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Das erste Leben der Angela M.

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Das erste Leben der Angela M. — Inhalt

Angela Kasner war so angepasst, dass sie als Pfarrerstochter studieren, promovieren konnte und so der wissenschaftlichen Elite der DDR angehörte – aber alles ganz unauffällig. Sie und ihr späterer Ehemann Joachim Sauer waren so privilegiert, dass sie sogar „Reisekader“ wurden. Erst in der turbulenten Endphase der DDR tauchte sie überraschend auf und kam mit Hilfe von Stasi-Mitarbeitern wie Wolfgang Schnur oder dem DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière blitzschnell im Zentrum der Macht an. Hier lernte sie die Techniken der Macht, mit der sie später ihre Gegner – nicht zuletzt in der eigenen Partei – aushebelte. Erstmals wird hier die verschwiegene Vergangenheit der Bundeskanzlerin untersucht; wer den Politikstil verstehen will, mit dem sie Deutschland und Europa dominiert, muss diese Vergangenheit kennen.

€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 14.05.2013
336 Seiten
EAN 978-3-492-96161-5
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Leseprobe zu „Das erste Leben der Angela M.“

Man weiß … über 35 Jahre meines Lebens kaum etwas

Einleitung


Eine Ewigkeit trennt diesen Abend von ihrem ersten Leben. Es liegt verborgen hinter all den Jahren der Orientierung und Konsolidierung, zugedeckt durch Bilder und Berichte des steilen Aufstiegs, der sie schließlich an diesen Ort geführt hat. Angela Merkel hat mehr erreicht, als sie selbst zu hoffen wagte. Wäre sie eine Romantikerin, würde sie vielleicht sagen, dass ihr ein Traum erfüllt wurde. Aber sie ist viel zu sehr Realistin, um zu träumen. Ihr Denken strebt nach Ordnung, nichts soll dem [...]

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Man weiß … über 35 Jahre meines Lebens kaum etwas

Einleitung


Eine Ewigkeit trennt diesen Abend von ihrem ersten Leben. Es liegt verborgen hinter all den Jahren der Orientierung und Konsolidierung, zugedeckt durch Bilder und Berichte des steilen Aufstiegs, der sie schließlich an diesen Ort geführt hat. Angela Merkel hat mehr erreicht, als sie selbst zu hoffen wagte. Wäre sie eine Romantikerin, würde sie vielleicht sagen, dass ihr ein Traum erfüllt wurde. Aber sie ist viel zu sehr Realistin, um zu träumen. Ihr Denken strebt nach Ordnung, nichts soll dem Zufall überlassen bleiben. Erfolg ist ihrem Verständnis nach niemals glückliche Fügung, sondern immer nur die Bestätigung einer gründlichen Kalkulation: Erfolg ist für sie das nüchterne Ergebnis einer aufgehenden Gleichung. Und so zeigt sie sich an diesem Abend auch nicht überschwänglich emotional, sondern erklärt nüchtern: „Aber dass ich einmal im Rosengarten des Weißen Hauses stehen würde und dass ich von einem amerikanischen Präsidenten die Freiheitsmedaille empfangen würde, das lag jenseits all meiner Vorstellungskräfte.“

Es ist der 7. Juni 2011. Noch vier Monate, dann wird Angela Merkel als Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland sechs Jahre das wiedervereinigte Land regiert haben, das sie einst gar nicht wiedervereinigen wollte. Aber wer weiß das schon an diesem Abend im Rosengarten des Weißen Hauses in Washington? Und derjenige, der es mindestens so gut wissen muss wie sie selbst, ihr Ehemann Joachim Sauer, hört ihre Worte mit ausdrucksloser Miene. Er, der amerikanische Präsident Barack Obama und dessen Ehefrau Michelle verfolgen die Rede an den festlich für das State Dinner eingedeckten Tischen. Sie sitzen mit dem Rücken zum Rednerpult, wo Angela Merkel vor 206 geladenen Gästen den Amerikanern ihren Dank für die ihr zuteilwerdende höchste Auszeichnung der Vereinigten Staaten ausspricht. Sie wird an Persönlichkeiten vergeben, die im Geiste der Freiheit einen bedeutenden Beitrag „für die Sicherheit oder das nationale Interesse der USA, den Weltfrieden und kulturelle oder andere bedeutsame öffentliche Belange“ geleistet haben.

Obama und dessen Ehefrau Michelle haben ihre Stühle zurechtgerückt, damit sie die Rednerin wenigstens seitlich anschauen können. Sauer hingegen dreht sich nicht einmal in dem Augenblick zu ihr um, in dem sie auf die zuvor von Obama genannte Begründung für die Preisverleihung eingeht. Angela Merkel habe es in ihrer Jugend abgelehnt, für die Stasi zu spionieren, hat Obama gesagt. Aber nicht dafür bekomme sie den Orden. Auch nicht dafür, „dass ihr die Freiheit verweigert wurde, auch nicht für das Erlangen der Freiheit“, sagte er, und ein jeder der Anwesenden mag sich insgeheim gefragt haben: Wenn nicht dafür, wofür denn dann? Die Antwort lautete: „Sondern für das, was sie durch die erlangte Freiheit erreicht hat.“

In diesen Minuten nun steuert Angela Merkel auf jenen Punkt zu, der sie weit zurück bis ans Ende der DDR führt, an jene Grenze zwischen Unfreiheit und Freiheit, an die Zeit des Übergangs von ihrem ersten in ihr zweites Leben. Sie spricht davon, dass sich die Sehnsucht nach Freiheit nicht in Mauern gefangen halten lässt. „Und welche Kraft die Sehnsucht nach Freiheit entfalten kann, das hat die Geschichte schon oft gezeigt“, sagt sie. „Sie bewegte Menschen dazu, Ängste zu überwinden, sich offen gegen Diktaturen zu stellen. So auch im Osten Deutschlands und Europas vor rund 22 Jahren.“

Sauers Gesicht ist unbewegt, als sich seine Frau in ihrer Rede immer weiter von sich selbst entfernt. Wichtige Reden geht sie vorher oft noch einmal mit ihm durch. Und was sie hier und heute Abend sagt, ist zweifellos wichtig. Wort für Wort tastet sie sich in ihrem sorgsam ausgearbeiteten Text voran, der nun grammatikalisch in die dritte Person Plural wechselt und es vermeidet, diejenigen beim Namen zu nennen, denen die Welt ihrer Ansicht nach die Überwindung der Diktatur im Namen des demokratischen Sozialismus zu verdanken hat. Sie, die vorhin noch eindringlich von ihren lebhaften und ganz persönlichen Erinnerungen an den Mauerbau vor 50 Jahren gesprochen hat und davon, „dass Erwachsene, auch meine Eltern, vor Fassungslosigkeit weinten“, bleibt bei der Schilderung des nur 20 Jahre zurückliegenden Geschehens vage, ganz so, als seien die damals handelnden Personen bis heute in einem dichten Nebel verborgen. Angela Merkel spricht weder von Politikern noch von den Bürgern oder den Bürgerrechtsbewegungen der DDR, sondern wählt ausdrücklich das in diesem Fall so verallgemeinernde, weder die Umstände noch die handelnden Personen näher bestimmende Wort „Menschen“. Menschen hätten die Mauer zwischen Ost und West überwunden, sagt sie. Wer wollte ihr da widersprechen, auch wenn dies nur ein Teil der Wahrheit ist. Der andere Teil sind wirtschaftliche Zwänge, die in den sozialistischen Staaten Reformen unausweichlich machten. Aber viel mehr als das interessiert jetzt und hier im Rosengarten, wie sie selbst, die dort oben im schwarzen Abendkleid am Rednerpult steht und zu der alle aufschauen, ihre damalige Rolle sieht. Doch genau das sagt sie nicht. Sie bleibt die Antwort schuldig. „Ich verneige mich in Demut vor allen, die für die Freiheit ihr Leben in Gefahr bringen (…)“, sagt sie. „Und einige dieser mutigen Frauen und Männer begleiten mich heute Abend. Die Freiheitsmedaille, die mir verliehen wird, wird auch ihnen verliehen.“

So liegt ihr erstes Leben auch an diesem Tag und darüber hinaus im Vagen, eingegraben in ihr eigenes Gedächtnis und in die Erinnerung all jener, die sie damals begleiteten und förderten. Allen anderen aber, die in jenen Tagen nicht in ihrem engsten Umkreis dabei waren, ist die weltanschaulich-politische Seite dieses Lebens bis heute weitgehend unbekannt, und sie bleibt es, weil Angela Merkel selbst diese Seite, die sowohl den Menschen als auch die Politikerin erst erklären könnte, im Verborgenen belässt. Lieber nimmt sie es in Kauf, dass Zweifel an ihrer Person bleiben, an ihr, der ungewöhnlichen und erfolgreichen Politikerin, die an der Spitze der wirtschaftlich stärksten Nation in der europäischen Finanzkrise zur einflussreichsten Regierungschefin Europas aufstieg.

„Warum tust du dir das an, Mädel?“, sagte einmal ein alter Mann zu ihr, der eigens auf Socken aus seiner Mansardenwohnung im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg zu einem CDU-Wahlkampfstand auf der Schönhauser Allee zu ihr heruntergekommen war. Was sie ihm damals in den frühen Jahren ihrer Karriere geantwortet hat, ist nicht überliefert. Aber mit seiner Frage steht dieser alte Mann stellvertretend für viele, die Angela Merkel begegneten und sich keinen Reim auf diese Frau aus dem Osten Deutschlands machen konnten. Bis heute rätseln Zeitgeschichtler und Journalisten über ihr Weltbild, ihre Antriebskräfte, ihre Ziele und ihre Unnahbarkeit, die sie, die doch ganz oben angekommen ist, immer noch umgibt. Warum wirkt Angela Merkel so distanziert? „Strahlt sie die Einsamkeit aus, oder wird sie ihr zugemutet?“, fragt Johannes Leithäuser von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Wer könnte sie ihr zumuten, wenn nicht sie selbst? Welche Umstände zwingen eine Frau wie Angela Merkel, die von sich selbst behauptet, ein „gemeinschaftshungriger Gruppenmensch“ zu sein, die eigene Persönlichkeit so zu reduzieren? Auffallend oft tauchen in dem wenigen, was sie selbst in den zahlreichen Interviews der vergangenen 20 Jahre über ihre Kindheit und Jugend berichtete, Schilderungen aus ihren ersten Lebensjahren auf, an die ein Mensch normalerweise kaum eigene Erinnerungen hat. Sie aber spricht genau darüber. Sie spiegelt damit das, was andere über ihr frühes Leben gesagt haben, und verstellt möglicherweise mit diesem Spiegelbild den Zugang zu dem, was sie selbst im Innersten bewegt. So erzählt sie, dass sie zwar früh sprach, aber erst spät und dann auch nur mit großen Schwierigkeiten laufen lernte. Auf Nachfragen sinniert sie über die Gründe: „Vielleicht liegt es daran, dass ich als kleines Kind meistens im Laufstall saß.“ Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Vermutlich war es so. Aber es könnte auch anders gewesen sein.

Eigenartig verschwommen und auch widersprüchlich äußert sie sich über die DDR. „Mich verband mit diesem Land überhaupt nichts. Und ich habe die DDR nie als mein Heimatland empfunden“, sagt Angela Merkel. Sie habe „niemals DDR-Fernsehen gesehen, mit Ausnahme von Sportsendungen“. „Und später habe ich mich so verhalten, dass ich mit diesem Staat nicht dauernd in Konflikt leben musste.“ War sie deshalb in der FDJ, der „Kampfreserve der Partei“, als Funktionärin tätig, ob an der Schule, an der Universität und an der Akademie? Niemand konnte sie dazu gezwungen haben. Im Fernsehen bekannte sie gegenüber Günter Gaus kurz nach der deutschen Einheit sogar: „Ich war gerne in der FDJ.“

Sie sagt auch: „Ja, ich hatte eine schöne Kindheit. Das wird ja im Westen oft übersehen, dass das Leben in der DDR nicht nur aus Politik bestand. Die Uckermark als Landschaft ist wunderschön, wir sind im Wald rumgerannt, haben Blaubeeren gepflückt, Pilze gesammelt. Ich hatte mein Gartenstück, im Sommer bin ich jeden Tag baden gefahren. Abends auf dem See schwimmen war schön. Weihnachtslieder singen mit Echo.“ Wie passen diese Erinnerungen zu der Aussage, dass sie mit der DDR „überhaupt nichts“ verband? Ihr Biograf Langguth meint dann auch, sie habe etwas „Sphinxhaftes an sich“. Und auf die Frage „Wie viel DDR steckt in Angela Merkel?“ weiß auch er keine Antwort, wenn er schreibt: „Trotz aller Publizität und medialer Argusaugen sind sich viele, im Osten wie im Westen Deutschlands, in der Beantwortung dieser Frage nicht sicher.“

So wenig Angela Merkel über sich selbst und ihr Leben in der DDR preisgibt, so viel möchte sie über die Menschen erfahren, mit denen sie zu tun hat. Dabei geht es nicht nur um ihre Stärken und Schwächen, sie möchte ihre Wünsche kennen, ihre Vorlieben und Abneigungen. Sie interessiert sich für Hoffnungen wie für Enttäuschungen, für Feindseligkeiten und Karriereambitionen. Journalisten, die sie länger begleitet haben, sagen, sie habe in der CDU ein engmaschiges „Spitzelsystem“ aufgebaut. Sie sei deutschlandweit vernetzt. „Selbst aus Sitzungen von Bezirksvorständen bekommt sie Informationen.“ Denn Wissen ist Macht. „Sie (selbst) hat kein Vertrauen zu niemandem – vielleicht, weil man auch zu ihr kein Vertrauen haben kann“, sagt ein langjähriger Weggefährte aus dem Osten. Andere wiederum entdecken bei ihr eine Vorliebe fürs Versteckspiel, wenn sie etwa mit dem Linken-Politiker Dietmar Bartsch vor einer politischen Fernsehsendung schnell noch einige Sätze Russisch spricht. „Sie mag die kleinen Geheimnisse, und manchmal steht das in ihren Augen, wenn man ihr eine Frage stellt. Dann zögert sie mit der Antwort, schaut wissend und sagt dann irgendetwas Harmloses.“

Damit verblüfft sie die Leute, weil das Gesagte zuweilen so banal ist, dass niemand damit rechnet, und sie den Gesprächspartner so unbemerkt auf eine ganz andere Fährte lockt. Als sie einmal gefragt wurde, wie ihr zeitraubender Beruf denn eigentlich das Verhältnis zu ihrem Ehemann, der damals noch ihr Lebensgefährte war, verändert habe, antwortete sie mit der Attitüde der treu sorgenden Hausfrau: „Zum Beispiel blieb der Pflaumenkuchen auf der Strecke, den ich früher immer gebacken habe. Dieses Jahr ist mir irgendwann beim Spazierengehen bewusst geworden, dass jetzt die Pflaumen reif werden, aber an Kuchenbacken gar nicht zu denken ist.“ Plötzlich ging es nicht mehr um die Ehe, sondern ums Kuchenbacken.

Angela Merkel habe „die Kunst, allen Fragen auszuweichen, sich nicht festzulegen, nichts zu sagen, zu einem Grad perfektioniert, der nicht einmal im Neuen Deutschland der alten SED erreicht worden war“, schreibt Matthias Krauß. „Wer zu untersuchen trachtet“, so Krauß, „was Angela Merkel über sich selbst preisgibt, der stößt zuallererst auf ein einfaches Ergebnis: am liebsten gar nichts.“ Am Ende ihrer Biografie meint Jacqueline Boysen fast schon resigniert: „Die Politikerin hat ihre Fähigkeit, eine Maske zu tragen, perfektioniert.“ Einen Blick hinter diese Maske lasse sie nicht zu …« „Keiner soll hinter ihren selbst gewählten Schutzschirm schauen können“, konstatiert auch Biograf Gerd Langguth. Wen wundert es da, dass sie „Verschwiegenheit“ im Fragebogen des FAZ-Magazins als ihre Haupttugend bezeichnet.

Doch nicht nur sie selbst, der „ganze Merkel-Clan steht unter diesem Verhüllungszwang“, spitzt der Publizist Hajo Schumacher zu: „Vater Kasner, der strenge Geistliche, boykottiert Mikrofone, die Mutter wagt sich maximal zu einer Wahlveranstaltung der Tochter. Professor Sauer, angesehener Grundlagenforscher, ließ ein ARD-Team in Bayreuth mit leisem Triumph wissen, dass er keine Auftritte plane und auch sonst nichts sagen werde. Sie lächelt dazu.“ Angela Merkel selbst räumt dann auch ein: „Man weiß in den alten Bundesländern über 35 Jahre meines Lebens kaum etwas. Dieses Leben war ein Leben außerhalb des Berufspolitischen, sodass ich eigentlich eine verschärfte Seiteneinsteigerin bin. Das macht neugierig. Und das verstehe ich.“ Nachgeben aber will sie dieser Neugier nicht. Immer wieder lässt sie ihre Gesprächspartner enttäuscht zurück. Den Autoren dieses Buchs ließ sie von ihrem Regierungssprecher mitteilen, dass sie keine Zeit habe, sich mit den an sie gerichteten Fragen zu beschäftigen.

Mit dem wenigen und oft Banalen, das sie über ihre DDR-Zeit preisgibt, hat Angela Merkel eine Vorstellung von ihrem ersten Leben geschaffen. Es ist die Vorstellung von der Pfarrerstochter, einer Außenseiterin, die dennoch eine Wissenschaftskarriere in der DDR machte, von einer jungen Frau, die den real existierenden Sozialismus als Bürde ansah und schon als Kind vom politischen System der Bundesrepublik schwärmte. Zu dieser Vorstellung gehört auch, dass sie in der Wendezeit tatkräftig für die Einheit der Nation kämpfte. Alles ist so, wie es einer Kanzlerin aus den Reihen der christlich-demokratischen Union gut ansteht. Und alles ist auch – nur in Nuancen unterschiedlich – in die Biografien eingeflossen, die Evelyn Roll, Jaqueline Boysen, Wolfgang Stock, Gerd Langguth und zuletzt Stefan Kornelius geschrieben haben.

Doch verlief das erste Leben der Angela Merkel wirklich so, wie es bislang dargestellt wurde? In der schriftlichen Hinterlassenschaft der DDR nach Antworten zu suchen ist mühevoll. Die Unterlagen sind weitgehend vernichtet worden – diejenigen der kirchlichen Weiterbildungsstätte, die der Vater leitete, ebenso wie die der Organisationen, deren Mitglied er war; und auch die Dokumente der FDJ-Gliederungen, denen Angela Merkel angehörte, ob an der Leipziger Karl-Marx-Universität oder an der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Und das wenige, was die DDR überdauert hat, ist oft aus Datenschutzgründen gesperrt. Ähnlich ernüchternd verhält es sich mit den meisten Zeitzeugen. Wer fragt und von ihnen mehr wissen will, als dass sie als Jugendliche bei einer Moskau-Reise eine Langspielplatte der Beatles gekauft hat, stößt oft auf Misstrauen und Zurückhaltung, mitunter sogar auf Angst. Über die zweite Diktatur in Deutschland redet man eben nicht gern. Dennoch gibt es vereinzelt erhellende Dokumente und mitunter auch auskunftsbereite Weggefährten der Angela Merkel aus frühen Tagen.

Doch erst die Integration aller zusammengetragenen Informationen in den zeithistorischen Rahmen ermöglicht einen unverstellten Blick auf das erste Leben der Angela Merkel. Denn nur wer die Kirchenpolitik des SED-Staats und die Methoden, mit denen sie durchgesetzt wurde, kennt, wird die Rolle ihres Vaters und damit auch ihre Stellung in der Schule begreifen können. Nur wer weiß, was 1981 in Polen geschah, wird Angela Merkels Äußerungen deuten können. Und nur wer weiß, wie die Wende in der DDR in den Jahren 1989/90 zustande kam und welche dabei die entscheidenden Kräfte waren, wird die damalige Angela Merkel politisch verorten können. In dieser Methodik der Schilderung, die manchmal die Hauptperson verlässt und Zeitgeschichte erzählt, wie sie so in Teilen noch nicht erzählt worden ist, liegt der besondere Ansatz dieses Buches.

So formt sich alles – wie die Stücke eines Puzzles – zu einem Bild vom ersten Leben der jetzigen Bundeskanzlerin, das im Widerspruch steht zu demjenigen, welches sie selbst von sich entwirft. Dabei geht es neben der Prägung durch ihr kirchliches Elternhaus darum, wie sie es mit dem Sozialismus und mit der sowjetischen Reformpolitik unter Gorbatschow hielt. Es geht darum, ob sie während der Wende tatsächlich als „verschärfte Seiteneinsteigerin“ agierte, wie sie von sich sagt, oder ob ihr politisches Engagement nicht doch folgerichtig war aus ihrer Tätigkeit als Propagandistin der Betriebsgewerkschaftsleitung und als Funktionärin der FDJ-Grundorganisation an der Akademie der Wissenschaften der DDR.

Und schließlich ist da der kometenhafte Aufstieg der unauffälligen Frau im Faltenrock zur Bundesministerin innerhalb nur eines einzigen Jahres. Wie war dieser überhaupt möglich gewesen? Ist es der Zufall, der in Zeiten des Umbruchs solche Karrieren hervorbringt? Oder sind andere Faktoren ausschlaggebend, wie etwa die Spezifik ihrer Persönlichkeit, jenes Zusammenspiel von äußerlicher Unscheinbarkeit, messerscharfer Intelligenz und konsequenter Härte – einer Persönlichkeit, die so überlegen war, weil sie völlig unterschätzt wurde? Welche Rolle spielen Beziehungsgeflechte bei einem solch unglaublichen Aufstieg – Beziehungsgeflechte, die dann auch verständlich machten, weshalb wir über das erste Leben der Angela Merkel bislang so wenig wissen?

Günther Lachmann

Über Günther Lachmann

Biografie

Günther Lachmann, geboren am 11.3.1961 in Papenburg, studierte Volkswirtschaftslehre. Er lebt und arbeitet als Journalist und Autor in Berlin. Er ist verantwortlicher Redakteur im Ressort Politik der WELT-Gruppe. Daneben arbeitet er gelegentlich als Kolumnist für Deutschlandradio Kultur. Bei Piper...

Ralf Georg Reuth

Über Ralf Georg Reuth

Biografie

Ralf Georg Reuth ist Historiker und Autor. Er war lange Zeit als Berlin-Korrespondent für die Frankfurter Allgemeine Zeitung tätig und arbeitete danach für verschiedene Blätter des Axel Springer Verlags. Reuth hat zahlreiche Bücher zur Zeitgeschichte vorgelegt. Unter anderem porträtierte er Erwin...

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