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Shadowsong (Erlkönig-Saga 2)Shadowsong (Erlkönig-Saga 2)

Shadowsong (Erlkönig-Saga 2)

S. Jae-Jones
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Roman

Eine sehr gelungene Fortsetzung, deutlich psychedelischer und düsterer als Wintersong, dennoch eine spannende Handlung mit einem unerwarteten Ausgang. - buchfeeteam

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Shadowsong (Erlkönig-Saga 2) — Inhalt

Seit Liesl ihr Leben als Königin der Unterwelt hinter sich gelassen hat und zu ihrer Familie zurückgekehrt ist, versucht sie, die Musikkarriere ihres kleinen Bruders Josef zu fördern. Gemeinsam mit ihrer Schwester reist Liesl nach Wien, um Josef zu unterstützen. Doch Josef verhält sich kühl, distanziert und zieht sich immer mehr zurück. Als besorgniserregende Zeichen darauf hindeuten, dass die alte Barriere zwischen den Welten verschwindet, muss Liesl ihren Bruder verlassen und in die Unterwelt zurückkehren. Nur sie kann das Mysterium enträtseln, das den König der Kobolde umgibt. Was muss passieren, damit die alten Gesetze der Unterwelt gebrochen werden können und Liesls unmögliche Liebe eine Chance bekommt?

€ 15,00 [D], € 15,50 [A]
Erschienen am 02.09.2019
Übersetzt von: Diana Bürgel
416 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-70459-5
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€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 02.09.2019
Übersetzt von: Diana Bürgel
416 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-99485-9
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Leseprobe zu „Shadowsong (Erlkönig-Saga 2)“

Teil 1

Der Ruf


„Auf keinen Fall“, rief Constanze und ließ ihren Gehstock auf den Boden krachen. „Ich verbiete es!“

Wir hatten uns alle nach der Abendessenszeit in der Küche versammelt. Mutter wusch das Geschirr der Gäste ab, während Käthe ein schnelles Essen aus Spätzle und Röstzwiebeln für uns zubereitete. Josefs Brief lag offen auf dem Tisch. Mir hatte er Erlösung gebracht, meiner Großmutter Ärger.

Meister Antonius ist tot. Ich bin in Wien. Komm schnell.

Komm schnell. Eindrückliche und unverblümte Worte auf dem Blatt Papier, doch Constanze und ich konnten [...]

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Teil 1

Der Ruf


„Auf keinen Fall“, rief Constanze und ließ ihren Gehstock auf den Boden krachen. „Ich verbiete es!“

Wir hatten uns alle nach der Abendessenszeit in der Küche versammelt. Mutter wusch das Geschirr der Gäste ab, während Käthe ein schnelles Essen aus Spätzle und Röstzwiebeln für uns zubereitete. Josefs Brief lag offen auf dem Tisch. Mir hatte er Erlösung gebracht, meiner Großmutter Ärger.

Meister Antonius ist tot. Ich bin in Wien. Komm schnell.

Komm schnell. Eindrückliche und unverblümte Worte auf dem Blatt Papier, doch Constanze und ich konnten uns nicht darüber einig werden, was sie zu bedeuten hatten. Ich glaubte, sie wären ein Ruf. Meine Großmutter war anderer Meinung.

„Was willst du mir verbieten?“, gab ich zurück. „Josef zu antworten?“

„Deinen Bruder bei diesen Mätzchen auch noch zu unterstützen!“ Anklagend deutete sie auf den Brief zwischen uns und machte dann mit dem Arm eine ausschweifende, vage Geste, die das Dunkel vor dem Fenster miteinschloss, das Unbekannte jenseits unserer Türschwelle. „Bei diesem … diesem Unsinn mit der Musik!“

„Unsinn?“, fragte Mutter scharf und hielt beim Schrubben der Töpfe und Pfannen inne. „Was für ein Unsinn, Constanze? Meinst du seine Karriere?“

Letztes Jahr hatte mein Bruder die ihm bekannte Welt hinter sich gelassen, um seinem Traum zu folgen – unserem Traum – und ein weltbekannter Violinist zu werden. Das Gasthaus sorgte bereits seit Generationen für das tägliche Brot unserer Familie, aber unsere Leidenschaft galt seit jeher der Musik. Papa war einst Hofmusikant in Salzburg gewesen, wo er auch Mutter kennengelernt hatte, die damals Sängerin in einer Musikertruppe gewesen war. Doch das war, bevor seine verschwenderische und lasterhafte Art ihn wieder in die tiefste Provinz der bayerischen Wälder zurückgetrieben hatte. Josef war der Beste und Strahlendste von uns, der am besten Ausgebildete, der Disziplinierteste, der Talentierteste, und ihm war gelungen, was wir anderen nie erreicht hatten: Er war entkommen.

„Das geht dich nichts an“, fauchte Constanze ihre Schwiegertochter an. „Halte deine spitze, zänkische Nase aus Angelegenheiten heraus, von denen du nichts verstehst.“

„Es geht mich sehr wohl etwas an.“ Mutters Nasenflügel bebten. Normalerweise war sie immer kühl, ruhig und gefasst, doch Großmutter wusste, was ihr unter die Haut ging. „Josef ist mein Sohn.“

„Er gehört dem Erlkönig“, murmelte Constanze. In ihren dunklen Augen glühte fiebriger Glaube. „Nicht dir.“

Mutter rollte mit den Augen und fuhr mit dem Abwasch fort. „Genug jetzt mit den Kobolden und dem ganzen Geschwafel, du alte Hexe. Josef ist zu alt für Märchen und solchen Humbug.“

„Erzähl das der da!“ Constanze deutete mit ihrem knotigen Finger auf mich und ich spürte die Wucht ihres Eifers wie einen Schlag auf die Brust. „Sie glaubt. Sie weiß. Sie trägt den Abdruck der Berührung des Koboldkönigs auf der Seele.“

Ein Schauer kroch mir den Rücken hinauf, eisige Fingerspitzen, die mir über die Haut strichen. Ich schwieg, fühlte jedoch Käthes neugierigen Blick. Früher hätte sie wie Mutter abfällig über das abergläubische Geplapper unserer Großmutter gelacht, aber meine Schwester hatte sich verändert.

Ich hatte mich verändert.

„Wir müssen an Josefs Zukunft denken“, sagte ich leise. „Daran, was er braucht.“

Aber was war es, was mein Bruder brauchte? Die Post war erst am Vortag eingetroffen, doch der Brief war von den vielen unausgesprochenen und unbeantworteten Fragen schon ganz zerlesen. Komm schnell. Was meinte er damit? Dass ich zu ihm kommen sollte? Wie? Warum?

„Was Josef braucht, ist sein Zuhause“, sagte Constanze.

„Und was gibt es hier für ihn, zu dem er nach Hause kommen kann?“, fragte Mutter und ging wütend auf die Rostflecken eines verbeulten Topfes los.

Käthe und ich tauschten einen Blick, hielten unsere Hände aber beschäftigt und den Mund geschlossen.

„Gar nichts gibt es hier“, fuhr sie bitter fort. „Nichts, außer einem langen, langsamen Abstieg ins Armenhaus.“ Mit einem abrupten Klappern legte sie die Spülbürste beiseite und drückte sich Daumen und Zeigefinger ihrer seifigen Hand auf die Nasenwurzel. Seit Papas Tod war die Falte zwischen ihren Brauen wieder und wieder aufgetaucht, und mit jedem Tag, der verging, wurde sie tiefer.

„Sollen wir Josef denn einfach sich selbst überlassen?“, mischte ich mich ein. „Was soll er tun, so weit fort und ohne Freunde?“

Mutter biss sich auf die Lippe. „Was schlägst du vor?“

Darauf hatte ich keine Antwort. Wir hatten nicht die Mittel, um zu ihm zu reisen oder um ihn heimzuholen.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte sie entschlossen. „Es ist besser, wenn Josef in Wien bleibt. Wenn er dort sein Glück versucht und der Welt seinen Stempel aufdrückt, wie Gott es will.“

„Es spielt keine Rolle, was Gott will“, verkündete Constanze düster. „Sondern nur, was die alten Gesetze verlangen. Wenn man sie um ihr Opfer betrügt, müssen wir alle den Preis dafür zahlen. Die Jagd beginnt und mit ihr kommen Tod, Verderben und Zerstörung.“

Ein plötzliches, schmerzerfülltes Einatmen. Erschrocken sah ich auf, als Käthe rasch den Finger, in den sie sich mit dem Messer geschnitten hatte, in den Mund steckte. Hastig fuhr sie mit dem Kochen fort, doch ihre Hände zitterten, als sie begann, die Spätzle vom Brett zu schaben. Ich erhob mich, um ihr die Arbeit abzunehmen, woraufhin sie sich dankbar daranmachte, die Zwiebeln zu rösten.

Mutter gab ein angewidertes Schnauben von sich. „Nicht das schon wieder.“ Constanze und sie gingen aufeinander los, solange ich mich erinnern konnte, und das Gezänk war ein ebenso beständiges Hintergrundgeräusch wie Josefs Tonleiterübungen. Nicht einmal Papa war in der Lage gewesen, Frieden zwischen ihnen zu stiften, da er seiner Mutter stets nachgab, obwohl er sich lieber auf die Seite seiner Frau gestellt hätte. „Wenn ich nicht vollkommen sicher wäre, dass dein Platz in der Hölle bereits auf dich wartet, du streitsüchtige alte Harpyie, dann würde ich für deine Seele beten.“

Constanze schlug mit der Hand auf den Tisch und wir zuckten zusammen. „Siehst du denn nicht, dass ich versuche, Josefs Seele zu retten?“, brüllte sie und Spucke flog ihr aus dem Mund.

Wir waren verblüfft. Trotz ihres reizbaren und jähzornigen Wesens verlor Constanze selten die Beherrschung. Auf ihre eigene Weise war sie so verlässlich wie ein Metronom, das beständig zwischen Zufriedenheit und Ärger hin- und herpendelte. Unsere Großmutter war Furcht einflößend, nicht furchtsam.

Dann hörte ich wieder die Stimme meines Bruders. Ich bin hier geboren worden. Ich bin dazu bestimmt, auch hier zu sterben.

Zerstreut ließ ich die Nudeln in den Topf gleiten und verbrannte mich an dem aufspritzenden kochend heißen Wasser. Ungebeten tauchte das Bild kohlschwarzer Augen in einem scharfzügigen Gesicht aus den Tiefen meiner Erinnerung auf.

„Mädchen“, krächzte Constanze und richtete den Blick ihrer dunklen Augen auf mich. „Du weißt, was er ist.“

Ich schwieg. Das Blubbern des kochenden Wassers und das Zischen der Zwiebeln in der Pfanne waren die einzigen Geräusche in der Küche.

„Was?“, fragte Mutter. „Was meinst du damit?“

Käthe warf mir einen Seitenblick zu, aber ich goss nur die Spätzle ab und gab sie in die Pfanne zu den Zwiebeln.

„Über was in aller Welt redet ihr da?“, verlangte Mutter zu wissen. Dann wandte sie sich mir zu. „Liesl?“

Ich gab Käthe ein Zeichen, mir die Teller zu bringen, und verteilte das Essen darauf.

„Nun?“ Constanze grinste. „Was sagst du dazu, Mädchen?“

Du weißt, was er ist.

Ich dachte an die sorglosen Wünsche, die ich als Kind in die Dunkelheit gesagt hatte – Schönheit, Bestätigung, Anerkennung –, aber keiner dieser Wünsche war so inbrünstig und verzweifelt gewesen wie der in jener Nacht, in der ich das schwache Weinen meines Bruders gehört hatte. Käthe, Josef und ich hatten Scharlach bekommen, als wir noch klein gewesen waren. Käthe und ich waren damals schon Kinder, Josef dagegen nur ein Baby. An meiner Schwester und mir war das Schlimmste vorübergegangen, doch als mein Bruder von der Krankheit genesen war, war er ein anderer.

Ein Wechselbalg.

„Ich weiß genau, wer mein Bruder ist“, sagte ich leise, mehr zu mir selbst als zu meiner Großmutter. Ich stellte einen Teller mit einem Berg aus Spätzle und Zwiebeln vor sie hin. „Iss auf.“

„Dann weißt du auch, warum Josef zurückkehren muss“, sagte Constanze. „Warum er heimkehren und hier leben muss.“

Letztendlich kommen wir alle wieder zurück.

Ein Wechselbalg konnte sich nicht weit von der Unterwelt entfernen, sonst verblasste und verging er. Mein Bruder konnte nicht jenseits des Einflussbereichs des Erlkönigs leben, es sei denn aus der Kraft der Liebe. Meiner Liebe. Das war es, was ihn frei sein ließ.

Dann erinnerte ich mich an das Gefühl der Spinnenfinger, die über meine Haut krochen wie Brombeerranken; ein aus Händen geformtes Gesicht und tausend zischende Stimmen, die wisperten: Deine Liebe ist ein Käfig, Sterbliche.

Wieder betrachtete ich den Brief auf dem Tisch. Komm schnell.

„Isst du dein Abendessen?“, fragte ich und sah betont auf Constanzes vollen Teller.

Angewidert betrachtete sie die Spätzle und rümpfte die Nase. „Ich habe keinen Hunger.“

„Tja, etwas anderes bekommst du aber nicht, du undankbare Nervensäge.“ Wütend stieß Mutter die Gabel in ihr Essen. „Wir können es uns nicht leisten, deinem besonderen Geschmack nachzukommen. Wir können es uns ja kaum leisten, satt zu werden.“

Ihre Worte schienen dröhnend nachzuhallen. Gerügt nahm Constanze ihre Gabel und begann zu essen, wobei sie auf dieser deprimierenden Verkündung herumzukauen schien. Obwohl wir nach Papas Tod all seine Schulden beglichen hatten, tauchte für jede bezahlte Rechnung nur wieder eine weitere offene auf. Das Abdichten von Lecks auf einem sinkenden Schiff.

Sobald wir mit dem Essen fertig waren, räumte Käthe die Teller ab und ich übernahm den Abwasch.

„Komm“, sagte Mutter und bot Constanze den Arm an. „Schaffen wir dich ins Bett.“

„Nein, nicht du“, antwortete meine Großmutter mit Abscheu. „Du bist nutzlos, das bist du. Das Mädchen kann mir nach oben helfen.“

„Das Mädchen hat einen Namen“, sagte ich, ohne sie anzusehen.

„Habe ich mit dir gesprochen, Elizabeth?“, fauchte Constanze.

Verblüfft hob ich den Blick von dem schmutzigen Geschirr und sah, dass meine Großmutter Käthe anstarrte.

„Ich?“, fragte meine Schwester überrascht.

„Ja, du, Magda“, fuhr Constanze sie an. „Wer denn sonst?“

Magda? Ich sah erst Käthe an, dann Mutter, die genauso verblüfft schien wie wir. Geh schon, formte sie stumm mit den Lippen. Käthe sah nicht begeistert aus, bot Constanze aber dennoch den Arm an. Sie schnitt eine Grimasse, als unsere Großmutter mit gehässiger Kraft zupackte.

Mutter folgte den beiden mit dem Blick die Treppe hinauf, und nachdem sie verschwunden waren, sagte sie: „Ich schwöre es, sie wird mit jedem Tag verrückter.“

Ich kehrte zum Abwasch zurück. „Sie ist alt. Das ist vielleicht zu erwarten.“

Mutter schnaubte. „Meine Großmutter war bis zu dem Tag, an dem sie gestorben ist, bei klarem Verstand, und sie war viel älter als Constanze.“

Ich schwieg, während ich die Teller in einen Bottich mit klarem Wasser tauchte, bevor ich sie zum Trocknen an Mutter weiterreichte. „Am besten achten wir gar nicht darauf“, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu mir. „Elfen. Die Wilde Jagd. Das Ende der Welt. Man könnte fast meinen, dass sie an diese Märchen wirklich glaubt.“

Ich fand einen sauberen Zipfel an meiner Schürze, griff nach einem Teller und half meiner Mutter beim Abtrocknen. „Sie ist alt“, wiederholte ich. „Dieser Aberglaube existiert hier schon ewig.“

„Ja, aber es sind trotzdem nur Geschichten“, gab sie ungeduldig zurück. „Niemand glaubt daran, dass sie wirklich wahr sind. Manchmal bin ich nicht sicher, ob Constanze weiß, ob wir in der Wirklichkeit leben oder in einem Märchen, das sie sich ausgedacht hat.“

Wieder sagte ich nichts. Mutter und ich räumten das saubere Geschirr ein, wischten die Arbeitsflächen ab und fegten den wenigen Schmutz auf dem Küchenboden zusammen, bevor wir auf getrenntem Weg zu unseren Zimmern gingen.

Trotz dem, was Mutter glaubte, lebten wir nicht in einem Märchen, das sich Constanze ausgedacht hatte, sondern in einer furchtbaren, grässlichen Wirklichkeit. Einer Wirklichkeit der Opfer und des Handels. Einer Wirklichkeit, in der es Kobolde und Loreley gab, Mythen und Zauber und die Unterwelt. Ich war mit den Geschichten meiner Großmutter aufgewachsen. Ich, die ich die Braut des Koboldkönigs gewesen und wieder fortgegangen war, wusste besser als jeder andere, wozu es führte, wenn man die alten Gesetze missachtete, die über Leben und Tod regierten. Wahr und unwahr – diese Unterscheidung war ebenso unzuverlässig wie die Erinnerung, und ich lebte in dem Dazwischen, zwischen schöner Lüge und hässlicher Wahrheit. Aber ich sprach nicht davon. Ich konnte nicht davon sprechen.

Wenn Constanze verrückt wurde, dann wurde ich es auch.

Das Violinspiel des Jungen war magisch. Es wurde gemunkelt, dass selbst jene mit anspruchsvollem Geschmack und großem Vermögen vor dem Konzertsaal Schlange standen, um sich auf eine Reise ins Unbekannte mitnehmen zu lassen. Der Spielort war klein und intim, bestuhlt, aber nur für etwa zwanzig Personen. Trotzdem war es die größte Versammlung, vor der der Junge und sein Gefährte jemals gespielt hatten, und er war nervös.

Sein Meister war ein berühmter Violinist, ein italienisches Genie, doch Alter und Rheumatismus hatten die Finger des betagten Mannes schon längst zur Untätigkeit verdammt. Man sagte, in seiner Blütezeit habe Giovanni Antonius Rossi mit seinem Spiel selbst die Engel zu Tränen gerührt und die Teufel zum Tanzen gebracht, und die Konzertbesucher hofften, wenigstens einen Funken der vergangenen Gabe des Virtuosen in seinem geheimnisvollen Schüler wiederzufinden.

Ein Findelkind, ein Wechselbalg, flüsterten die Konzertbesucher. Aufgelesen am Straßenrand in den dunkelsten Wäldern Bayerns.

Der Junge hatte einen Namen, aber der war irgendwo zwischen den Gerüchten verloren gegangen. Meiser Antonius’ Schüler. Der goldhaarige Engel. Der schöne Junge. Sein Name war Josef, doch daran erinnerte sich niemand mehr, abgesehen von seinem Gefährten, seinem Begleiter, seinem Geliebten.

Auch der Gefährte hatte einen Namen, allerdings hielt niemand es für lohnenswert, ihn sich zu merken. Der dunkelhäutige Junge. Der Neger. Der Diener. Er hieß François, aber niemand nannte ihn so, außer Josef, der den Namen seines Geliebten auf den Lippen und im Herzen trug.

Das Konzert kennzeichnete Josefs Einführung in die kultivierte Gesellschaft Wiens. Seit die Adligen Frankreichs entweder geköpft oder davongejagt wurden, musste Meister Antonius feststellen, dass seine Geldschatullen in seinem Pariser Heim immer leerer wurden, da die reichen Mäzene ihre Mittel lieber Bonapartes Armee zukommen ließen. Also hatte der alte Virtuose die Stadt der Revolution verlassen und war in die Stadt seines größten Triumphes zurückgekehrt, in der Hoffnung, die Goldfische mit jüngeren, hübscheren Ködern wieder einzufangen. Zurzeit genossen sie die Gastfreundschaft der Baroness von Schenk, in deren Salon die Vorstellung stattfinden sollte.

„Enttäusche mich nicht, Junge“, sagte der Meister, als sie auf der Seitenbühne standen und auf ihren Auftritt warteten. „Unsere Lebensgrundlage hängt von dir ab.“

„Ja, Maestro“, sagte Josef, es klang heiser. In der Nacht zuvor hatte er schlecht geschlafen, sein Magen war vor Nervosität verkrampft, seine Träume waren von dem halb erinnerten Klang donnernder Hufschläge durchbrochen worden.

„Behalte einen kühlen Kopf“, sagte Meister Antonius warnend. „Kein Geheule und Gejammer wegen deines Zuhauses. Du bist jetzt ein Mann. Sei stark.“

Josef schluckte und sah François an. Der junge Mann nickte ihm kaum merklich zu, eine ermutigende Geste, die ihrem Lehrer nicht verborgen blieb.

„Genug“, knurrte Meister Antonius. „Du“ – er deutete auf François – „hör auf, ihn zu verhätscheln. Und du“ – er deutete auf Josef – „reiß dich zusammen. Wir können es uns nicht leisten, jetzt den Kopf zu verlieren. Wir werden mit ein paar Stücken beginnen, die ich komponiert habe, dann geht es wie geplant mit Mozart weiter, ça va?“

Josef duckte sich unter dem finsteren Blick seines Meisters. „Ja, Maestro“, flüsterte er.

„Wenn du gut bist – aber nur, wenn du gut bist –, dann darfst du als Zugabe Vivaldi spielen.“ Der alte Virtuose durchbohrte seinen Schüler mit Blicken. „Und komm mir nicht mit diesem ›Erlkönig‹-Unsinn. Unser Publikum ist an die Musik der Großen gewöhnt. Beleidige ihre Ohren nicht mit dieser Monstrosität.“

„Ja, Maestro.“ Josefs Stimme war kaum hörbar.

François sah die geröteten Wangen und die angespannten Kiefermuskeln des Jungen und legte seine warme Hand um die geballte Faust seines Geliebten. Hab Geduld, mon cœur, schien die Berührung zu sagen.

Aber Josef antwortete nicht.

Meister Antonius teilte die Vorhänge und die jungen Männer traten hinaus in den höflichen Applaus des Publikums. François setzte sich an das Pianoforte und Josef machte seine Violine bereit. Sie teilten einen Blick, einen Moment, ein Gefühl, eine Frage.

Das Konzert begann wie geplant. Der Schüler spielte eine Auswahl der Stücke, die sein Meister komponiert hatte, begleitet von dem anderen Jungen am Klavier. Doch das Publikum war alt, und es erinnerte sich noch daran, wie göttlich das Spiel des Meisters gewesen war, wie tragend der Klang. Dieser Junge war gut: Die Noten waren klar, die Bogensetzung elegant. Doch vielleicht fehlte noch etwas – die Seele, ein Funke. Es war, als hörte man die Worte eines geliebten Dichters in eine fremde Sprache übersetzt.

Vielleicht hatten sie zu viel erwartet. Talent war immerhin unbeständig, und jene, die am hellsten strahlten, hielten oft nicht lange durch.

Die Engel werden Meister Antonius holen, wenn der Teufel nicht schneller ist, hatte man einst über den alten Virtuosen gesagt. Eine solche Gabe war nicht für sterbliche Ohren bestimmt.

Schließlich war es das Alter gewesen, das Meister Antonius noch vor Gott und dem Teufel bekommen hatte, aber es schien nicht so, als wäre sein Schüler mit demselben himmlischen Funken gesegnet. Pflichtschuldig applaudierte das Publikum nach jedem Stück, und alle fanden sich damit ab, einen langen Abend ohne viel Bedeutung vor sich zu haben, während der Virtuose auf der Seitenbühne angesichts des sinkenden Werts seines Schülers vor Wut schäumte.

Von der gegenüberliegenden Seitenbühne aus folgte noch ein anderes Augenpaar der Vorstellung. Es waren verblüffende Augen. Grün wie Smaragde oder die tiefen Wasser eines Sommersees glommen sie im Dunkeln.

Nachdem die Stücke des Meisters beendet waren, fuhren Josef und François mit einer Sonate Mozarts fort. Stille senkte sich über den Saal, dumpf und erfüllt von der unaufmerksamen Reglosigkeit vornehmer Langeweile. Hinten im Saal erhob sich leises Schnarchen und Meister Antonius wütete stumm vor sich hin. Doch immer noch musterten die grünen Augen die beiden Jungen aus den Schatten. Abwartend. Begehrlich.

Als das Konzert vorüber war, erhob sich das Publikum applaudierend von den Stühlen und verlangte pflichtschuldig nach einer Zugabe. Josef und François verbeugten sich und Meister Antonius schloss die Faust um seine Perücke, woraufhin weißer Puder in die Luft stob. Vivaldi, rette uns, dachte er. Roter Priester, erhöre mein Flehen. Ein weiteres Mal verbeugten sich Josef und François und tauschten erneut einen intimen Blick, die Antwort auf eine unausgesprochene Frage.

François setzte sich wieder ans Klavier. Dunkle Hände und weiße Spitzenärmel über schwarzen scharfen Tönen und natürlichen Elfenbeinklängen. Josef setzte die Geige ans Kinn und hob den Bogen. Das Rosshaar bebte erwartungsvoll. Josef gab das Tempo vor und François antwortete ihm, sodass sich zwischen ihnen ein Klangteppich entspann.

Es war nicht Vivaldi.

Die Konzertbesucher richteten sich auf ihren Stühlen auf, die Verwirrung schärfte ihre Aufmerksamkeit. So ein Spiel hatten sie noch nie zuvor gehört. So eine Musik hatten sie noch nie zuvor gehört

Es war „Der Erlkönig“.

Auf der Seitenbühne ließ Meister Antonius verzweifelt den Kopf in die Hände sinken. Die grünen Augen auf der anderen Seite der Bühne glommen auf.

Ein Eishauch schien durch den Saal zu streifen, obwohl keine Brise die Spitzensäume und den Federschmuck der Gäste durchfuhr. Der Geruch nach Erde und Lehm, nach Orten der Tiefe stieg empor, eine Kaverne aus Klang und Empfindung. War das ein Wassertropfen, der auf Stein fiel? Oder das ferne Rumpeln einer wilden Flucht? In den Winkeln des Sichtfelds begannen sich die Schatten zu regen, die engelsgesichtigen Putten und kunstvoll gehauenen Blumen an den Säulen des Saals hatten auf einmal etwas Finsteres. Die Zuhörer sahen nicht zu genau hin, aus Angst davor, dass sich die Engel und Wasserspeier in Dämonen und Kobolde verwandelt hatten.

Nur einer der Zuhörer tat es.

Die lebhaft grünen Augen betrachteten die Verwandlung, welche die Musik brachte, dann verschwanden sie in der Dunkelheit.

Nachdem die Zugabe geendet hatte, folgte ein Moment der Stille, als würde die Welt vor Anbruch eines Sturms den Atem anhalten. Dann brach ein Donner aus rauen Rufen und tosendem Applaus los, denn die Zuhörer mussten jubeln, um nicht angesichts der wirren Angst und Freude, die sie alle erfüllte, in Tränen auszubrechen. Angewidert riss sich Meister Antonius die Perücke vom Kopf und verließ schnaubend die Bühne.

Auf dem Weg kam er an einer schönen, grünäugigen Frau vorbei, die eine silberne Saliera in Form eines Schwans trug. Sie nickten einander im Vorbeigehen zu, woraufhin sich der alte Virtuose in seine Gemächer zurückzog und die Frau auf den Saal zuhumpelte. Er sah nicht, wie sie eine Salzlinie auf die Schwelle zum Konzertsaal streute. Er hörte nichts von den Lobpreisungen, die auf seinen Schüler niederregneten und er verpasste den Boten, der eine Nachricht für ihn hatte.

„Meister Antonius?“, fragte der Postbote, als ihm die grünäugige Frau die Tür öffnete. Sie hatte sich eine hellrote Mohnblume ans Mieder gesteckt.

„Er hat sich bereits für den Abend zurückgezogen“, sagte sie. „Wie kann ich Euch helfen?“

„Diese Briefe sind für seinen Schüler, einen Herr Vogler?“ Der Postbote griff in seine Tasche und holte ein Bündel Briefe hervor, jeder davon in derselben verzweifelten Handschrift geschrieben. „Sie wurden an seine frühere Adresse in Paris geschickt, aber wir konnte ihn erst jetzt hier in Wien finden.“

„Ich verstehe“, sagte die Frau. „Ich werde dafür sorgen, dass sie an den Richtigen weitergegeben werden.“ Sie gab dem Postboten eine Goldmünze, woraufhin er sich an den Hut tippte und wieder in die Nacht davonritt.

Die grünäugige Frau trat über die Salzspur in den Saal, wobei sie darauf achtete, die Schutzlinie nicht mit dem Rock zu verwischen. Als sie wieder im Schatten stand, überflog sie die Briefe auf der Suche nach einer Signatur.

Komponistin von „Der Erlkönig“.

Lächelnd steckte sie sich die Briefe ins Mieder, bevor sie auf die Bühne hinaushumpelte, um dem Jungen und seinem schwarzen Freund zu gratulieren. Oben wälzte sich Meister Antonius in seinem Bett hin und her und versuchte, den Klang von Hufen und heulenden Hunden auszublenden, während er sich fragte, ob der Teufel nun doch noch gekommen war, um ihn zu holen.

Am nächsten Morgen warf man die Küchenmagd hinaus, weil sie Salz gestohlen hatte, und der alte Meister wurde tot in seinen Gemächern aufgefunden. Mit blauen Lippen und einem merkwürdigen silbernen Streifen über der Kehle.

S. Jae-Jones

Über S. Jae-Jones

Biografie

S. Jae-Jones wird JJ genannt und ist Künstlerin, Adrenalinjunkie und ehemalige Lektorin. Wenn sie gerade keine Bücher verschlingt, springt sie gerne aus Flugzeugen, moderiert den Pub(lishing) Crawl-Podcast oder verkleidet sich. Sie ist in Los Angeles geboren und aufgewachsen, lebt jetzt aber in...

Pressestimmen
buchfeeteam

Eine sehr gelungene Fortsetzung, deutlich psychedelischer und düsterer als Wintersong, dennoch eine spannende Handlung mit einem unerwarteten Ausgang.

fantasy-news.com

„Es ist ein Roman, den ich sicher in Zukunft gern wieder lesen werde. Und wieder. Weil Elisabeth eine überzeugende, vielschichtige, ehrliche Protagonistin ist, die mitunter auch mal unbequem sein kann. Und weil S. Jae-Jones einfach phänomenal schön schreibt.“

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Diese groteske, melancholische, düstere Geschichte über schöne Lügen und hässliche Wahrheiten gibt sich so anders als Band 1 und ist dennoch genauso voller Musik und leidenschaftlicher Liebe zum Absonderlichen, Wundersamen und Monströsen.

oceanlove

Ich war nicht überrascht, aber definitiv überzeugt und berührt von jenen letzten Ereignissen und Entscheidungen.

Kommentare zum Buch
Wahnsinn!
oceanloveR am 03.10.2019

Eine atemberaubende, schmerzhaft schöne Verschmelzung von Wahnsinn, Musik, Sehnsucht, heidnischen Sagen und düsterem Volksglauben; eindringlich und berührend in Worte gefasst.       Nach dem herzzerreißenden Ende des ersten Bandes fieberte ich dieser Fortsetzung und Finale entgegen; war voller Vorfreude und auch ein wenig Sorge, als das Buch eintraf. Würde es mich (wieder) verzaubern, mitreißen, überzeugen können?!   JA! Bereits von der ersten Seite an, von den Anmerkungen der Autorin, schlug mich die düstere Welt des Erlkönigs wieder in den Bann. Wie JJ bereits in ihren einleitenden Worten warnt, ist dieses Buch bedeutend ernster, zerrissener, aufwühlender - sie und Liesl leiden unter bipolarer Störung. Manie und Wahnsinn, Melancholie und kreatives Genie, Auf und Ab... Das Buch ist eine Achterbahn der Gefühle.   Dieser zweite Band ist schockierend und ungeschönt, aber zugleich voller Zauber und Betörung; ein sprachliches und emotionales Meisterwerk. Ich litt mit und für Liesl, Sepperl und den Erlkönig, wollte sie abwechseln umarmen, schütteln oder mit Schokolade aufmuntern. Die drei, durch übernatürliche Mächte aneinander und an die Welt der Kobolde gekettet, schaffen es immer wieder nicht, ihren Gefühlen und Bedürfnissen Ausdruck zu verleihe, Raum zu geben...   Wie schon im ersten Band spielt Musik eine herausragende Rolle, gliedert das Buch und wie in einem Musikstück ist auch die Stimmung mal düster, mal hoffnungsvoll, mal langsam, mal überstürzend. Wenn man sich mehr mit Musik auskennen würde, würde man sicherlich noch größere Freude an all´ den Ausführungen und Anspielungen haben - so reicht aber auch das Glossar und das vermittelte Gefühl.   Auch wenn die Geschichte ruhiger ist; weniger große Ereignisse geschehen, sondern sich um das Zwischenmenschliche, um die Psyche und den Wahn(sinn) der Figuren dreht, ist das Buch bei weitem nicht zäh, sondern im Gegenteil nervenaufreibend dramatisch und fesselnd. Der Erlkönig hat (leider) weniger Auftritte, die Handlung spielt größtenteils in der realen Welt; mit dem Grafen und seiner Frau sowie den Getreuen kommen neue Charaktere ins Spiel, man erfährt endlich mehr über die erste Erlkönigin und die Kindheit des jetzigen Erlkönigs. Perspektiv- und Szenenwechsel erhöhen dabei Spannung und Rätselhaftigkeit der Geschichte; mit jeder beantworteten Frage wird mindestens eine neue aufgeworfen. Können Liesl und der Erlkönig die Grenzen und Gesetze dieser Welt aufbrechen und zueinander finden, bevor der Wahn und die Wilde Jagd sie zerstören? Kann Liesl Sepperl retten und er ihr vergeben? Wie lauteter der Name des Erlkönigs; wie ist die Tapfere Maid Unterwelt und Wilder Jagd entkommen...?   Ich liebe diesen Fokus auf die innere Welt der Figuren, wie sie reifen und stärker werden, wie Liesl immer wieder zerbricht und dadurch erst ihr Selbst erkennen und akzeptieren lernt. Auch wenn ich mir mehr Szenen mit ihr und dem Erlkönig gewünscht hätte - wobei genau dieses Sehnen die Unerreichbarkeit, die Dramatik, die Melancholie, die Verzweiflung so unter die Haut gehend macht; sehnt man sich doch auch als Leser nach jenen Momenten der Harmonie und Geborgenheit. Stattdessen: Missklang, Missverständnis, Missgeschick.   In einem erschütterndem Finale klären sich (fast) alle Fragen und werden die Handlungsfäden auf befriedigende Art zusammengeführt. Ich muss sagen, dass ich das Ende absehbar fand; darum aber auch schlüssig, passend und erfüllend. Ich war nicht überrascht, aber definitiv überzeugt und berührt von jenen letzten Ereignissen und Entscheidungen.   Für meinen einzigen Kritikpunkt an diesem grandiosen Buch muss ich in die Spoilerkiste greifen; es geht um die Geschichte des Erlkönigs.

Über schöne Lügen und hässliche Wahrheiten
Wordworld am 22.09.2019

Nach dem ich den ersten Teil der zweibändigen Dulogie rund um die Sage des Erlkönigs, "Wintersong" vor zwei Jahren aus der Hand gelegt hatte, dachte ich nur zwei Dinge: "WOW!" und "Her mit Band 2". Leider hat sich der Verlag relativ viel Zeit gelassen doch jetzt ist es da: das Finale meines Jahreshighlights 2017. Sofort in die Geschichte gestürzt musste ich nach wenigen Seiten feststellen, dass sich die Fortsetzung ganz anders gestaltete, als ich angenommen hatte. Zum Einen ist es sehr schade, dass "Shadowsong" unbekannte Töne anschlägt und den Fokus stark verschiebt, zum anderen sind die Unterschiede zu Band 1 auch ein wundervoller Zugewinn an Tiefe, sodass wir uns neu verlieben können. In diese unglaubliche Geschichte über Musik, Manie, Wahnsinn, Zerrissenheit, Schmerz, Selbstfindung, Opfer und was es heißt, wirklich und aufrichtig zu lieben.     "Bleib und sei bei mir" (…) Sie ruft ihn. Ein Monster hebt seinen Kopf als der Klang von Musik aus der oberen Welt hereindringt. (…) Es ist ein Hilfeschrei."     Schon die Gestaltung, die mal wieder wunderschön ist, lässt sich die düsterere Einfärbung der Geschichte erkennen. Wo Band 1 hell wie Winterschnee, hell wie der Tag war, ist Band 2 dunkelblau wie die Nacht. Wo zuvor karge, winterliche Vogelbeeren zu sehen waren, blühen nun üppige Mohnblumen. Und durch die aufflatternden, schwarzen Vogelsilhouetten und dem Schatten eines Mädchens in einem wehenden Kleid, erhält das Cover eine magische, düstere aber verspielte Note. Der Titel thront in Großbuchstaben im Zentrum des Ganzen und ist mit einem weißen Faden verziert. Das Beste an der Gestaltung ist jedoch das Innenleben des Romans. In vier Teile und übergeordnet in Abschnitte eines Musikstückes geteilt (Ouvertüre, Intermezzo, Zwischenspiel, Coda...) ist es mit wunderschönen Zitaten aus Briefen Beethovens an seine Geliebte und dem auch auf dem Cover zusehenden Kranz Mohnblüten gesäumt, während aufflatternde Vögel jede der liebevoll ausgewählten Kapitelüberschriften umgeben. Ich finde diese Gestaltung wirklich unfassbar schön und um einiges besser gelungen als das der englischen Ausgabe. Letzteres ist zwar auch hübsch anzusehen, mir aber zu verträumt und nicht so atmosphärisch.     Erster Satz: "Auf keinen Fall", rief Constanze und ließ ihren Gehstock auf den Boden krachen."     Nach einer Danksagung (zur besseren Beachtung durch den Leser vorangestellt) und einem aufschlussreichen Vorwort, in dem die Autorin durch eine Triggerwarnung das Hauptthema des Buches vorwegnimmt, steigen wir mit einer Flut von Briefen von Liesl an ihren Bruder Josef in die Geschichte ein. Seit sechs Monaten ist Liesl nun schon zurück aus der Unterwelt nachdem der Erlkönig sie allen Gesetzen zum Trotz hat gehen lassen. Sechs Monate, in denen nur die Routine der Arbeit und die Träume von einem Reich unter der Erde sie am Laufen halten. Sechs Monate, in denen sie von Josef aus Wien keine Briefe erhalten hat. Sechs Monate, in denen sie ihre Musik nicht mehr finden kann. Sechs Monate, in dem sie IHN nicht mehr finden kann. Lange bevor tragische Eistode in ihrem Dorf bestätigen, was ihre Großmutter schon längst befürchtet hat, weiß sie, dass sie den Wahnsinn beenden und in die Unterwelt zurückkehren muss. Denn die alten Gesetze fordern ihr gestohlenes Opfer ein und als ein unheiliges Heer durch die Lande reitet, muss sie sich fragen, was sie noch zu opfern bereit ist...     "Ein König steht in einem Hain, mit Kapuze und Mantel, ein großer, eleganter Fremder. Er steht abgewandt, schaut in den formlosen Nebel, der ihn umgibt, herausfordernd und doch voll Kummer, während das Donnern von Hufen und das glockengleiche Bellen der Jagdhunde die Luft erfüllt. Seine Gesichtszüge liegen im Schatten, aber Büschel federartigen weißen Haares schauen unter seiner Kapuze hervor, ein Funkeln heller Augen, die das seltsame, unendliche Licht um ihn herum widerspiegeln. In der Ferne wachsen Gestalten empor, die flüchtigen Nebelfetzen werden zu Fahnen, Dunst wird zu aufsteigenden Wellen, zu Pferdemähnen, zu Männern. Männern mit Speeren, Männer mit Schilden und Männer mit Schwertern. Ein unheiliges Heer. "Sie kommen, Elisabeth."     Diese Geschichte im Stil eines düsteren, leidenschaftlichen, zauberhaften und magisch berührenden Märchens hat nichts mit dem typischen New-Adult-Fantasy-Genre gemeinsam, das mittlerweile die Bestsellerlisten in Beschlag nimmt - zum Glück! Wir bekommen hier keine fesselnde Unterhaltung, keine schönen Liebesszenen, keine bewundernswerte Charaktere und keine rasante Handlung - aber wir bekommen etwas viel besseres: Tiefe. Schon im Vorwort wird klar, dass sich die Autorin mit ihrer Fortsetzung auf ein ganz bestimmtes Thema konzentriert: die bipolare Störung ihrer Protagonistin Liesl, die ihrer eigenen Version des Wahnsinns nicht unähnlich sei. Immer wieder drehen wir uns um dieses Thema, fragen uns, was sich Liesl immer wieder fragt: "Ist das Wahnsinn? Oder einfach nur eine andere Art zu sein?" Die ambivalenten Auftritte des Koboldkönigs, die mythischen Hintergründe der "Wilden Jagd", die ungewöhnliche Romanze und die dunkle Unterwelt, die das Herz des ersten Teils waren, rücken hier zugunsten von Liesls Innenleben etwas in den Hintergrund. Von der düsteren, dunklen Fantasiewelt, die gleichzeitig schillernd schön und grausig schrecklich ist, wechseln wir hier zurück in eine von gesellschaftlichen Konventionen und Zwängen geprägte Umwelt. Die Sage vom Erlkönig, welche ursprünglich aus dem Dänischen kommt und von Johann Wolfgang von Goethe in der bekannten Ballade "Erlkönig" dargestellt wird, formt bloß noch den großen Rahmen. Stattdessen beschäftigen wir uns mit Liesls Persönlichkeit, ihren Fehlern, ihrer Schuld, ihrem Leiden, ihrer Entwicklung, ihrem Genie und ihrer ganz besonderen Form des Wahnsinns.     "Wahnsinn ist keine Gabe", sagte ich wütend. "Aber auch kein Fluch", erwidert der Graf sanft. "Wahnsinn ist einfach."     Wir lernten die 19-Jährige Ich-Erzählerin als unscheinbares Mädchen kennen, das Provinz Bayerns etwa im 18. Jahrhundert zur Lebzeit Mozarts lebt und zwischen ihrer schönen Schwester Käthe und ihrem virtuosen Bruder Josef untergeht. In der Unterwelt schafft sie es dann, ihre gezähmte, selbstlose, konventionelle Fassade des langweiligen, reizlosen und mittelmäßigen Mädchens abzulegen und sich mit der Frau bekanntzumachen, die darunter liegt. Zwischen all ihrer Mittelmäßigkeit ihres Daseins, ihrem guten Benehmen, ihrer Rücksicht, ihrem Anstand, ihrer Zurückhaltung schlummert eine wilde, ungezähmte Gabe, die an die Oberfläche drängt - eine Leidenschaft für Sonaten, Bagatellen, Symphonien, Etüden, Chaconne und allen anderen Ansammlungen von Tönen. Inspiriert wird sie von der Schönheit der Natur in ihrem Koboldhain hinter dem Haus und vor allem von ihm: ihrem Koboldkönig. Sie entdeckt eine wilde Ungestüm, macht sich mit Wünschen, Sehnsüchten und Eigenarten vertraut, sodass sie wird, was ihr Angetrauter von ihr verlangt: Elisabeth ganz und gar. Zurück in der Realität kann sie nun weder ihr neu entfaltetes Genie ausleben, noch in die langweilige Mittelmäßigkeit zurückfinden, sodass sie zwischen den Welten, ihren Bedürfnissen und ihrer Liebe gefangen und zerrissen ist. Sie ist nicht mehr "Elisabeth ganz und gar" sondern nur "Elisabeth total verloren". In ihrer Orientierungslosigkeit, in ihrem Sehnen, in ihrem Schmerz gibt sie sich ihrem Destruktivität, ihrer Arroganz, ihren Launen, ihrer Egozentrik, ihrer Unvernunft - schlicht ihrem Wahnsinn hin.     "Wahnsinn, Manie, Melancholie. Musik, Zauber, Erinnerungen. Ein Strudel, der um eine Wahrheit kreist, die ich nicht zugeben will. Ich schlafe nicht, weil ich mich vor den Zeichen und Wunden fürchte, die sich sehe, wenn ich erwache. Dornenranken winden sich um Zweige, das Klacken von unsichtbaren Krallen, Blut, das zu einer Blume erblüht."     Geprägt von dieser Geisteshaltung nimmt auch die Handlung langsamere Züge an. Die Geschehnisse erscheinen als zähe, träge vor sich hinfließende Masse und wir verlieren uns zeitweise in Melancholie, Schmerz und Orientierungslosigkeit. Dass die Geschichte trotz der geringen Handlungskraft seine Anziehung nicht verliert, führt die Autorin geheimnisvolle Rückblicke in das Leben des Erlkönigs, eine neue zum Leben gewordene Legende und eine dunkle Verschwörung ein und entführt zuerst nach Wien und dann auf ein mystisches Anwesen in Böhmen. Außerdem rücken neben Liesls Gefühlen auch ihre Beziehungen zu Josef und Käthe stark in den Vordergrund. Besonders mit ihrem Wechselbalg-Bruder, dem "Gärtner ihres Herzens", verbindet sie ein festes Band, eine innige Liebe, die über alle Hürden und Grenzen transzendiert. So entfaltet diese groteske, melancholische und düstere Geschichte auch eine anrührend heilsame Seite, die von leidenschaftlicher Liebe zum Absonderlichen, Wundersamen und Monströsen erzählt.     "Der Mann wird zum Monster, der Junge zum Wechselbalg, die Komponistin zu einer Wahnsinnigen. Wir sind Schmetterlinge und die Unterwelt ist unser Kokon. Ein Ort der Verwandlung und der Magie und der Wunder. "Ich weiß", sage ich. "Er ist zerstört. Ein zerstörter König für eine zerstörte Königin."     Apropos monströs - auch der Koboldkönig entwickelt sich in diesem Buch immens. War er zuvor der eigentliche Reiz der Geschichte und sehr schwer zu fassen, verschmilzt er hier immer mehr mit dem düsteren Setting und geht als fühlende Figur verloren. Was klingt wie Kritik ist jedoch reine Beobachtung. Denn durch den Verlust Elisabeths hat der asketische, liebevolle, fromme und eigenwillige Mann in der Rolle des dunklen Herrschers der Unterwelt, des unsterblichen Herrn des Unheils sein Herz verloren und dient nun der Rolle, der Krone, die ihn zum Erlkönig macht und gleichzeitig in der Unterwelt festhält. Besonders genial an seiner ambivalenten Persönlichkeit ist, dass die Autorin sie nicht klar in "Gut" oder "Böse" teilt sondern ihre Protagonistin beide Seiten an ihrem lieben lässt: das Monster, das zu ihrem Wahnsinn, ihrer Hässlichkeit und ihrer Selbstsucht passt sowie der empfindsame, musikalische Mann, den ihr sensibles, geniales Herz liebt. Genau in diesem Punkt unterscheidet sich das Buch also von den vorgegebenen Mustern an Liebesromanen: er darf als Monster erscheinen, aber dennoch asketische, wichtigtuerische, fromme und eigenwillige Züge haben und Spiele lieben, sie darf hässlich, unvollkommen, wahnsinnig und unscheinbar sein, dabei aber immer wieder über sich selbst hinauswachsen. Zwei verlorene Gestalten, die über die Musik zusammen finden und von uralten Regeln der Magie wieder getrennt werden.     "Brombeerranken und Zweige regten sich beim Klang der Violine. Ein Gefühl der Wachsamkeit regte sich in einer Welt, die noch tief im Winterschlaf steckte. Das Atemholen, bevor sie sich erhob. Unter ihm und um ihn her griff der Wald nach ihm, streckte sich, wuchs, als antwortete er auf seinen Ruf. Die zerbrochenen Spiegel zeigten eine Myriade Jungen unter einer Myriade Bäume, doch Josef sah nicht, dass alle außer einem dasselbe Lied spielten."       Denn so anders dieser zweite Teil auch gegenüber seinem Vorgänger erscheint, so ähnlich ist er ihm auch in vielerlei Hinsichten. Auch diesem Finale wohnt eine unglaubliche Kraft, Poesie, Musik und Wildheit inne, die mich von der ersten Seite an gefesselt hat. Die größte Gemeinsamkeit ist die Liebe zur Musik, die jede Seite verströmt. Bald wird klar, dass der Titel "ShadowSONG" wörtlich zu nehmen ist und wir in die Magie eintauchen dürfen, die Klavier und Geige in Verbindung wirken können. Durch den sehr blumigen, teilweise sogar lyrisch und poetisch anklingenden Schreibstil wird die klassische Musik Vivaldis, Haydns, Mozarts und nicht zuletzt Elisabeths selbst, auf wundervolle Art und Weise magisch und erlebbar gemacht. Trotz des ausführlichen Glossars an musikalischen Fachbegriffen am Ende des Buches sollte man jedoch ein wenig eigene Begeisterung für die Musik mitbringen, um Liesls Leidenschaft nachvollziehen zu können und sich nicht an den Beschreibungen über das Komponieren und das Spielen von Werken zu stören.     "In der Hochzeitssonate war es um mich gegangen. Um meine Gefühle. Wut, Zorn, Frustration, Angst, all das war der erste Satz gewesen. Sehnsucht, Zärtlichkeit, Zuneigung und Hoffnung waren der zweite Satz. Hass war der dritte. Hass und Selbstverachtung."     Durch die wundersame, lebendige Darstellung der Musik in Kombination mit der dunklen, geheimnisvollen Anziehungskraft der Unterwelt mit der Gestalt des Erlkönigs entwickelt das Buch bald eine ganz eigene, unglaublich fesselnde Atmosphäre, die mich wie der Gesang der Loreley in ihren Bann gezogen und mitgerissen hat, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Wie auch schon die Ballade stellt der Roman die Natur, verkörpert vom schrecklich schönen Erlkönig und seiner Unheilsschar an Kobolden, nicht von ihrer ästhetischen oder gar religiösen Seite dar, sondern gibt ihr eine lockende, bezaubernde, beglückende und tötende Weise. Wie S. Jae-Jones es hinbekommen hat, ungezähmte, wilde, Leidenschaft, zarten, liebevollen Gefühlen gegenüberzustellen, die Kobolde und ihren König gleichsam unheimlich wie faszinierend zu gestalten, sodass man sich wie auch Elisabeth unglaublich lebendig und tot zugleich fühlt, ist wirklich unfassbar!     "Du bist das Monster, das ich für mich beanspruche." Vielleicht liebte ich das Monströse, weil ich selbst ein Monster war. Josef, der Koboldkönig und ich. Wir waren groteske Figuren in der Oberwelt, zu seltsam, zu talentiert, zu viel. Wir waren alle zu viel."     Mein einziger Kritikpunkt bezieht sich auf die vielen Klischees, die die amerikanische Autorin leider mit ihren Spielorten Bayern, Wien und Böhmen verbindet. Die Protagonisten ernähren sich praktisch nur von Würstchen, Sauerkraut, Knödel und Spätzle und kürzen ihre deutschen Namen auf schreckliche Art und Weise ab. So heißen unsere Protagonisten etwa Liesl (Maria Elisabeth Ingeborg Vogler), Käthe (Anna Katherina Magdalena Ingeborg Vogler) oder Sepperl (Franz Josef Johannes Gottlieb Vogler). Das aller größte Verbrechen gegen meine Vorliebe für schöne Namen begeht sie aber, als sie am Ende den Namen des Erlkönigs enthüllt, den Liesl versteckt im Herzen trägt. Anstatt uns diesen Namen geheimnisvoll vorzuenthalten nennt sie uns einen deutschen Vornamen, der so profan und in Zusammenhang mit dem Erlkönig so lächerlich klingt, dass ich diese Szene einfach nicht ernst nehmen konnte.     "Wer bist du?", flüsterte der Wechselbalg. Das Spiegelbild lächelte nur. "Ich bin du", antwortete es. "Was bin ich?", fragte der Wechselbalg. "Verloren", antwortete das Spiegelbild."     Das Ende nimmt nach dem eher trägen Mittelteil nochmal ordentlich Fahrt auf und ist voll Schmerz, voll Liebe und voll Aufrichtigkeit. Etwas kurz geraten und mit einigen offenen Fragen ist es nicht perfekt aber auf die genau richtige Art gleichzeitig wundervoll und schrecklich, sodass ich mir kein besseres Ende für diese furchtbar schöne (nie hat ein Oxymoron so gut gepasst) Geschichte vorstellen könnte.     "Der Verstand ist ein Gefängnis und nun bin ich frei. Frei, um formlos zu sein. Frei, um gestaltlos zu sein."         Fazit:   Diese groteske, melancholische, düstere Geschichte über schöne Lügen und hässliche Wahrheiten gibt sich so anders als Band 1 und ist dennoch genauso voller Musik und leidenschaftlicher Liebe zum Absonderlichen, Wundersamen und Monströsen. Der Fokus auf Elisabeths Persönlichkeit macht es möglich, sich nochmal komplett neu in dieses Meisterwerk zu verlieben. Denn das ist es trotz etwaiger Schwächen - ein Meisterwerk über Musik, Manie, Wahnsinn, Zerrissenheit, Schmerz, Selbstfindung, Opfer und was es heißt, wirklich und aufrichtig zu lieben.

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