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Hitler

Hitler - eBook-Ausgabe

Ralf Georg Reuth
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Aspekte einer Gewaltherrschaft

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Hitler — Inhalt

Hitlers unverstandene Macht

Noch heute ist die Tyrannei Hitlers schwer begreiflich. Ralf Georg Reuth untersucht zehn Aspekte dieser Katastrophe. Er fragt unter anderem: War der Antisemitismus in Deutschland ausgeprägter als anderswo? War Versailles für Hitlers Aufstieg wirklich verantwortlich und weshalb folgten die Deutschen einem Rassenfanatiker wie ihm? Wodurch unterschied sich sein Krieg von allen anderen davor? Die verstörenden Antworten liefern ein Gesamtbild, das zeigt: Hitler ist nicht die Konsequenz aus den Tiefen der deutschen Geschichte, sondern das Resultat von Zufall, Täuschung und Verführung.


„Ein Meilenstein zeitgeschichtlicher Forschung“ Peter Steinbach über Ralf Georg Reuths Goebbels. Eine Biographie



€ 21,99 [D], € 21,99 [A]
Erschienen am 01.04.2021
368 Seiten
EAN 978-3-492-99826-0
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Leseprobe zu „Hitler“

Einleitung

Dieses Buch handelt von den düstersten Jahren der deutschen Geschichte und von der Person, deren Name für sie steht. Die Rede ist von Adolf Hitler. Er brachte mit dem von ihm entfesselten Zweiten Weltkrieg Verwüstung und millionenfachen Tod über die Menschheit. Das schwerste Erbe jedoch, das Hitler und die zwölf Jahre seiner Gewaltherrschaft ihr hinterlassen haben, gründet in der ungeheuerlichen industriellen Vernichtung von Millionen Menschen, für die Auschwitz zur Chiffre geworden ist. Die aus dem Völkermord an den europäischen Juden [...]

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Einleitung

Dieses Buch handelt von den düstersten Jahren der deutschen Geschichte und von der Person, deren Name für sie steht. Die Rede ist von Adolf Hitler. Er brachte mit dem von ihm entfesselten Zweiten Weltkrieg Verwüstung und millionenfachen Tod über die Menschheit. Das schwerste Erbe jedoch, das Hitler und die zwölf Jahre seiner Gewaltherrschaft ihr hinterlassen haben, gründet in der ungeheuerlichen industriellen Vernichtung von Millionen Menschen, für die Auschwitz zur Chiffre geworden ist. Die aus dem Völkermord an den europäischen Juden resultierenden mentalen Verheerungen scheinen unauslöschlich zu sein. Er hat die Fundamente der Zivilisation erschüttert. Ihm kommt damit eine universale Bedeutung zu.
Weit mehr als die russischen und chinesischen „Vernichtungsuniversen“, wie der Philosoph Peter Sloterdijk die drei Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts nennt, ist das deutsche in den Fokus des Interesses gerückt. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass sich die Bundesrepublik wie kein zweites Land ihrer problematischen Vergangenheit stellte, aber auch damit, dass die jüdische Gemeinschaft, also diejenigen, die ein besonderes Interesse an der Aufarbeitung dieses Abschnitts der Geschichte haben, über den gesamten Globus verstreut ist. Die Folge von beidem ist eine Fülle an Literatur zum Nationalsozialismus, die inzwischen selbst von denen kaum noch zu überschauen ist, die sich mit ihm professionell auseinandersetzen.
Der Blick zurück ist der Veränderung unterworfen. Denn Geschichte ist nichts Statisches. Sie wird vielmehr durch die sich wandelnde politische Gegenwart bestimmt. An den Hochschulen der liberalen Demokratien, besonders an denen in Deutschland, hat dies die historische Forschung seit den 1970er Jahren in immer stärkerem Maße sozialwissenschaftlich geprägt. Historische Zäsuren werden dabei oft eingeebnet, menschliches Planen, Entscheiden und Handeln treten zurück. Vor allem die gesellschaftlichen Strukturen sind es, die den Lauf der Geschichte bestimmen, lautet diese Lehrmeinung. Hinzu tritt in neuerer Zeit ein Geschichtsverständnis, wonach zusammenfassende Deutungen vergangener Epochen und Ereignisse unzulässig sind. Historiker könnten lediglich wiedergeben, wie die einzelnen Quellen von der Vergangenheit berichteten. Neben sozialgeschichtlich dominierter Betrachtung und Dekonstruktivismus hat sich als Antwort darauf im Internet – abseits des akademischen Glashauses – noch ein neuer, zu vernachlässigender Vulgärrevisionismus ausgebreitet.
Bei all diesen Varianten tritt die substanzielle Auseinandersetzung mit der historischen Figur Hitler zunehmend in den Hintergrund. Wenngleich das Sujet Biografie ohnehin nur schwerlich mit der sozialgeschichtlichen Betrachtung vereinbar ist, hat diese auch hier Einzug gehalten. Stand in der großen, zu Beginn der 1970er Jahre erschienenen Hitler-Biografie Joachim C. Fests noch ganz die handelnde Person im Mittelpunkt, so disputierten spätere, sozialgeschichtlich orientierte Werke nahezu jegliche gestaltende Rolle des Menschheitsverbrechers weg. In der heute als wegweisend geltenden Hitler-Biografie des britischen Historikers Ian Kershaw ist der Diktator vor allem Projektionsfläche und Sammelpunkt gesellschaftlicher Strukturen. Und in der unlängst erschienenen Arbeit Volker Ullrichs ist dies nicht viel anders. Wolfram Pyta gehört zu denen, die einen anderen Ansatz wählten. In seiner Herrschaftsstudie gelangt er zu dem Ergebnis, dass Hitlers Aufstieg und sein mörderisches Regime in der radikalen Anwendung ästhetischer Prinzipien gründeten.
Nicht überall ist die sozialgeschichtlich dominierte Historiografie so unumstritten wie in Deutschland. In Frankreich zum Beispiel gibt es einen ungleich freieren zeitgeschichtlichen Diskurs. So schreibt der linkssozialistische Geschichtswissenschaftler François Furet, der ein Standardwerk über den Kommunismus, Das Ende der Illusionen, verfasst hat, „dass die Historiker unserer Epoche, die vom Determinismus und dem soziologischen Verständnis der Geschichte besessen sind, […] gerne die […] Rolle [übersehen], die bestimmte Persönlichkeiten darin gespielt haben“. Der Franzose, der glaubt, dass ohne Hitlers „politisches, dem Bösen zugewandtes Genie […] wohl alles anders verlaufen“ wäre, hat zweifellos recht, denn der Mensch ist eben nicht nur bloßer Spielball anonymer Geschichtsprozesse, sondern zur Gestaltung historischer Entwicklungen befähigt. Für den britisch-österreichischen Philosophen Karl R. Popper ist diese Fähigkeit ein elementarer Bestandteil der offenen und pluralistischen Gesellschaft, deren Grundzüge er als Gegenmodell zu jeglicher Ideologiekonstruktion entwarf.
Was die Gestaltung historischer Prozesse angeht, gilt dies im negativen Sinn in ganz besonderem Maße für Hitler, denn er war die geschichtsmächtigste Figur des 20. Jahrhunderts. Er veränderte das Antlitz der Welt wie kein Zweiter. Das Ende des alten Europas als ihr Machtzentrum, die beiden antagonistischen Supermächte USA und Sowjetunion, die es beerbten, die Teilung des Kontinents und Deutschlands, den Kalten Krieg, den Fall der Berliner Mauer und die Wiedervereinigung – das alles hätte es nicht gegeben, wenn Hitler auf irgendeinem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs geblieben wäre. Die Nachgeborenen sind sich dessen oft nicht bewusst.
In der Geschichte ist alles mit allem verknüpft. Umso unhistorischer ist es, wenn Hitler und vor allem sein Menschheitsverbrechen aus dem geschichtlichen Zusammenhang gerissen werden, was immer häufiger der Fall ist. Die Folge einer solchen Isolierung ist die Emotionalisierung, die bereits in der Forderung gipfelte, doch ganz auf eine historische Darstellung des Völkermords zu verzichten, weil sie das schlechthin Unbegreifliche begreiflich zu machen versuche und deshalb zwangsläufig scheitern müsse. Fest, dessen Werk vor dem Kershaws die Deutung Hitlers bestimmte, sprach in diesem Zusammenhang von einer „Art dämonologischer Verdrängung“, die eher Mythen und Legenden Vorschub leiste, nicht aber zu einem Verständnis des Geschehenen beitrage. Dafür braucht es neben der sachlich-nüchternen Betrachtung vor allem dessen Einbettung in den historischen Kontext der deutschen und europäischen Geschichte. Nur dadurch ist die politische und moralische Dimension Hitlers zu ermessen.
Dieser Historisierung, die namhafte Historiker bereits in den 1980er Jahren forderten, wird in diesem Buch Rechnung getragen. Es behandelt zehn zentrale Aspekte von Hitlers Gewaltherrschaft, die in ihrer Gesamtheit dem historisch interessierten Leser einen Überblick über das Thema „Hitler und der Nationalsozialismus“ geben sollen – kurz, übersichtlich und verständlich. Es beginnt mit einer kleinen Tour d’Horizon durch die Welt des europäischen Rassismus und Antisemitismus, die in die Frage mündet, ob der Judenhass in Deutschland in der Zeit, bevor Hitler die politische Bühne betrat, stärker ausgeprägt war als anderswo. Im Anschluss daran geht es darum, ob die „unvollendet“ gebliebene Novemberrevolution des Jahres 1918 und die Spaltung der Arbeiterklasse den Januar 1933 erst ermöglicht haben, wie es von den Linksintellektuellen heute noch vertreten wird. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird aus dem entgegengesetzten politischen Lager der Versailler Friedensvertrag dafür verantwortlich gemacht und damit zumindest eine Teilschuld an Hitler den Siegermächten des Ersten Weltkriegs zugewiesen. Doch lässt sich solches aufrechterhalten?
Worüber deutsche Historiker in den 1980er Jahren erbittert stritten, nämlich ob der Rassenmord der Nationalsozialisten die Antwort auf den Klassenmord der Kommunisten gewesen war, wie der Geschichtsphilosoph Ernst Nolte zu wissen glaubte, ist ein weiterer, auch heute noch aktueller Aspekt, der behandelt wird. Dem folgt die Auseinandersetzung mit der Frage, wie es sein konnte, dass ein Politiker, der einer fanatischen Rassenideologie das Wort redete und Szenarien von einer „jüdischen Weltverschwörung“ entwarf, Reichskanzler wurde. Und es geht auch darum, warum ihm die Nation trotz der von ihm verantworteten brutalen Ausschaltung jeglicher Opposition und trotz der menschenverachtenden Rassenpolitik folgte. Rechneten die Deutschen dies mit seinen Triumphen bei der Revision von Versailles auf – nicht zuletzt, weil sie den Mann mit dem exaltierten Sendungsbewusstsein nicht verstanden? War es etwa dieses Unverständnis, das ihn wie ein Erlösung verheißendes wagnerisches Wesen aus einer anderen Welt erscheinen ließ und in besonderem Maße der Verklärung Vorschub leistete?
Der Zweite Weltkrieg, ohne den es wohl keinen Völkermord gegeben hätte, nimmt in diesem Buch einen breiten Raum ein. Er begann mit dem Polenfeldzug, dem der Hitler-Stalin-Pakt vorausging. Was hat es mit dem Bündnis der beiden Todfeinde wirklich auf sich gehabt, das heute vom russischen Präsidenten Wladimir Putin demagogisch geschickt als Selbstschutzmaßnahme einer friedliebenden Sowjetunion dargestellt wird? Und warum folgten die Deutschen ihrem „Führer“ dennoch bis in den totalen Untergang? Vor dem Hintergrund, dass zwischen dem Frühsommer 1944 und der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht im Mai 1945 doppelt so viele Deutsche starben als in den vier Kriegsjahren zuvor, erhält diese Frage ihr Gewicht.
„Wie konnte das geschehen?“, sind die Ausführungen überschrieben, in denen es um den Völkermord an den europäischen Juden geht. Kompensierte Hitler mit dem Genozid seine militärische Niederlage? War er die furchtbare Realisierung seines frühen rassenideologischen Wahns? Apropos rassenideologischer Wahn. Die Auseinandersetzung mit seiner Weltanschauung zieht sich wie ein „roter Faden“ durch den gesamten Text. Dabei wird ein besonderes Augenmerk darauf gelegt, inwieweit sie auf seine Politik und Kriegführung einwirkte oder sie sogar bestimmte, was der Historiker Andreas Hillgruber bereits vor einem halben Jahrhundert glaubte nachweisen zu können, wofür er von den frühen Sozialhistorikern um Hans-Ulrich Wehler erbittert bekämpft wurde.
Das Buch endet mit einer kritischen Betrachtung des deutschen Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Es ist eine neue Geschichte, eine Geschichte von Verdrängung, Instrumentalisierung, des Sichstellens, des Selbsthasses und der Übermoral, aber auch des Aufflackerns von überwunden Geglaubtem. Es ist eine kurze Geschichte einer auseinanderdriftenden Gesellschaft. Denn ein Dreivierteljahrhundert „danach“ hat es den Anschein, dass das Erbe Hitlers stärker denn je auf dieses Land einwirkt und an den Grundfesten seiner Demokratie rührt, der besten Form des Zusammenlebens, die die Deutschen je hatten, wie es der Blick auf ihre düsterste Vergangenheit umso augenfälliger macht.
Schließlich muss noch Dank gesagt werden – Dank für eine sich inzwischen über dreieinhalb Jahrzehnte erstreckende Zusammenarbeit mit dem Piper Verlag. Er gilt der Verlegerin, Felicitas von Lovenberg. Genannt werden müssen aber auch Anne Stadler, die Programmleiterin des Sachbuchs und die Pressechefin Eva Brenndörfer, die von Anfang an mit dabei war. Dieses Buch betreute Charlyne Bieniek. Sie legte eine beachtliche Professionalität an den Tag. Nicht nur ihre Kompetenz ist hervorzuheben, sondern auch ihre behutsame und sachliche Art, diese mit einzubringen. Dafür sei ihr besonders gedankt.


1 Der Antisemitismus in Europa
War er in Deutschland besonders ausgeprägt?

Der Blick zurück auf die Geschichte von Antisemitismus und Rassismus in Deutschland ist heute in aller Regel von seinem Ende her bestimmt, also vom ungeheuerlichen Völkermord an den europäischen Juden. Dies impliziert einen moralisch-emotionalen Blickwinkel, sozusagen aus dem Grauen heraus, der dazu verleitet, Bezüge und Kontinuitäten zu sehen, auch dort, wo es sie gar nicht gibt. Denn jede antisemitische Äußerung (und von denen gibt es viele) wird vor dem Hintergrund des abscheulichen Menschheitsverbrechens gesehen. So entsteht gleichsam automatisch ein Zerrbild, das oft mit der historischen Wirklichkeit wenig zu tun hat. Tritt noch eine isolierte Betrachtung hinzu, ist das Urteil über den deutschen Antisemitismus vor Hitler klar.
Ganz anders verhalten sich die Dinge, wenn dieser sachlich nüchtern in den europäischen Kontext und in die jeweilige Zeit gestellt wird, das heißt, wenn die damaligen Wertvorstellungen und Horizonte der Menschen berücksichtigt werden. Diese unterschieden sich von unseren heutigen fundamental. So bestimmte – als Hitler 1889 in Braunau am Inn geboren wurde – auf beiden Seiten des Flusses, also in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie und im deutschen Kaiserreich, ein überbordender Nationalismus den Zeitgeist. In den anderen Monarchien des alten Europas war es nicht anders: Die eigene Nation stand über allem in der Welt. Sie wetteiferte mit anderen Völkern. Der Krieg war dabei die legitime Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, wie es schon der preußische Militärtheoretiker Carl von Clausewitz (1780 – 1831) geschrieben hatte.
Und auch das Bild vom Menschen war ein völlig anderes. Sie wurden in „Rassen“ unterteilt. Da war zunächst die weiße Rasse, die Europäer, unter denen die Juden, als „semitische Rasse“, eine Sonderrolle spielten. Da waren die „Gelben“, also die Asiaten, und die Naturvölker, zu denen die „Neger“ gerechnet wurden, womit Afrikaner und Afroamerikaner gemeint waren. Und da war noch eine Reihe anderer Naturvölker. Völlig unbestritten war aus europäischer Sicht, dass die eigene, die weiße Rasse die am weitesten entwickelte war und es nur ihr zukam, die Welt zu kolonialisieren und damit zu beherrschen. Wenn zum Beispiel der englische Kolonialpolitiker Cecil Rhodes (1853 – 1902), der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Monopol über zahlreiche Gold- und Diamantenminen in Britanniens südafrikanischen Territorien besaß, die britische als die „erste Rasse der Welt“ bezeichnete und in den Eingeborenen „billige Sklavenarbeiter“ zur Rohstoffgewinnung sah, dann entsprach dies ganz und gar dem Zeitgeist.
Ein gutes Jahrhundert vor Rhodes, an den heute noch – nun in die Kritik gekommene – Denkmäler in Großbritannien erinnern, war es der „Rohstoff“ Mensch selbst, der von den Engländern über den Atlantik in ihre dortigen Besitzungen verkauft worden war. Er war eine Handelsware. Bei den anderen Kolonialmächten wie Spanien, Frankreich, Belgien, Portugal und den Niederlanden war dies nicht viel anders. Sie alle betrieben Sklavenhandel. Gleichwohl war dieser, wie heute immer wieder glauben gemacht wird, keineswegs eine europäische Erfindung, die mit dem Kolonialismus aufgekommen war. Mit Menschen Handel zu treiben hatte seine Ursprünge bereits im alten Mesopotamien und wurde später von den Arabern in Afrika etabliert. Über viele Jahrhunderte hinweg besaßen sie das Monopol in Afrika. Der Anthropologe Tidiane N’Diaye kommt in seinem Buch Der verschleierte Völkermord zu dem Fazit, „dass der von den arabomuslimischen Räubern betriebene Sklavenhandel […] weitaus verheerender für Schwarzafrika war als der transatlantische“.
An Deutschland ging dieser Kelch vorbei, denn der europäische Sklavenhandel war abgeschafft, als es in den 1880er Jahren zur Kolonialmacht wurde. Das war ein verspäteter „Platz an der Sonne“, den es sich in Afrika, in der Südsee und in China verschaffte. Denn die Welt war zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend zwischen den europäischen Mächten aufgeteilt. Das Deutsche Reich stand dann in seinem kolonialen Gebaren den anderen keineswegs nach. Auch hier war alles bestimmt vom Geist einer kulturell-rassischen Überlegenheit. Die Eingeborenen aus den acht Kolonien wurden im Reich als Exoten bestaunt, mitunter auch leibhaftig, etwa in Hagenbecks Hamburger Tierpark. In Büchern wurden ihre Eigenschaften beschrieben. So hieß es zum Beispiel in einem Band über die deutschen Überseebesitzungen, dass der „Togoneger mit vielen anderen Naturvölkern den Hang zur Lüge“ teile. Er kenne nicht das Rad, den Pflug, die Windkraft und den Hebel. „Um Jahrtausende ist er in diesen Dingen hinter der weißen und hinter der gelben Rasse zurück.“
Die Kolonialmächte sahen sich demzufolge vor einer Erziehungsaufgabe. Der britische Schriftsteller Rudyard Kipling (1865 – 1936), der den Konflikt zwischen Abend- und Morgenland, zwischen Technik und Natur thematisierte, schrieb sogar von einer Bürde. Nach den Vorstellungen der Zeit galt es nämlich, die Eingeborenen an die Standards des weißen Mannes heranzuführen. Dazu gehörten ihre Missionierung sowie die Übernahme europäischer Lebensformen. Wer sich dagegen auflehnte, wurde mit brutaler Gewalt zur Räson gebracht. Dies galt für die Aufständischen gegen die Herrschaft der Britischen Ostindien-Kompanie 1857 ebenso wie für die Hereros und Namas in Deutsch-Südwestafrika, die sich 1904 gegen die Kolonialmacht erhoben und daraufhin von der deutschen Schutztruppe niedergemacht wurden.
Eine Sonderrolle spielten in der Welt der „Rassen“ – wie bereits erwähnt – die Juden. Denn sie lebten nicht irgendwo auf fernen Kontinenten, sondern inmitten der europäischen Völker. Und sie waren auch keineswegs kulturell unterlegen. Das Gegenteil war allzu oft der Fall, weshalb bei Nichtjuden mitunter ein Gefühl der Unterlegenheit aufkam. Dies und ihr abgegrenztes Anderssein machten die Juden in besonderem Maße als Sündenböcke geeignet, zumal diese Rollenzuweisung eine lange Tradition hatte. Die Rede ist vom christlich motivierten Judenhass, dem Antijudaismus. Manche, wie zum Beispiel der Führer der zionistischen Weltbewegung, Theodor Herzl (1860 – 1904), sahen darin den eigentlichen Kern des Rassenantisemitismus. In seinem Buch Der Judenstaat schrieb er am Ende des 19. Jahrhunderts: Die Judenfrage sei „ein verschlepptes Stück Mittelalter, mit dem die Kulturvölker auch heute beim besten Willen noch nicht fertig werden konnten“.
Tatsächlich liegen die Wurzeln des modernen Rassenantisemitismus im christlich motivierten Judenhass des Mittelalters, genauer gesagt: des Hochmittelalters. Die amerikanische Judaistin Talya Fishman erklärt dies mit der Einführung des Talmuds, jenes Auslegungsbuchs, das auf die erbitterte Kritik des katholischen Klerus stieß, das die Inquisition auf den Plan rief und das auf Scheiterhaufen verbrannt wurde. Die Juden – es handelte sich um einige Hunderttausend, die in Europa lebten – wurden von der Kirche nun nicht mehr als verblendete ältere Brüder angesehen, sondern als Ketzer. Hinzu kam neben strukturellen Veränderungen in der ständisch-feudalen Gesellschaft des Mittelalters auch ein Wandel in der Darstellung Christi vom Pantokrator, vom Weltenherrscher, zum Schmerzensmann am Kruzifix. Da die Juden es waren, die aus christlicher Sicht die Schuld am Leid Christi trugen, wurden sie zu den Gottesmördern. In einer durch und durch christlich-metaphysisch geprägten Welt war solches unverzeihlich. Von den Kanzeln der Kirchen wurden sie deshalb verdammt und bald von marodierenden Banden als Freiwild verfolgt. Im Zuge der großen Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts kam es in der Schweiz, im Elsass und am Niederrhein, an Main und Mosel zu Pogromen, in deren Verlauf Hunderte von Dörfern niedergebrannt und Tausende Juden getötet wurden. Ihre blutige Austreibung brachte dem christlichen Volk und seinen weltlichen Herren viele materielle Vorteile. Da die Juden aber von diesen gebraucht wurden, nahm man sie später zu schlechteren Bedingungen wieder auf.
Der Antijudaismus eines Martin Luther (1483 – 1546) stand ganz in der Tradition seiner Zeit. Hinzu kam, dass sich der Reformator als der Wortführer der Christen, des „wahren Gottes Volk“, begriff. Er hatte sich Rom widersetzt, und nun galt es für ihn, das „auserwählte Volk“, das sich hartnäckig weigerte, in Christus den Messias zu sehen, kraftvoll zurückzudrängen. In seiner bekannten Schrift Von den Juden und ihren Lügen tat er das, indem er von den Landesherren forderte, ihre Synagogen und Schulen niederzubrennen, jüdisches kulturelles Leben zu zerstören und die Juden auszutreiben, so wie es in den Ländern der böhmischen Krone und besonders in Spanien geschehen war. Auch wenn Luthers Forderungen nicht umgesetzt wurden, die eng mit dem Klerus oder mit der Reformation verbundene weltliche Macht grenzte die Juden ohnehin aus, weshalb sie weitgehend rechtlos in eigenen städtischen Quartieren lebten und sich in als unchristlich geltenden Berufen, wie dem des Geldverleihers, verdingen mussten. Ein mehr oder weniger starker Antijudaismus mit Verfolgungen und Pogromen prägte so über die Jahrhunderte hinweg das Leben der europäischen Juden.
Dann kam die Aufklärung. An die Stelle der christlichen Weltdeutung, nach der die Menschen im Wesentlichen in Gläubige und Ungläubige unterteilt wurden, trat jetzt diejenige, Menschen nach physiologischen und geistigen Kriterien zu betrachten und zu klassifizieren. Im Zuge des neuen Universalismus waren theoretisch zwar alle Menschen gleich, befanden sich aber auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen. Diese neue Sicht auf den Menschen, die so neu gar nicht war, ging sie doch auf Aristoteles (384 – 322) zurück, begann sich seit Ende des 17. Jahrhunderts durchzusetzen. François Bernier (1620 – 1688) verfasste damals eine Schrift von der Neuen Einteilung der Erde nach den unterschiedlichen Arten oder Rassen, die sie bewohnen. Eine solche Klassifizierung der Menschheit wurde von nahezu allen europäischen Geistesgrößen der Aufklärung geteilt. Immanuel Kant (1724 – 1804) schrieb: „In den heißen Ländern reift der Mensch in allen Stücken früher, erreicht aber nicht die Vollkommenheit der temperirten Zonen. Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der ›Race‹ der Weißen. Die gelben Inder haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind tiefer und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften.“
Weitgehend ausgeklammert wird beim Blick auf die Geschichte des Rassismus, dass auch der rassisch begründete Antisemitismus ein Kind der Aufklärung war. In dieser wandelte sich der theologisch hergeleitete Antijudaismus allmählich in eine weltliche Judenfeindschaft. Aus den rechtlosen, ausgegrenzten, randständigen Juden, die ohnehin schon aufgrund ihrer Diskriminierung längst nicht mehr nur als eine Religionsgemeinschaft angesehen wurden, wurden nunmehr die Angehörigen der „semitischen Rasse“. Als solche bezeichnete sie zum Beispiel der französische Philosoph und Schriftsteller Voltaire (1694 – 1778). Für ihn waren die Juden eine „minderwertige Menschenart“, die vom „Willen nach Fortpflanzung und zum Geld bestimmt sei“. Er schrieb ihnen „Unwissenheit, barbarische Sprache, Hass auf andere Völker, Grausamkeit, Aberglaube und verschiedene sexuelle Perversionen zu“.
Kant polemisierte unter modernen Vorzeichen gegen die Gesetzmäßigkeit des jüdischen Glaubens mit seinen starren Regeln und bewegte sich damit noch ganz in der Tradition des Antijudaismus. Doch er beließ es nicht dabei, sondern er bediente sich auch gängiger Klischees, wenn er die Juden „Vampyre der Gesellschaft“ nannte und ihren „Wuchergeist“ geißelte. Er meinte, der Ruf, dass sie Betrüger seien, sei nicht unbegründet. Voltaire und Kant waren nur zwei von vielen Denkern der Aufklärung, die ein negatives Bild der Juden zeichneten. Doch es gab auch diejenigen, die dem Judentum mit einer gewissen Toleranz gegenübertraten, wie Montesquieu (1689 – 1755), oder sogar mit Akzeptanz, wie Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781). Mit seinem 1783 uraufgeführten Schauspiel Nathan der Weise proklamierte er erstmals die damals alle Schranken einreißende Idee von der friedlichen Koexistenz der drei monotheistischen Religionen, von denen keine die „einzig wahre“ sei.

Ralf Georg Reuth

Über Ralf Georg Reuth

Biografie

Ralf Georg Reuth ist Historiker und Autor. Er war lange Zeit als Berlin-Korrespondent für die Frankfurter Allgemeine Zeitung tätig und arbeitete danach für verschiedene Blätter des Axel Springer Verlags. Reuth hat zahlreiche Bücher zur Zeitgeschichte vorgelegt. Unter anderem porträtierte er Erwin...

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