heimlich auf der Toilette, und die alte Dame neben mir schaute einen James-Bond-Film. Die restlichen Passagiere tranken sich durch das Alkoholsortiment.

Kurz vor dem Landeanflug folgende Durchsage: „Bitte stellen Sie Ihre Rückenlehne senkrecht, schließen Sie den Gurt, und legen Sie Ihre Kopftücher an.“ Welcome to Iran. Ab jetzt werde ich Schleier tragen. Ständig und überall. Außer in meiner Unterkunft. Doch sobald es klopft, müssen meine Haare verhüllt sein, und meine Arme bedeckt. Die weiblichen Kurven verwischt ein Mantel oder ein weites Hemd, das bis zum Oberschenkel reicht. Dazu eine Hose, die lang genug ist, um die Knöchel zu verbergen. Nackte Füße in Sandaletten sind von Staatsseite aus unerwünscht.

Bis auf die Kopftuchträgerinnen unterschied sich der Teheraner Airport nicht von anderen Flughäfen dieser Welt. Vor der Passkontrolle warteten eine Handvoll Ausländer, müde Familien und Iranerinnen mit großen Tüten von Victoria’s Secret. Für Irritation sorgten fünf Frauen in schwarzen Tschadors, die in Rollstühlen angesaust kamen. Sie alle heulten und warfen ihre Köpfe in die Hände. Die Menge teilte sich wie das Wasser vor Moses, und die fünf flitzten durch. Guter Trick.

 

Gastfreundlich und großherzig seien die Iraner, so berichten Wiederkömmlinge. Und – welch Überraschung – die Frauen hier seien sogar selbstbewusst und gebildet. Da staunt so mancher Westler. Verbindet er mit dem Iran doch eher Atomraketen. Persien jedoch, das zaubert eine Verklärung ins Gesicht. Da fliegen nicht Raketen, sondern Teppiche. In Persien berauschen die Gärten, die Mosaike, die Basare. Aber ist diese Darstellung nicht auch nur Klischee? Die netten Perser, die Herzlichkeit? Gibt es nichts zwischen Morgenland-Nostalgie und finsterer Mullah-Hegemonie? Sind Idealisierung und Dämonisierung nicht zwei Seiten derselben Medaille?

 

Eine Stunde sitze ich jetzt schon im Taxi. Vor zweieinhalb Minuten wechselte der Fahrer die CD, und nun dröhnt deutscher Achtzigerjahre-Pop aus den Boxen. Vermutlich meint es der Mann gut mit mir. Ich sage nichts, begaffe nur still die überdimensionalen Köpfe der beiden Ayatollahs, die an einer Häuserwand prangen. Zwei Greise mit weißen Bärten und schwarzen Turbanen. Khamenei lächelt, Khomeini schaut düster in die Welt. 1989 starb der Imam. Seitdem ist Ali Khamenei der Revolutionsführer und lenkt den Staat. Als Junge liebte er Romane, las ich neulich in einer Zeitung. Leo Tolstoi, Michail Scholochow, Honoré de Balzac. Victor Hugos Les Misérables bezeichnete er gar als Wunderwerk der Literatur. Üblicherweise äußert sich Khamenei nicht so wohlwollend über die westliche Kultur.

Der Taxifahrer dreht die Musik noch lauter und lächelt mich im Rückspiegel an. Mich rührt sein Bemühen, mir eine Freude zu machen. Wahrscheinlich hat er meine Anspannung bemerkt und möchte mich beruhigen. Und vielleicht hat er recht? Vielleicht droht mir ja gar keine Gefahr. Vielleicht wird die Reise sogar schön. Ein Mutanfall?

Monatelang fieberte ich dem Aufbruch entgegen. Ich las Wäschekörbe voll Bücher, kaufte Hemden, stand vor dem Spiegel und wickelte mir einen Schal um den Kopf. Ich lernte ein paar Brocken Farsi, ließ mir Koransuren erklären und hörte persische Musik. Mir ist bang, aber ich will hier sein. Tausendundeinmal ja. Ich will mich umschauen, möchte die Wunder bestaunen, von denen berichtet wird. Ich möchte Menschen treffen und mit ihnen über ihre Träume sprechen, über ihre Sehnsüchte. Ich möchte verstehen, inwiefern die Bevölkerung ihre Regierung unterstützt. Wenn überhaupt. Gibt es einen Konsens, oder muss zwischen Oben und Unten unterschieden werden? Zwischen Drinnen und Draußen? Was ist hinter dem Schleier?

Himmel, schon der letzte Satz klingt gräulich und ausgelutscht. Glaubt nicht jeder zu wissen, wie es „hinter dem Schleier“ aussieht? Weiß denn nicht jeder von Partys, Drogen und feiernden Jugendlichen in der Islamischen Republik? Reicht da nicht eine vermeintlich investigative Reportage des Galileo-Magazins über Regelverstöße im Mullah-Land? Alles schon gesehen? Alles schon gewusst?

Gewiss, das ist für manche Leute keine Neuigkeit. Aber ist sie deshalb weniger spannend? Weniger verwirrend? So darf man doch nicht vergessen, was ein Leben „hinter dem Schleier“ für Konsequenzen haben kann.

Der Iran ist ein Land, in dem die Scharia herrscht, ausgeformt durch das Strafgesetz der Islamischen Republik Iran. Ein Land, in dem Frauen nur halb so viel wert sind wie Männer. Für uns alltägliche Dinge können im Gottesstaat Peitschenhiebe bedeuten oder zumindest eine Geldbuße. Manchmal baumeln die Sündigen am Strick. Es ist verboten, Alkohol zu trinken, unverschleiert über die Straße zu laufen und zu lieben, wen man möchte. Nur verheirateten Paaren ist Lust erlaubt. Das iranische Strafgesetzbuch sah 2015 immer noch die Steinigung als Hinrichtungsmethode für Ehebruch vor. Und das im 21. Jahrhundert! Mindestens zwei Personen verurteilte ein Gericht dazu. Es existieren allerdings keine Berichte, ob die Urteile tatsächlich vollstreckt worden sind. Gelebte Homosexualität und Apostasie stehen ebenfalls unter Todesstrafe. Die Anklagen für Glaubensabfall bleiben bewusst vage formuliert, wie „Feindschaft zu Gott“ und „Hochverrat am Staat“. Das ist Totalitarismus. Das ist Diktatur. Viele Perser leiden unter der Staatsgewalt. Einige flüchten. Die Angst treibt sie. Tausendundeine Angst.

Auch das meint jeder zu wissen. Aber sind diese Ereignisse folglich weniger skandalös? Sollten sie deshalb nicht mehr angeprangert werden? Insbesondere, da der Iran sich derzeit öffnet?

Die Nacht vor der Abreise durchwachte ich und grübelte, weil die Sorgen wie ein Gewitter durch mein Hirn tobten. Ist es überhaupt richtig, in solch restriktive Regime zu reisen? Kann ich damit leben, mich verschleiern zu müssen? Und das Patriarchat am Leib zu tragen? Sind Ferien auf der „Achse des Bösen“ moralisch vertretbar? Oder gerade deswegen? Vielleicht ist es meine Pflicht, die Welt zu begreifen? Es zumindest zu versuchen? Um eben nicht in das bornierte Geplapper über Muslime oder den Mittleren Osten mit einzustimmen und flachköpfige Kommentare auf Facebook abzulaichen.

Doch was sind schon vier Wochen, um ein Land zu verstehen? Selbst nach zwölf Monaten könnte ich mir nicht anmaßen, irgendetwas durchschaut zu haben. Ich bin keine Iranerin, und ich lebe nicht im Iran. Ich schreibe nur nieder, was ich erfahre, was ich sehe und was ich fühle. Mehr kann ich nicht wissen.

 

Nach eineinhalb Stunden erreichen wir endlich meine Unterkunft. Ein Hochhaus in einer Seitenstraße. Der Taxifahrer atmet durch, er trägt meinen Rucksack vor das Messingtor und schaut zu, wie ich die vielen Geldscheine sortiere und von Rial in Toman umrechne. Toman ist keine offizielle Währung, nur eine Bezeichnung, denn die Iraner streichen prinzipiell eine Null weg, um den Überblick über die riesigen Summen zu behalten. Aus 700 000 Rial werden folglich 70 000 Toman. Der eigentliche Rial-Betrag wird fast nie genannt. Ich bin verwirrt. In der Dunkelheit kann ich zudem die fremden Banknoten nicht voneinander unterscheiden.

Ich überlege, zähle, überlege, zähle, beginne von vorn. Bis der ganze Vorgang in meinem Oberstübchen um vier Uhr morgens endlich abgeschlossen ist, hat der Taxifahrer bereits ein Bündel aus meiner Hand genommen. Er wartet noch, bis mir der Concierge das Tor öffnet, und kurvt dann in die sterbende Nacht zurück. Beschallt von Dieter Bohlen und Thomas Anders. Ihre Musik war bisher das Schlimmste, was mir auf der „Achse des Bösen“ widerfahren ist.

 

Neun Uhr. Es fehlen Vorhänge, und die Morgensonne durchflutet das Appartement. Iran. Ich bin tatsächlich im Iran.

In Deutschland verlief die Suche nach einem günstigen Hotel erfolglos. Entweder waren die Internetseiten auf Persisch, oder sie verschwanden nach einer Woche wieder aus dem Netz. Und wenn sich endlich eine englischsprachige Homepage auftat, antwortete niemand auf meine Mailanfrage. Geld für ein teures Businesshotel habe ich nicht. Obendrein schleppe ich meine gesamte Reisekasse in kleinen Scheinen mit und kann nicht abschätzen, ob das Ersparte reicht. 1500 Euro sind in verschiedenen Fächern des Rucksacks versteckt. Das ist alles, was ich besitze. Geldautomaten gibt es für mich nicht.

Obwohl der Westen die Sanktionen, die er einst aufgrund der iranischen Atompolitik verhängte, aufgehoben hat, zögern die Geldhäuser immer noch. Der internationale Datenverkehr zwischen dem SWIFT-Bankensystem und der Islamischen Republik ist seit 2012 blockiert. Kein Zahlungsaustausch möglich. Irans Außenhandel brach daraufhin ein. Da SWIFT unerlässlich ist, damit sich Geldinstitute weltumfassend vernetzen, kann ohne das System keine Verbindung zu den Kreditanstalten im Gottesstaat hergestellt werden. Die Großbanken misstrauen dabei allerdings (auch) den USA. Das amerikanische Außenministerium droht mit Strafen, sollten sie mit der Islamischen Republik Geschäfte machen. Und immer noch fehlt internationalen Geldinstituten das Vertrauen in die politische Führung des Iran. Die Hardliner im Land stemmen sich gegen die wirtschaftliche Öffnung und stiften Unfrieden. Und angesichts der beharrlich geschürten Feindschaft zu den USA und Israel ist Vertrauen sowieso kaum zu erwarten.

 

Das Appartement ist modern, unbewohnt und thront hoch oben im zwölften Stockwerk. Ausgestattet mit Möbeln aus Eichenholz und karamellfarbenen Ledersofas, wartet es auf Mieter. Solange es keine gibt, wohnen gelegentlich Gäste hier. So wie ich jetzt. Die Böden sind aus Marmor, die Tische aus Glas, in der offenen Küche ist der Kühlschrank prall gefüllt mit Käse, Schokolade, Obst und der persischen Cola Zamzam. Dass ungesunde Softgetränke hier den gleichen Namen tragen wie der göttliche Brunnen in Mekka, ist komisch. Dem Wasser der Zamzam-Quelle werden heilende Kräfte nachgesagt. Frisch aus dem Paradies. Wenn das kein Grund ist, ab sofort Limonade zu trinken.

Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel: „Welcome to Iran“. Ich öffne das Fenster und schaue auf den Milad Tower, den höchsten Turm des Landes und den sechsthöchsten Fernsehturm der Welt. Es riecht nach Sonne und Abgasen. Mein Blick schweift über Straßen, Autos und Motorroller. Lärm, Brausen. Reklameschilder blinken, Fenster spiegeln sich im Licht. Ein Lastwagen knattert irgendwo, jemand hupt. In der Ferne schwenken Baukräne ihre Hälse hin und her wie Giraffen. Eine Moschee ist eingeklemmt zwischen Hochhäusern. Dahinter türmt sich das schneebedeckte Elburs-Gebirge auf, das die Stadt wie eine Steilküste begrenzt. Aus den Wolken schält sich der „frostige Berg“, der Damavand. Ein ruhender Vulkan mit 5671 Metern. Höher geht’s nicht im Iran.

Wie viele Menschen leben in Teheran? Dreizehn, vierzehn, sechzehn Millionen? Eine Megalopolis, ein Moloch, der täglich wächst. „Teheran“ – das Wort klingt immer noch so fern.

 

Nachdem ich die Hotelsuche kurz vor der Abreise aufgegeben hatte, schlug das Glück zu. Eine ehemalige Klassenkameradin bot mir ihre Hilfe an und stellte einen Kontakt nach Teheran her. Wie dankbar ich ihr bin, denn irgendwann kam Omid ins Spiel. Ich kenne Omid nicht. Ebenso wenig seine Frau Yasemin und auch nicht die beiden Kinder Yara und Bijan. Und sie kennen mich nicht. Ich bin für sie die Katze im Sack. Und sie sind es für mich. Dennoch stand für die „Omids“ unverrückbar fest: Das Mädchen reist durch den Iran? Allein? Wir kümmern uns! Das Appartement gehört der Verwandtschaft, und ich darf so lange bleiben, wie es mir gefällt. Kostenlos und einfach so. Die berühmte persische Gastfreundschaft. Es gibt sie! Ich bin schon jetzt über alle Maßen beschenkt. Und aufgeregt. In einer halben Stunde besucht mich Omid mit seinen Kindern.

Ich räume meine Hemden in den Rucksack, stelle die Schuhe in den Flur, tusche die Wimpern und überlege, ob ich ein Kopftuch überziehen soll. Konservativ erscheint hier nichts, aber ich habe die Spielregeln in diesem Land noch nicht verstanden. Was ist erlaubt?

Stehen fremde Herren vor der Tür, wie der Pizzabote oder ein Nachbar, müsste ich mein Haar bedecken. Und bei Omid?

Es klingelt. Das Tuch hängt über dem Küchenstuhl. Ist es unhöflich, es nicht zu tragen? Oder albern, es anzulegen? Wie kann eine so simple Frage derlei Ratlosigkeit auslösen?

Ich erinnere mich an einen Artikel, den ich vor Wochen gelesen hatte. Über iranische Türen. Damit die Damen des Hauses unterscheiden konnten, ob ein Mann oder eine Frau um Einlass bat, verfügten die alten Exemplare über zwei verschiedene Klopfer. Einen Eisenstab für Männlein und einen Ring für Weiblein. Der Stab knallte dumpf auf das Holz. Ein Tiefton. Der Ring klang wie ein Sopran. So wussten die Bewohnerinnen flugs, ob der Gast männlich war und ob sie sich verhüllen mussten. Keine Ratlosigkeit, kein Zögern. Geklopft, gewusst.

Es klingelt ein zweites Mal. Ich greife mir das Tuch vom Stuhl und wickele es um meinen Kopf. Lieber albern als unhöflich. Ich öffne. Omid, Yara und Bijan stehen aufgereiht im Flur und strahlen mich an. „Hello, nice to meet you!“ Omid kommt auf mich zu und küsst mich auf die Wange.

Ginge es nach den Mullahs, dürften sich Männer und Frauen gar nicht berühren. In der Öffentlichkeit halten sich alle brav an die Regel, falls irgendwo verstockte Moralapostel lauern. Privat küsst jeder jeden. Jetzt der Haken: Im Iran küsst man sich dreimal auf die Wange, nicht zweimal. Das erfahre ich allerdings erst, als ich das Gesicht bereits zurückgezogen habe und Omid verloren in die Luft bützt. Wie peinlich. Da mag man noch so viele Bücher über Persien lesen, über Schia, Schah und Sassaniden – diese essenzielle Information, die solche Fettnäpfchen hätte verhindern können, bleibt in der Literatur unerwähnt.

Ich bitte die drei herein, niemand zieht die Schuhe aus. Omid hat neugierige Kinderaugen und grinst im Kreis. „Bist du gut angekommen? Wie teuer war das Taxi? Weshalb reist du allein? Was machst du heute?“, legt er los. Ich antworte, so gut ich kann, und Omid nickt dazu.

Bijan deckt einen Teller und Besteck auf, Yara schmeißt den Teeboiler an und sucht nach einer Pfanne.

„Darf ich den Schal ablegen?“, frage ich.

„Aber natürlich!“, lacht der Familienvater.

Erleichtert ziehe ich mir das Tuch vom Kopf, und auch Yara hat sich mittlerweile entschleiert. Lange pechschwarze Locken fallen ihr über den Rücken. Die Sechzehnjährige ist eine Schönheit, und offensichtlich brät sie mir gerade Spiegeleier. Nur mir. Der Fremden. Für niemanden sonst ist aufgedeckt. Mir ist das unangenehm. Unverdiente Wärme auszuhalten bereitet mir Schwierigkeiten.

Der Tisch ist überladen mit Fladenbrot, Eiern, Käse, Tee, Zamzam, Joghurt und Keksen. Während ich kaue, schauen mich drei braune Augenpaare an, dann prasseln die nächsten Fragen auf mich ein: „Was möchtest du sehen? Wo willst du hin? Was zuerst? Was danach?“

Ich weiß es nicht. Treiben lassen. Das reicht. Yasemin ruft an und lädt mich heute, morgen (und immer) zum Essen ein, Yara will mir unbedingt Teheran zeigen und ihre Musiksammlung vorspielen, Omid erzählt von Museen und einer Gondelbahn, die auf den Hausberg Tochal hinaufschwebt. Nur der elfjährige Bijan versteht von all dem nichts. In der Schule lernt er erst seit ein paar Wochen Englisch.

„Du kannst auch schwimmen gehen, da ist ein Pool im Keller“, sagt Yara, „hast du einen Bikini dabei?“

Ein Bikini stand tatsächlich nicht auf meiner Packliste für den Iran.

„Du kannst meinen haben!“, schlägt sie vor. Ich betrachte das zierliche Mädchen, das zwei Köpfe kleiner und knapp zwanzig Jahre jünger ist als ich.

„Lass uns lieber in die Stadt fahren“, sage ich und lächle.

 

Wir brechen auf. Rasch die Kopftücher übergestreift, und schon stürzen wir uns ins orientalische Straßenchaos. Ich verstehe die Verkehrsregeln nicht. Rot wird weithin ignoriert, Zebrastreifen sowieso, Fußgänger werden angefahren und angehupt, zweispurige Straßen wachsen zu vierspurigen. Und dabei sei Teheran zurzeit menschenleer, meint Omid, während er einem SUV die Vorfahrt nimmt.

Es ist Nouruz, das iranische Neujahrsfest. Wir schreiben das Jahr 1395. Die meisten Geschäfte haben geschlossen, und die Hauptstädter nutzen die Gelegenheit, um aufs Land zu fahren. Hoffentlich lassen sie dort das Auto stehen. 2013 starben laut Weltgesundheitsorganisation im Iran rund 25 000 Menschen im Straßenverkehr. Zum Vergleich: Deutschland zählte bei ähnlicher Einwohnerzahl 3500 Unfalltote.

An einem Kreisel steigen Yara und ich aus. Omid und Bijan winken, fädeln sich zwischen Saipas und Peugeots ein und lassen sich von der Autoschlange schlucken.

Vor uns erhebt sich das Azadi-Monument, das Wahrzeichen des modernen Teheran. Der Turm, der wie ein zweibeiniger Atommeiler aussieht, wurde 1969 anlässlich des 2500-jährigen Jubiläums der persischen Monarchie errichtet. Damals trug er den Namen Shahyad-Turm – „Denkmal der Schahs“. Nach der Revolution wurde er in Burj-e Azadi umbenannt. Azadi bedeutet „Freiheit“. Wo die sich im Gottesstaat versteckt, gilt es noch herauszufinden.

„Salam.“ Ein Jüngling mit Dreitagebart begrüßt uns und gibt Yara die Hand. Ein Klassenkamerad? Ein Nachbar? Kian heißt er, und er lächelt verlegen. Wir gehen zu dritt zum Eingang des Turms. Yara kichert, Kian kichert, und jetzt verstehe ich: Die beiden sind verliebt. Und Yara flüstert mir zu, dass Kian seit fünf Monaten ihr fester Freund sei. Ich staune.

Ist das erlaubt? „Nein“, sagt sie, „es ist geheim. Wenn uns die Sittenpolizei erwischt, gibt’s Ärger.“

„Wissen deine Eltern davon?“

Yara grinst und nickt. Ich bin beruhigt. Eine ganz normale Familie mit einer ganz normalen Teenagerin und einer ganz normalen Jugendliebe. Nur der Staat, der ist nicht normal.

Wir betreten den Kassenbereich, und bevor ich meinen Geldbeutel zücken kann, hat Yara schon die Tickets bezahlt. So wird das den gesamten Nachmittag gehen, und jeglichen Protest meinerseits wiegelt sie ab. Lehrstunden in Gastlichkeit. Ich versuche, es auszuhalten.

Wir schlendern durch das Azadi-Museum und betrachten Keramiken, Bronzebecher und Stillleben, die im Funzellicht vor sich hin schlummern. Viel fesselnder als die verstaubten Exponate sind aber die beiden Liebenden. Kein Anschmiegen, keine Hände, die sich zufällig streifen, keine Komplimente. Doch ihre Augen verraten alles. Das Kichern, die roten Backen. Ganz rein, ganz unschuldig. Im Freiheitsturm entdecke ich die erste bescheidene Freiheit. Zwei himmelhübsche Jugendliche, die nicht verliebt sein dürfen und es dennoch sind. Das hatten die Revolutionäre bei der Umbenennung des Monuments gewiss nicht im Sinn. Wie schön!

Wieder draußen, laufen wir zum Teheraner Schauspielhaus. Yara interessiert sich für Architektur, Kian interessiert sich für Yara, und ich interessiere mich für iranisches Theater. Die einzige professionelle Bühne des Landes wurde in den 1960er-Jahren errichtet und ist ein Rundbau aus Säulen. Vor dem Festspielhaus hat sich eine Menschenmenge versammelt. Ein Mann brüllt ins Megafon. „Irgendwas mit der Regierung“, meint Yara und schenkt dem Schreihals keine Beachtung. Ich bin nicht so lässig und frage nach. „Die fordern irgendein Zeug. Keine Ahnung. Solchen Versammlungen muss man immer aus dem Weg gehen“, sagt sie, und Kian öffnet die Eingangstür. Ein Wachmann döst hinter der Theaterkasse. Yara spricht ihn an, lächelt, fragt, lächelt. Er gähnt, er nickt. „Wir dürfen“, freut sie sich, „normalerweise ist das Schauspielhaus jetzt geschlossen, doch wir können ein paar Minuten rein. Aber nur ins Foyer.“ Der Aufpasser bleibt auf seinem Stuhl kleben und weist mit dem Finger in die Wandelhalle. Kronleuchter hängen herab, und durch die deckenhohen Fenster sprudelt Tageslicht. Wir gehen eine Runde, und ich feiere hier Premiere, leiste das erste Mal im Iran Ungehorsam. Denn ich muss die Bühne sehen – ich kann nicht anders –, und so öffne ich die Flügeltür zum Innenraum. „Nein, das ist verboten“, entgegnet Yara, doch da bin ich schon drin.

Der Saal erinnert an mondäne Zeiten, der Zuschauerraum ist umrahmt von roten Logensitzen, der Bühnenvorhang ist aus Samt. Theaterluft. Stille.

Das allererste Stück wurde 1973 aufgeführt. Der Kirschgarten von Anton Tschechow. Im Publikum saß Schah Mohammad Reza Pahlavi mit seiner Kaiserin Farah Diba – und nun schwirren Glitzerbilder durch meinen Kopf, ich fantasiere ausverkaufte Ränge, Champagnergläser, Abendkleider, ein lampenfiebriges Ensemble herbei. Damals noch ohne Schleier. Jetzt müssen die Schauspielerinnen verhüllt sein und dürfen die männlichen Kollegen nicht berühren. Eine staatliche Behörde prüft jedes Theaterstück vor der Premiere und streicht Passagen, die nicht islamkonform sind. Ich stelle mir eine Julia mit Kopftuch vor und eine Antigone im Tschador. Schränkt die Unfreiheit die Inszenierungen ein, oder fördert sie die Kreativität?

Kunst und Kultur haben einen hohen Stellenwert im Iran. Es gibt immer wieder Austauschprojekte mit anderen Häusern. Und so spielte Anfang 2016 die Berliner Schaubühne den Hamlet in Teheran. Zensiert. Uminszeniert. Keine Küsse, keine Nackten. Doch viele Zuschauer kannten das Stück des Regisseurs Thomas Ostermeier von YouTube. Die gestrichenen Szenen liefen in ihren Köpfen als Lichtspiel mit und entgingen jeder Zensur. Es gab stehende Ovationen.

Yara ist nervös. Ich schließe die Tür und zwinkere dem Mädchen zu. Niemand hat uns gesehen.

 

Wir verlassen das Theater und machen Rast in einem angesagten Café. Backsteinwände, Bücherregale und Hipster mit Jutebeuteln. Hier tragen die Jungs die Holzfällerbärte aus modischen Gründen, nicht aus religiösen. In den Vitrinen werden keine Bronzebecher angestrahlt, sondern Cupcakes, und an den Tischen schlürfen Studentinnen ihren Latte macchiato mit Schokoherzen auf dem Schaum. Ein typisch europäisches Café, möchte man meinen. Die Perserinnen könnten auch Berlinerinnen oder Pariserinnen sein. Ihre Kleidung erinnert an westliche Großstadtmode, und das Kopftuch, das salopp übergeworfen wirkt, stört plötzlich nicht. Es fügt sich ein, schmiegt sich an. Mittlerweile ist es kein rebellischer Akt mehr, wenn junge Menschen die Grenzen der staatlichen Bekleidungsvorschriften ausloten. Es ist ebenso wenig politisch oder regimekritisch zu verstehen. Manchmal gewiss, aber oft ist es eher ein Spiel des Zeigens und Verbergens. Nicht aufreizend, doch die Ränder der Erotik streifend. Jeder Millimeter entblößte Frauenhaut bedeutet ein Stückchen mehr Selbstbestimmung. Was immer das bedeuten mag. Und umso weiter der Schleier nach hinten rutscht, umso toleranter scheint die derzeitige Regierung.

Ich lerne, dass Haarteile und Klammern, die den Hinterkopf voluminöser aussehen lassen, „totally bitchy“ sind. Absolut tussig. So erklärt es mir Yara unmissverständlich. Viele Läden bieten solche Hilfsmittel zum Kauf, damit die Trägerin eine ausufernde Rapunzel-Haarpracht unter dem Tuch vorgaukeln kann. Das Gebilde gleicht dann der Kuppel einer Moschee. Die coolen Hejabistas üben sich dagegen im Understatement, sie brauchen keinen Schopf-Push-up. Sie tragen die Haare gelöst oder als Zopf, der aus dem Schal herausfließt. Eine Lehrstunde in iranischer Nonchalance.

Übrigens unterliegen auch die Männer gewissen Regeln. Kurze Hosen sind unstatthaft. Und Krawatten zu westlich. Shorts sieht man tatsächlich nicht, Schlipse an jeder Ecke.

 

Wir trinken heißen Kakao und essen Honigkekse. „Das ist unser Lieblingscafé“, sagt Yara, und Kian nickt. Er spricht kein Englisch und ist auf Yaras Übersetzungen angewiesen. Noch dazu ist er schüchtern. Doch vernarrt ist er. Sein Blick löst sich nicht von ihrem Gesicht, und immer umspielt ein Lächeln seine Lippen, wenn Yara erzählt. Damit die Sittenpolizei die Verliebten nicht aufgreift, müssen sie allerhand Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Sogar ein Kinobesuch ist riskant. Deshalb treffen sie sich mit Freunden, verrät das Mädchen. In der Gruppe fallen sie nicht auf. Und sofern jemand fragt, ist Kian ihr Cousin.

„Und was passiert, wenn ihr doch erwischt werdet?“, frage ich.

„Dann ruft die Polizei unsere Eltern an. Aber bisher ging alles gut.“

Wie praktisch, dass ich heute die Gouvernante spiele und uns deshalb niemand verdächtigt. Clever, die Kleine.

Während die Turteltäubchen Fotos von sich und den Honigkeksen schießen, beobachte ich die Studentinnen, die sich wie Pariserinnen kleiden, und frage Yara, ob sie den Schleier gern trägt.

„Spinnst du?!“, entgegnet sie. „Ich hasse ihn. Alle meine Freundinnen hassen ihn.“

„Wenn du mit der Schule fertig bist, willst du dann das Land verlassen?“

Die Antwort folgt prompt: „Nein, niemals. Ich liebe den Iran, und ich liebe Teheran über alles. Das ist meine Heimat. Hier gehöre ich hin.“

Sie lächelt und nippt an ihrem Kakao. Ich glaube ihr jedes Wort.

 

Es dämmert. Wir bummeln durch das Viertel, und ich sauge Teheran in mich ein. Braungrauer Beton, Smog, Wohnblöcke und Asphalt. Kein Stil, keine Struktur. Faszinierend hässlich, aber abgesehen von der Luft, sauberer als so manche Großstadt in Europa. Kein Müll auf den Straßen, keine Hundehaufen auf den Gehsteigen. Der Rotz im Taschentuch ist trotzdem schwarz.

Wir stehen vor einer Buchhandlung mit bunten Schaufenstern. Im Iran sind die Straßen häufig wie Basare angeordnet. Jede Gasse ein Thema. Hier die Sportgeschäfte, dort die Juweliere, da hinten Schuhe. In dieser Straße verkaufen die Händler Bücher und Musik. In Shops oder auf dem Trottoir. Wir betreten den kleinen Laden, der bis zur Decke vollgepackt ist mit Schallplatten und CDs von Pink Floyd. Das ergibt durchaus Sinn, denn die berühmten Liedzeilen „We don’t need no education. We don’t need no thought control“ beflügeln freiheitliche Ideen, verheißen Unabhängigkeit und sind in zahllose Herzen eingebrannt. Ich interpretiere den Satz in zwei Richtungen: Zum einen ist er eine klare Botschaft an das Regime, und zum anderen rät er ausländischen „Besatzungsmächten“, den Iran in Ruhe zu lassen.

Ein Regal weiter entdecke ich die Gesamtausgabe von Franz Kafka. Er gehört hier deshalb zu den meistgelesenen westlichen Schriftstellern, weil er in seinen Erzählungen von Willkür und Behördenapparaten schreibt. Das kennt man im Gottesstaat. Und manchmal nimmt der Bürokratiemumpitz sogar durchaus komische Züge an. Möchte beispielsweise jemand einen Reisepass beantragen, so wird er von Gebäude zu Gebäude, von Raum zu Raum, von Schalter zu Schalter, von Beamtem zu Beamtem geschickt. Wie Asterix, als er versucht, den „Passierschein A38“ zu ergattern. Ein Land, das Verrückte macht.

Neben Kafka stapeln sich Kunstbände, in denen Gemälde der Renaissance abgebildet sind. Ich blättere in einem Wälzer und bin bestürzt. Urplötzlich. Zwischen Kafka und Pink Floyd schlagen die Mullahs zu, und ich erinnere mich wieder, dass ich nicht in Berlin oder Paris bin. Und auch nicht in einem Asterix-Comic. Die Meisterwerke in dem Buch sind zensiert. Der Raub der Europa ist verschandelt, die halb nackte Königstochter trägt ein Kleid aus dicken schwarzen Balken, ihr Körper ist übermalt und verstümmelt. Die Hintern der Putten sind ebenfalls geschwärzt. Entblößte Leiber verstoßen gegen islamische Gesetze, sogar auf Gemälden. Nur der Stier ist nicht überpinselt. Er schien den Zensoren sittlich genug und zeigt seine Muskeln.

 

Abends im Bett grüble ich. Warum fürchtet sich Religion vor Körperlichkeit? Warum wird ein gesamtes Volk wie ein unmündiges Kind behandelt? Was machen solche Verbote mit der Liebe? Wie lernen die jungen Iraner sexuelle Unbeschwertheit, wenn Lust und Nacktheit verteufelt werden? Erst Stunden später schlafe ich ein und träume von schwarzen Balken.

Ali kennen

Lerne unbedingt zwei Fußballspielernamen: Ali Daei und Mehdi Mahdavikia. Wenn du die nennst, gewinnst du auch ohne weitere Persischkenntnisse problemlos neue Freunde.
 

Nein sagen

Es ist sehr wichtig, die Taarof-Höflichkeitsprotokolle zu verstehen. In vielen Fällen gilt die Regel: Erst wenn jemand mehr als dreimal etwas anbietet, sollte man es auch tatsächlich annehmen. Selbst Taxifahrer und Teppichhändler bieten ihre Dienste manchmal gratis an – doch wer so ein Geschenk ohne Zögern annimmt, begeht einen groben Fauxpas.
 

Zebras misstrauen

Glauben Sie in einer beliebigen iranischen Großstadt niemals, dass Zebrastreifen Autofahrer zum Bremsen animieren. Iraner sind halsbrecherische Autofahrer, und Zebrastreifen sind Fallen.
 

Couchsurfing nutzen

Mehr als 13.000 Mitglieder verzeichnet die Internetseite couchsurfing.org bereits im Iran. Die Menschen sind unglaublich gastfreundlich und sehr interessiert an Berichten aus dem Alltag in Europa. Allerdings schläft man fast nie auf einer Couch – meistens dient ein Perserteppich als Schlafunterlage.
 

Viber klarmachen

Lade dir die Kommunikations-App „Viber“ herunter. Fast jeder junge Iraner nutzt den Dienst, WhatsApp dagegen ist blockiert.
 

Tee trinken

Es ist kaum möglich, 15 Minuten auf einem beliebigen Basar zu verbringen, ohne mindestens einmal zum Tee eingeladen zu werden. Am besten trinken wie die Einheimischen: Das Stück Zucker kommt in den Mund, dann wird das Heißgetränk daran vorbeigespült.
 

Cash bunkern

Bislang gibt es im Iran keine Geldautomaten, die europäische Karten akzeptieren. Man muss alles benötigte Geld in bar mitnehmen und vor Ort in Wechselstuben eintauschen.
 

Heiraten

Wenn ein Mann mit einer Frau reist, darf er mit ihr kein Hotelzimmer teilen, wenn sie nicht verheiratet sind. Von Ausländern wird aber zumindest in den Touristenorten wie Isfahan, Shiraz oder Yazd meist kein Beweisdokument verlangt. Es bringt also gewöhnlich keinen Ärger, wenn man sich als Ehepaar ausgibt.
 

Reisetipps Einheimischer ignorieren

Fast jeder Iraner schwärmt von der Insel Kish und von den grünen Wäldern im Norden Irans. Doch für viele europäische Gäste ist beides eher eine Enttäuschung: die Insel wegen der vielen Hotelhochhäuser und Shoppingcenter (wie Dubai vor 20 Jahren). Und die Wälder, weil sie auch nicht spektakulärer sind als der Teutoburger Wald. Lieber stattdessen in die Wüste fahren!
 

Khayyam lesen

Gotteslästerung und Saufpoesie: Die Verse, die der persische Universalgelehrte Omar Khayyam im 11. und 12. Jahrhundert schrieb, haben bis heute nichts von ihrer subversiven Frechheit eingebüßt. Unbedingt vor der Abreise lesen! Zum Beispiel dieses Gedicht:

Dass einst ich trinken würde zu meiner Zeit,
Hat Gott gewusst seit aller Ewigkeit.
Drum reich mir nur den Trunk, denn tränk ich nicht,
Wo bliebe da seine Allwissenheit?



Im März 2015
Stephan Orth

Blick ins Buch
Couchsurfing im IranCouchsurfing im Iran

Meine Reise hinter verschlossene Türen

So haben Sie den Iran noch nie gesehen: „Couchsurfing im Iran“ ist der faszinierende Erfahrungsbericht eines Reisenden, der hinter die Kulissen blickt.  

 Der Journalist Stephan Orth reist durch ein Land, in dem Couchsurfing eigentlich verboten ist. Doch auf diese Weise lernt er den Iran und seine Bewohner hautnah kennen.   

Der Iran ist für Fremde nicht unbedingt ein zugängliches Land. Freizügigkeit ist dort undenkbar, Alkohol verboten. Doch Stephan Orth schafft als Couchsurfer den Sprung auf die Sofas und Perserteppiche unzähliger Haushalte. Dabei lernt er ein nach außen geheimnisvolles und strenges Land kennen, das innen vor Lebensfreude und Gastfreundschaft sprudelt.   

Jung, bunt, rebellisch – das authentische Porträt eines jungen Landes  

„Stephan Orth macht da Urlaub, wo andere eine Diktatur führen“, schreibt Leyla Arfai von der Buchhandlung Basel in ihrer Lektüreempfehlung. Das macht „Couchsurfing im Iran“ zu einer faszinierenden Reisereportage, die den Leser an ungewöhnliche Orte mitnimmt.  

„Ein wunderbares Buch“ Süddeutsche Zeitung 

Orth taucht tief in den Iran ein, erlebt dabei irrwitzige Abenteuer – und ein Land, das so gar nicht zum Bild des Schurkenstaates passt.   

Abseits des Mainstreams: ein Journalist mit einem Faible für „Länder mit einem schlechten Ruf“  

Der Journalist und SPIEGEL-Bestsellerautor Stephan Orth bereist am liebsten Gegenden, in die sich andere Touristen nicht so schnell verlaufen: Länder abseits des Mainstreams oder gefährliche Zonen.. In der gleichen Reihe sind „Couchsurfing in Saudi-Arabien“, „Couchsurfing in Russland“ und „Couchsurfing in China“ erschienen.   

An der Grenze

Wenn du Schiss hast, so richtig Schiss, wenn du denkst, jetzt geht’s dir an den Kragen, dann nimmst du plötzlich alles in doppelter Schärfe wahr. Das Gehirn schaltet in den Alarmmodus, in dem nur das Hier und Jetzt zählt. Für Dinge, die nichts damit zu tun haben, ist kein Platz mehr. Bei mir zeigt sich das daran, dass mir auf die Frage des Polizisten meine Postleitzahl nicht mehr einfällt.

Ich sitze in einem Verhörzimmer der iranischen Polizei. Die Einrichtung besteht aus einem großen Schreibtisch mit Samsung-Computer, einem flachen Glastisch in der Mitte und sieben Sesseln, deren braune Lederbezüge noch in Plastikfolie eingehüllt sind. Eine schmale Tür führt zum Eingangsbereich, eine andere zu einem Gang mit weiteren Bürotüren. Die hellgrüne Wand ist mit dem Landesemblem verziert, vier Mondsicheln und ein Schwert, daneben hängt golden gerahmt das obligatorische Diktatoren-Doppelporträt. Khomeini blickt finster drein wie immer, Chamenei dagegen grinst breit, noch nie habe ich ihn so lächeln sehen. Vielleicht ist er an Orten wie diesem besonders in seinem Element.

„Vor zwei Jahren wurden hier zwei Spione verhaftet“, sagt Yasmin, meine Begleiterin. „Die sind immer noch im Gefängnis in Teheran.“

„Was haben sie denn gemacht?“

„Weiß ich nicht.“ Aber im Iran ist es ein Kinderspiel, in Spionageverdacht zu geraten. Ein paar Erinnerungsfotos von Flughäfen oder Regierungsgebäuden reichen da schon.

Oder der Umstand, dass man sich in der Nähe der Grenze zum Irak aufhält. Wir befinden uns in Nowsud im iranischen Kurdistan; nur zehn Kilometer sind es von hier bis ins Nachbarland.

„Wir haben den Hinweis bekommen, dass sich Ausländer hier aufhalten“, sagt einer der beiden Beamten. Er trägt eine kurdische Pumphose und ein khakifarbenes Hemd. „Eigentlich haben wir heute frei“, fügt er hinzu, um die fehlende Polizeiuniform zu erklären. Bulliges Gesicht, muskulöse Oberarme. Er scheint viel Zeit an Kraftgeräten im Fitnessstudio zu verbringen. Sein Kollege in Rosa dagegen wirkt sanfter, wohlwollender, er hat einen Bauchansatz unter dem breiten Gürteltuch und erweckt den Eindruck, als sei ihm die ganze Sache selbst unangenehm. „Bad cop“ und „good cop“, die Rollen sind eindeutig verteilt.

Meine Postleitzahl?

Ich nenne vor lauter Angst eine falsche.

Der „good cop“ fragt, ob wir Tee möchten, im Iran gibt es immer Tee. Kurz darauf bringt ein junger Mann in Militäruniform ein Tablett herein. Beim Trinken merke ich, dass meine Hand zittert, dabei wäre es jetzt wirklich besser, keine Nervosität zu zeigen.

„Guck lieber noch mal, ob du nicht doch deinen Pass findest“, sagt Yasmin. Vorher hatte ich nur eine Kopie gezeigt und behauptet, der Ausweis sei im Hotel. In Wirklichkeit habe ich seit Wochen keine Nacht in einem Hotel verbracht.

Ich wühle angemessen lange in diversen Rucksackfächern und fördere mit gespielter Überraschung das verlangte Dokument zutage. Ein Mitarbeiter im Anzug kommt durch die hintere Tür herein und nimmt den Pass mit in den Nebenraum.

„Er macht Kopien und ruft die Einreisebehörde an, ob alles in Ordnung ist“, erklärt Yasmin.

Weiter mit dem Verhör. Handynummer? Familienstand? Name des Vaters?

Der Khakimann hält meine Daten auf einem DIN-A4-Blatt mit Durchschlag fest, Typ Pelikan Handicopy 303H. Yasmin übersetzt die Fragen und Antworten.

Beruf?

„Er ist Student“, lügt sie, ohne mich zu konsultieren. Beim Visumsantrag hatte ich noch „Website Editor“ angegeben, das ist näher an der Wahrheit.

Wie alt?

„34.“

„Was studierst du?“, übersetzt sie eine Nachfrage.

„Englische und amerikanische Literatur“, sage ich. Das war vor acht Jahren, das anschließende Journalismusstudium erwähne ich nicht.

Was machen Sie hier?

Wie ist euer Verhältnis?

„Er ist ein Freund meiner Familie. Er macht Urlaub hier“, sagt Yasmin.

Ein Soldat holt unser Gepäck von draußen aus dem Taxikofferraum und lehnt die Sachen an den Glastisch in der Mitte.

„Alles auspacken“, verlangt der Khakimann.

Staatsführer Chamenei scheint noch etwas breiter von seiner Wand zu grinsen. Gute Zähne für sein Alter, er ist über siebzig. Während ich die ersten Klamottentüten herausziehe und ein Handtuch, das nach nassem Hund riecht, gehe ich in Gedanken alles durch, was ich dabeihabe.

Reiseführer und Iran-Bücher? Nichts Kritisches im Gepäck, das einzige verbotene Buch, „Persepolis“ von Marjane Satrapi, habe ich in Teheran gelassen. Zum Glück habe ich kein deutsches Nachrich­tenmagazin dabei und keine Illustrierte, in der unverschleierte Frauen zu sehen sind.

Drogen, Alkohol, Schweinefleisch? Nicht vorhanden.

Die Notizbücher? Sehr verdächtig. Ich habe schon zweieinhalb Moleskine-Kladden vollgeschrieben. Auf der jeweils ersten Seite steht unübersehbar „Iran 1“, „Iran 2“ und „Iran 3“.

Presseausweis? In der Geldbörse. Ich Idiot, den hätte ich zu Hause lassen sollen.

Die Kamera? Da wird es heikel. Militäranlagen, ein Atomkraftwerk, Mädchen ohne Schleier, Alkoholpartys, alles dabei. Ich könnte sogar ein paar meiner Freunde in Gefahr bringen damit. Wenigstens sind einige besonders brisante Bilder auf einer Speicherkarte, die sich nicht in der Kamera befindet, sondern etwas versteckt in der Fototasche.

Erstes Interesse erregt der Kulturbeutel mit meiner Reiseapotheke. Der Beamte in Pumphose schaut sich jede Tablettenpackung genau an. Imodium, GeloMyrtol, Aspirin, Paracetamol, Iberogast, Umckaloabo. Ein Drogenschmuggler bin ich offensichtlich nicht. Dann mein Netbook: einmal anschalten, auf dem Desktop findet er keine verdächtigen Ordner, ist alles mit unverfänglichen Dateinamen getarnt. Ich darf wieder ausschalten. Interessiert dreht und wendet er den E-Book-Reader, lässt ihn ungeschickt auf den Boden fallen, entschuldigt sich, dann schmökert er ein bisschen im „Dumont-Kunst-Reiseführer Iran“. Sehr touristisch, sehr harmlos, sehr gut.

Er findet einen Notizblock, einen iranischen allerdings, den mir ein Gastgeber geschenkt hat. „In the name of god, presented to Mr Stephan during his travel to Lorestan Province, 3.2.1393.“ Der Polizist blättert alle Seiten durch: nach der Widmung vorn nur leeres Papier, ein besseres Geschenk habe ich nie bekommen. Zum Glück findet der Kerl die anderen Notizbücher nicht, die zwischen ein paar Eintrittskarten und Rechnungen verborgen sind.

Fertig. Alles wieder einpacken. Ich muss mich beherrschen, nicht tief durchzuatmen. Wäre auch deshalb nicht so klug, weil das Verhörzimmer unverkennbar nach feuchtem Handtuch riecht. Ich zurre die Rucksackgurte fest, setze mich wieder auf den Plastikfolienstuhl und greife nach meinem Teeglas. Die Hand zittert nicht mehr.

„Und jetzt zeigen Sie mal Ihre Kamera“, sagt der Khakimann, und hinter ihm an der Wand lacht Chamenei in seinen ­Riesenbart. Er lacht und lacht und hört gar nicht mehr auf damit.

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Teheran

Einwohner: etwa 10 Millionen
Provinz: Teheran

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Welcome to Iran!

„Pass auf vor Terroristen und Entführern!“ Ein Freund

„Das ist wie Saudi-Arabien, oder? Schau bloß keiner Frau in die Augen.“ Ein Reisejournalist

„Lässt du dir einen Bart wachsen? Bringst du mir einen Teppich mit?“ Eine Freundin

„Du bist verrückt. Ich verstehe nicht, was du da willst.“ Ein Arbeitskollege aus dem Iran


Vier Wochen vorher. Sobald die Räder des Flugzeugs TK898 aus Istanbul den Boden berühren, gilt eine andere Zeitrechnung. Iran­zeit, zweieinhalb Stunden vor, 621 Jahre zurück. Willkommen am Imam-Khomeini-Flughafen, wir schreiben den 7. Farwar­din 1393, „happy Nowruz“, frohes neues Jahr. Ein rundlicher Mann auf 14B kippt sich den letzten Schluck einer mitgebrachten Flasche Efes-Bier in den Rachen, ein Teenagermädchen auf 17F zieht sich Socken über, um die Knöchel zu verbergen. Schwarze, blonde, braune, rote, graue, gefärbte, gestylte, gekämmte, verwuschelte, kurze und lange Haare verschwinden unter schwarzen, braunen und roten Kopftüchern.

Ausländerinnen unterscheiden sich von Iranerinnen dadurch, dass bei ihnen das ungewohnte Stück Stoff schon beim Öffnen des Gepäckfaches in den Nacken rutscht und sie es neu binden müssen. „Respected Ladies: Observe the Islamic dress code“, steht auf einem Poster im Terminal, ohne „please“ oder „thank you“, versteht sich.

Über einer Leuchtreklame für Sony-Handys am Gepäckband begrüßen mich die ersten Poster der beiden Bartträger, in zehnfacher Lebensgröße. Ruhollah Khomeini blickt listig und düster, selbst auf einem Foto scheinen seine Augen alles zu durchdringen. Mit großer Klugheit und unendlicher Kälte blickt der Revolutionsführer auf die Welt hinab. Der amtierende Oberste Führer Ali Chamenei dagegen wirkt mit seiner zu großen Brille und ausdruckslosen Augen einfältig und harmlos, was bemerkenswert ist, weil Chamenei zu den mächtigsten und brutalsten Staatsführern der jüngeren Geschichte gehört.

Aber vielleicht ist die Blässe nur relativ: Neben der dunklen Eminenz Khomeini würden selbst Saddam Hussein und Muammar Gaddafi wie nervöse Koranschüler beim Auswendiglerntest wirken. Der Blick der beiden Ajatollahs sagt: Ab jetzt beobachten wir dich, egal wo du hingehst. Die Porträts hängen in jedem Shop und jedem Restaurant, an Wohnhäusern und Regierungsgebäuden, in Moscheen, Hotels und Busterminals. Wer im Iran den Bildnissen von Khomeini und Chamenei entkommen will, muss sich in einer Wohnung einschließen oder blind sein.

7. Farwardin 1393. Auch was die Gesetzeslage angeht, muss ich um ein paar Jahrhunderte umdenken. Im Iran herrscht die Scharia, im Iran gelten Frauen gesetzlich halb so viel wie Männer und können für Ehebruch gesteinigt werden. Im Iran bin ich ein Verbrecher, weil ich 1,5 Kilo Lübecker Marzipan im Rucksack habe (mit ein bisschen Alkohol drin) und ein paar Kabanossi aus Schweinefleisch. Fehlen nur noch ein paar „Playboy“-Hefte, und ich hätte einen Pokal verdient mit der Aufschrift „Teherans größter Einreisedepp“. Andererseits: Ohne ein paar Gesetzesverstöße ist das, was ich vorhabe, nicht zu machen. Warum also nicht gleich damit anfangen? Je früher ich mich an meine neue Rolle als Gauner, Schwindler und Schauspieler gewöhne, desto besser.

7. Farwardin 1393. Mein Handy weigert sich, die Jahreszahl einzustellen, unter 1971 (warum 1971?) geht nichts. Zur Strafe für seine Befehlsverweigerung führe ich dem rebellischen Gerät eine iranische SIM-Karte ein. Für ihren Erwerb muss ich gleich drei auf Persisch bedruckte Formulare unterschreiben. Ich frage den Verkäufer, was da draufsteht, er spricht nicht gut Englisch.

„No problem!“, antwortet er, und als er meinen zweifelnden Blick sieht, wiederholt er noch einmal in einem sanfteren, fast freundschaftlichen Ton: „No problem!“

Ich brauche unbedingt eine einheimische Handykarte, also unterschreibe ich. Vielleicht habe ich gerade mein Einverständnis erklärt, dass jedes Gespräch und jede SMS vom Geheimdienst überprüft wird, aber das wäre auch wurscht. Machen die sowieso, steht sogar im Sicherheitshinweis des Auswärtigen Amtes.

Mehr Freude habe ich beim Geldwechseln: Ein Mitarbeiter am Schalter der Melli Bank sagt, er könne 35.000 Rial pro Euro zahlen, aber ein Stockwerk höher sei eine Wechselstube, wo ich 40.000 bekäme. Tatsächlich kriege ich dort sogar 41.500, kein schlechter Kurs. Bis in den Iran musste ich reisen, um einmal von einem Bankangestellten gut beraten zu werden.

Ich werde es noch mit einigen Geldwechslern zu tun bekommen, weil die hiesigen Automaten keine europäischen Karten akzeptieren. Das ist unpraktisch für Langzeitreisende, ich habe für zwei Monate 2000 Euro und 1000 US-Dollar in kleinen Scheinen dabei, strategisch gut verteilt in verschiedenen Ecken des Gepäcks. Hoffentlich erinnere ich mich noch an die Stellen, wenn ich das Geld brauche.

Der Flughafen ist mit sechs Gepäckbändern kleiner, als man es bei einer Zehn-Millionen-Metropole wie Teheran erwarten würde. Hohe Säulen, viel Glas, viel Beton. Kein Starbucks, kein McDonald’s, kein Louis Vuitton, nur einheimische Fast-Food-Läden, Banken und Souvenirshops. Ein riesiges Poster wünscht alles Gute zum neuen Jahr. Darauf ist ein Goldfischglas abgebildet, das steht für das Leben. Wahrscheinlich gibt es kein anderes Land auf der Welt, in dem ein Fisch im Glas ein Lebenssymbol ist.

Komplette Großfamilien warten mit Blumensträußen auf Neuankömmlinge. Mitten in der Nacht sind sie aufgestanden, um rechtzeitig hier zu sein. Jetzt ist es kurz nach vier. Bei ihrem Anblick fühle ich mich sehr blond und relativ groß. Sagen wir es mal so: Die Wahrscheinlichkeit, dass mich jemand auf der Straße nach dem Weg fragen wird, geht gegen null.

„Welcome to Iran“, sagen stattdessen zwei junge Frauen, die Tschadors tragen. Tschador heißt auf Persisch „Zelt“, und damit ist über Wesen und Weiblichkeit dieses Kleidungsstücks eigentlich alles gesagt. „Where are you from?“, wollen sie wissen. „Are you married or single?“, und schon schweben sie grinsend davon in ihren schwarzen Gespensterzelten.

Besonders verbreitet ist ihr Outfit am Flughafen nicht, die meisten Frauen tragen einfache Kopftücher. Je jünger die Trägerin, desto modischer die Farben. Und desto länger wirkt der Hinterkopf, weil Hochsteckfrisuren total angesagt sind: Mit Tuch drüber wirkt das ein bisschen so, als hätten viele junge Iranerinnen Schädel wie die Aliens von HR Giger. Die meisten Männer dagegen tragen keine Kopfbedeckung, die Kombination Turban und Vollbart ist viel seltener, als Iranklischees vermuten lassen. Ich sehe sie nur zweimal im ganzen Terminal.

Wenn nach Begegnungen mit einem wohlwollenden Banker und flirtenden Tschadormädchen jetzt noch der Taxifahrer davon absieht, mich zu bescheißen, muss ich schon nach einer Stunde Iran meinen Vorurteilskompass neu justieren.

Jeder Iranbesucher, der am Internationalen Flughafen ankommt, muss auf der Fahrt ins Zentrum an den Märtyrern vorbei und an Khomeini persönlich, es gibt keinen anderen Weg in die Stadt. Links vom Highway ruhen 200.000 Opfer des Irakkriegs auf dem größten Friedhof des Landes. Und gegenüber, auf der rechten Straßenseite, ruht Khomeini selber, der Mann, der so viele von ihnen in den Tod schickte. Jeder der vier Türme um sein prachtvolles Mausoleum ist 91 Meter hoch, ein Meter für jedes Lebensjahr. Eine riesige goldene Kuppel reflektiert nächtliches Scheinwerferlicht. Der erste religiöse Prachtbau, den Touristen zu Gesicht bekommen, ist der Schrein des Ajatollah. Dies ist mein Land, hier gelten meine Regeln, signalisiert Khomeini noch fünfundzwanzig Jahre nach seinem Tod jedem Gast.

Das Taxi stoppt, der Fahrer will kein Geld, für einen Freund wie mich sei die Fahrt umsonst. Ich lehne so entschieden ab, wie es das komplizierte Höflichkeitsprotokoll Irans verlangt, und er sagt: „70.000.“

„Rial oder Toman?“, frage ich. Es gibt zwei Währungsbezeichnungen, die sich um eine Null unterscheiden, was es für Touristen nicht einfacher macht.

„Toman natürlich.“ Also alles mal zehn.

Ich drücke ihm zwei Hunderttausender und einen Fünfhunderttausender in die Hand. Knapp drei Euro mehr, als auf einer Tafel am Flughafen als angemessener Preis angeschlagen war. Charmanter Kerl, aber natürlich bescheißt er. Wenigstens auf die Taxifahrer ist Verlass.



Persische Party: Ein Reisetipp von Nadine Pungs

Da es im Iran keine offiziellen Discos oder Bars gibt, feiern die Menschen ihre Partys im Wohnzimmer. Stühle und Teppiche werden beiseitegeschoben, die Vorhänge zugezogen, und die Musik laut aufgedreht. Der Tisch biegt sich unter süßen Küchlein, Pizzen, Salat, ein paar Schüsseln Joghurt, Nüssen, Chee.Toz (Ähnlichkeiten mit den amerikanischen Cheetos-Käsecrackern sind rein zufällig), Auberginenmousse, Fladenbrot, und Vater holt den Rosinenschnaps aus dem Einbauschrank. Nicht nur Nouruz, Geburtstage oder das Sonnenwendfest Yalda werden zelebriert. Für ausgelassene Feten braucht es keinen Anlass. Perser feiern die Feste, wie sie fallen oder nicht fallen. Hauptsache, sie feiern. Frauen tragen Eyeliner und Miniröcke, die Männer klemmen die Smartphones an die Stereoanlage. Persische und westliche Popmusik dröhnt aus den Boxen, und Finger schnipsen. Omas und Opas, Jungs und Mädels – alles tanzt. Während sich deutsche Eltern abmühen, ihre Sprösslinge mit Sätzen wie „Ab ins Bett!“ zum Einschlafen zu zwingen, schwofen iranische Kinder einfach so lange, bis sie vor Müdigkeit umkippen. Matratzen gibt es sowieso genug.

Wer also jemals zu einer persischen Hausparty eingeladen ist und nicht tanzen mag (was sich per se ausschließt), verlässt den Raum, denn andernfalls zerren steppende Iraner ihn auf den wohnzimmerlichen Dancefloor. Weigert man sich immer noch, so kann man gewiss sein, dass die gesamte Gesellschaft in Sprechchören den Namen des Spielverderbers ruft und dabei im Takt klatschen wird. Ein Graus für deutsche Tanzmuffel, doch besser, man fügt sich dem Schicksal und lernt von den Persern. Männer tanzen mit Frauen, Frauen tanzen mit Männern. Berührungen zwischen Unverheirateten. Eine Lehrstunde in Lebenslust.

 

Aus »Das verlorene Kopftuch« von Nadine Pungs

Blick ins Buch
Meine Reise ins ÜbermorgenlandMeine Reise ins Übermorgenland

Allein unterwegs von Jordanien bis Oman

Allein und mit Neugier im Gepäck erkundet Nadine Pungs die Arabische Halbinsel: von Jordanien über Kuwait, Bahrain, die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar, Oman bis an die Grenze des Jemen. Sie reitet mit Beduinen durch die Wüste, übernachtet in Zelten und Wolkenkratzern, spricht mit Gastarbeitern und Geflüchteten. Sie trifft einen Scheich und hat sogar eine Audienz bei einer waschechten Prinzessin. Pungs sammelt Geschichten aus dem Orient und fügt aus ihren Begegnungen und Beobachtungen ein schillerndes Mosaik des heutigen Arabien zusammen. Dabei erlebt sie Herzensgüte, aber auch ausweglos erscheinende Situationen. Und irgendwann muss sie sich entscheiden: aufgeben oder solange weiterreisen, bis die Wüste das Meer küsst.

Der neununddreißigste Tag
Angefangen hat alles vor 96 Stunden. In Abu Dhabi. Seitdem sitzt das Fieber hinter meiner Stirn. Die Haut glüht, meine Augäpfel schmerzen. Trotzdem ist der Ausblick schön, denn was ich von hier aus sehen kann, ist der Oman.
Der Motor tuckert noch, obwohl der Busfahrer ausgestiegen ist und sich mit einem Soldaten unterhält. Auch ich stehe draußen, zusammen mit den anderen Reisenden. Die meisten von ihnen kommen aus Indien oder Bangladesch. Sie sind hier, um am Golf ihr Glück zu suchen. Finden werden sie es selten. Die Sonne knallt auf unsere Köpfe, und ich schwitze und friere und lasse die Schultern hängen.
Ein Grenzer sagt etwas auf Arabisch. Wir hieven unsere Taschen und Koffer aus dem Busbauch und stellen das Gepäck in einer langen Reihe auf, mein Rucksack ist der vorletzte. Jetzt der Schäferhund. Er hechelt und drängt und will von der Leine gelassen werden, will schnüffeln und Kokain aufstöbern oder Marihuana. Vor dreizehn Tagen habe ich das letzte Mal Hasch geraucht. Nicht einen Krümel packte ich in den Ranzen, dennoch schlägt mein Herz bis unter die Schädeldecke, denn an der Grenze wird scharf kontrolliert. Im Internet kursieren düstere Legenden über Ausländer, die im Knast landeten, nur weil ein Stäubchen Gras an ihrer Krawatte pappte. Ich las von der Terahertz-Spektroskopie, mit der man mikroskopisch kleine Mengen verbotener Substanzen auf der Kleidung ermitteln kann. Ein Brite hatte damit Pech. Er wurde in Dubai verhaftet, weil die Flughafenpolizei 0,003 Gramm Cannabis unter seiner Schuhsohle entdeckte, winziger als ein Körnchen Zucker. Vier Jahre Zuchthaus, entschied der Richter.
Der Schäferhund prescht los, wedelt mit dem Schwanz, schnuppert kurz am ersten Koffer, läuft zum nächsten. Ein tiefer Schnaufer, weiter. Die beiden Mädchen neben mir kichern, die Hundenase streift den dritten Koffer, dann zum vierten. Jemand hustet, Frauen tuscheln. Fieber. Vorbei an drei Trolleys, schnüffeln an einer Handtasche, weiter. Zwei Rucksäcke, eine Plastiktüte, zwei Sporttaschen. Der Busfahrer schaut auf die Uhr, ein Mütterchen seufzt. Fieber. Das fünfzehnte Gepäckstück, das sechzehnte. Nasse Hände. Zwanzig, dreiundzwanzig. Ein Kind plärrt. Fünfundzwanzig, siebenundzwanzig. Ein Mann rückt den Turban zurecht, ein Handy bimmelt. Achtundzwanzig, dreißig. Weiter. Mein Rucksack. Schnauben, einatmen, schnauben. Schnauze in die Seitentaschen stecken. Schnauben. Bleiben.



Jordanien
Die erste Nacht
„Es war einmal, oder es war nicht.“ Mit diesen Worten beginnen die Märchen Arabiens. Vielleicht ist es die Wahrheit, vielleicht nicht. Es war einmal Petra, die rosa Felsenstadt der Nabatäer, in der die Lebenden mit den Toten tanzten und in der drei Könige Rast machten auf dem Weg zu einem Baby mit Superkräften. Es war einmal Dilmun, der verlorene Garten Eden, in dem die Götter ruhten und die Datteln ihnen geradewegs in den Mund wuchsen. Es war einmal Iram, die Säulenreiche, der nichts gleich erschaffen ward, von Allah zerstört, vom Erdboden verschluckt, weil ihre Einwohner zu verludert gewesen seien. So steht es geschrieben, so ist es geschehen. Oder nicht?

Es ist November. Unter mir liegt Jordanien, eine Handvoll Lichter sind ins Schwarz gesprenkelt. Das Flugzeug rauscht durch die Düsternis, nur wenige Europäer sitzen in der Maschine. Heute werden in Zeitungen und Nachrichten bloß schauerliche Geschichten über Arabien erzählt. Die tausend Nächte, die Schahrasad um ihr Leben plapperte, sind Vergangenheit. Aladdins Wunderlampe vollbringt keine Wunder mehr. Alles vorbei. In diesen Tagen bestimmen Terror und Tod die Narrative.
Es war einmal Mossul, die blühende Metropole am Ufer des Tigris, wo nun Autobomben explodieren. Es war einmal Sanaa, die Hauptstadt des Jemen, einst in Obstgärten gebettet, jetzt verhungert die Bevölkerung. Es war einmal das Kalifat des Islamischen Staates, auf Leichen gebaut und ein dunkles Paradies für all diejenigen, die an das Höllenfeuer glaubten. Was bleibt, sind zerstörte Häuser und zerbrochene Seelen.

Anflug auf Amman. Zweiundzwanzig Länder zählt die Arabische Liga, von Mauretanien über Dschibuti bis zu den Komoren, von Palästina über Kuwait bis nach Bahrain. Zum ersten Mal tauchte der Begriff Arabi in assyrischen Texten auf, und das vor rund 2800 Jahren. Gemeint war ein Landstrich oder ein Volk im Norden der Arabischen Halbinsel. Herodot sowie zahlreiche weitere griechische und römische Schriftsteller definierten Arabien später als die gesamte Arabische Halbinsel und als Araber all ihre Bewohner, einschließlich der Nomaden in der ostägyptischen Wüste.

Das Flugzeug landet. Ankunft in Jordanien. „Ahlan wa sahlan“ – herzlich willkommen – sagt der junge Grenzbeamte, lächelt, und der Stempel fegt in meinen Pass. Ich bin im Orient. Endlich.
Jede Reise beginnt mit einer Erwartung, welche die Ferne umhängt. Der Orient ist meine Blaue Blume, ein aufgeklapptes Märchenbuch. Ach, der Orient. Bevölkert von Flaschengeistern, umringt von Frauen mit schwarzen Wimpern und Männern, deren Gesichter Landkarten sind. Was lockt, ist das Unergründliche. Die Erinnerung an eine Welt, die längst dahingesunken scheint. Meine Erinnerung an jene Fremde nährt sich aus Gemälden, die im Louvre hängen, aus Geschichtsbüchern und aus den Erzählungen literarischer Reisender. Meine Erinnerung nährt sich aus Klischees. Denn am Ende ist dieses Wunderland wunderlich, ist der Orient doch nicht mehr als eine Fata Morgana, nur eine Vorstellung, von Europa erschaffen. Eine kolonialistische Konstruktion des Anderen, entstanden irgendwann zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert. Er ist unser Gegenüber. Oder nicht?

Ein Taxi fährt mich hinein in die Stadt, es ist drei Uhr morgens, noch sind die Straßen leer. Gestern war der Geburtstag des Propheten Mohammed, heute ist Weltfernsehtag. Auf Glaube folgt Glotze. Ich glotze auch, stiere aus dem Fenster, sammle Lichtbilder ein. Minarette stechen wie gespitzte Bleistifte in den Nachthimmel. Reklameschilder blinken, der Orient phosphoresziert grün, auf einem Plakat steht „Mecca fried chicken“. Daneben das Gesicht eines grinsenden Huhns.
Das Wort „Orient“ leitet sich vom lateinischen Ausdruck sol oriens ab, was „aufgehende Sonne“ bedeutet, daher die schöne Metapher „Morgenland“, eine Benennung, die durch Martin Luther ins Deutsche eingeführt wurde. Der Terminus ist jedoch unpräzise in all seiner geografischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Vielfalt. Ursprünglich diente der Orient als Richtungsangabe, wobei die Blickachse vom Standort des Sprechers abhing. So lag das Morgenland irgendwo zwischen dem Balkan und Japan, ein zusammenhängendes Reich hat es nie gegeben. Im deutschen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff heutzutage den Nahen und Mittleren Osten einschließlich der Türkei, Nordafrika, Iran und Afghanistan. Alles Orte, die früher nach Verheißung klangen. In denen Abenteurer, Sommerfrischler und Hippies staunten. Und jetzt?
Die Beziehung zwischen Okzident und Orient lässt sich auf vier Wörter herunterbrechen: Faszination und Furcht, Anziehung und Abneigung. Im 21. Jahrhundert überwiegt die Furcht. Gewiss, auch ich schlage mich mit Vorurteilen herum. Wer von sich behauptet, wertfrei durchs Leben zu gehen, ist ein selbstgerechter Idiot. Deshalb reise ich. Um die eigene Meinung herauszufordern. Aufklärung statt Aufregung.
Fest steht aber auch, wer ein Buch über Nahost schreibt, muss scheitern. Zu vertrackt ist die politische Situation, zu viele Krisenherde lodern. Ich will es dennoch versuchen, will mich herantasten. Eine Analyse des Nahostkonflikts kann ich allerdings nicht liefern. Ich bin keine Nahostexpertin und keine Islamwissenschaftlerin. Ich habe auch keinen Fixer vor Ort, der übersetzt und mir Interviewpartner vermittelt. Ich notiere bloß Dinge, die ich sehe und erlebe. Dieses Buch soll ein Mosaik aus Erzählungen werden, aus Schicksalen und Heimlichkeiten, aus Nebengeräuschen und Rätseln. Eine kleine Arabeske sozusagen. Ein Stück Alltag. Und vielleicht lässt sich aus den Nahaufnahmen eine Ahnung formen von jener Weltgegend, die uns immer noch so fremdartig erscheint.
Die Arabische Halbinsel ist das Herz, die Heimat der allerersten Araber und die Geburtsstätte des Islam. Hier pflücke ich meine Geschichten, auch wenn ich nicht jedes Land bereisen darf. Irak ist nicht möglich, denn die Gebiete, die ich durchqueren müsste, gelten als fragil. Saudi-Arabien vergibt zu diesem Zeitpunkt keine Touristenvisa, und im Jemen tobt ein Krieg. Bleiben noch sechs Staaten übrig, die ich erkunden kann. Den Startpunkt markiert Jordanien, quasi als Tor zur Arabischen Halbinsel, dann weiter nach Kuwait, Bahrain, die Vereinigten Arabischen Emirate, Oman und Katar. Für drei Monate reicht das Geld.

Der Rezeptionist wischt sich den Schlaf aus den Augen, der Röhrenfernseher in der Lobby läuft lautlos, und die Kameraeinstellung zeigt die Kaaba in Mekka aus der Vogelperspektive. Tausende Pilger kreisen wie Ameisen um den schwarzen Quader herum, ein oszillierendes Gewimmel, das Heiligtum als Lebensmittel. Das Wort ergibt Sinn.

Über die zig Millionen Menschen, die auf der Halbinsel wohnen, tanzen, lachen, weinen und lieben, wissen wir fast nichts. Aktuelle Reiseberichte finde ich kaum. Die Passion der Europäer für die leuchtenden Länder ist versiegt. Wen interessiert noch, dass sich die größte Sandwüste der Welt über die Arabische Halbinsel erstreckt? Dass manche ihrer Dünen doppelt so hoch sind wie die Freiheitsstatue? Wer weiß denn, dass Bahrain aus 33 Inseln besteht? Oder wie die Häuser in Kuwait aussehen?
Die Zeiten eines Lawrence von Arabien oder eines Wilfred Thesiger sind vorbei, keine Rede mehr von Brunnen und Beduinen. Im 21. Jahrhundert will man lieber nichts zu tun haben mit „Muselmännern“ und bibbert vor „Kopftuchmädchen“. Heute wird nicht mehr aus Tausendundeine Nacht zitiert, sondern aus dem Koran. Morgenland ist Sorgenland. Der Orient ist jetzt der gefährliche Nahe Osten, das Reich der Finsternis, das nicht über unsere Grenzen schwappen darf. Dafür sorgt Frontex. Dabei ist die Diffamierung des „bösen Mohammedaners“ nicht neu. Die Stigmatisierung stammt aus dem Mittelalter. Das Christentum fühlte sich von der religiösen Konkurrenz und ihren expansiven Bestrebungen bedroht, und durch die Abwertung des Islam konnte es sich selbst als besonders friedfertig darstellen. Ironischerweise auch während der Kreuzzüge.
Im 18. Jahrhundert galt das Morgenland dann als der letzte Schrei. Mode und Musik waren von ihm beeinflusst, jeder trank Mokka, und Mozart komponierte seine Entführung aus dem Serail. Anfang des 19. Jahrhunderts brach schließlich eine regelrechte Orient-Manie aus, freilich durchsetzt mit Schwärmereien und beeinflusst durch die Romantik. Doch ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein wütete der Kolonialismus mit all seinen Demütigungen und Grausamkeiten. Karl May schrieb seine Bestseller über Kara Ben Nemsi und verzapfte damit nicht nur oft historischen Nonsens, sondern pflegte obendrein eisenharten Eurozentrismus mit rassistischen Tendenzen. Bis heute impfen seine Bücher den Lesern ein desaströs falsches Orientbild ein.
Spätestens ab dem 19. Jahrhundert reisten aber auch die europamüden Morgenlandfahrer gen Osten. Sie sehnten sich nach vermeintlicher Einfachheit und wollten sich von der Fremde verzaubern lassen. „Die Wüste atmet Freiheit“, notierte 1893 die britische Reiseschriftstellerin Isabel Burton. Für sie und für viele andere Frauen avancierte der Orient damals zu einem weiblichen Utopia. Eine Reise nach Damaskus oder Teheran bedeutete noch vor hundert Jahren Autonomie und erlöste die Europäerinnen von ihrem Korsett aus Pflichten und Abhängigkeiten. Sie erlangten Anerkennung als Forscherinnen, so wie Freya Stark. Oder sie ordneten gleich den gesamten Nahen Osten politisch neu, so wie Gertrude Bell.

Mein Zimmer ist schlicht. Unter dem weißblauen Licht der Neonröhre brummt ein Kühlschrank, auf dem Tisch zerfällt ein Spitzendeckchen, den Polsterstuhl camouflieren Kaffeeflecken, vor Monaten getrocknet, aber das Bettlaken ist sauber. Ich breite meine Bücher darauf aus, Wilfred Thesiger, Gräfin Ida von Hahn-Hahn, Reiseberichte aus alter Zeit, ein Wörterbüchlein, dazu ein Lyrikbändchen arabischer Dichterinnen. Ich lese Namen wie Wadi Rum oder Rub al-Khali, und ich rieche den Weihrauch zwischen den Zeilen. „Wir sahen all das Längstbekannte: den farbigen Orient, das Nie-ganz-zu-Erfahrende“, notierte Annemarie Schwarzenbach.
Ich räume die historischen Bücher zur Seite und blättere in dem Wörterbuch, das auf die alltäglichen Probleme des Reisenden zugeschnitten sein soll und nützliche Übersetzungen bieten möchte. Ich lese Sätze wie „Die Bremse funktioniert nicht“ oder „Bitte rufen Sie schnell die Feuerwehr“. Wichtige Fragen werden geklärt: „Machen Sie Lymphdrainagen?“, und „Tut das weh?“. Der Autor gibt zudem Hinweise im Umgang mit Taxifahrern: „Bitte schalten Sie den Taxameter auf null“, oder „Ich glaube, hier stimmt etwas nicht“. Das Kapitel über Behörden beunruhigt mich allerdings, ich präge mir ein: „Ich möchte sofort mit meinem Konsulat sprechen“, und „Ich bin unschuldig“, dann lösche ich das Licht.


Allah Anfang
„Ich bezeuge, dass Mohammed der Gesandte Allahs ist! Kommt zum Gebet!“, scheppert es aus den Lautsprechern. Ich öffne die Augen. Es ist fünf Uhr morgens, der Muezzin ruft. „Kommt zum Heil!“ Ich schließe die Augen. „Das Gebet ist besser als der Schlaf!“ Ich öffne die Augen, Morpheus ist abgerauscht. Ein Gott flieht vor dem anderen.
Ich schäle mich aus der Bettdecke, gehe duschen, trage Parfum auf. Zwei Stunden später überfällt mich eine Panikattacke. Der Puls rast, das Herz zerspringt, die Kehle schnürt sich mir zu, ich muss mich setzen. Sorgen hämmern im Schädel. Ängste. Reicht das Geld? Komme ich durch? Werde ich scheitern? Ich brauche zwanzig Minuten, um mich zu beruhigen. Mit Bauchatmung und Tee.
Der Rezeptionist lächelt, als er mich sieht. Auch das hilft. Auf dem Fernsehbildschirm ziehen die Pilger noch immer ihre Kreise. Jetzt raus, den Gedanken entfliehen und hinein in eine Landschaft, die alttestamentlich daherkommt. Jordanien liegt im Nordwesten der Arabischen Halbinsel, wie eine Pforte zur Vergangenheit. Sodom und Gomorrha gingen hier unter, Lots Gattin erstarrte zur Salzsäule, Salome tanzte ihren Schleiertanz, Mose erblickte das gelobte Land, Jesus ließ sich taufen, Indiana Jones suchte den Heiligen Gral. Viele Wunder sind hier geschehen – oder nicht geschehen.
Geografisch betrachtet, hat das kleine Land allerdings den Schwarzen Peter gezogen, denn es ist umgeben von Diktaturen und Brandherden. Im Westen befeinden sich Palästina und Israel, im Norden leidet Syrien an den Kriegswunden, im Osten siecht der Irak dahin, und im Süden poltert Saudi-Arabien herum wie ein neureicher Gutsherr.
Dass Jordanien als „Insel des Friedens“ bezeichnet werden kann, ist tatsächlich ein Wunder – finanziert durch den Westen und die Golfstaaten. Aber die Beständigkeit ist relativ. Das Wirtschaftswachstum liegt bei unter zwei Prozent, die Arbeitslosenquote offiziell bei knapp zwanzig Prozent. Finanzspritzen aus Europa, USA, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten halten das Königreich stabil, denn das Land verfügt weder über Öl noch Gas. Jordanien hängt am Tropf. Innenpolitisch kriselt es. Vor ein paar Monaten, im Mai 2018, protestierten Tausende Menschen gegen höhere Einkommensteuern. Der Premierminister musste gehen, geändert hat sich dennoch wenig. König Abdullah II. bin al-Hussein ist zwar Reformen nicht abgeneigt, doch Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung sorgen für Unmut in der Bevölkerung. Und auch unter dem im Westen gern gesehenen Monarchen und seiner schönen Königin Rania ist die Pressefreiheit eingeschränkt. Zwar ist in Jordanien die Berichterstattung im arabischen Vergleich eher liberal, aber zahlreiche Journalisten sind dennoch zu Staatsdienern mutiert und zensieren sich selbst. Öffentliche Kritik am König ist verboten, am Staat wird sie nur bis zu einem gewissen Grad gebilligt. Hinzu kommen die ausufernde Bürokratie und die Korruption. Überdies sind Frauen gesetzlich oftmals schlechter gestellt als Männer. Es gibt viel zu tun.

Ich wohne downtown, im alten Amman, das sich so zeigt wie etliche orientalische Metropolen. Laut, fiebrig. Ich streune umher, durch eine Innenstadt, die aus allen Nähten platzt und trotzdem vorwärts wuchert. Die Autos fließen zäh wie Sirup, Menschen wimmeln vorbei an Shisha-Läden, in denen Kohle und Tabak verkauft werden. Der Bürgersteig bäumt sich auf, als wäre darunter noch eine Stadt vergraben. Klimaanlagen hängen an Balkonen, die Fassaden beigegrau wie Schleifpapier. Ein Jüngling im Weihnachtsmannkostüm verteilt Flyer für eine Kebab-Bude. Im nächsten Shop betten sich Schrotflinten in der Auslage, im benachbarten Laden dampfen wieder Shishas.
Die Griechen nannten Amman vor 3000 Jahren „Philadelphia“, das bedeutet „Bruderliebe“. Ein paar Hundert Kilometer weiter in Syrien massakrieren sich die Menschen. Ein Barbier wetzt sein Messer. Wintermäntel schaukeln neben Abayas, Ohrringe neben Handyhüllen. In den Obstläden hängen Bananen an Haken, ein Straßenhändler vertickt Unterhosen für Männer. Auf einer Packung steht „Magic Style“ gedruckt. Ein Bursche mit einem Turbanberg auf dem Kopf lässt seine Gebetskette durch die Finger gleiten. Hinter ihm baumeln Taschen aus Plüsch, „Louis Vuitton“ ist aufgenäht. Nähmaschinen stehen im Schaufenster, in drei Geschäften nebeneinander. Autos hupen und brettern über Rot. Ein Polizist bläst in seine Trillerpfeife und ruft mir zu: „Passen Sie auf, die fahren wie die Verrückten!“ Ich nicke. Eine Katze streift mein Bein, es riecht nach gegrilltem Hähnchen und Benzin. Ich liebe Amman, hier sprudelt das Leben, hier ist alles saftig. „Staunt euch die Augen aus dem Kopf“, forderte der Schriftsteller Ray Bradbury. Im Orient ist das nicht schwer.


Sayonara
Ich suche das Römische Theater und spreche einen Greis an, der einen Gebetsteppich unter seine Achselhöhle geklemmt hat. „Wo kommen Sie her?“, fragt er in gebrochenem Englisch. „Aus Deutschland“, antworte ich in gebrochenem Arabisch.
„Ah, Angeleea Merkele?! Gute Frau!“ Er reckt den Daumen und freut sich. Ich bedanke mich, als wäre die Kanzlerin meine Tochter. Ich erzähle ihm besser nicht, dass sie vor ein paar Wochen ihren Rückzug angekündigt hat und im Bundestag nun eine blau-braune Partei sitzt, die Hass auf Muslime schürt.
Im Theater spazieren nur wenige Touristen. Rund 1900 Jahre hat das Bauwerk auf dem Buckel. Hier ist es ruhig, die Kapitale bleibt draußen. Amman erstreckte sich einst wie Rom über sieben Hügel. Heute sind es neunzehn. Alexander der Große ritt hier vorbei, die Römer bauten Bauten, aus Innerarabien fielen später Araber ein und eroberten die Stadt. Im Mittelalter war Amman weitestgehend verfallen. Im frühen 20. Jahrhundert lebten gerade einmal 2000 Menschen hier. Jetzt zählt Amman über vier Millionen Einwohner.
Ich setze mich auf eine Stufe und mustere die Touristen. Ein Paar schlendert an mir vorüber. Die Frau trägt die schwarze Abaya, ein Überkleid, das die weiblichen Kurven kaschiert. Über der Sheila, dem Kopftuch, dann der Niqab, jener Gesichtsschleier mit Sehschlitz, der aus mehreren locker fallenden Tüchern besteht, befestigt an einem Stirnband, verknotet am Hinterkopf. Brauen, Nase und Mund sind verborgen, das Gesicht ist verhüllt bis zum Unterlied.
In Deutschland wird der Niqab zumeist mit der Burka verwechselt, dabei ist die Burka eine goldene oder rote oder schwarze Maske, die von Golfküstenbewohnerinnen und Beduinenfrauen getragen wird. Die afghanische Burka wiederum ist ein großes blaues, weißes, schwarzes oder gelbes Stofftuch, an dem oben eine flache Kappe vernäht ist. Der Blick ist hinter einem Gitternetz gefangen.
Ich beobachte das Pärchen. Die Frau lächelt. Das kann ich nicht sehen, aber wissen. Denn ihre Augen strahlen jedes Mal, wenn sie ihren Ehemann anschaut. Sie halten Händchen.
Zwei Engländer klimmen die Treppen empor. „Stell dir vor“, sagt der Blonde zum Lockigen, „dieser Ort muss vor tausend Jahren ein anderer Planet gewesen sein.“
Ich stehe auf, gehe ein paar Schritte dem verliebten Pärchen entgegen, die Frau spricht mich an und bittet mich, ein Foto zu schießen. Elem und Nasser kommen aus Saudi-Arabien und verbringen ein paar Tage in Jordanien. Elem reicht mir ihr iPhone. Dann postieren sich beide vor der antiken Kulisse, formen mit Daumen und Zeigefingern ein Herz und grinsen in die Linse.
Als ich wieder unten bin, blicke ich in das Zuschauerrund hinein mit den steil ansteigenden Stufenreihen, stelle mir Gladiatoren und ausverkaufte Ränge vor.
Eine junge Frau drückt mir ihr Handy in die Hand. Nihal ist alleine unterwegs, auf Fotos will sie dennoch nicht verzichten. „Mein Mann trifft sich mit Kollegen“, erklärt sie, „wir sind nur geschäftlich in Amman und reisen übermorgen zurück nach Kairo.“
Seit einem Jahrzehnt sind sie verheiratet. Sie lernten sich an der Universität kennen, als Nihal zwanzig Jahre alt war, und Hamid musste zwölf Monate auf sie warten, weil ihr Vater sie nicht gehen lassen wollte. „Wir sind immer noch verliebt wie am ersten Tag“, schwärmt sie.
Nihal trägt ein rosa Kopftuch mit Blümchen und eine goldene Sonnenbrille von Dior, zumindest steht der Markenname auf dem Bügel. Die Brille ist komplett verspiegelt. Wenn ich Nihal in die Augen schaue, sehe ich nur mein Spiegelbild, und weil mich das irritiert, starre ich Nihal auf die Nase.
„Du bist nicht verheiratet? Wie kann das sein?“ Sie schürzt die Lippen, und da sie glaubt, ich sei schwer vermittelbar, beschließt sie, ein wenig Frohsinn in mein unbemanntes Leben zu bringen. „Sollen wir shoppen gehen?“, fragt sie, aber es klingt nach einem Befehl, und ich widerspreche nicht.
Raus aus dem Theater, rein in die Innenstadt. Nihal möchte eine Abaya kaufen, in Pink oder Lila, bestickt und bordürt. „In Ägypten sind die Abayas längst nicht so schön wie in Jordanien“, konstatiert sie und sprintet voran.
Wir betreten einen Shop. Inhaber Hussein drückt seine Zigarette aus. Zwei Packungen raucht er am Tag, gesteht er und lacht dabei wie ein Gewitter. Er reicht mir eine winzige Tasse und schenkt mir Kaffee ein, während Nihal eine kirschrote Abaya mit Goldfransen überstreift. Sie dreht eine Pirouette vor dem Spiegel. „Hübsch“, sage ich, doch Nihal schürzt die Lippen und zieht stattdessen eine fliederblaue Abaya vom Bügel. Dann eine grasgrüne, eine nachtschwarze und eine lilienweiße. Der Kleiderberg auf der Theke wächst.
Hussein kennt das – nicht nur beruflich. Zwei Ehefrauen hat er daheim. „Ist das nicht stressig?“, frage ich ihn und nippe an der vierten Tasse Kaffee.
„Nein, nur teuer“, antwortet Hussein und lacht sein Gewitterlachen. „Sag mal, willst du nicht meine dritte Ehefrau werden? Ich hab noch Platz im Haus.“ Er zeigt auf sich und mich und zwinkert. Ich gebe mich unentschlossen. „Wenn du mich heiratest, dann bekommt Nihal eine Abaya geschenkt“, schlägt er vor, legt die Hände wie zum Gebet aneinander und schluchzt theatralisch gen Himmel. „Los, heirate ihn!“, ruft Nihal in einer Drehung, und jetzt lachen wir alle.
Yasin betritt den Laden. Er begrüßt Hussein mit drei Wangenküsschen, hält mir seine Hand unter die Nase, öffnet sie, und ich weiche vor Schreck einen Schritt zurück. In der Hand sitzt eine Kakerlake. „Cool, oder?“, kichert er. Die Schabe ist aus Gummi. Er feixt und fischt aus seiner Jeanstasche einen Tausendfüßler und einen Skorpion. „Der Skorpion ist am schönsten. Ich liebe Skorpione!“ Die Gummiviecher hat er heute Morgen einem Händler abgekauft. Letzten Monat ließ er sich sogar eins dieser Spinnentiere auf das Schulterblatt tätowieren. „Manchmal fahre ich in die Wüste, um Skorpione zu fangen“, erzählt er. „Und was machst du damit?“, frage ich. „Betrachten“, antwortet er, und seine Augen glänzen. Er verabschiedet sich auf Japanisch: „O saki ni shitsurei shimasu. Sayonara.“ – „Sayonara“, erwidere ich, und er verbeugt sich. Wunderliche Erdbewohner.
Nihal hat sich zwischenzeitlich in den ersten Stock verkrümelt, um Gott anzurufen. Offenbar brachte das Gespräch mit ihm Klarheit, denn zehn Minuten später kauft sie die kirschrote Abaya mit den Goldfransen.


Für Damen ungeeignet
Satt fällt der Regen auf Amman, Wolken türmen sich zu einem Gebirge auf. Der Raum ist dunkel, nur die Lämpchen auf den Tischen leuchten, es riecht nach Papier und Geschichte, an den Wänden hängen Schwarz-Weiß-Fotos von Ausgrabungsstätten, in einer Vitrine stehen zusammengeflickte Vasen. Die Bibliothek des American Center of Oriental Research gehört zu den führenden Forschungsbibliotheken in der Region. Mehr als 100 000 Abbildungen von Ruinen und Fundstücken sind hier archiviert, 40 000 Zeitschriften zum Thema Archäologie in Nahost lassen sich einsehen und über 1500 Karten zur Topografie Jordaniens warten darauf, aus dem Regal gezogen zu werden.
Ich stöbere durch die Gänge und fühle mich in meine Studententage zurückversetzt. Damals verbrachte ich viele Stunden in der Bücherei und verlor mich zwischen den Jahrhunderten.
Ich greife nach einem Buch, Death and Burial in the Near East steht auf dem Cover, ich blättere und fahre mit dem Finger über byzantinische Kirchen und libanesische Friedhöfe, stoße auf die 2000 Jahre alten Grabtürme in der Oasenstadt Palmyra. Der Islamische Staat hat sie mittlerweile gesprengt.
Das nächste Buch trägt den Titel Dancing Fear and Desire. Auf dem Umschlag ein Bauchnabel, von dem eine Linie schwarzen Flaums abwärts führt. Wer hier einen schlüpfrigen Groschenroman vermutet, liegt falsch. Tatsächlich behandelt das Werk die eurozentrische Sicht auf den Tanz im Orient – sowohl den weiblichen als auch den männlichen –, und wie die westliche Kolonialpolitik samt ihrer verklemmten Kolonialherren nicht nur den „Bauchtanz“, sondern gleichermaßen die Sexualität beeinflusst hat. Ebenso die Homosexualität. Homoerotische Inhalte waren schließlich über Jahrhunderte hinweg normaler Bestandteil der arabischen, persischen und osmanischen Literatur. Obwohl muslimische Rechtsgelehrte den Analverkehr zwischen zwei Männern verurteilten und Strafen forderten, waren gleichgeschlechtliche Beziehungen weit verbreitet. Sie gehörten zum gewöhnlichen Stadtleben. Sogar Imame und Muftis verfassten homoerotische Poesie. Kalifen, Wesire, Literaten, Generäle oder Händler hatten junge männliche Geliebte – es gibt reichlich Quellen darüber. So gesehen ist die heutige Homosexuellenfeindlichkeit in muslimischen Ländern weniger „islamisch“ geprägt, sondern kommt eher „viktorianisch“ daher.
Dann endlich Unsuitable for Ladies: An Anthology of Women Travellers, eine Textsammlung über reisende Frauen – Gertrude Bell, Freya Stark, Isabella Bird, Lady Anne Blunt. Ich setze mich an einen Tisch und beginne zu lesen. „Eine Dame als Entdeckerin? Eine Reisende in Röcken? Lasst sie lieber die Babys hüten oder unsere Hemden flicken, denn sie müssen nicht, können nicht und werden niemals Erdkundler sein.“
Mit diesem Appell richtete sich 1893 die britische Satire-Zeitschrift Punch an die Royal Geographical Society. Die Forderung war ironisch gemeint und ein Angriff auf die königliche Gelehrtengesellschaft, die bis 1893 nur aus Männern bestand. Echte Ladys sollten eben nicht durch die Welt stromern, sondern Kinder gebären und Blumenbilder malen. Es wundert nicht, dass sich insbesondere die Damen der viktorianischen Zeit ausgerechnet in den Orient wünschten. In eine Wüstenlandschaft weit unten auf der Landkarte, wo die Grenzen verschwimmen. Wo Namen wie Arabien, Mesopotamien und Persien Musik in den Ohren all jener war, die Weltweh und einen entriegelten Freiheitsdrang verspürten.
Heute wird das Orientbild von Extremismus und Öl bestimmt. Diese Darstellung ist genauso tendenziös wie die Zeichnung einer halb nackten Odaliske, die sich auf einem Teppich fläzt, als gängiges Sujet des Orientalismus. Die Haremsdamen sind mittlerweile beerdigt, stattdessen wird vor Dschihadisten gewarnt, die dem Westler nach dem Leben trachten. Dass ich trotzdem lieber durch Nahost reise, als auf dem heimischen Sofa dahinzukompostieren und grenzdebile Kommentare auf Facebook abzulaichen, scheint für die meisten Leute kein nachvollziehbares Lebenskonzept zu sein. Erschreckend, wie viele Bedenkenträger gleich hinterm nächsten Jägerzaun Gefahr wittern und bei dem Wörtchen „Fremde“ Schnappatmung bekommen. Rundumher exkrementieren Defätisten ihren Driss ins Netz und degradieren sämtliche Muslime zu Islamisten. Dazu gesellen sich die Unheilspropheten, die Angst predigen und einer Frau die Fähigkeit absprechen, allein auf Reisen zu gehen. Wie schwer muss es da für eine Gertrude Bell gewesen sein, sich durchzusetzen, loszuziehen? Vor hundert Jahren?
„Für Damen ungeeignet!“ rief man der rothaarigen Britin mit den grünen Augen hinterher und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. 1868 in England als Tochter einer wohlhabenden Familie geboren, schien ihr Weg vorgezeichnet: Sie würde zur Schule gehen, heiraten und den Rest ihres Lebens als Ehefrau und Mutter in einer Stadtvilla in London abschnaufen. Doch es kam anders. Nach ihrem Geschichtsstudium zog sie zu Verwandten nach Teheran und erlernte Farsi. In den nächsten Jahren bereiste sie Mesopotamien und das Osmanische Reich, kartierte unerschlossene Gebirge und fotografierte frühbyzantinische Kirchen. Sie ritt mit einem Pferd in die Wüste und besuchte die ortsansässigen Stämme. Auf einer ihrer Reisen lernte sie den britischen Leutnant Thomas Edward Lawrence kennen. Dass der junge Mann später als „Lawrence von Arabien“ in die Geschichte einging, während Bell viele Jahrzehnte vergessen blieb, ist der tief in der Gesellschaft verankerten Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern zu verdanken. Frauen galten als unebenbürtig, Bell bewies das Gegenteil. Und dennoch sprach sich just die selbstbestimmte Weltenbummlerin gegen das Frauenwahlrecht aus. Wunderliche Bell.
Im Laufe der Zeit avancierte sie zu einer wirkungsreichen politischen Beraterin in Nahostfragen. Sie war an der Ernennung der Könige Jordaniens und Iraks beteiligt, und sie überzeugte 1921 den damaligen britischen Kolonialminister Winston Churchill, Irak die Unabhängigkeit zu ermöglichen. Dennoch war Gertrude Bell ein Kind ihrer Zeit. So schwärmte sie von den „urwüchsigen, wilden Arabern“. Und Lawrence wiederum beschrieb die Beduinen als „beschränkte, engstirnige Menschen, deren träger Verstand aus Gleichgültigkeit brachliegt“. Gemeinsam mit Bell arbeitete er an der Grenzziehung des Irak.
Aber nicht nur Irak, auch das heutige Jordanien ist ein Produkt der europäischen Kolonialpolitik und der Nahostkriege. Im geheimen Sykes-Picot-Abkommen von 1916 hatten Großbritannien und Frankreich die arabischen Provinzen des dahinscheidenden Osmanischen Reiches unter sich aufgeteilt: Die Briten sollten ein Gebiet erhalten, das insgesamt etwa dem heutigen Jordanien, Irak und Kuwait sowie der Region um Haifa entspricht. 1920 kam noch ein zwei Jahre später ratifiziertes Völkerbundsmandat für Palästina hinzu. Frankreich sollte das Mandat über den Südosten der Türkei, Syrien, Nordirak und den Libanon übernehmen. Später musste das Arrangement erweitert werden, um auch Italien einzubinden. Die Bolschewiken verloren indes das Interesse. Kolonialbeamte, die die Region nicht kannten, zogen die Grenzen. 1923 wurde das Emirat Transjordanien abgetrennt, welches sich 1946 zu einem unabhängigen Königreich erklärte und sich seit 1950 Jordanien nennt.
Sykes-Picot wirkt bis heute nach, der weiße Mann hat viel Unglück gebracht, obgleich der Pakt nicht als einzige Konfliktursache des Nahen Ostens ausgemacht werden kann, wie es Hobbyhistoriker zuweilen postulieren. Denn lokale Akteure, Religion, Nationalismus, die Entdeckung des Erdöls auf der Halbinsel, die Dauerfehde mit Israel und die Interventionen Russlands und der USA spielen ebenfalls mit hinein. Die inneren Spannungen sowie die ethnischen und konfessionellen Zwistigkeiten existierten zudem schon vor dem Ersten Weltkrieg. Es wäre würdelos, den Arabern nur eine Opferrolle zuzuweisen.
Gertrude Bell geriet nach ihrem Tod 1926 in Vergessenheit, Lawrence von Arabien hingegen setzte Regisseur David Lean 1962 ein cineastisches Denkmal, in dem Bell mit keinem Wort erwähnt wird. Erst 53 Jahre später schaffte sie es auf die Leinwand. Nur leider traut ihr Regisseur Werner Herzog nicht allzu viel zu, denn er macht aus ihr ein rotwangiges Mädchen, das Sätze sagt wie: „Ich bin nur eine Frau, die ihren Mann vermisst.“ Königin der Wüste heißt der Hollywoodschinken, der 2015 in die Kinos kam. Nicole Kidman spielt die Titelheldin, aufgerüscht und mit Plastikgesicht – Veronica Ferres hätte es nicht schlechter machen können. Dabei mag ich Kidman, sie hat großartige Filme gedreht. Aber „Königin der Wüste“ wird sie in diesem Leben nicht mehr werden. Dass ich nicht vor Langeweile gestorben bin, verdanke ich meiner Verärgerung, denn hier wird die Frau wieder nur über den Mann erzählt, sie kann als eigenständiges Wesen nicht bestehen. Ihre Motivation speist sich lediglich aus einer verlorenen Liebe und deren Kompensation. Dass Bell die Rocky Mountains bestieg, Besteller schrieb, für den britischen Geheimdienst arbeitete, die Gedichte von Hafez übersetzte, als einzige Frau mit 39 Männern über die Zukunft des Irak verhandelte und dass ihr Charakter zutiefst widersprüchlich war – all das ist für Herzog irrelevant. Aber auch den Arabern gesteht er nicht mehr Autonomie zu. Sie dienen bloß als Staffage, sind nichts weiter als Requisite, wild und edel natürlich. Ein Orient, so wie ihn der Okzident gerne sieht. Dass Flitzpiepe Robert Pattinson die Rolle des T. E. Lawrence übernimmt, grenzt an Satire. Ein Film wie ein Totalschaden. Für Damen ungeeignet.


Pfeifende Skorpione
Der Regen hat nachgelassen, zur Zitadelle möchte ich, ihre Überreste liegen auf einem der Hügel Ammans. Rana fährt das Taxi. Vor zehn Jahren starb ihr Ehemann, da war sie 25. Seitdem zieht die Palästinenserin ihre beiden Töchter alleine groß. „Die Mädchen stecken mitten in der Pubertät“, sagt sie und verdreht die Augen, „die eine ist ein bisschen fett, die andere dünn. Das gibt oft Streit.“
Die Hauptstadt ist teuer, der Taxijob spült ein wenig Geld in die Haushaltskasse, allerdings sind Ranas Arbeitstage oft länger als die ihrer Kollegen, denn sie chauffiert nur Frauen. Damit bricht die Hälfte der Bevölkerung als Einnahmequelle weg. „Warum keine Männer?“, frage ich. Und Rana antwortet: „Ich mag sie nicht.“

Der Zitadellenhügel war schon in der Bronzezeit besiedelt und gewann über die Jahrhunderte eine beachtliche militärische und religiöse Bedeutung. Die Säulen und Mauern, die noch stehen, stammen aus römischen, byzantinischen und umayyadischen Zeiten. Eine zerbrochene Kirche, die Trümmer eines Herkules-Tempels, die Rundbögen eines Kalifen-Palastes, ich steige hinüber, mache ein paar Fotos, nach zehn Minuten beginnt es abermals zu nieseln. Die Touristen flüchten in das kleine Museum am Rande der Ruinen.
Ich verweile draußen, denn etwas Wundersames passiert: Wieder erklingt der Adhan, der Gebetsruf. Zuerst höre ich nur einen Muezzin, doch dann stimmt der nächste ein und noch ein weiterer, bis alle Muezzine Ammans gleichzeitig rufen, aus jeder Ecke der Stadt. Ihre Klangfarben trägt der Wind den Hügel herauf, zusammen mit dem Trommeln des Regens, dem Hupen der Autos, dem Brausen der Welt und dem Widerhall all dessen. Eine orgiastische Kakofonie, so überschäumend wie ein Gemälde von Jackson Pollock.
Erst als meine Kleidung durchnässt und die Wimperntusche zerlaufen ist, eile auch ich in das Museum, in dem sich zwei Dutzend Menschen drängeln. Der Kassenmann begrüßt mich wie eine alte Freundin, über ihm hängt ein „Rauchen verboten“-Schild, in seiner rechten Hand glimmt eine Zigarette. Die Besucher schieben sich durch die Gänge, schauen sich Krüge aus Ton an. Die Chinesen knipsen jeden Splitter. Manchmal stellen sie sich auch daneben und machen das Victory-Zeichen. Ich liebe Museen. Sie beruhigen mich. Wie viele Scherben ich wohl schon angeglotzt habe? Wie viele zertrümmerte Vasen und geköpfte Statuen? In der Türkei, Italien, Griechenland, Iran? Lauter Stillleben hinter Glas.

Nach dem Museumsbesuch kutschiert mich Taxifahrer Osama zurück zum Hotel. Am Rückspiegel schaukelt ein Duftbaum, „Welcome“ ist eingestanzt, es riecht nach Vanille im Auto.
„Und du bist ganz alleine unterwegs?“, fragt er. „Als Frau?“ Ich nicke. „Du hast Eier!“ Osamas Schnauzbart wippt, wenn er lacht. „Woher kommst du?“, will er wissen. „Deutschland“, antworte ich. „Aaaah, Angela Merkel. Die mag ich! Und Bayern München! Deutschland ist toll!“
Er zieht eine CD aus dem Handschuhfach, schiebt sie in den Player, und ich höre ein Pfeifen, dann folgen die ersten Zeilen: „I follow the Moskva, down to Gorky Park, listening to the wind of change.“ Osamas Schnauzbart wippt noch immer. Bei „Take me to the magic of the moment on a glory night“ stecken wir im Stau. Zum Vanilleduft mischen sich Rauchgase. „Die Deutschen machen gute Musik“, meint Osama und sagt eine Liedzeile von Rammstein auf: „Du hast. Du hast. Du hast mich gefragt, und ich hab nichts gesagt.“ Die Scorpions pfeifen dazu.
Osama stammt aus Palästina, wie so viele Taxifahrer in Amman. „Ich hoffe, die Kämpfe hören eines Tages auf. Aber ich glaube, das wird noch lange dauern“, fürchtet er, und jetzt wippt sein Schnauzbart nicht mehr.
Die meisten Palästinenser sind Nachkommen jener Generation, die 1948 nach Jordanien fliehen musste; 400 000 Frauen, Männer und Kinder waren es damals. Im Sechstagekrieg 1967 verlor Jordanien seine gesamten Gebiete westlich des Jordans an Israel. Weitere 400 000 Menschen flohen ins Haschemitische Königreich. Heute hat wahrscheinlich mehr als die Hälfte der Bevölkerung palästinensische Wurzeln. Nach den Golfkriegen kamen noch etwa 500 000 Iraker hinzu, so wird vorsichtig geschätzt. Dann die Syrer. Für all die Verzweifelten und Vertriebenen ist Jordanien mehr als ein Refugium, es ist ihre Heimat geworden.
„Ich lebe seit fünfzig Jahren in Amman“, sagt Osama, „meine Kinder sind hier geboren, meine Enkelkinder. Es gibt kein Zurück mehr.“
Er dreht die Musik leiser, und schließlich lassen auch die Scorpions das Pfeifen bleiben.


Yallah Action
Ich wähle eine Handynummer. Dafür habe ich ein paar Tage gebraucht, denn ich leide unter Telefonangst. So etwas gibt es. Mir fällt es schwer, fremde Menschen anzurufen. Ich vermeide Telefonate, oder ich schiebe sie auf. Mir sind sie zu intim. Wenn es klingelt, hebe ich selten ab. Ich weiß nicht, woher diese Angst kommt.
Der Mann, dessen Nummer ich jetzt wähle, hat keine E-Mail-Adresse. Er ist über achtzig, also wird er keine WhatsApp-Nachrichten lesen. Ich muss ihn anrufen.
Es tutet. Zweimal, dreimal. „Hello?“, sagt eine Männerstimme, und weil ich hektisch bin, quassle ich sofort los, auf Englisch, nenne meinen Namen, erkläre, woher ich seine Handynummer habe, und frage, ob er in dieser Woche Zeit hätte, egal wann, nur eine halbe Stunde, ich deute an, dass ich ein Buch über Arabien schreiben möchte und in der Altstadt wohne, ich sei flexibel, wir könnten uns ja irgendwo verabreden, für ein Gespräch, sofern er einverstanden wäre und Zeit hätte, aber das erwähnte ich bereits.
Wahrscheinlich spreche ich zu schnell, und vermutlich klinge ich kompliziert. Der Mann sagt: „Wir treffen uns in zwanzig Minuten“, und legt auf. Einen Ort hat er nicht genannt. Ich muss ihn noch einmal anrufen. Es tutet. „Hello?“, sagt er, und ich wiederhole meinen Namen, entschuldige mich, frage nach dem Treffpunkt, denn ich wisse nicht, wohin, und es wäre ja schade, wenn wir uns verpassen würden und überhaupt. „King Hussein Street 45“, antwortet er und legt auf.

Fünfundzwanzig Minuten später betrachte ich die Bilder in seiner Galerie. Ein Greis im Malerkittel misst mit einem Zollstock die Wand aus. Er nimmt mich nicht zur Kenntnis. Auf einem Foto ist das römische Theater abgebildet, in Schwarz-Weiß, darüber hängt mit wenigen Strichen die Zeichnung eines Flapper Girl, die junge Frau trägt Wasserwelle und einen Pelzkragen, wie es in den 1920er-Jahren Mode war. Daneben eine Kaffeehausszene, vielleicht in Amman, ich erkenne ihn sofort, aus seinem Blazer ragt ein rotes Einstecktuch, er lächelt, auf dem Bistrotisch liegt eine Schachtel Zigaretten.
Mamdouh Bisharat ist ein berühmter Mann in Jordanien. Er traf Dutzende Botschafter und Staatsmänner, auch die Genschers. Sein Jugendfreund war der verstorbene König Hussein, er verlieh Bisharat den Titel eines Herzogs.
Draußen parkt ein Pick-up, auf der Ladefläche ein Gemälde in Großformat. Der Herzog betritt die Galerie, sein Mantel ist ausgefranst. Er schüttelt mir die Hand, sein Handy schellt, ein Nokia aus dem letzten Jahrtausend. „Hello?“, sagt er ins Telefon. „Kommen Sie morgen.“ Er legt auf.
Wir setzen uns, er reicht mir eine Tasse Kaffee, ich lächle, er weiß nichts mit mir anzufangen. „Sie sind Deutsche?“, fragt er schließlich, ich nicke. „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn“, zitiert er Goethe und fügt hinzu: „Deutschland war sehr freundlich zu uns. Es half bei unseren wirtschaftlichen Problemen. Und es nahm viele Flüchtlinge aus Syrien auf. Das war ein Akt von großer Humanität.“ Sein Handy klingelt. „Hello?“ Ich nippe an meinem Kaffee. „King Hussein Street 45.“ Als er auflegt, verrät er: „Ich kann nicht Nein sagen. Wenn jemand anruft und etwas von mir will, dann sage ich Ja.“
Mit landwirtschaftlichen Betrieben verdiente der „Duke“, wie ihn hier alle nennen, ein Vermögen. Er selbst bezeichnet sich ganz bescheiden als „Landwirt“, doch seine Liebe gilt seit jeher der Kunst. Er investiert eine Menge Geld in die Erhaltung alter Häuser, versorgt Künstler mit Aufträgen, schützt die Umwelt, kuratiert Vernissagen, er unterstützt archäologische Projekte und ist mit seinem Engagement einer der wichtigsten Bewahrer des jordanischen Erbes.
„Haben Sie einen Leitspruch?“, frage ich ihn, während er nach seinem Handy kramt. „Wenn jemand etwas macht, dann mach etwas anderes. Warum zweimal das Gleiche?“, antwortet er, wählt eine Nummer, spricht ein paar Sätze Arabisch ins Telefon, dann legt er auf. „Die wichtigste Regel im Leben lautet …“, er schaut mich ernst an, „immer in Bewegung bleiben!“ Er grinst, klatscht in die Hände und ruft: „Yallah Action!“ Yallah ist Arabisch und bedeutet „Auf geht’s“. Das „Action“ erklärt sich von selbst, denn der Duke flitzt aus der Tür, ich folge ihm.
An Betonbauten und Häusern aus Kalkstein schiebt sich dichter Autoverkehr vorbei. Wir laufen durch die Altstadt, und der Duke erzählt von früher, er deutet auf Gebäude und Straßenecken, an denen dies oder das passiert ist. Allerorts begrüßen ihn die Menschen, klopfen ihm auf die Schulter. Irgendwann hält er eine Tasse Kaffee in der Hand und schlendert damit den Bürgersteig entlang. „Kennen Sie meinen Diwan?“, fragt er mich.
Des Herzogs Diwan ist das älteste Steinhaus der Stadt. Im Salon hängen Fotografien von Amman aus den 1930er-Jahren neben Skizzen von römischen Ruinen und impressionistischen Gemälden. 1924 erbaut, diente das Gebäude als Postamt, dann als Hotel. Der Duke rettete es vor der Abrissbirne und errichtete hier seinen Diwan, also jenen Teil eines Hauses, der Gästen immer offen steht, wo Musiker auf der Ud spielen, wo die königliche Familie einkehrt und wo Dichter und Diplomaten miteinander diskutieren.
„Warum wurden Sie zum Denkmalpfleger?“, frage ich ihn. „Weil ich mich geärgert habe“, antwortet er. Damals streiften Schatzsucher durch Jordanien. Sie zerbrachen Büsten und Säulen, um sie als Mitbringsel an Touristen im nahe gelegenen Jerusalem zu verhökern. „Ich beschloss, die Antiquitäten einfach selbst zu kaufen“, erklärt der Duke. Für drei Dinar erwarb er eine kopflose römische Statue. Das war der Anfang. Es folgten Hunderte weitere Stücke, die jetzt alle beim Antiquitätenamt registriert sind. Er setzte sich für die Erhaltung und Wiederherstellung der Kultstätten von Umm Qais, Jerash und für die Zitadelle von Amman ein. Wenn er nicht gerade mit Gästen zu Mittag isst, Botschafter empfängt, Interviews gibt oder Kulturgut rettet, dann hebt er Abfall auf – Plastiktüten, Flaschen, Kaffeebecher. „Mein Land ist schön. Es soll ein lebendiges Museum sein und keine Müllkippe“, sagt er.
Der Tisch ist eingedeckt, es gibt Brokkoli und Spaghetti, Lamm und Hummus. Das Gemüse stammt von seinen Ländereien. Zum Nachtisch serviert er Kanafeh, eine warme Süßspeise aus einem leicht salzigen Käse, übergossen mit süßem Sirup.
„Wie alt sind Sie eigentlich?“, frage ich ihn.
„Hundertzwanzig“, antwortet er.
„Dafür haben Sie sich gut gehalten“, scherze ich.
„Ja“, er lacht, „ich verbringe lieber Zeit mit jungen Menschen. Die alten haben andauernd Probleme, dann sitzt das Hörgerät nicht richtig, oder sie sind müde. Das ist mir zu langweilig.“ Sein Handy klingelt. Während er telefoniert, betrachte ich ihn. Ein beeindruckender Mann. Ein Macher, der Stillstand nicht erträgt.
Vor ein paar Wochen starb ein Kollege von mir. Er bewegte sich selten, besaß kaum Freunde. Die Polizei fand ihn vor seinem Computer. Er hatte nach Symptomen für einen Herzinfarkt gegoogelt.
„Haben Sie Angst vor dem Tod?“, frage ich den Duke, nachdem er aufgelegt hat. Er drückt meine Hand und sagt: „Darüber mag ich nicht nachdenken.“

Sightseeing in Teheran: Ein Reisetipp von Couchsurfer Stephan Orth

»Teherans Nationalmuseum des Iran wird von denen, die sich auskennen, als „Mutter aller Museen“ angesehen.

Behauptet zumindest eine Plakette an seiner Außenmauer. Die Ausstellungsstücke sind tatsächlich sensationell. Wer weiß schon, dass die Perser den ersten Trickfilm der Welt gedreht haben! „Gedreht“ im wahrsten Sinn des Wortes. Es handelt sich um einen runden Tonkelch, auf dem ein Steinbock zu sehen ist, der zu den Ästen eines Baumes hochspringt. Aus fünf Einzelbildern besteht die Szene, wer das Gefäß schnell genug dreht, kann die Bewegung wahrnehmen wie bei einem Daumenkino.

Bei den Oscars 2300 vor Christus hätte „Bock frisst Blätter“ in allen Kategorien abgeräumt, Drehbuch, Regie, Hauptdarsteller und Spezialeffekte sowieso, außerdem Soundtrack (Ton reibt auf Sandboden) und bester Nebendarsteller (der Baum). Leider gab es die Oscars damals noch nicht. Das kulturelle Geschehen in Deutsch­land zur gleichen Zeit? Ein paar langhaarige Zausel, die abends in der Höhle von der Jagd erzählten. Die Kulturszene in den USA damals? Nun, Sie verstehen schon.«

Aus „Couchsurfing im Iran“ von Stephan Orth

Kommentare

1. Gotteslästerung und Saufpoesie
Iranerin am 01.05.2015

Gotteslästerung und Saufpoesie? Da sind Sie in einem Fettnäpfchen getretten!

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Montag, 27. Mai 2024 von Piper Verlag